REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Epilog

1. Es gibt nur wenige Bücher, denen ich so viel Zeit für eine Diskussion gewidmet habe (was nicht heißt, dass es nicht auch andere Bücher gibt, die großartig sind oder denen man viel Zeit widmen sollte). Und, diesen Blog mit ‚Epilog‘ zu überschreiben gibt nicht die ganze Wahrheit wieder. Das Wort ‚Epilog‘ könnte den Eindruck erwecken als ob die Sache damit ‚abgeschlossen‘ sei, etwas, das ‚hinter‘ uns liegt. Dem ist aber nicht so, in keiner Weise. Die Gedanken, die Kauffman in seinem Buch aufblitzen läßt sind eher wie ‚Blitze‘, die in einer großen Dunkelheit für einen kurzen Moment in der Nacht Dinge sichtbar werden lassen, an die man ’normalerweise‘ so nicht denkt.
2. Gewiss kann man an seinem Buch auch viel Kritik üben: streckenweise sehr langatmig, viele Formulierungen wiederholen sich immer wieder, die Quellen sind oft nicht klar, es fehlt eine strenge Systematik, die alle Teile erfasst, sehr Wissenschaftliches paart sich teilweise mit sehr Spekulativem, usw. Alles dies ist richtig. Aber betrachtet man alles zusammen, nimmt man alle Aussagen als Teile eines großen Akkords, dann blitzt in all den Fragmenten eine Gesamtsicht auf, die – nach allem, was ich kenne, weiß und verstehe – sehr ungewöhnlich ist, originell, wissenschaftlich sehr begründet und – vor allem – Dinge zusammen bringt, die für gewöhnlich getrennt sind.

EIN AUßERGEWÖHNLICHES BUCH

3. Insofern würde ich sagen, ja, es ist ein sehr außergewöhnliches Buch.

KRITIK AN EINER ZU ENGEN WISSENSCHAFTLICHEN WELTSICHT

4. Es gibt immer wieder Wissenschaftler die ihre eigene Disziplin kritisieren. Aber es ist selten. Meist sind es Nobelpreisträger, die keine Angst mehr haben müssen, dass die eigene Zunft Sie danach sozial ausgrenzt. Kauffman ist kein Nobelpreisträger, und doch hat er den Mut, dies zu tun. Dies liegt nach meiner Einschätzung vor allem darin begründet, dass er nicht nur innerhalb einer einzigen Disziplin geforscht hat, sondern in verschiedenen Disziplinen, mehr noch, er hat sich nicht nur ‚innerhalb‘ der Paradigmen bewegt, sondern er hat sich mit Phänomenen beschäftigt, die es verlangt haben, auch immer ‚über‘ die anzuwendenden Methoden nachzudenken. Dadurch sind ihm natürlich die Schwachstellen des Vorgehens aufgefallen, dadurch hat er begonnen, über alternative Sichten nachzudenken.
5. Eine der zentralen Schwachstelle trägt den Namen ‚Physikalischer Reduktionismus‘. Damit verbindet sich die Auffassung, dass es zur Erklärung der Phänomene in dieser Welt ausreiche, diese in eine kausale Beziehung zu setzen zu den ‚zugrunde liegenden elementaren Bestandteilen‘; als solche elementaren Bestandteile gelten Moleküle, Atome, und subatomaren Partikel. Diese Art von ‚wissenschaftlicher (reduzierender) Erklärung‘ macht aus der Gesamtheit aller Phänomene ein Wirkungsfeld von elementaren (letzlich physikalischen) Teilchen und elementaren Kräften.
6. Kauffman hat durch seine vielfältigen Arbeiten aber den Eindruck gewonnen, dass bei dieser Erklärungsweise sehr viele Besonderheiten der Phänomene oberhalb der Atome (ab einem bestimmten Komplexitätsgrad vielleicht sogar alle Besonderheiten) auf der Strecke bleiben. Sie werden epistemisch ‚unsichtbar‘. Für einfache Gemüter ist dies OK. Für differenzierter denkende Menschen, wie Kauffman einer ist, stellen sich hier aber Fragen. Und es ist genau hier wo sich die besondere Qualität von Kauffman zeigt: er stellt sehr viele Fragen, er geht ihnen auf vielfältige Weise nach, und kommt dann zum Ergebnis, dass eine reduktionistische Sicht letztlich genau die interessanten Phänomene zerstört. Nicht das Zurückfragen nach möglichen elementaren Bestandteilen ist der Fehler, sondern der Verzicht auf eine Beschäftigung mit der Makroebene selbst, mit der Komplexität, die sich gerade in den Makrophänomenen manifestiert.

