Archiv für den Monat: Juni 2011

SEXUALITÄT GESTERN, MORGEN, UND

Zuerst: 29.Juni 2011

Korrekturen: 20.Nov.2011

(1) Sexualität war und ist ein Kernthema unseres menschlichen Lebens; angefeindet, verherrlicht, verdammt, gepriesen, verfolgt, geehrt, Ware, Ideal, sündhaft, Sakrament, überlebensnotwendig, Konsumartikel, schmachtend, verwirrt, glühend, bezaubert, heiß, zart, aggressiv gewalttätig,… also schrecklich und schön zugleich.

Augen der Begierde 1
Augen der Begierde 1

(2) Die Erfahrung von Sexualität beginnt meistens irgendwo im Übergang von der Kindheit zur Jugend. Wenn die Wachstumsprozesse den Körper so zu verändern beginnen, dass Moleküle (Hormone) das Gehirn mehr und mehr in Form von Spannungs- und Erregungszuständen beeinflussen können. Die statistische Mehrheit der Körper hat irgendwann Empfindungszustände, die so vorher nicht da waren. Bei männlichen Körpern können diese Erregungszustände biologisch bedingt eine Intensität annehmen, die alle anderen Empfindungen gleichsam ‚übertönt‘ und damit zur ‚Qual‘ werden kann. Grundsätzlich sind sexuelle Erregungszustände an spezifische Auslöser gebunden, aber aufgrund des assoziativ-kreativen Charakters des menschlichen Gehirns kann dieses mehr und mehr alles und jedes in Verbindung zu sexuellen Erregungszuständen setzen, so dass dann gleichsam die ganze Welt nahezu permanent als Stimulus dienen kann, um spezifische sexuelle Erregungszustände zu erzeugen, die der Körper intern als ‚Belohnung‘ empfindet. Gehirne, die sich so verhalten, würde man in gewissem Sinne als ‚abnorm‘ bezeichnen, da sie es zulassen, dass die Vielfalt des Körpers und der Welt — ab einem bestimmten Punkt dann ‚zwanghaft‘ — einem einzigen internen Trieb ‚unterworfen‘ wird und damit das Gehirn seine Vermittlerfunktion für die ganze Breite des Leben immer mehr verliert; aber unser Gehirn kann sich einem einzelnen Bereich ‚dienstbar‘ machen; ’sich selbst überlassen‘ kann ein Gehirn sich in diesem Sinne ‚falsch programmieren‘. Dies zu ändern kann ab einem bestimmten Punkt nahezu unmöglich werden; letzte absolute Aussagen über das Verhalten unserer Gehirne sind allerdings — aus theoretischen Gründen — prinzipiell unmöglich.

(3) Diese körperlichen Prozesse von molekül-basierten Spannungs- und Erregungszuständen im Gehirn haben eine Empfindungsseite. Menschen erleben ihren Körper nicht ‚wie er ist‘, sondern so wie das Gehirn die Vielfalt der körperlichen Prozesse in Form von ‚bewussten Empfindungen‘ zur Verfügung stellt. Wir ‚empfinden‘ bestimmte Spannungen, wir ‚empfindenden‘ bestimmte Erregungen, wir ‚erleben‘ diese Spannungen und Erregungen als Momente einer jeweiligen Situationserfahrung ohne dass wir die dahinter liegende körperlichen (physiologischen) Prozesse selbst direkt erkennen könnten, da unser Gehirn uns diese ‚vorenthält‘ (würde das Gehirn uns die ungeheure Fülle aller körperlichen Vorgänge ‚ungefiltert‘ erfahren lassen, wir würden an dieser Komplexität möglicherweise ‚ersticken‘. Insofern ist das ‚Bewusstsein mit seiner Filterfunktion ein ungeheurer evolutionärer Fortschritt). In diesem Sinne ‚verstehen‘ wir im ersten Moment nicht, was mit uns passiert, sondern wir ‚erleben‘ diese Zustände passiv, als etwas, das uns geschieht, das uns betrifft, das uns beeinflusst. Für Kinder kann dies zu Beginn sehr wohl beunruhigend, ja möglicherweise erschreckend sein. Und jeder braucht seine Zeit (Monate, Jahre, Jahrzehnte (?)), um diese erlebbaren Zustände in geeignete Deutungs- und dann Handlungszusammenhänge einzuordnen. Als Kind und Jugendlicher übernimmt man Deutungszusammenhänge aus der Umgebung. Im Zeitalter von Massenmedien und Internet kann dies nahezu alles sein, was ein Kind so findet.

(4) Vom Standpunkt des ‚Lebens auf dem Planet Erde‘, das sich uns als komplexer Entwicklungsprozess zeigt — den wir bislang zwar noch nicht vollständig erklären können, aber doch in vielen Aspekten so umfangreich, dass wir einige interessante Mechanismen identifizieren können — stellt sich ‚Sexualität‘ als eine ‚revolutionäre Erfindung‘ dar, die dazu geführt hat, dass bei der Weitergabe der ‚Bauanleitung für neue Lebewesen‘ sich das Prinzip des ‚Mischens von Informationen‘ als für das ‚Überleben auf der Erde‘ als ‚erfolgreicher‘ erwiesen hatte als ein Verzicht auf dieses Mischungsprinzip. Da die Bauanleitung selbst (ein Molekül, die DNA, das Genom, die Erbsubstanz…) nicht lebensfähig ist, sondern nur ein Körper (ein Phänotyp), der sich anhand einer solchen Bauanleitung entwickeln kann (Wachsen, Ontogenese,….), war es wichtig, dass das Leben in der Phase der ‚agierenden Körper‘ ‚Vorsorge‘ dafür trifft, dass sich die Körper zum Zwecke der Mischung der Erbinformationen ‚finden‘ und ‚aktiv zusammenwirken‘. Die Konstruktionsaufgabe lautete: statte die Körper (Phänotypen) so aus, dass sich immer zwei so ‚attraktiv‘ finden, dass sie sich ‚angezogen‘ fühlen, dass diese Anziehung so stark ist, dass die umwelttypischen Widrigkeiten, Bedrohungen und Gefahren mit den daraus resultierenden Beunruhigungen und Ängsten diese Anziehung nicht vollständig neutralisieren können. Für diese Konstruktionsaufgabe fanden sich im Laufe der Jahrmillionen unterschiedliche Lösungsmodelle. Das Lösungsmodell beim homo sapiens — uns heute lebenden Menschen — kennen wir. Der Körper der Frau wirkt als ‚Reiz‘ (Stimulus) auf das Gehirn des Mannes, das diesen dann in solche Spannungszustände versetzt (volkstümlich: der Mann ist ‚Schwanzgesteuert‘), dass dieser sprichwörtlich tatsächlich nahezu alles vergessen kann, um seinen Trieb zu befriedigen. Diese Lösung, die viele tausend Jahre für das Überleben und die Weiterentwicklung des Lebens auf der Erde erfolgreich (in welchem Ausmaß ‚gewaltfrei‘?) war, hat durch die rasante Entwicklung der menschlichen Lebensformen heute — so scheint es — ‚Passungsprobleme‘ unterschiedlicher Art. Diese alle hier zu schildern würde zu weit führen; das Phänomen ist sehr bunt und vielschichtig (aber alleine eine Zahl wie ‚20.000 verschwundene (verschleppte?) junge Frauen im Jahr 2010‘ in einem (!) kleinen Ostblockland wäre – würde sie stimmen — ein grausamer Index für die soziale und ökonomische Realität eines schwer kontrollierbaren genetischen Merkmals bei männlichen homo sapiens Vertretern).

