Archiv für den Monat: August 2011

Metamorphose der Demokratie als Herausforderung und Chance

(1) In der FAZ vom 29.Aug.2011 auf S.7 beschreibt Prof.Dr.Hans H.Klein, Emeritus für Öffentliches Recht der Universität Göttingen (und u.a. vormals Richter am Bundesverfassungsgericht) das Problem der Realisierung von Demokratie innerhalb der europäischen Strukturen. Insbesondere hebt er ab auf das Problem der nicht hinreichenden Legitimierung von politischen Akten auf den jeweils höheren institutionellen Ebenen, vor allem im Übergang von den nationalen zu den übernationalen europäischen Institutionen. Er vermeint auf den höheren ebenen eine Tendenz zu einer zunehmenden Ausdünnung von Legitimierungen zu erkennen bis hin zu nicht legitimierten Handlungen. Hier sieht er auch eine der Ursachen für eine zunehmende Entfremdung der Bürger von Europa bzw. der europäischen Politik.

 

(2) Klein lokalisiert in einer funktionierenden Öffentlichkeit jenen zentralen Mechanismus zur Vorbereitung und Legitimierung von politischen Akten der gegeben sein muß, damit sich aus der Vielfalt der einzelnen eine gemeinsame Wertebasis entwickeln kann. Doch genau diese gemeinsame Öffentlichkeit scheint heute mehr und mehr in Gefahr: die Vielfalt der Anschauungen, Werte und Traditionen, die zusätzliche Überflutung mit immer mehr unterschiedlichsten nicht integrierten Informationen und eine generelle Schwäche der medialen Systeme erweckt den Eindruck, als ob ein zentraler Mechanismus der demokratischen Meinungs- und Willensbildung außer Takt kommt; auch hier sieht Klein eine mögliche Ursache für Politikverdruss. Zusätzlich hat er den Eindruck, dass die gesellschaftlichen Eliten nicht den Diskurs suchen, sondern dazu neigen, sich abzuschotten, Andersdenkende schnell ausgrenzen.

 

(3) Auf den ersten Blick mag man der globalen Hypothese von Klein zustimmen. Doch was folgt daraus? Bleibt uns nur Pessimismus und das Warten auf eine nächste Katastrophe? Beides ist weder notwendig noch erstrebenswert. Weitere nüchterne Analysen tun Not und vor allem brauchen wir neue Handlungsansätze, die diese Paralyse aufbrechen. Eine Vielzahl dynamischer politischer Bewegungen in Deutschland, Europa und global zeigen, dass es prinzipiell geht, allerdings nicht ‚von selbst‘; es bedarf realen persönlichen Engagements, um aus Chancen reale Ereignisse werden zu lassen. Leicht ist es auf keinen Fall.

Entmystifizierung des Ethikrates — Ethik eine Verhandlungssache?

(1) Horst Dreier, Prof. für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht in Würzburg, stellt sich in seinem Beitrag in der FAZ vom 17.August 2011 der Frage nach der Rolle des Deutschen Ethikrates. Klar und prägnant arbeitet er die gesetzlich definierte Rolle des Rates heraus, der eindeutig auf eine Beratungsfunktion beschränkt ist, die dem Parlament seine eigene Entscheidung nicht abnehmen kann. Da er unter Berufung auf Peter Graf Kielmansegg der Wissenschaft eine Sonderstellung für Fragen der Ethik abspricht — präzisiert durch die Bemerkung, dass man aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen keine normativen Schlüsse ziehen könne — verschiebt sich die Frage der normativen Klärung auf den Bereich der ‚Bewertung‘ von (naturwissenschaftlichen) Sachverhalten im Lichte der Kompetenz letztlich jeden einzelnen Bürgers („Bei ethischen Fragen sind die Bürger gleich zu achten“). Dieser einzelne Bürger ist allerdings ‚eingebettet‘ in die geltende Gesetzgebung, deren ‚Einhaltung‘ vom Bundesverfassungsgericht überwacht wird. Letzteres steht aber nicht ‚über‘ dem Gesetz; es ist nicht das sich selbst genügsame ‚perpetuum mobile‘ von ethischen Prinzipien, sondern ist dem geltenden Gesetzestext — und seiner ‚unterstellten Intentionen‘ — verpflichtet.

