Archiv für den Monat: Januar 2013

Einschub: Wahrheit vs. Kapital

Letzte Änderung: 23.Jan.2013

Eigentlich bin ich noch bei der Lektüre von Kauffmans Buch ‚Reinventing the Sacred‘. Fortsetzung Nr.3 ist in Vorbereitung. Zwischendurch haben sich aber nachfolgende Gedanken ‚dazwischen gedrängt‘. Sie gehören zum Themenbereich ‚Gesellschaft – Wissenschaft – Religion‘.

FIRMA

Betrachtet man die ‚Logik eines Kapitalunternehmens‘, sprich einer ‚Firma‘, dann ist ganz klar, dass eine Firma mindestens ihre Kosten hereinbekommen muss. Wenn darin alle notwendigen Erhaltungsmaßnahmen und eine hinreichende Entlohnung für alle Beteiligten enthalten ist, ist ein zusätzlicher Gewinn nicht notwendig. Dies bedeutet: eine Firma kann 0 € Gewinn machen und sehr erfolgreich sein oder einen ‚offiziellen‘ Gewinn von X % ausweisen und zugleich kurz vor dem Zusammenbruch stehen (wenn die Qualität der Mitarbeiter ungenügend ist, die Kommunikation und Infrastruktur unzulänglich ist, die Innovationskraft zu schwach ist, usw.).. Andererseits läßt sich an der ausgewiesenen Gewinnmarge meist auch der Grad der ‚Seriosität‘ einer Firma ablesen: wenn eine Firma z.B.  in einem Marktsegement operiert, in dem ein real hoher Konkurrenzdruck mit nur geringen Margen herrscht, dann kann der Abstand zu einem angenommenen Kostensatz normalerweise nur sehr gering sein, es sei denn, es werden Mittel eingesetzt, die ‚von der Norm‘ abweichen. Hier ist der Spielraum sehr groß. Die vielen Finanzskandale der letzten Zeit (und der Vergangenheit ) haben für einen Wirtschaftsbereich gezeigt, wie hohe Gewinne hier z.B. nur durch Missbrauch von Kunden und explizit kriminellen Methoden erreicht wurden. Hier wird erkennbar, dass der Begriff des ‚Gewinns‘ sehr vage ist und sich daher für ‚Instrumentalisierungen‘ aller Art anbietet.

SPIELREGELN FÜR FIRMEN

Aus diesen Voraussetzungen folgt, dass eine Firma nur eine begrenzte Menge von Aktivitäten unterstützen kann, um sich nicht selbst in Frage zu stellen. Ausgaben für ‚Forschung und Entwicklung‘ lassen sich nur soweit rechtfertigen, als Sie im Umfeld des aktuellen oder bestenfalls eines als ‚realistisch‘ eingeschätzten potentiellen Marktauftritts eine Chance haben, innerhalb eines ebenfalls als ‚realistisch‘ eingeschätzten ‚Zeitrahmens‘ so umgesetzt zu werden, dass mindestens die ‚Ausgaben‘ wieder hereinkommen. Würde sich eine Firma diese Einschränkungen nicht auferlegen, würde sie riskieren, Verluste zu machen, die sie nicht mehr ausgleichen könnte; das wäre ihr möglicher Tod (wir lassen hier außer Acht, dass es heute finanztechnische Manöver gibt, solche Verluste zu ‚verschleiern‘, um sie ahnungslosen ‚Kunden‘ unter zu jubeln. Lokal hat dadurch zwar ein Unternehmen evtl. seine Verluste ‚vergesellschaftet‘, aber global betrachtet wurden ‚Schulden‘ weitergereicht, die andernorts ein ‚Verschuldungsloch‘ reißen können. Dies ist dann ein Beispiel für die ‚Moral der Unmoral‘ (siehe dort).)