(5) Vom Standpunkt des Lebens auf der Erde ist eigentlich nur ein einziger Punkt interessant: das Leben in Gestalt des homo sapiens sapiens hat die Fähigkeit erlangt, die ‚Mischung von Erbinformationen‘ nicht mehr nur und ausschliesslich dem drei Milliarden Jahren alten Prinzip der Erbinformationsweitergabe zu überlassen, sondern wir können mehr und mehr eine solche Mischung nun mit speziell geschaffenen Techniken vornehmen. In dem Maße, wie der homo sapiens diese Technik so beherrschen kann, dass daraus lebensfähige Gebilde entstehen, wäre die bisherige Form von geschlechterspezifischen Körpern mit ihren komplexen Anziehungsmechanismen letztlich überflüssig. Salopp: zukünftigen geschlechtsneutralen Lebewesen könnte man auf Wunsch Pillen verabreichen, die für eine gewisse Zeit solche Spannungs- und Erregungszustände in den Gehirnen — und damit dann auch in bestimmten Körperteilen, sofern es noch welche gibt — induzieren würden, wie sie ‚damals‘ die ‚alten Menschen‘ hatten, die sich noch nicht aus dem genetischen Gefängnis befreit hatten. Vielleicht gäbe es dann nostalgische Geschichtsvereine, in denen man solche Pillen nehmen und entsprechende Filme ‚von früher‘ anschauen würde, begleitet von einem gewissen ‚Ekel‘, wie diese ‚primitiven Menschen von früher‘ sich von ihren ’sexuellen Zwängen‘ haben ‚knechten‘ lassen (speziell die Frauen würden den Zeiten von Schwangerschaft und schmerzhaften — bis hin zu gefährlichen — Geburten nicht unbedingt nachtrauern). Da bekannt ist, dass schon das ungeborene Kind während der Schwangerschaft mit dem Körper der Mutter und durch diesen mit der Umwelt ‚kommuniziert‘, würden entsprechende ‚Kommunikationsschnittstellen‘ entwickelt werden, um von Anfang an die Kommunikation eines neuen Lebewesens mit seiner Umgebung zu sichern.

(6) Durch die Tatsache, dass es ausschließlich der homo sapiens ist (bislang), der über das KnowHow und die Technik verfügt, Erbinformationen technisch gezielt mischen zu können, kann er dies nicht nur für die Erbinformationen der eigenen Art tun, sondern letztlich für alle Arten, ja, letztlich für das gesamte Phänomen des Lebens auf der Erde. Dies ist ziemlich ungeheuerlich. Es hat ca. 3.5 Milliarden Jahre gebraucht, bis das Leben eine Form annehmen konnte, die über diese Fähigkeit verfügt. Obwohl wir bis heute noch nicht wirklich völlig verstehen, wie es überhaupt zu den Anfängen des Lebens kommen konnte, verfügen wir im Prinzip über die Technologie, verändernd eingreifen zu können. Allerdings, bislang können wir — bildhaft gesprochen — nur die Buchstaben des Textes herumwirbeln, wie Kinder, die die herabgefallenen Blätter von den Bäumen herumwirbeln, wir haben nahezu keine Ahnung, wie man gezielt die möglichen Wirkungen (= Bedeutung, Semantik, Pragmatik) der Buchstabenkombinationen im Rahmen von Wachstumsprozessen ‚berechnen‘ kann. Eine ‚genetische Semantik‘ bzw. ‚genetische Pragmatik‘ steckt noch ganz in den Kinderschuhen. Doch, wie die bisherige Geschichte nahe legt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir dieses KnowHow haben werden. Wenn irgendetwas die Bezeichnung ‚historische Wende‘ verdient, dann diese Phase des Lebens auf der Erde; es ist der gewaltigste Umbruch, den es seit dem Beginn des Lebens auf der Erde gegeben hat.

Augen der Begierde 2
Augen der Begierde 2

(7) Wer bis hierher gelesen hat könnte den Einwand erheben, dass diese Sichtweise doch zu ‚biologistisch‘ sei und in keiner Weise der Tatsache Rechnung trägt, dass Menschen über den unmittelbaren ‚Trieb‘ hinaus noch andere ‚Emotionen‘, ‚Gefühle‘ in sich tragen, ‚Werte‘, die sie dazu befähigen, Interaktionen komplexe Institutionen zu realisieren, die nicht von sexuellen Motiven geprägt sind. Diesem Einwand würde ich zustimmen. In der Tat verfügt der Mensch über eine Bandbreite von Empfindungen, Emotionen, Gefühlen, Motivationen, Werten, die erstaunlich ist und die ihn zu Verhaltensweisen befähigen, die sich einem einfachen Verstehen entziehen. Während bei Tieren die Sexualität etwas Unausweichliches hat, kann der Mensch damit letztlich gestalterisch ‚umgehen‘, bis dahin, dass es Menschen gibt, die sich aus eigenen Stücken entschlossen haben, ‚Keusch‘, d.h. ‚frei von Sexualität‘, zu leben. D.h. die ‚Plastizität‘ des menschlichen Gehirns kann sowohl dazu ‚missbraucht‘ werden, immer mehr dem ‚Sexualtrieb‘ ‚zuzuarbeiten‘, als auch dazu, aus der großen Bandbreite von anderen Bedürfnissen, Stimmungen, Gefühlen, Emotionen usw. ‚Zufriedenheitskonstellationen‘ zu ‚erlernen‘, ‚einzuüben‘, die sexfrei sind oder wo die Sexualität nur ein bestimmter Teil eines größeren Zusammenhanges ist (die Pädagogen/ Therapeuten sprechen hier von der ‚Integration des Triebes‘). Diese Fähigkeiten des Menschen, ‚über‘ (trans…) konkrete Bedürfnisse hinaus Motivationen entwickeln zu können, macht den Menschen als Lebensform ‚auffällig‘, lässt ihn in einem ‚besonderen Licht‘ erscheinen, wirft zahllose Fragen auf, fasziniert. Zwischen Menschen — nicht nur zwischen Frau und Mann, sondern auch Frau und Frau, Mann und Mann — kann es Gefühlszustände geben, die sehr intensiv und nachhaltig sein können, ohne dass dies unmittelbar etwas mit Sexualität zu tun haben muss, Gefühle, die weder Geschlechts- noch Altersgrenzen kennen, die sich auch nicht durch abweichendes Aussehen beeinflussen lassen (Mir ist nicht bekannt, dass es dazu irgendwelche wirkliche Forschungsarbeiten gibt; dies sind aber Lebenserfahrungen).