NICHTVORAUSSAGBARKEIT

7. In für den Leser z.T. sehr mühevollen, aber von der Sache her sehr wohl berechtigten, Analysen unterschiedlichster Phänomenbereiche (grob: Biologie, Wirtschaft, Physik) gelingt es Kauffman immer wieder aufzuzeigen, dass eine reduzierende Betrachtungsweise genau das verfehlt, übersieht, was dieses Phänomen ausmacht. Und in all seinen vielfältigen Beispielen ist es u.a. die ‚Nichtvoraussagbarkeit‘, die man überall feststellen kann. Es beginnt bei der generellen ‚Nichtergodizität‘ des Universums als Ganzem, es setzt sich fort im Bereich der Molekülbildungen, der Zellentstehung, der Herausbildung von Lebensformen, in der generellen Nichtvoraussagbarkeit von Gehirnaktivitäten, die wechselseitigen Beeinflussungen von Naturprozessen im allgemeinen und biologischen Formen als Besonderem (Evolution, Ko-Evolution), die Wechselwirkungen unter biologischen Akteuren, die Wechselwirkungen eines wirtschaftlichen Verhaltens, die ihrer Natur nach in keiner Weise mehr voraussagbar sind, und vieles mehr. Wer die Sehweise von Kauffman übernimmt für den wird die Welt sehr vielfältig, sehr besonderes, sehr dynamisch, grundsätzlich nicht voraussagbar.

QUANTENPHYSIK

8. Kauffman macht sich die Mühe, die Eigenschaft der Nichtvoraussagbarkeit auf sehr vielen Ebenen aufzuzeigen. Letztlich wurzelt sie aber schon in der Grundlage von allem, im ‚Medium‘ von aller erfahrbaren Wirklichkeit, die die Wissenschaft als ‚Quantenwelt‘ enttarnt hat. Die aus dem menschlichen Alltag bekannte Raum-Zeit-Welt mit ihren Makroeigenschaften ist ein Artefakt unseres Körpers und des darin eingebetteten Gehirns, das uns mit Erkenntnissen über diese Welt versorgt. ‚Hinter‘ den alltäglichen Phänomenen existiert nach den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen aber eine Welt von Quanten, deren mathematische Beschreibung uns darüber belehrt, dass es sich hier nur noch um Wahrscheinlichkeitsfelder handelt: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort an Eigenschaften gegeben sein soll lässt sich grundsätzlich nur als ein Wert in einer Wahrscheinlichkeitsverteilung angeben. Zusätzlich enthüllt diese Quantenwelt Eigenschaften von Wechselwirkungen zwischen den Quanten, die mit der Alltagserfahrung nicht kompatibel sind (so können z.B. Quanten in einer Geschwindigkeit und über Entfernungen interagieren, die in der Alltagswelt unmöglich sind).
9. Nimmt man die quantenphysikalische Sicht ernst, dann hat man ein großes Problem, nämlich die ‚Koexistenz‘ von Quantenwelt und physikalischer Makrowelt zu erklären. Die Konkretheit der alltäglichen Makrowelt bildet quantenphysikalisch eine ‚Dekohärenz‘, die zu erklären bislang schwerfällt. Dazu kommt, dass diese Dekohärenz aus Sicht des Alltags ‚andauert‘, dass aber zugleich die Kohärenz der Quantenwelt nicht aufgehoben wird. Hier herrscht bislang ein großes Schweigen der Physik.
10. Kauffman vermutet vor dem Hintergrund der Quantenwelt, dass wir viele Eigenschaften des Gehirns möglicherweise nur durch Rückgriff auf diese Quantenwelt wirklich verstehen können; Genaues kann er nicht sagen, obgleich er Autoren zitiert, die (ähnlich wie Descartes mit seiner Zirbeldrüse) versuchen, konkrete Strukturen in der Biochemie der neuronalen Maschinerie zu identifizieren, die für die ‚Übersetzung der Quanteneffekte‘ in die Makrowelt eines Gehirns verantwortlich sind. Man kann sich über diese Erklärungsversuche lustig machen, zeigen sie aber doch auch, dass selbst die besten Denker unserer Zeit bislang hier vor mehr Rätseln stehen als Antworten.