JENSEITS EINER FIRMA

Geht es also um Fragen, die über die potentiellen Verkäufe einer Firma hinausgehen, muss eine Firma passen (bei einer sehr großen Firma mit einer sehr großen Bandbreite an Produkten und Dienstleistungen kann der mögliche Spielraum vergleichsweise groß sein, so dass die geltenden ‚Begrenzungen‘ nicht so konkret sichtbar sind und sie den ‚Entscheidern‘ ‚Spielräume‘ lassen). Dann stellt sich die Frage, wer sich zuständig fühlt für alle Problemstellungen, die die Grundlagen von Märkten betreffen (technische Infrastrukturen, juristische Rahmenbedingungen, Ordnung und Sicherheit, Finanzmärkte, qualifiziertes Personal, intakte Umwelt, usw.). Nach heutigem Wissensstand bleibt hier nur die ‚Gesamtgesellschaft‘, der ‚Staat‘.

GESAMTGESELLSCHAFT

In gewisser Weise kann man diese Gesamtgesellschaft wieder als eine ‚Art von Firma‘ begreifen: letztlich kann eine Gesamtgesellschaft nur existieren, wenn alle ihre Mitglieder in ‚hinreichender Weise‘ ein ‚individuelles‘ Leben führen können, das ein ‚Zusammenwirken mit anderen‘ auf eine Weise ermöglicht, die eine komplexe Gesellschaft möglich macht. Im Gegensatz zu einer kapitalbasierten Einzelfirma ist der ‚Markt‘, in und an dem sich eine einzelne Gesamtgesellschaft ‚messen‘ muss, nicht so eindeutig. Wie viel ‚benötigt‘ der einzelne, welche ‚Formen des Zusammenwirkens‘ sind notwendig, welche ‚Infrastrukturen‘ sind zu gewährleisten, usw. damit eine Gesamtgesellschaft existieren kann? Inwieweit hängt eine Gesamtgesellschaft ab von dem Funktionieren der Märkte für individuelle kapitalgetriebene Firmen?

KEINE THEORIE DER GESAMTGESELLSCHAFT

Soweit ich sehe, hat bislang niemand hier so klare Antworten, dass wir jederzeit in der Lage wären, einfach zu entscheiden, was zu tun ist. Eine derart konkrete und anwendungsfreundliche ‚Theorie der Gesellschaft‘ gibt es nicht. Es ist nicht einmal klar, wer für solch eine Theorie offiziell ‚zuständig‘ ist. Die immer wieder auftretenden wirtschaftlichen Krisen der Vergangenheit (und Gegenwart), die immer Hand in Hand gehen mit einer Krise von Gesamtgesellschaften, belegen, dass wir weit entfernt sind von einem angemessenen Verständnis dieser Mechanismen. Dies ist schlimm. Noch schlimmer ist, dass offensichtlich ein Bewusstsein dafür fehlt, dass wir uns in einer gemeinsamen Anstrengung solch eine Theorie — oder zumindest Bausteine zu solch einer — erarbeiten müssten.

FRAGE NACH DER WAHRHEIT

Vor diesem Hintergrund komplexer Wirkmechanismen, die den tatsächlichen Handlungsspielraum ganzer Gesellschaften real bestimmen, stellt sich die Frage nach ‚Wahrheit‘, nach einer gesamtgesellschaftlich getragenen ‚Erforschung von Wahrheit‘ natürlich anders, als in einer eher ‚abstrakten philosophischen‘ Überlegung.

