In der letzten Woche hatte ich Gelegenheit, das Buch ‚Information Theory and Evolution‘ von John Avery zu lesen. Eigentlich interessierte mich die Frage, ob und wie man das Verhältnis zwischen der offensichtlichen ‚Konzentration von Energie‘ im Falle biologischer Systeme mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik plausibel machen kann (eine gute intuitive Formulierung des zweiten Hauptsatzes von Claudius findet sich bei Enrico Fermi (1937, repr. 1956, S.30): ‚A transformation whose only final result is to transfer heat from a body at a given temperature to a body at a higher temperature is impossible.‘). Die eigentliche Frage konnte ich für mich noch nicht befriedigend beantworten (siehe meine kurze Buchbesprechung hier: Buchbesprechung Avery), aber das Buch war –und ist– äußerst informativ und anregend. So ergaben sich interessante Hinweise auf eine Reihe von Themen, die im Blog schon öfters angesprochen wurden (siehe auch das beigefügte Diagramm).
(1) Eine intensiv diskutierte Frage seit Jahrhunderten ist die Frage nach der Bedeutung und der Rolle des Selbstbewusstseins.
(2) Von den verschiedenen Analysestandpunkten (introspektiv (1st person), verhaltensbasiert (3rd person), physiologisch (3rd person)) aus ergeben sich unterschiedliche Zugänge.
(3) Avery zieht in seinem Buch eine lange Linie quer durch die gesamte Evolution, die zeigt, daß und und wie sich auf allen Ebenen Informationsprozesse identifizieren lassen, die strukturverändernd wirken, vom Molekül bis hin zur menschlichen Kultur.
(4) Allerdings verwendet Avery für diese verschiedenen Ausprägungen von Kommunikation kein einheitliches theoretisches Modell. Dies verwundert ein wenig, da er im Anhang B auf 2.25 Seiten die Semiotik mit Schwerpunkt Biosemiotik kurz erwähnt. Die Semiotik könnte zumindest eine Variante eines Modells anbieten, das von der ersten Zelle bis hin zu komplexen kulturellen Kommunikationsprozessen in der Lage ist, die entscheidenden Mechanismen zu beschreiben.
(5) Benutzt man das semiotische Zeichenmodell (siehe z.B. Peirce, Morris oder Saussure), dann hat man immer die drei Elemente (i) Zeichenmaterial, (ii) Bezeichnetes sowie (iii) Bedeutungsstiftende Beziehung durch einen Zeichenbenutzer. Der Zeichenbenutzer ist ein ‚System‘, das bei vorhandener Bedeutungsbeziehung beim Auftreten eines Zeichenmaterials das Bezeichnete ‚generiert‘; die ‚Herstellung‘ einer Bedeutungsbeziehung geschieht entweder ’strukturell‘ durch ‚Wachstum‘ oder aber ‚adaptiv‘ durch Lernen. Sofern Bedeutungsbeziehungen vorliegen sind diese mehr oder weniger ‚determiniert‘.
(6)Während der ‚Entwicklungsweg‘ von der Organisationsebene der Atome (die selbst komplex sind) bis hin zu den ersten Zellen im Detail noch immer vielfältigen Forschungen unterliegt ist aber so viel klar, dass die heute auf der Erde bekannten Lebensformen dort beginnen, wo die Fähigkeit zur Selbstreproduktion beginnt. Diese Struktur der Selbstreproduktion kann man als (Primäres) Semiotisches System (PSS) bezeichnen: Als Zeichenmaterial dient die mRNA; dieses wird durch einen ‚geeigneten‘ Molekülkomplex (Zeichenbenutzer) anhand vorgegebener Rahmenbedingungen (Bedeutungsbeziehung) ‚übersetzt‘ in andere ‚geeignete‘ Molekülstrukturen (Bezeichnetes Objekt), die dann zur Bildung jener Strukturen führen, die wiederum reproduktionsfähig sind.