Es gab eine Art Fortsetzung der Gedanken unter dem Titel SEXARBEITERiINNEN – Sind wir weiter?

Eine Übersicht über alle Blogbeiträge nach Titeln findet sich HIER.

Ich glaube an Gott, was brauch ich dann die (komplizierten) Wissenschaften?

(1) Während einer Geburtstagsfeier mit vielen Gästen (wo sonst…) nahmen die Gespräche zur fortgeschrittenen Stunde immer intensivere Verläufe. An einer Stelle sagte dann eine engagierte Frau, dass Sie an Gott glaube, an die Welt als Schöpfung; das gäbe ihr Kraft und Sinn; und so lebe sie es auch. Die Wissenschaft brauche sie dazu nicht; die sei eher verwirrend.

 

 

(2) Mit solch einem ‚Bekenntnis‘ ist das Wissen zunächst einmal ’neutralisiert‘; was immer Wissen uns über den Menschen und seine Welt sagen könnte, es findet nicht statt, es gibt kein Wissen mehr. Mögliche Differenzierungen sind wirkungslos, mögliche Gründe unwichtig; mögliche Infragestellungen, gedankliche Herausforderungen können nicht greifen; damit verbundene mögliche Spannungen, Erregungen können nicht stattfinden. Die Welt ist ‚wie sie ist‘, d.h. wie das aktuelle Wissen des so Glaubenden sie zeichnet. Alles hat seine Ordnung, eine Ordnung die sich nicht beeinflussen lässt durch Wissenschaft.

 

 

(3) In gewisser Weise hört nach einem solchen Bekenntnis jedes Gespräch auf. Man kann zwar noch weiter Reden, aber inhaltlich kann man sich nur noch auf wechselseitige Bestätigungen beschränken: Ja, ich sehe das auch so; ja, ich glaube das auch; ja, ich finde das gut;…. abweichende Meinungen haben streng genommen keinen Platz in diesem Gefüge…weil sie einfach ausgeblendet werden (Menschen mit mehr Aggressionspotential gehen dann allerdings zum ‚Angriff‘ über und versuchen, die ‚abweichende‘ Meinung nieder zu machen). Aber auch das ‚einfache Ausblenden‘ einer anderen Meinung, zu sagen, dass man abweichende Meinungen nicht hören will, ist eine Form der ‚Entmündigung‘ und damit eine Form von ‚Missachtung‘. Wahrheit ist dann nicht mehr möglich.

 

 

(4) Mich hat diese Einstellung geschockt. Wenn man weiß, auf welch schwankendem Boden jegliche Form von Wissen über uns, die Welt und Gott steht und wenn man weiß, wie viel Unheil über Menschen im Namen des Glaubens gekommen ist, weil die Gläubigen zu wissen glaubten, was wahr ist und in diesem Glauben tausende andere unterdrückt, verfolgt, gefoltert und getötet haben, weil sie auch glaubten, dass ihre Form des Glaubens über alle anderen Erkenntnisse und Wahrheiten ‚erhaben‘ sei, dann ist jegliche Form der Ablehnung von Wissen (ob durch Verweis auf Gott (Wer kennt ihn wirklich), durch Verweis auf eine politische Ideologie, durch Verweis auf ethnische Besonderheiten, durch Verweis auf ‚besonderes Blut‘, usw.) letztlich in einem identisch: die bewusste willentliche Entscheidung, sein eigenes Bild von der Welt auf keinen Fall zu verändern; was immer die Wissenschaften über uns und die Welt herausfinden, das wird als ‚irrelevant‘ neutralisiert.

 

 

(5) Allerdings zeigt sich am Beispiel solcher ‚alltäglicher‘ Konflikte auch sehr unmittelbar, dass entwickelte (wissenschaftliche) Formen von Wissen alles andere als selbstverständlich sind. Es hat nicht nur viele tausend Jahre gebraucht, bis die Menschen mit komplexeren Wissensformen umgehen konnten, es ist heute, in unserer Gegenwart so, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass nicht nur viele derjenigen, die nicht studiert haben, ein gebrochenes Verhältnis zu wissenschaftlichem Wissen haben, sondern dass ebenso viele derjenigen, die akademische Abschlüsse vorweisen können (mehr als 50%?), das ‚Wesen von wissenschaftlichem Wissen‘   nicht verstanden zu haben scheinen und Anschauungen über uns Menschen und die Welt für ‚wahr‘ halten, die — nach meinem Kenntnisstand — ziemlich abstrus und willkürlich sind (so eine Art ‚Voodoo‘ unter dem Deckmantel von Wissenschaft und Aufklärung).

 

 

(6) Es macht wenig Sinn, über diesen Sachverhalt zu ‚moralisieren‘. Es ist die Realität, in der wir leben. Da unser Handeln von unserem Wissen — oder von der Meinung anderer, denen wir einfach folgen — geleitet ist, haben solche Auffassungen ihre alltäglichen Wirkungen.

 

 

(7) Wenn man also versucht Wissen ernst zu nehmen; wenn man Fragen zulässt und sie versucht ernsthaft zu beantworten; wenn man sogenannte Selbstverständlichkeiten immer wieder mal hinterfragt, um sich zu vergewissern, dass man keine falschen Voraussetzungen mit sich herum trägt; wenn man versucht, aus den vielen Detailerkenntnissen größere Zusammenhänge zu konstruieren und auch wieder zu verwerfen; wenn man versucht, Sachverhalte zu Ende zu denken, obgleich wenig Zeit ist, man erschöpft ist, und keiner davon etwas hören will, dann darf man dafür kein Lob erwarten, keine Ermutigung, kaum Zustimmung, sondern eher Ablehnung, Angst, Abwehr oder Bemerkungen wie ‚Was Du da wieder denkst‘, ‚Das braucht doch kein Mensch‘, ‚Hast Du nichts Besseres zu tun‘, ‚Das nervt einfach‘, ‚Mir ist das alles zu kompliziert‘,….