GESAMTGESELLSCHAFTLICHE FORSCHUNG

Die ‚Wahrheitsforscher‘ (damit meine ich ALLE Wissenschaftler, Naturwissenschaften wie Geisteswissenschaften, Gesellschaft wie Kultur) sind in der Regel reale Personen, die den realen Lebensbedingungen unterliegen (Körper, die real funktionieren müssen; eine Psyche, die ‚funktionieren‘ muss; ein Wissensstand, der ‚auf der Höhe der Zeit‘ sein muss; Arbeitsbedingungen, die eine hinreichende Reflexion und experimentelle Untersuchung ermöglichen, einschließlich einer zugehörigen ‚Lehre, usw.). Wenn eine Gesellschaft ihre eigenen Mechanismen und potentiellen Zukünfte verstehen können will, muss sie hinreichend vielen Wissenschaftlern die Möglichkeit bieten, alle jene Aspekte der gesellschaftlichen Realität und Existenz zu untersuchen, die ‚relevant‘ sind bzw. ‚werden können‘. Ist schon die Definition der Erforschung ‚potentieller Produkte‘ im Bereich kapitalgetriebener Einzelfirmen schwer bis unmöglich (die Zahl der Firmen, die wegen mangelnder Innovationskraft von den Märkten verschwunden ist, ist Legion), so ist eine klare Definition der potentiellen ‚Forschungsthemen‘ einer gesamtgesellschaftlichen Forschung und Lehre umso schwerer. Das einzige, was man sagen kann, ist, dass die ‚Kreativität‘ dieser Forschung beständig ein ‚Maximum‘ anstreben muss. Tatsache ist aber, dass Gesamtgesellschaften beständig in Gefahr sind, aus ‚Angst‘ heraus, vermischt mit ‚Klientelpolitik‘, die Ziele in recht kurzatmiger Weise ‚vorzugeben‘. Und nicht nur das; in der Sorge, ‚umsonst‘ zu forschen wird die gesamtgesellschaftliche Forschung immer mehr dazu verpflichtet, sich an den begrenzten Zielen von kapitalgetriebenen Einzelfirmen zu orientieren. Dies kommt geradezu der vollständigen Verneinung von gesamtgesellschaftlich verankerter Forschung (und Lehre!) gleich. Im Bereich der Medizin- und Pharmaforschung, wo die Interessengegensätze zwischen Einzelfirmeninteresse und Gesamtgesellschaft größer nicht sein könnten, führt dies z.B. zu absurden Konsequenzen; aber eben nicht nur dort. Aufs Ganze wird genau das Gegenteil von ‚Innovation‘ erreicht.

ZENTRALE FRAGEN DES DASEINS

Bedenkt man ferner, dass viele ‚zentrale Fragen des menschlichen Daseins‘, jene, die uns allen den eigentlichen ‚Sinn‘ unsere ‚irdischen Existenz‘ ‚erschließen‘ sollen, von ihrer ‚Wesen‘ her, nicht direkt ‚verwertbar‘ sind, dann kann man sich schon Sorgen machen, wie die ‚Sache der Wahrheit‘ voran kommen kann, wenn die Gesamtgesellschaften dahin tendieren, Alles ‚unmittelbar verwertbar‘ zu machen (was natürlich immer nur bezogen auf ‚aktuelle‘ Märkte gilt; auf dem Markt der Zukunft gelten neue Regeln und die ‚Kurzsichtigkeit‘ und ‚mangelnde Innovation‘ werden brutal abgestraft (aber dann sind die aktuellen Politiker und Manager nicht mehr im Dienst und verkonsumieren ihre Entlohnungen für die Eigenschaft, private und ‚individuell lokale‘ Interessen durchgesetzt zu haben…).

STAATLICH ‚ZERTIFIZIERTE‘ ‚RELIGIÖSE‘ VEREINIGUNGEN

Diese Situation wird dadurch verschlimmert, dass die meisten Gesellschaften (alle?) das ‚Geschäft mit den letzten Wahrheiten‘ vielfach an die ‚traditionellen religiösen Gemeinschaften‘ abgetreten haben. Nicht nur fehlt diesen in der Regel der notwendige umfassend organisierte Forschungs- und Lehrapparat, sondern diese traditionellen religiösen Gemeinschaften sind innerlich mit so vielen partikulare Interessen verflochten, dass sie weitgehend gar nicht in der Lage sind, offen, rational und zukunftsorientiert zu denken. Nicht wenige traditionelle religiöse Gemeinschaften verbieten ja sogar ihren Mitgliedern, kritisch über ihre eigenen Voraussetzungen nachzudenken, geschweige denn, dass sie ihre Mitglieder ermutigen, aktiv und verbindlich Erfahrungen zu reflektieren. Dies lässt viel Spielraum für machthungrige und ideologisierende Anführer, die vor keinen Instrumentalisierungen zurückschrecken (ein allgemeiner menschlicher Zug, der sich natürlich auch in der Gesamtgesellschaft und ihren Teilbereichen wiederfindet; hier jedoch — hoffentlich — durch eine umfassende offene und kritische Öffentlichkeit abgemildert wird).