(7) Man könnte diese Art von Zeichenbenutzer ‚primäre‘ semiotische Systeme nennen, doch ist dies ein bischen willkürlich. Denn wenn sich bei einem Vererbungsprozess zwei Molekülketten zu einem neuen Molekül verbinden, könnte man auch sagen, dass der umgebende ‚Molekülraum‘ der Zeichenbenutzer ist, der bei Vorliegen gewisser Randbedingungen (Zeichenmaterial) eine vorgegebene Bedeutungsbeziehung in Form eines definierten chemischen Prozesses aktiviert, der die Randbedingungen in das durch diese Bedeutungsbeziehung definierte Bezeichnete (das neue vereinte Molekül) überführt/ übersetzt/ transformiert. Wandert man auf dem Gradienten des Organisationsniveaus immer weiter ’nach unten‘, dann kann man den Übergang von Atomen zu Molekülen ebenfalls als semiotischen Prozess modellieren. Dann wird der umgebende Raum aller Atome zum Zeichenbenutzer, dessen Bedeutungsbeziehung ansatzweise durch die sogenannten ‚Naturgesetze‘ beschrieben wird. Und noch weiter ’nach unten‘ lässt sich dann auch der Übergang von den subatomaren Teilchen zu den Atomen als semiotischer Prozess modellieren: die subatomaren Teilchen bilden jenes Zeichenmaterial, das der umgebende Raum aller verfügbaren Teilchen als Zeichenbenutzer nach vorgegebenen Zuordnungen zu unterschiedlichen Atomen (das jeweils durch die Zeichenbeziehung Bezeichnete) ‚formt’/ ‚generiert’…
(8) Diese universelle Anwendbarkeit des semiotischen Modells ist schon ein wenig verblüffend. Es fragt sich aber, ob uns dies irgendwie weiterhilft?
(9) Folgt man dem Gradienten des Organisationsniveaus ‚von unten nach oben‘, dann lässt sich feststellen, dass der Zeichenbenutzer sich von einem ‚Raum von wirkenden Regeln auf der Basis seiner Bestandteile‘ immer mehr hin entwickelt zu konkret fassbaren Strukturen, die sich als ‚materielle Input-Output-Systeme‘ abgrenzen lassen von ihrer ‚Umgebung‘; dies beinhaltet die Konkretisierung der ‚Oberfläche‘ des Systems mit einer zusätzlichen Spezialisierung hin zu rein ’stützenden‘, ’sensitiven‘ und ‚aktiven‘ Komponenten. Bei dieser zunehmenden ‚Konkretisierung‘ einer Organisationsstruktur bleiben alle anderen semiotischen Ebenen erhalten. Im Falle von Pflanzen und dann insbesondere bei den Tieren kann man dann beobachten, wie die ’strukturellen‘ Zeichenbenutzer zusätzliche Teilstrukturen ausbilden (Nervensystem, explizite Signalsysteme), die die Bindung an eine biologische Struktur überschreiten und die Möglichkeit schaffen, zeichenbasierte Kommunikation auszubilden, bei denen sowohl das Zeichenmaterial wie auch das Bezeichnete bis zum gewissen Grade ‚frei wählbar‘ ist und deren Bedeutungsbeziehungen weitgehend ‚frei definierbar‘ sind. Vielleicht bietet sich hier an, die Unterscheidung einzuführen zwischen einer ’strukturbedingten‘ Semiotik und einer ’strukturfreien‘ Semiotik. Die ‚Freiheit‘ innerhalb der ’strukturfreien‘ Semiotik ist natürlich nicht im absoluten Sinne zu nehmen, da die körperlichen Randbedingungen klare Grenzen setzen. Mit der Genetik und dem Aufkommen der Informationstechnologie werden diese körperbedingten Randbedingunen aber ’schwimmend‘. Umgekehrt ist die ‚Bedingung‘ in der ’strukturbedingten‘ Semiotik nicht völlig starr, sondern –wie man am Beispiel der genetischen Vererbung sehen kann– umfasst kombinatorische Räume, deren Nutzung unterschiedliche Ergebnisse zulässt.
(10) Ein anderer Gradient neben dem Organisationsniveau ist sicher die ‚Koordinierung‘. Vom subatomaren zum Atomaren, vom Atom zu Molekül, vom Molekül zu Molekülstrukturen hin zu reproduzierenden Strukturen, zu Zellen, zu Vielzellern, usw. besteht die Notwendigkeit, die ‚Bestandteile‘ der jeweils größeren Einheit so zu ‚koordinieren‘, dass die ‚übergeordnete‘ Einheit funktional werden kann (in diesem Zusammenhang gehört vielleicht auch das Reden von der ‚Emergenz‘). Koordinierung kann aber nur funktionieren, wenn die interagierenden Bestandteile in irgendeiner Weise ‚Austauschprozesse‘ organisieren können, deren unterscheidbaren Bestandteile als Zeichenmaterial funktionieren können, das mithilfe vorhandener Bedeutungsbeziehungen in entsprechende ‚intendierte‘ Veränderungen (das jeweils Bezeichnete) überführt werden können. M.a.W. ‚Koordinierung‘ impliziert ’semiotische‘ Prozesse, die eine hinreichende ‚Kommunikation‘ ermöglichen. Beliebte Beispiele solcher Kommunikation, die Koordinierung ermöglicht, stammen aus dem Bereich der Ameisen und Bienen oder aus dem Jagdverhalten von in Rudeln jagenden Raubtieren. Tatsächlich liegt solch eine Koordinierung ermöglichende Kommunikation aber als ermöglichender Faktor auf allen Organisationsebenen vor. Am komplexesten vielleicht ausgeprägt im Bereich der menschlichen Kultur, die sich seit ca. 12.000 Jahren immer rasanter entwickelt.