 

 

(8) Sich auf Dauer ernsthaft mit ‚wahrem‘ Wissen zu beschäftigen (nicht mit Modetrends, Buzz Words, usw.) liegt quer im Alltag, darf auf keine Unterstützung hoffen. Die meisten Menschen suchen nicht die ‚Wahrheit‘, sondern eher Bestätigungen für ihre aktuelle Unwahrheit; Bestätigungen fühlen sich einfach besser an als Infragestellungen durch Erkenntnisse, die dazu zwingen, das eigene Bild von der Welt zu verändern.

 

 

(9) Jedes Wissen hat ‚Ränder des Wissens‘, jene Bereiche, die vom bisherigen Wissen noch nicht erschlossen sind bzw. die durch aktuelles Wissen ‚verstellt‘ werden, d.h. ich werde im Wissen erst weiter kommen, wenn ich dieses ‚verstellende‘ Wissen als ‚falsch‘ bzw. ‚unzureichend‘ erkannt habe. Wie soll dies geschehen? Menschen, die hauptsächlich nur Bestätigungen suchen, haben praktisch keine Chance, die ‚Falschheit‘ ihres Wissens zu entdecken. Sie sind in ihrem aktuellen Wissen quasi gefangen wie in einem Käfig. Da sie ihren Käfig nicht sehen, ihn ja sogar für ‚richtig‘ halten, wird sich der Käfig im Normalfall immer nur noch weiter verfestigen.

 

 

(10) Das biologische Leben, von dem wir Menschen ein winziger Teil sind, hat die Jahrmilliarden dadurch gemeistert, dass es nicht einer bestimmten vorgegebenen Ideologie gefolgt ist, sondern dass es ‚alles, was möglich wahr, einfach probiert hat‘. Man kann dies ‚Zufall‘ nennen oder ‚Kreativität‘ oder ‚Spiel‘; letztlich ist es so, dass Zufall/ Kreativität/ Spontaneität/ Spiel jeglicher fester Form auf Dauer haushoch überlegen ist, da feste Formen von Wissen Spezialisierungen darstellen für bestimmte Aspekte von Welt, meistens dazu sehr statisch, und solche Formen sind sehr schnell sehr falsch. Besser zu sein als ‚zufallsgesteuertes Wissen‘ ist eine sehr hohe Messlatte, und biologische Systeme wirken nur deshalb gegenüber reinem Zufall überlegen, weil sie die Erfahrungswerte von 3 Milliarden Jahren ’spielerischer Evolution‘ in sich angesammelt haben. Mehr als drei Milliarden Jahre Experimente mit hunderten Milliarden Beteiligten pro Jahr sind eine Erfahrungsbasis, die in sich ein Wunder darstellt, das zu begreifen nicht leicht fällt. Wir, die wir von diesem ‚angesammelten Wissen‘ profitieren können, ohne dass wir auch nur irgendetwas selbst dazu beigetragen haben, haben meistens kein gutes Gefühl dafür, welch ungeheure Leistung es bedeutet, das bisherige Weltwissen auch nur ein kleines Stück zu erweitern. Wer sich die Mühe machen würde, beispielhaft  — von vielen möglichen spannenden Geschichten — die Geschichte des mathematischen Denkens zu verfolgen, das zum Herzstück von jeglichem komplexen Wissen gehört, kann sehen, wie sich die besten Köpfe über 3000 und mehr Jahre bemühen mussten, bis die Mathematik eine ‚Reife‘ erlangt hat, die erste einfache Wissenschaft möglich macht. Zugleich gilt, dass in unseren Zeiten, die mehr denn je von Technologie abhängen, das Wissen um Mathematik bei den meisten Menschen schlechter ist als bei den Denkern der Antike. Es ist eben nicht so, dass ein Wissensbereich, der über Jahrtausende mühsam aufgebaut wurde, dann automatisch in der gesamten nachfolgenden Kultur verfügbar ist; ein solches Wissen kann auch wieder verfallen; ganze Generationen können in der ‚Aneignung von Wissen‘ so versagen, dass ‚errungenes Wissen‘ auch wieder ‚verschwindet‘. Wissen in einer Datenbank nützt nichts, wenn es nicht reale Menschen mit realen Gehirnen gibt, die dieses Wissen auch tatsächliche ‚denken‘ und damit anwenden können. Immer größere Datenbanken und immer schnellere Netze nützen nichts, wenn das reale Wissen in den realen Köpfen wegen biologischer Kapazitätsgrenzen einfach nicht ‚mithalten‘ kann…

 

 