(2) Mit dieser Ortsbestimmung des Ethikrates könnte man den Eindruck gewinnen, als ob sich ‚das Ethische‘ in eine ‚Beliebigkeit‘ verflüchtigt. Zwar dürfen die Experten des Ethikrates Meinungen äußern — und letztlich auch alle Bürger (wo werden diese gefragt?) — aber durch die Verlagerung der ethischen Erkenntnis in das individuelle Denken, das im Ethischen gleichberechtigt ist, gibt es keinen wirklichen ‚Fixpunkt‘ mehr, an dem sich die individuellen Urteile messen können. Dreier nennt diesen Bereich jenseits der Fakten den Bereich ’normativer Wertungen‘, für den er mit Bezug auf Max Weber günstigstenfalls reklamiert, dass man diese normativen Inhalte einer ‚Diskussion‘ zuführen kann, eventuell in Form einer ‚konsistenten‘ (widerspruchsfreien) Darstellung kondensiert in ‚Wertaxiomen‘.

(3) Dieser Versuch einer formalen Eingrenzung des ‚Ethischen‘ im interdisziplinären Diskurs lässt erahnen, dass es hier nicht um ‚die‘ Wertaxiome geht, sondern um jene Wertaxiome, die unterschiedliche Vertreter artikulieren. Der Raum des Ethischen ist in diesem Konzept also ein ‚offener‘ Raum, der sich entwickeln kann, der anhand neuer Einsichten umakzentuiert werden kann; das Ethische wird damit eingebettet in den allgemeinen Erkenntnisprozess der Menschheit, der bekanntlich in den letzten Tausenden von Jahren starke Wandlungen erfahren hat.

(4) Diese Sicht einer Ethik, die sich im fortdauernden Diskurs ‚finden‘ muss, wird auch noch unterstützt durch die Ergebnisse der mathematischen und linguistischen Grundlagenforschung des 20.Jahrhunderts. Seit Goedel (1931) und Turing (1936/7) ist unabwendbar klar, dass selbst im abgegrenzten Bereich formaler (mathematischer) Theorien ‚konsistente‘ Theorien nur bis zu einer gewissen ‚Ausdrucksstärke‘ möglich sind. Das meiste, was heute in der Mathematik wichtig ist, lässt sich nicht als konsistent beweisen. Für den Bereich natürlicher Sprachen (dazu gehört Philosophie und Ethik allemal) ist die Frage der ‚Konsistenz‘ ganz bodenlos (u.a. Wittgenstein). Die Idee eines widerspruchsfreien ethischen Diskurses ist bestenfalls eine ‚regulative Idee‘, eine Illusion, die helfen kann, den Glauben an Konsistenz aufrecht zu erhalten, aber praktisch einlösbar ist eine Widerspruchsfreiheit in diesem Bereich grundsätzlich nicht. Die einzig mögliche Konsequenz aus diesen Sachverhalten ist, die Partialität jeglicher Erkenntnis, insbesondere auch der ethischen, sehr ernst zu nehmen, und Bruchstücke, fragile Konstruktionen, von vornherein niemals einfach auszugrenzen. In den Naturwissenschaften hat man gelernt, mit partiellen Erkenntnissen so umzugehen, dass man ‚inkrementelle Modelle (Theorien)‘ entwickelt, die im Laufe der Zeit ‚verbessert‘, ‚korrigiert‘ werden, ohne dass zu irgendeinem Zeitpunkt eine Theorie einen ‚Absolutheitsanspruch‘ hat. Dass diese Modell einer ‚dynamisch partiellen‘ Erkenntnis erfolgreich sein kann, belegen die letzten Jahrhunderte. Ob Horst Dreier diesen Konsequenzen zustimmen würde?

(5) Letztlich wird man wohl auch nicht umhin kommen, das Format eines ethischen Diskurses neu zu bestimmen, zumindest erheblich weitergehender als es bislang geschehen ist.  Es ist allerdings schwer zu sehen, aus welcher ‚Ecke‘ geisteswissenschaftlicher Aktivitäten diese ‚Erneuerung‘ kommen kann. Die  Diskursbeiträge der letzten Jahrhunderte haben nur demonstriert, dass sie diese Aufgabe nicht bewältigen können.