(11) Ein weiterer wichtiger Gradient kann die ‚Vorausberechenbarkeit (Planbarkeit)‘ des ‚eigenen‘ Zustands bzw. des Zustands ‚aller beteiligten Systeme‘ sein: um z.B. die verfügbaren begrenzten Ressourcen ‚besser nutzen‘ zu können, wäre es hilfreich, wenn man die möglichen ‚Folgezustände‘ sowohl des eigenen Körpers (Müdigkeit, Hunger, Durst,….) wie auch der jeweiligen Umgebungen weitmöglichst voraus berechnen könnte. Dies setzt voraus, dass sich sowohl Körper- wie auch Umgebungszustände ‚modellhaft‘ innerhalb des agierenden Systems ‚generieren‘ lassen, so dass man mittels dieser ‚Modelle‘ dann deren mögliches ‚Verhalten in der Zukunft‘ ‚ablesen‘ könnte. Je besser diese Modelle wären, um so größer der ‚Vorteil‘ in der Nutzung der knappen Ressourcen.
(12) Vor dem Hintergrund der Vorausberechenbarkeit stellen Nervensysteme, die sowohl die Zustände des eigenen Körpers wie auch wichtige Aspekte der jeweiligen Umgebung ‚modellieren‘ können, eine extreme Verbesserung dar. Dazu gehört auch die Art und Weise der Modelle selbst: welche Aspekte der Umgebung werden wie repräsentiert und wie sind diese Modelle geeignet, das ‚eigene‘ Verhalten bzgl. des eigenen Körpers und der jeweiligen Umwelt so zu ‚leiten‘, dass ‚passende‘ Aktionen erfolgen können, die dem System ‚tatsächlich nützen‘. Vor diesem Hintergrund ist das Phänomen des ‚Selbstbewusstseins‘ möglicherweise interpretierbar als jene Modellierungsleistung des Nervensystems, die dem System ein –notgedrungen stark vereinfachendes– ‚Modell seiner selbst‘ zur Verfügung stellt. Dies ist eng verknüpft mit einem ‚Modell der Aussenwelt‘ (von dem wir heute auch wissen, dass es nur Teilaspekte der messbaren Umgebung abbildet und diese z.T. stark idealisierend oder gar verzerrt). Nichtsdestotrotz bildet dieses Phänomen der systemimmanenten ‚Modellierung‘ des Systems mit seiner Umgebung einen ungeheuerlichen Schritt dar. Damit können z.B. menschliche Systeme ihre Planungen durch Kommunikation in einer Weise koordinieren, die in wenigen tausend Jahren zu einer absoluten biologischen Explosion auf der Erde geführt hat, die durch die Verfügbarkeit von Computern viele körperbedingte Beschränkungen in der Modellierung weit hinter sich lassen kann. Mit der zusätzlich verfügbar werdenden Gentechnik können parallel auch die heute vorgegebenen körperlichen Begrenzungen in der Zukunft eventuell ‚weiter ausgedehnt‘ werden.
(13) Das ‚Staunen‘ der klassischen Philosophie über das Phänomen des Selbstbewusstseins und die Projizierung der hier vorfindlichen Objekte und Strukturen hinein in ‚metaphysische‘ Modelle von Mensch, Welt und Geist müssen angesichts der sich hier neu eröffnenden Perspektiven einer weitgehenden Revision unterzogen werden. Dies läuft nach meiner Einschätzung nicht hinaus auf eine ‚Verabschiedung‘ des ‚Geistes‘ sondern auf ein weit umfassenderes und radikaleres Verständnis als je zuvor. Jenseits der unseligen Trennung von ‚klassischen Geist‘ und ‚klassischer Materie‘ gibt es nur noch ‚Geist.Materie‘ , oder wie immer man dieses vielschillernde Etwas nennen will, aus dem sich alles ‚herausentwickelt‘, was wir heute kennen, einschliesslich unserer menschlichen ‚Geistigkeit‘.
(14) Es gibt –wie immer– sehr viele Autoren, die man hier an den einzelnen Stellen zitieren könnte und müßte. Aber, wie schon mehrfach gesagt, es geht hier um meinen persönlichen Versuch, viele Einzelteile und Versatzstücke für mich selbst zu ‚ordnen‘ um mein eigenes Denken zu ‚orientieren‘, ohne dass ich irgendwie den Anspruch auf Originalität erhebe. In der Regel ist jeder Gedanke irgendwann immer schon mal von einem anderen gedacht worden. In den offiziellen Publikationen versuche ich mich denn auch an die üblichen Zitierregeln zu halten. Dies hier ist eine private ‚Spielwiese‘ für Gedanken…..