(11) Unsere heutige Kultur ist in der Tat an einer Art Scheideweg: unsere Technologie entwickelt sich immer schneller, aber die biologischen Strukturen unserer Körper sind bislang annähernd konstant. Bedeutet dies, dass (i) die Ära der Menschen vorbei ist und jetzt die Zeit der Supercomputer kommt, die den weiteren Gang der Dinge übernehmen? oder (ii) haben wir einen Wendepunkt der Entwicklung erreicht, so dass ab jetzt aufgrund der biologischen Begrenztheit der Menschen es nicht mehr nur um ’schneller‘ und ‚mehr‘ geht sondern um ‚menschengemäßere künstliche Intelligenz‘, die ein Bindeglied darstellt zwischen dem kapazitätsmäßig begrenztem menschlichem Denken einerseits und einer immer leistungsfähigeren Technologie? oder (iii) Beginnt jetzt die Ära der angewandten Gentechnologie, die uns in die Lage versetzt, unseren Körper schrittweise so umzubauen, dass wir die Erfordernisse eines biologischen Lebens auf der Erde besser meistern könne als bisher? Die Alltagserfahrung legt vielleicht (i) nahe, die bisherige historische Entwicklung deutet aber auf (ii) und (iii) hin. Denn — und das übersieht man leicht — der Weg des Lebens in den letzten ca. 3.2 Milliarden Jahren hat permanent Probleme lösen müssen, die verglichen mit den uns bekannten Problemen um ein vielfaches größer waren. Und das Prinzip des Lebens hat dies alles gemeistert, ohne dass wir auch nur einen Millimeter dazu beigetragen haben. Wenn wir uns also weniger an unsere vielfältigen kleinkarierten Ideologien klammern würden und stattdessen stärker auf die ‚innere Logik des Lebens‘ achten, dann sind die potentiellen Lösungen in gewisser Weise ’schon immer da‘. Dies ist nicht als ‚Determinismus‘ oder ‚Vorsehung‘ misszuverstehen. Nein, die Struktur der Materie enthält als solche alle diese Strukturen als Potential. Unsere gesamtes heutiges Wissen (von dem unsere Körper mit ihren Gehirnen ein kleiner Teil sind) ist letztlich nichts anderes als das versammelte Echo der Milliarden von Experimenten, in denen wachsende biologische Strukturen in einem permanenten Dialog mit dem vorfindlichen Universum Aspekte dieses Universums ’sichtbar‘ gemacht haben; wahres Wissen zeigt in dem Sinne nichts ‚Neues‘ sondern macht ’sichtbar‘, was schon immer da war bevor es dieses Wissen explizit gab. ‚Wissen schaffen‘ heißt im Wesentlichen ‚in Dialog treten‘, d.h. ‚Interagieren‘, d.h. ‚ein Experiment durchführen‘ und die Ereignisse im Umfeld der Dialoge ‚geeignet zusammenführen‘ (Bilder, Modelle, Theorien…). Was ‚Denken‘ wirklich ist wissen wir bislang eigentlich immer noch nicht wirklich, was unsere Gehirne aber nicht daran hindert, kontinuierlich Denkarbeit zu leisten. Unsere Gehirne denken für uns. Wir sind quasi ‚Konsumenten‘ dieser wundersamen Gebilde. Dass unsere Gehirne nicht ‚beliebig gut‘ denken sondern so ihren ‚eigenen Stil‘ pflegen, das merkt man erst nach vielen Jahren, wenn man sich intensiv mit der Arbeitsweise des Gehirns beschäftigt. Wenn wir über die ‚Welt‘ reden dann reden wir nicht über die Welt ‚wie sie um uns herum ohne uns ist‘, sondern über die Welt, ‚wie sie unsere Gehirne für uns aufbereiten‘. Unsere Gehirne arbeiten so perfekt, dass uns dieser fundamentale Unterschied lange Zeit — vielen Menschen vielleicht zeit ihres Lebens nie — nicht auffällt.

 

 

(12) Wir sind Teil dieses gigantischen Geschehens. Wir finden uns darin vor. Leben ist mehr als die Worte, die man darüber formulieren kann. Einen Sinn gibt es natürlich; er hängt nicht davon ab, ob wir ihn sehen oder nicht sehen, glauben oder nicht glauben. Der wahre Sinn durchdringt alles von Anbeginn. Wir können versuchen, uns ihm gegenüber zu verschließen, aber wir selbst mit unserem Körper als Teil des Ganzen, enthalten so viel von diesem Sinn, dass wir geradezu ‚voll gepumpt‘ sind mit diesem Sinn. Vor allem Erkennen kann man es auch fühlen.

 

 

(13) Was ‚Gott‘ mit allem zu tun hat? Ich bin mir nicht sicher, ob wir als Menschen diese Frage überhaupt verstehen können.

 

 

Weil es Sinn gibt, kann sich Wissen akkumulieren, das Sinn sichtbar macht. Oder: warum die Frage ‚Warum gerade ich?‘ in die Irre führen kann.

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 15.Juni 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Zum Thema ‚Sinn‘ hab es einen vorausgehenden Beitrag mit dem Titel „Zur Grammatik des Sinns„, der möglicherweise hilfreich ist, um diesen Beitrag zu vertiefen.

(1) Wenn etwas ‚Schlimmes‘ passiert, dann fragen sich viele Menschen ‚Warum gerade ich?‘ (hätte es jemanden anderen getroffen wäre man vielleicht ‚berührt‘ — falls man der anderen Person nahe stand –, aber es würde einen bei weitem nicht so zentral treffen wie das eigene Leid. Wenn etwas subjektiv ‚Schönes‘ oder gar ‚Außergewöhnliches‘ geschieht, dann geraten die einen außer sich und halten sich womöglich sogar für ‚auserwählt‘, womöglich für etwas ‚Besonderes‘; andere bekommen sofort Angst, dass sie all dies, kaum dass sie es besitzen, wieder verlieren könnten, dass sie ‚dem Schicksal‘ misstrauen; sie haben bislang — in ihrer Wahrnehmung — nicht viel Gutes erlebt, also verbietet es ihr Denken, das ‚punktuell Schöne‘ ‚anzunehmen‘; oder trotzig gerade doch: es geht ja doch, ich habe es immer gewusst….

(2) Man kann den Eindruck gewinnen, dass wir tendenziell eine ‚Deutungstendenz‘ in uns tragen, die in allem nach einem ‚möglichen Sinn‘ sucht, der die eigene ‚Werthaftigkeit‘ unterstützt, der klar macht, dass das eigene Leben doch irgendwie einen ‚Wert‘ und einen ‚Sinn‘ hat. Andererseits, wenn wir uns lange Zeit schwer tun, einen ‚Sinn‘ zu erkennen, dann kann dies sehr anstrengend, kann es schmerzhaft sein, keinen Sinn zu erkennen; dann ist es einfacher einen Sinn grundsätzlich auszuschließen (z.B. das alte Gegensatzpaar ‚Gläubige‘ gegen ‚Ungläubige‘, ‚Theisten‘ versus ‚Atheisten‘, ‚Optimist‘ vs. ‚Pessimist‘, …), überraschen lassen kann man sich ja immer noch.

(3) Es ist nicht leicht zu sehen, ob man diese Frage(n) nach dem Sinn überhaupt beantworten kann. Bei der Untersuchung der Frage, wie Wissen generell entstehen kann, wie Systeme generell lernen können, stellt man irgendwann nicht nur fest, wie ungeheuer schwierig die Entwicklung von Wissen ist, sondern dass es so etwas wie ein ‚Optimum‘ nicht isoliert für ‚ein einziges‘ System geben kann, sondern nur im Wechselspiel zwischen einem System und der ‚zugehörigen‘ Umgebung. ‚In‘ dieser bzw. ‚bezogen auf diese‘ kann das Verhalten eines Systems und sein aktueller Zustand einen bestimmten ‚Wert‘ haben; ohne diesen Zusammenhang ist nicht klar, wie man die ‚Werthaftigkeit‘ eines Systems definieren soll. Ein ‚individuelles System an sich‘ gibt es nicht. Alle bekannten Systeme — biologische wie technische — kommen immer nur vor als ‚Teil eines Ganzen‚.