KREATIVITÄT, HEILIGES, GOTT

11. Eine Kehrseite von Nichtvoraussagbarkeit ist die ‚Kreativität‘. Denn um immer wieder neue Ereignisse, Ereignisketten, Strukturen, komplexe Wechselwirkungen hervorbringen zu können, benötigt man Verhaltensweisen, Rahmenbedingungen, die das ermöglichen. Kauffman meint in der Vielfalt dieser nicht voraussagbaren Prozessen eine ‚Kreativität‘ ‚am Werke‘ zu sehen, die sich vom physikalischen Anfang des Universums, über Materiebildung, Sternenbildungen, Galaxien, Sonnensystem, Leben auf der Erde usw. in gleicher Weise manifestiert. Eine Kreativität, die geradezu eine ‚innere Eigenschaft‘ unseres Universums zu sein scheint. Und dass es genau diese Kreativität ist, die das eigentlich zu erklärende Phänomen bildet, das, an dem sich alle Wissenschaften zu messen haben. Es überrascht dann nicht, wenn Kauffman für diese Zentraleigenschaft des Universums den Begriff ‚Heiliges‘ (’sacred‘) vorschlägt, und im zweiten Schritt (oder im ersten, das lässt sich hier nicht genau sagen), den Begriff ‚Gott‘ (‚god‘).

KRITIK WEGEN GOTT?

12. Speziell an dieser Stelle könnte man Kritik laut werden lassen. Schließlich haben genau die Begriffe ‚Gott‘ und ‚Heiliges‘ in der menschlichen Geschichte in nahezu allen Kulturen seit mindestens 2000 – 3000 Jahren eine lange und vielschichtige Tradition. Die Kritik bestände darin, Kauffman vorzuwerfen, dass er sich nicht genügend um die Vermittlung zwischen seiner Verwendungsweise der Begriffe ‚Gott‘ und ‚Heiliges‘ und der vielfältigen Verwendungsweisen dieser Begriffe in der bisherigen kulturellen Geschichte gekümmert habe. Dies sei eigentlich eines Wissenschaftlers unwürdig.
13. Einerseits würde ich diese Kritik auch erheben. Andererseits muss man aber auch klar sehen, dass die Aufgabe eines konstruktiven Dialoges zwischen dem Erklärungsansatz von Kauffman und den bisherigen Verwendungsweisen des Begriffs ‚Gott‘ und ‚Heiliges‘ (z.B. in der jüdischen, dann in der jüdisch-christlichen, und dann noch in der jüdisch-christlich-islamischen Tradition) eine gewaltige Aufgabe ist, die kaum ein Mensch alleine leisten kann, sondern vermutlich sehr vieler Menschen bedarf, die zudem vermutlich über mehrere Generationen hinweg solch einen Reflexionsprozess leisten müssten.
14. Ich persönlich sehe zwischen dem Kern eines jüdisch-christlichen (vermutlich auch jüdisch-christlichen-islamischen) Gottesbegriffs und dem Ansatz von Kauffman keinerlei Gegensatz. Aber ich bin Theologe, Philosoph und Wissenschaftler und habe mich mehrere Jahrzehnte mit diesen Fragen beschäftigt. Für jemanden, der diese Gelegenheit nicht hatte, ist diese Fragestellung möglicherweise eher ‚undurchdringlich‘ und von daher kaum entscheidbar.