RELIGIÖSE TOLERANZ KANN DESTRUKTIV SEIN

Schlimm genug, dass die Gesamtgesellschaft die Reflexionen über den Gesamtzusammenhang nicht selbst betreibt sondern an Teilbereiche delegiert, deren Rationalität und wissenschaftliche Standards sich an einer Zeit orientieren, die weit zurück liegt, bekommen diese als ‚religiös‘ ‚zertifizierten‘ Teilgemeinschaften sogar noch einen rechtlichen Sonderstatus, der ihre Fragwürdigkeit gesellschaftlicht nicht nur schützt, sondern sogar noch in die Gesamtgesellschaft hinein wirken lässt. Dies ist etwas befremdlich: während man die gesamtgesellschaftliche Forschung beständig kompromittiert, indem man sie eindeutig begrenzten Zielen zu unterwerfen versucht, wird die ‚Entgrenzung‘ der Forschung in Richtung auf die gesellschaftlichen Gesamtfragen durch die schiere Existenz wahrheitsmäßig obskurer Vereinigungen nicht gefördert. Damit unterstützt man den unbefriedigenden Status Quo der sogenannten ‚religiösen‘ Vereinigungen dadurch, dass man den gesamtgesellschaftlich notwendigen Diskurs über zentrale Fragen von vornherein austrocknet. Irgendwie sieht es so aus, also ob das Projekt der Aufklärung auf halbem Weg stehen geblieben ist. Die Entwicklung besserer Wissenschafts- und Lehrformen, besserer Technologie, besserer gesellschaftlicher Formen sozialer und politischer Teilhabe, von offener Kunst usw. hat stattgefunden (ohne am Ziel zu sein), aber die Entwicklung einer neuen gesamtgesellschaftlichen ‚Sinn-Theorie‘ blieb aus; man hat sich quasi ein ‚Denkverbot‘ auferlegt und zugleich — völlig ohne jede rationale Begründung — die als weitgehend nicht-rational qualifizierten als ‚religiös‘ sich bezeichnenden Vereinigung, durch ein religiöses Toleranzgebot, das als Diskursverbot praktiziert wird, in einem Zustand altertümlichen ‚Nichtwissens‘ belassen. Dies nützt niemandem, nicht einmal den sogenannten religiösen Vereinigungen selbst.

Für einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln siehe HIER.

REDUKTIONISMUS, ERMERGENZ, KREATIVITÄT, GOTT – S.A.Kauffman – Teil 2

(Letzter Eintrag 14.Jan.2013)
(Letzte Korrekturen/ Anmerkungen: 23.März 2013)

FORTSETZUNG

(1) Nach einer Charakterisierung des ‚Reduktionismus‘ am Beispiel der modernen Physik führte Kauffman verschiedene Argumente gegen diesen Reduktionismus an. Daraus und aus weiteren Argumenten formte er dann Argumente für die Nichtreduzierbarkeit des Biologischen auf das Physikalische. Diese führten dann zurück zum Ursprung des Lebens, zur unglaublichen Komplexität dieses Anfang und zugleich der anhaltenden Schwierigkeit, diesen Anfang plausibel erklären zu können. Kauffman präsentiert dabei auch ein eigens Modell, das Modell der autokatalytischen Mengen, das — zumindest mathematisch – viele der wichtigen Fragen zu erklären scheint.