(4) Traditionelle Deutungssysteme (mythische, religiöse, philosophische,…?) fallen dadurch auf, dass sie versuchen, dem einzelnen Menschen einen Deutungszusammenhang anzubieten, der es ihnen erlaubt, trotz der Vielfalt der wechselnden Alltagsbilder ‚in Allem‘ einen ‚Sinn für sich selbst‘ erkennen zu können, der ’stabil‘ ist gegen die Schwankungen des Alltags.

(5) Stellt man solche traditionellen Deutungsstrategien in Frage, kann man aus Sicht der ‚Anhänger‘ dieser Deutungsstrategien sehr schnell als ‚Bedrohung‘ angesehen werden, nicht nur als Bedroher des gedeuteten Sinns, sondern dann auch als Bedroher des eigenen Lebens, das durch diesen ‚gedeuteten Sinn‘ einen ‚abgeleiteten Sinn‘ hat/hatte, der durch die Infragestellung der Deutung womöglich abhanden kommt. Letztlich ist es egal welche Deutungsstrategie man in Frage stellt (religiöse, philosophische, esoterische, ad-hoc Alltagsmythologien, Verschwörungstheorien,….), entscheidend ist, dass man durch die Infragestellung bei den jeweiligen ‚Anhängern‘ (‚Gläubigen‘) den Eindruck erweckt, man greife mit der Deutung auch den gedeuteten Sinn selbst an, und damit zentrale ‚Gegenstände‘ des subjektiven Denkens, das sich ‚in‘ diesen ‚geglaubten‘ Gegenständen eine Weltsicht ‚gebaut‘ hat, die ‚Heimat‘, ‚Sinn‘ und persönlichen ‚Wert‘ (für viele Geschäftemacher aber auch konkrete Einkünfte) verspricht.

(6) Die ‚Stabilisierung des Alltags‚ durch Ausdeutung eines Sinns kann man negativ als ‚Immunisierung‚ verstehen, als Versuch der ‚Abschottung‘ vor den ‚Tiefen‘ und ‚Unwägbarkeiten‘ des realen Lebens. Doch letztlich partizipiert diese Tendenz der ‚Stabilisierung durch Deutung‘ von der allgemeinen Natur des Wissens, in einem anfänglichen ‚Meer von isolierten Zufälligkeiten‘ schrittweise ‚Muster‘ und ‚Zusammenhänge‘ erkennen zu können, die sich mehr und mehr zu komplexen Strukturen, Modellen, Theorien formen können. D.h. es ist die Eigenart unserer biologisch bedingten Wissensmaschinerie, die uns dazu anleitet/ führt/ zwingt, im Strom der Zufälligkeiten Nicht-Zufälliges aufzuspüren und dieses dann — wie Steine im fließenden Bach — als ‚Sprungstellen‘ zu benutzen, um ‚in allem Nicht-Sinn‘ dann doch Umrisse eines möglichen ‚Sinns‘ erkennen zu können.

(7) Streng genommen sind selbst die radikalsten wissenschaftlichen Modell bzw. Theoriebildungen Formen von ‚Sinngebung‚. Im Unterschied zu den vielfältigen Formen ‚alltäglicher Deutungen‘ mit Tendenz zur Abschottung, zur Immunisierung (die Andersgläubigen, die Ausländer, die Nachbarn, die Polizei, die Politiker, die Banker, die Proleten, die Versager, die Karrieristen, …) bieten wissenschaftliche Deutungsmodelle zumindest prinzipiell eine Transparenz für alle Daten und Methoden, die benutzt werden, um eine bestimmte Deutung aufrecht zu erhalten. Je komplexer wissenschaftliche Deutungen werden, je mehr persönliche Eitelkeiten von Forschern sich mit der Geltung einer bestimmten Deutung verknüpfen, je mehr finanzielle Einkünfte und politische Macht sich mit einer bestimmten Deutung gewinnen lassen, um so eher steht natürlich auch eine sogenannte wissenschaftliche Deutung in Gefahr, sich ‚unwissenschaftlich zu stabilisieren‘, sich zu ‚immunisieren‘, da der Verlust der Deutungshoheit einhergehen würde mit dem Verlust von vielen sekundären Vorteilen, die direkt nichts mit Wahrheit zu tun haben.

(8) Es gibt also eine eingebaute Tendenz der biologischen ‚Wissensmaschinerie‘ nicht nur überhaupt Deutungen zu generieren, sondern den Inhalt dieser Deutungen als das zu nehmen, was die erfahrbare flüchtige Welt ‚eigentlich‘ ist. Während wir alle von Geburt an automatisch Teil dieses ‚Deutungsgeschehens‘ sind, ist es nicht auch automatisch der Fall, dass wir uns dieses ‚vorprogrammierten Deutungsspiels‘ ‚bewusst‘ werden. In der ‚Simulation von Welt‘ ‚in unserem Kopf‘ ist das biologische Gehirn so meisterhaft, dass viele Menschen bis zu ihrem Tode niemals gemerkt haben, dass die Welt, die sie ‚zu sehen meinten‘, gar nicht die Welt ist, die real außerhalb des Gehirns existiert, sondern ’nur‘ die Welt, wie sie das Gehirn kontinuierlich aufgrund der ihm verfügbaren ‚Signale‘ ‚zusammenbaute‘. Aufgrund von vielen hundert Millionen Jahren ‚Entwicklungszeit‘ hat das Gehirn darin eine ‚Meisterschaft‘ erlangt, die uns die Möglichkeit bietet, auch ohne spezielles bewusstes Wollen Strukturen in der uns umgebenden Welt erkennen zu können, die wir in unserer Bewusstheit noch nie gedacht hatten. M.a.W. unser Gehirn ‚erzählt‘ uns kontinuierlich eine Geschichte von der Welt, die ein hohes Maß an Plausibilität besitzt, aber dennoch nur eine bestimmte (begrenzte) Deutung aufgrund spezieller Annahmen ist.

(9) Der seit Jahrtausenden anhaltende Versuch von Menschen, der automatischen Erkennungsleistung des Gehirns explizit konstruierte zusätzliche Deutungsmodelle an die Seite zu stellen, stellt eine außerordentliche Leistung dar, ist aber aufgrund der unausweichlichen Komplexität des Geschehens auf Schritt und Tritt anfällig für Fehler und Fehldeutungen. Es ist die Aufgabe der vielfältigen wissenschaftlichen (und auch philosophischen) Disziplinen, das gesamtgesellschaftliche Deutungsgeschehen kontinuierlich zu verbessern.