UND SONST

15. Diese wenigen Gedanken können die Breite und Tiefe, die Vielfalt der Gedanken von Kauffman in seinem Buch nicht einmal annähernd wiedergeben. Wer sich also von den hier angeschnittenen Themen angesprochen fühlt, sollte dieses Buch unbedingt selber lesen. Allerdings sage ich ganz offen: das Buch ist hart zu lesen, z.T. wegen des spezifischen Inhalts, z.T. wegen einer nicht ganz straffen Systematik, z.T. wegen vieler Wiederholungen bestimmter Gedanken. Aber ich halte es trotz dieser Schwächen für eine sehr, sehr wichtiges Buch. Mir persönlich hat es eine Menge an Klärungen gebracht.

SYNOPSYS DER EINTRÄGE ZU KAUFFMAN

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil1. Zusammenstellung vieler Phänomene und Erkenntnisse, die die Position eines physikalischen Reduktionismus in Frage stellen. Dann Verlagerung zu den grundlegenden Mechanismen des Biologischen und Vorstellen des autokatalytischen Modells zur Modellierung biologischer Emergenz.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil2. Es werden dann wichtige Konzepte vorgestellt und diskutiert: Agentenschaft, Arbeit und Information. Information ist zu wenig, Arbeit ist mehr als Wärme, Agentenschaft impliziert Werte.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 3. Anhand der Begriffe ‚Adaption‘. ‚Präadaption‘ sowie ‚Ko-Evolution‘ versucht er die Behauptung von der Nichtvoraussagbarkeit des Universums zu motivieren. Dazu das sehr starke Argument von der ‚Nichtergodizität‘ des Universums. Erste Einführung des Begriffs ‚Kreativität‘.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 4. Zitiert prominente Modelle, die den Anspruch erheben, das wirtschaftliche Geschehen zu beschreiben. Diskutiert die Grenzen dieser Modelle. Stellt seine autokatalytischen Modellierungsversuche vor. Zeigt die prinzipiellen Grenzen auf, die eine Beschreibung wirtschaftlicher Vorgänge unmöglich macht.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 5. Es folgen einige allgemeine Einschätzungen zu ‚Seele‘, ‚Geist‘ und ‚Wissenschaften‘, die nicht klar einordenbar sind. Längere Diskussion zur Algorithmisierung und Nichtalgorithisierung von Geist, Geirn als physikalischem Prozess, kognitiven Modellen und deren Grenzen, Geist und Bedeutung.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 6. Zunächst einmal Warnung, da das Folgende sehr spekulativ sei. Ordnet die Neurowissenschaften der klassischen Sicht der Physik zu. Ein quantenphysikalischer Ansatz wäre besser. Erinnerung an Positionen der Phiilosophie und deren eigene Fragwürdigkeit. Erwähnt die Position der sogenannten ’starken KI‘. Quantenphysik, ‚Geist‘, ‚Selbstbewusstsein‘, Möglichkeiten und Grenzen. Emergenz statt Reduktionismus. Drei harte Argumente gegen den Geist ‚Epiphänomenalismus‘, ‚Qualia‘ und ‚freier Wille‘. ‚Geist‘ als Phänomen der ‚Natur‘. Eigener Gottesbegriff.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 7. Zusammenfassung der bisherien Erkenntnisse und wiederholt Einführung eines eigenen Gotesbegriffs (kritische Anmerkung dazu). Prinzipielle Unabgeschlossenheit allen Wissens. Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft: ‘Kunst’ als Form der Kreativität gehört letztlich zum inneren Prinzip des kreativ-evolutionären Geschehens. Nochmals ‚Gott‘ (und kritische Anmerkugen). Faktum des Bösen. Begriff der ‚Agentenschaft‘ führt zu ‚Bedeutung‘ und ‚Werten‘, Ethik. Kritisiert den ‘Deontologismus’ und den ‘Konsequentialismus’ innerhalb der Ethik. Werte als ‚Pareto-Optimum‘. Globale Ethik. Nochmals ‚Gott‘ und ‚Heiligkeit‘

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