DAS KONZEPT DES HANDELNDEN (‚AGENCY‘) ALS GRUNDBEGRIFF

(2) Nach den bisherigen ‚Einkreisungen‘ des Phänomens des ‚Biologischen‘ deutete sich an (und Kauffman stellte dies immer wieder im Text fest), dass Begriffe wie ‚Bedeutung‘, ‚Wert‘, ‚Handeln‘, ‚Handelnder‘, ‚Zeichen‘ wichtige Eigenschaften des Biologischen repräsentieren, die sich als solche nicht auf physikalische Grundbegriffe zurückführen (‚reduzieren‘) lassen. Während diese Eigenschaften beim homo sapiens sapiens mittlerweile in äußerst komplexen Ausprägungen auftreten, stellt sich die Frage nach möglichen Vorläufern, nach ‚allerersten Handelnden‘, sozusagen ‚Protoagenten‘. Kauffman spricht von ‚protoagency‘ (S.72) und vermutet ihren Ursprung schon im molekularen Bereich und spricht von ‚molekularen autonom Handelnden‘ (‚molecular autonomous agent‘).(S.74)
(3) Bevor Kauffman diese vermuteten allerersten Handelnden im Bereich des Molekularen untersucht, diskutiert er auf 6 Seiten sowohl die Notwendigkeit einer teleologischen Sprache wie auch deren Nichtreduzierbarkeit. (vgl. SS.72-78) Er zitiert einschlägige Autoren wie Aristoteles, Searl und Wittgenstein, doch bleibt unklar, wie man überhaupt eine ‚teleologische Sprache‘ befriedigend definieren kann. Die Verwendung von Begriffen wie ‚Intention‘, ‚Planen‘, ‚zielgerichtet‘, ‚Absicht‘ ersetzt als solche noch keine brauchbare Definition.
(4) Die generelle Argumentationslinie geht aus vom Phänomen des Biologischen, das interpretiert wird als ein autonomes, sich selbst reproduzierendes, offenes System, das durch kontinuierliche Zufuhr von freier Energie einen thermodynamischen Prozess in Gang hält. Zusätzlich wird angenommen, dass sich auf das Verhalten eines biologischen Systems der Begriff ‚zielgerichtet‘ anwenden lässt, der weitere Begriffe wie ‚Bedeutung‘, ‚Wert‘, ‚Absicht‘ und ‚Handelnder‘ impliziert.
(5) Schon auf der Ebene einer einzelnen Zelle sieht Kauffman alle wichtigen Eigenschaften als gegeben an: Zellen können ‚entdecken‘ (‚detect‘), sie haben eine ‚Wahl‘ (‚choice‘), und sie können ‚handeln‘ (‚act‘). Zusätzlich können sie sich ‚reproduzieren‘ und können mindestens einen ‚Arbeitszyklus‘ (‚work cycle‘ (im Sinne einer Carnot-Maschine, s.u.) ausführen. (vgl.S.78f)
(6) Der Begriff des ‚Arbeitszyklus‘ geht zurück auf das thermodynamische Modell von Nicolas Léonard Sadi Carnot (1796 – 1832), der als Begründer der modernen physikalischen Theorie der Thermodynamik gilt. Anhand einer idealen Wärme-Maschine kann Carnot einige allgemeine Eigenschaften ableiten. Dazu gehört die wichtige Unterscheidung zwischen ’spontanen‘ (exogenen) Prozessen und solchen die ’nicht spontan‘ (endogen) sind. Letztere brauchen Energie, um ablaufen zu können, erstere nicht. Beispiel für einen spontanen Prozess bietet der Ball, der einen Hügel hinabrollt; nicht spontan wäre der ‚Transport‘ des Balles den Hügel hinauf, der zusätzliche Energie verlangt. Ein ‚Carnot Zyklus‘ besteht also aus der Abfolge von einem spontanen Prozess (ohne Energie) und einem nicht spontanen Prozess, der Energie verlangt. Carnot Zyklen können also nicht in einem ‚Gleichgewichtszustand‘ (‚equilibrium‘) stattfinden. Gleiches findet sich in jedem chemischen Prozess: Zustände höherer Energie können in Zustände geringerer Energie ohne Energiezufuhr übergehen, nicht aber umgekehrt. (vgl. S.79f)
(7) Spätestens seit Schrödinger (1887- 1961) kann man wissen, dass biologische Prozesse nur durch Zufuhr von Energie (physikalisch ‚Negentropie‘) am Leben bleiben können. Zusätzlich aber, und dies hebt Kauffman hervor, benötigen diese Systeme die Fähigkeit, diese Zufuhr von freier Energie zu organisieren. D.h. nur dann, wenn ein System in der Lage ist spontane und nicht spontane Prozesse so zu organisieren, dass sie kontinuierlich stattfinden, nur dann kann ein dynamisches Ungleichgewicht erhalten bleiben.(vgl. S.82)