(10) Sofern ein Deutungsgeschehen — in welche Form auch immer — bestimmte Deutungsinhalte ’sichtbar‘ macht, die als ’sinngebend‘ verstanden/ erlebt werden, geschieht dies niemals ohne einen Bezug zu ‚vorgegebener Welt‘, es sei denn, die Deutungsinhalte sind ‚reine gedankliche Konstruktionen‘, ‚Phantasiegebilde‘, ‚gedankliche Spielereien‘, ‚gedankliche Erfindungen‘ und damit ‚beliebig‘, ‚wertlos‘. ‚Wertvolle‘ Deutungsinhalte entstammen letztlich immer einer ‚Begegnung‘ des erkennenden Systems mit einem ‚Anderen‘, das im erkennenden System eine Art ‚Echo’/ ‚Widerhall’/ ‚Erschütterung‘ … erzeugt. In diesem fundamentalen Sinn sind ‚wertvolle Deutungsinhalte‘ ‚wahr‘, weil es das, ‚wovon’/ ‚worüber‘ sie handeln, unabhängig vom Deutungsmedium in irgendeiner Form ‚tatsächlich gibt‘. Wenn jemand also ‚unwahre‘ Deutungen kritisiert, dann gefährdet er den Deutungsinhalt wesentlich. Im Falle von ‚wahren‘ Deutungen ist dies nicht so; durch die Kritik am deutenden Modell, am Deutungsmedium, am Deutungsgeschehen wird die wahr Ursache der Deutung nicht beseitigt. Im Gegenteil, ein — vernünftig geführter — ‚Deutungsstreit‘ trägt meistens dazu bei, ‚die zu deutende Sache‘ als Anlass einer Deutung weiter zu klären. Angesichts der Unzulänglichkeiten der biologischen Wissensprozesse sind Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte keine lange Zeit, letztlich ‚evolutionäre Augenblicke‘. Wahre (!) Wahrheit verschwindet also nicht durch die Kritik an ihrer Deutung; sie kann allerdings für eine gewisse Zeit ‚verdeckt‘ bleiben. Falsche (!) Wahrheiten können ebenfalls Jahrhunderte — oder gar Jahrtausende — überdauern, wenn die Menschen nicht bemerken, dass diese Deutungen letztlich nicht der Welt entsprechen, wie sie außerhalb ihres Denkens ist, sondern nur als Konstruktion in ihrem Kopf.

(11) Entsprechend der Volksweisheit ‚Aus Nichts kommt nichts‘ haben wir in der modernen Logik gelernt, dass man nur etwas beweisen kann, was man zuvor angenommen hat; die Physiker belehren uns über den Energieerhaltungssatz, der anders formuliert besagt, dass ich aus einem System nicht mehr Energie herausbekommen kann, als sowieso schon drin steckt. Im Bereich Wissen gilt letztlich etwas Analoges: ich kann nur wissen, was es schon gibt. In dem heute bekannten Kosmos haben wir — bezogen auf die Verteilung von Energie — noch ‚lokale Ungleichheiten‘. Diese ermöglichen die Entstehung von biologischen Systemen, die lokal Energie ansammeln und in dieser zeitlich begrenzten Energieakkumulationen Strukturen möglich machen, die partiell ‚unwahrscheinlich‘ sind und damit ‚Informationen‘ darstellen, die wir als ‚Wissen‘ erleben: Strukturen, die uns im Fluss von ‚Zufälligkeiten‘ als ‚Häufigkeiten‘ auffallen, die wir ’speichern‘ können, und die wir im Kontext des ‚Fortgangs‘ weiter ‚bewerten‘ können. Durch solche bewertbaren speicherbaren Häufigkeiten akkumulieren Energieungleichheiten als Wissen, das in der Tat letztlich ’nur‘ ein Echo dessen darstellt, was uns Erkennenden ‚widerfährt‘!!! In der Form des erfahrungsbasierten Wissens akkumulieren sich Aspekte des kontinuierlichen Weltgeschehens in verstehtigten Augenblicken, durch die etwas ’sichtbar‘ werden kann, was als Weltgeschehen kontinuierlich ‚abläuft‘, ohne dass der Ablauf als solcher ‚um sich weiß‘. Aber biologische Systeme als Teil dieses kosmischen Ablaufs können im Ablauf Aspekte des Ablaufs ‚akkumulieren‘, diese dadurch ‚füreinander sichtbar‘ machen, und in diesem ‚Füreinander-Sichtbarmachen‘ die Umrisse eines ‚wachsenden Sinnes‘ sichtbar machen, der etwas über das ‚Innere‘ des Kosmos erzählt, über seine ‚mögliche Seele‘, über den möglichen ‚Weltgeist‘ (der selbst möglicherweise keine biologische Strukturen benötigt, um zu ‚wissen‘; biologische Systeme sind spezielle Konstellationen innerhalb der materiellen Makrostrukturen).

(12) Wenn es also ‚für uns Menschen‘ einen Sinn gibt, dann nur, weil es diesen Sinn schon immer unabhängig von uns gibt und nur in dem Modus, dass wir diesen potentiellen wahren Sinn in einem gemeinsamen Deutungsgeschehen über Jahrhunderte, Jahrtausende… schrittweise aufdecken. Dass die zeitliche und körperliche Begrenztheit unseres biologischen Lebens diesen globalen Sinnzusammenhang nicht in Frage stellen können, ergibt ich daraus von selbst. Sinnlosigkeit besteht dann nur solange, als der einzelne sich nicht als Teil des größeren Sinnzusammenhanges verstehen und erleben kann. … was einfacher klingt als es real getan ist…..

 

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Zwischenergebnis Juni 2011: Nochmals zur Fitnessfunktion

  1. Die Überlegungen vom 20.2.2011 ‚Jenseits des Wärmetods‘ stehen weiter im Raum. Auf mehreren Ebenen ist seitdem viel passiert. Ein ‚track‘ ist die andauernde Analyse, wie Wissen in künstlichen Systemen entstehen kann, das ’nützlich‘ ist. Ich untersuche dazu weiterhin beispielhaft und modellhaft sogenannte genetische Algorithmen (GA) und Lernende Classifier Systeme (LCS).

  2. Genetische Algorithmen ‚leben davon‘, dass es eine sogenannte ‚Fitness Funktion‘ gibt, die die Aktionen eines genetischen Systems in einer Welt ‚kommentiert‘. Ohne diese Kommentare ist ein genetisches System ‚blind‘. Solange ein genetisches System ‚lebt‘ kann es interessante Informationen über die umgebende Welt ansammeln (was tatsächlich noch von vielen wichtigen Details abhängt).