(8) Biologische Systeme haben zusätzlich die Fähigkeit der ‚Speicherung‘ von Energie und der Selbstreproduktion. Im Kontext der Evolution, also dem Wechselspiel von Reproduktion und Umweltpassung, werden solche Systeme begünstigt (‚Selektion‘), die in der verfügbaren Lebenszeit mehr Nachkommen hervorbringen können als andere. Dadurch werden jene konstruktiven Änderungen der Strukturen, in denen diese Prozesse ablaufen, ’selektiert‘, die die ‚zielgerichtete‘ (?) Versorgung mit freier Energie ‚optimieren‘. Kauffman schlägt vor, diese ‚Zielgerichtetheit‘, die ein außenstehender Betrachter in solch einem evolutionären Prozess ‚erkennen‘ kann, als eine spezifische Eigenschaft solcher Systeme zu sehen, die er ‚Handlungsfähigkeit‘ (‚agency‘) nennt.(vgl. S.85) Handlungsfähigkeit also als eine biologische Eigenschaft, die schon den allerersten einfachsten biologischen Strukturen zukommt und die sich im Kontext der Evolution beständig verändern kann. Da ein ‚Virus‘ nicht alle diese Eigenschaften hat könnte die Eigenschaft der ‚Handlungsfähigkeit‘ etwas sein, das ‚volle Lebensformen‘ von einer Lebens-Vorform wie einen Virus abgrenzen würde. (vgl. S.85)
(9) Am Beispiel eines einfachen Bakteriums verdeutlicht Kauffman diese Begriffe weiter und führt an dieser Stelle fundamentale Begriffe kognitiver Prozesse ein wie ‚Semiose‘, ‚Zeichen‘, ‚Bedeutung‘, Absicht‘ usw.(vgl. S.85ff)
(10) Man kann sicher darüber streiten, ob diese Begriffe an dieser Stelle wirklich hinreichend motiviert sind, aber mir erscheint dieser Interpretationsversuch als mindestens sehr interessant. Ein ‚Zeichenprozess‘ (’semiose‘) impliziert ‚Zeichen‘, ‚Bedeutung‘, ‚Interpretation‘ usw. Für ein Bakterium, das sich entlang einem Glukose-Gradienten in Richtung für mehr Zuckergehalt bewegt, ist dieser Gradient ein ‚Zeichen‘ (’sign‘), das auf die Möglichkeit von mehr Zucker ‚verweist‘. Dieser mögliche Zucker wäre dann seine ‚Bedeutung‘. Abhängig von einer ‚Interpretation‘ des Zeichens kann dann eine ‚Wahl‘ (‚choice‘) erfolgen, entsprechende ‚Handlungen‘ vorzunehmen. Eine solche Entscheidung impliziert, dass der mögliche Zucker für das Bakterium einen ‚Wert‘ (‚value‘) darstellt, für den es sich lohnt, zu handeln. Mit der Entscheidung für diesen Wert und der daran geknüpften Aktion kann man eine ‚Absicht‘ (‚purpose‘) verknüpft sehen (hier natürlich zunächst nur implizit in der chemischen Maschinerie kodiert).(vgl.S.86f)
(11) Hier kommt Kauffman auch nochmals auf David Hume (1711 – 1776) zurück, der die philosophische These aufgestellt hatte, dass man aus einem einfache ‚Sein‘, aus bloßen ‚Fakten‘, kein ‚Sollen‘ ableiten kann. Die zuvor von Kauffman vorgelegte Interpretation eines Proto-Handelnden würde dies einerseits bestätigen (der Gradient als solcher impliziert nichts), aber andererseits würde deutlich, dass ein Faktum (der Gradient) innerhalb der Beziehung zu einem System, das diesen Gradienten als ‚Zeichen‘ für etwas ‚interpretieren‘ kann, das für das System einen ‚Wert‘ darstellt, in den ‚Kontext eines Sollens‘ geraten kann, das vom interpretierenden System ausgeht. (vgl.S.87) [ANMERKUNG: Wenn man jetzt den evolutionären Kontext bedenkt, dann hat das System sein ‚Wertbewusstein‘ aber nicht selbst geschaffen, sondern aufgrund des von der Umwelt getragenen Selektionsprozesses quasi ‚vorgefunden‘ als eine Eigenschaft, die in der auswählenden Umwelt ‚gilt‘. So gesehen ist es der evolutionäre Prozess, der die verfügbaren ‚Fakten der jeweiligen Welt‘ durch die Selektion in ein ’systemimmanentes Sollen‘ transformiert! ‚Sollen‘ ist in diesem Kontext dann ‚evolutionär transformiertes Sein‘!! In unserem Handeln setzen wir das um, was die vorausgehende Evolution als ‚für diese Welt hilfreich‘ ‚gezeigt‘ (‚offenbart‘?) hat.]

ARBEIT (‚WORK‘)

(12) Kauffman rückt einen weiteren interessanten Umstand ins Licht, der die Besonderheit des Biologischen weiter verdeutlichen kann, das ist der Begriff der ‚Arbeit‘ (‚work‘). Während Arbeit für einen Physiker nach Kauffman beschrieben werden kann als eine ‚Kraft die über eine Distanz wirken kann‘ (S.90), reicht dies nach Peter Atkins (Chemiker) nicht aus: Arbeit nimmt auch Bezug auf ‚Einschränkungen‘ (‚constraints‘), durch die die Freiheitsgrade verringert werden. (vgl.S.90) Während man Einschränkungen in mathematischen Beschreibungen seit Newton als ‚Grenzwerte‘ (‚boundary conditions‘) verankern kann, bedarf es in der realen Welt wiederum ‚Arbeit‘ (‚work‘), um solche Einschränkungen bereit zu stellen.(vgl. S.90f) Kauffman sieht in diesem Zusammenhang ein allgemeines Prinzip dergestalt, dass Arbeit notwendig ist, um Einschränkungen zu erzeugen und diese Einschränkungen wiederum erlauben neue Arbeit. Er nennt dies das ‚Vorantreiben der Organisation von Prozessen‘ (‚propagating the organization of processes‘).(vgl. S.91) Bislang soll es dazu keine fertige Theorie geben, nicht einmal die Idee einer möglichen Theorie. (vgl.S.92,93) Als Beispiel führt er u.a. an, dass Moleküle, die unterschiedliche Reaktionen eingehen können, diese Reaktionen u.U. nur in Abhängigkeit von bestimmten Gegebenheiten (Einschränkungen, ‚constraints‘, ‚boundary conditions‘) zeigen. Indem sie aber eine dieser Reaktionen eingehen verändern sie selbst die Randbedingungen, so dass dann eine weitere Reaktion erfolgen kann.(vgl. S.92f) Diese nur im Zusammenhang erkennbaren Funktionszusammenhänge sind nach Kauffman jenseits all dem, was man per Reduktionismus erkennen kann.(vgl. S.94)