  3. Fitness Funktionen stellen aber letztlich selbst eine bestimmte Form von Wissen dar, in dem bestimmten Eigenschaften der umgebenden Welt Wertungen zugeordnet werden, anhand denen sich ein genetisches System ‚orientieren‘ kann.

  4. Im Falle ‚technischer‘ genetischer Systeme sind es die Ingenieure, die ihr Wissen in Fitnessfunktionen ‚verpacken‘ und damit genetische Systeme ermöglichen.

  5. Im Fall ’natürlicher‘ Systeme gibt es keine Ingenieure. Man muss sich fragen, wie hier eine Fitnessfunktion zustande kommt.

  6. Die primäre Fitnessfunktion ist bei natürlichen Systemen das ‚Überleben‘ einer Population (= das genetische System), deren Mitglieder genügend ‚Nachkommen‘ erzeugen, die wiederum bestehen. Dies bedeutet, im Faktum des Überlebens einer Population (die einzelnen Mitglieder sterben, aber die Population überlebt!) manifestiert sich, dass die jeweiligen Mitglieder alle diejenigen ‚Aufgaben‘, die die Welt stellt, ‚hinreichend lösen‘ konnten.

  7. Was so einfach klingt ‚eine Population überlebt‘ stellt bei näherer Betrachtung eine gedankliche Provokation ersten Ranges dar. Wenn man voraussetzt, dass es natürliche Systeme gibt, die ‚leben können‘, erscheint die Aussage ‚trivial‘. Das Problem beginnt aber vorher: wie konnte es dazu kommen, dass sich komplexe natürliche Systeme bilden konnten, ohne dass es ein Team von Ingenieuren gab, die den Molekülen gesagt haben, wie sie sich ‚anordnen‘ sollten (ganz abgesehen von der Frage, wie es zur Bildung jener Moleküle aus Atomen kommen konnte, die heute als grundlegend für die Bildung von natürlichen Systemen angesehen werden. Bislang gibt es dazu noch keine vollständige Antwort!).

  8. Wie wir heute wissen, ist schon eine einzige Zelle von extremer Komplexität. Die Komplexität der aktiven Moleküle ist mathematisch nahezu nicht ausdrückbar. Sowohl zu ihrer Bildung wie auch zu ihrem ‚Erhalt‘ benötigt es beständig Energie. Zur ‚Vererbung‘ all dieser Komplexität werden Molekülstrukturen benutzt, die nicht nur ‚Inhalte‘ kodieren, sondern auch ‚Prozesse‘, wie diese ‚Inhalte unter ‚Verwendung‘ von Molekülen ‚erzeugt werden sollen/ können. Es ist mir nicht bekannt, dass die Wissenschaft heute auch nur ansatzweise eine Vorstellung davon hat, wie es zur Ausbildung dieses komplexen Informationsweitergabelmodells kommen konnte.

  9. Bekanntlich bestehen die meisten Pflanzen und Tiere heute nicht aus einer solchen komplexen Zelle, sondern aus vielen hundert Millionen, vielen hundert Milliarden Zellen, die miteinander ‚kooperieren‘ und ‚kommunizieren‘, ohne dass irgendein Ingenieur dafür auch nur den kleinsten Finger bewegt hat bzw. bewegt.

  10. Ferner besteht das Leben auf der Erde nicht aus nur einem solchen hyperkomplexen Organismus sondern aus vielen Milliarden von ganz unterschiedlichem Zuschnitt, deren Zusammenwirken die Biosphäre ausmacht.

  11. Lernende Classifier Systeme sind einfache Modelle, wie man u.a. die Reaktion eines einzelnen Systems auf die Welt modellieren kann. WENN das System etwas Bestimmtes ‚wahrnimmt‘, DANN soll es in einer bestimmten Weise reagieren. Unter Zuhilfenahme einer Fitnessfunktion kann man auch dieses Wissen ‚dynamisch‘ gestalten und es sich ‚verändern‘ lassen entlang dem ‚Gradienten‘ zum ‚Besseren‘. Auch hier gilt –wie oben –, dass die Fitnessfunktion selbst eine Form von ‚Wissen‘ darstellt, das letztlich die Richtung der möglichen Entwicklung festlegt. Auch hier kann man wieder die Frage stellen, wo dieses Wissen herkommt.

  12. Im Fall von natürlichen Systemen wissen wir, dass diese ab einem bestimmten Punkt der Komplexität ‚intern‘ Bewertungsmechanismen ausgebildet haben, die es ihnen erlauben, bis zu einem gewissen Grad auch schon in der Zeit ‚vor dem Tod‘ erlebbare Situationen zu ’sortieren‘ in solche, die ’nützlich‘ sind und solche, die es ’nicht‘ sind.

  13. Es stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass natürliche Systeme ihre eigenen Strukturen in einer so markanten Weise ‚umbauen‘ können, dass die schon von Anfang an komplexe Strukturen ihre Strukturen ‚weiter ausdehnen’/ ‚erweitern‘, und zwar nicht ‚chaotisch‘, sondern so ‚geordnet‘, dass diese erweiterten Strukturen im Rahmen der gesamten Überlebensaufgabe eine ’sinnvolle Teilaufgabe‘ übernehmen können.

  14. An dieser Stelle auf die bekannten genetischen Mechanismen zu verweisen, würde genau an der eigentlichen Problemstellung vorbei gehen. Abgesehen davon, dass die Entstehung der genetischen Mechanismen selbst mehr oder weniger unklar ist geht es ja um die ‚mittels der genetischen Mechanismen‘ transportierten Informationen über potentielle Prozesse von Wachstum und Selbstorganisation.

  15. Wer jemals selbst versucht hat, künstliche formale Systeme so zu programmieren, dass diese sich in einem analogen Sinne ‚weiter entwickeln‘, und zwar ’sinnvoll‘, dem ist klar, dass die reale Vorgabe der natürlichen Systeme ‚ein Komplexitätsspiel spielt‘, für das uns bislang brauchbare Vorstellungen fehlen.

  16. (Anmerkung: die aktuell bekanntgewordene Forschungsprojekte, in denen man für viel Geld Milliarden von künstlichen Neuronen zusammenschmelzen will und dann — wie von Zauberhand — auf die Entstehung sinnvoller Strukturen hofft, erscheinen mir grotesk und lächerlich. Dass es für diese Projekte keine wirklichen Begründungen gibt, ist verständlich, machen die Projekte dadurch aber nur noch grotesker. Voodoo besitzt mehr Rationalität als diese sogenannte Forschungen.).