INFORMATION IST ZU WENIG

(13) Kauffman kritisiert dann das sehr verbreitete Konzept der ‚Information‘ nach Shannon bzw. das algorithmische Informationskonzept von Kolmogorov und meint, dass dieser Informationsbegriff zu kurz greift. Beiden Konzepten ist gemeinsam, dass sie letztlich nur nach der Menge der Informationen fragen, die übermittelt wird, aber vollständig offen lassen, ‚was‘ Information denn letztlich ist.(vgl.SS.94-96) Trotz dieser Unzulänglichkeiten ist der Informationsbegriff sehr beliebt in der Biologie, speziell bei der Beschreibung der Beziehungen zwischen dem DNA-Molekül und der Prozesskette mit der RNA und den Proteinen. Welche Bedeutungen haben diese Analysen, wenn man bedenkt, so Kauffman, dass auch Lebensformen ohne DNA-Molekül denkbar sind, z.B. in Form autokatalytischer Mengen?(vgl.S.96)[Anmerkung: Atlan u Cohen (1998) (s.u.) zeigen am Beispiel des Immunsystems sehr schön auf, warum der Shannonsche Informationsbegriff für komplexere Kontexte in keiner Weise ausreicht.]
(14) Kauffman erinnert an Schrödingers Überlegungen zum Unterschied zwischen einem normalen ‚Kristall‘ und zu einem ‚Molekül‘. Für Schrödinger erscheint ein Molekül wie ein ‚aperiodischer Kristall‘, der eine Art ‚Mikrocode‘ enthält, der das Verhalten bestimmt.(vgl.S.97) Kauffman interpretiert diesen Schrödingerschen Mikrocode versuchsweise als eine Menge von ‚Mikroeinschränkungen‘, die partiell ‚kausal‘ sind. Damit wäre die Information identisch mit diesen Einschränkungen [ANMK: d.h. die Einschränkungen repräsentieren im Sinne der Semiotik die ‚Bedeutung‘. Unter Berücksichtigung des zuvor über ‚Arbeit‘ Gesagten und dem Prinzip des ‚Vorantreibens der Organisation von Prozessen‘ würden damit die Einschränkungen sowohl Arbeit erlauben als auch neue Arbeit hervorbringen bzw. auch Arbeit voraussetzen.] Kauffman erachtet es als möglich, diese Ideen auch auf das abiotische Universum auszudehnen und damit z.B. Sternentstehungsprozesse zu beschreiben.(vgl.S.98)
(15) Ein anderer interessanter Unterschied ist der zwischen ‚Wärme‘ (‚heat‘) und ‚Arbeit (‚work‘). Die maximale Verschiedenheit von Bewegungen in einem Gas liegt vor, wenn die Moleküle eine maximale Bewegungsfreiheit haben, also ein Minimum an Einschränkungen. Dieser Zustand erzeugt ‚Wärme‘ aber leistet keine ‚Arbeit‘. Um ‚Arbeit‘ zu verrichten muss man die Freiheitsgrade ‚einschränken‘. Man braucht Arbeit, um Einschränkungen zu erzeugen und mit Hilfe von Einschränkungen kann man weitere Arbeit erzeugen. Mit Bezug auf Ulanowitz schlägt Kauffman dann vor, den Gesamtbetrag von Arbeit dadurch zu messen, dass man den gesamten Energiefluss in einem System multipliziert mit der Diversität.(vgl.S.99) [ANMK: Nimmt man an, dass die Vermehrung von Einschränkungen den Energiefluss erhöhen kann, zugleich aber die Diversität verringert, müsste der Gesamtbetrag eigentlich konstant bleiben?]
(16) [ANMK: Alle diese Überlegungen sind interessant aber z.T. auch etwas ’spekulativ‘. Sie müssen später entsprechend reflektiert werden.]

Fortsetzung Teil 3

Quellen:
Atkins, Peter online at http://en.wikipedia.org/wiki/Peter_Atkins (Zuletzt 14.Jan.2013)

Atlan, H., I. Cohen, 1998, Immune information, self-organization, and mean-
ing, International Immunology, 10:711-717.

Carnot , Nicolas Léonard Sadi, siehe z.B. online http://en.wikipedia.org/wiki/Nicolas_L%C3%A9onard_Sadi_Carnot (Zuletzt besucht 13.Jan.2013)

Hume, David online http://en.wikipedia.org/wiki/David_Hume (Zuletzt besucht 13.Jan.2013)

Kauffman, S.A., Reinventing the Sacred. A new View of Science, Reason, and Religion. New York: Basic Books, 2008 (Paperback 2010).

Über S.A.Kauffman in der Englischen Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Stuart_Kauffman (Zuletzt besucht 5.Jan.2013)

Interessante Vorlesungen von Kauffman als Videos: http://csb.cs.tut.fi/stu_news.php

Kolmogorov Komplexität: Nicht zu verwechseln mit der algorithmischen Informationstheorie von Solomonoff, online at http://en.wikipedia.org/wiki/Kolmogorov_complexity

Schrödinger, Erwin online http://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Schr%C3%B6dinger (Zuletzt besucht 13.Jan.2013)

Solomonoff, Ray, (1926 – 2009) Algorithmic Information Theory, online at: http://en.wikipedia.org/wiki/Ray_Solomonoff

Ulanowicz, Robert; Ökosysteme, allgemeine Theorie, online at http://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Ulanowicz, eine Liste all seiner Publikationen (Zuletzt 14.Jan.2013)

Eine Übersicht über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

REDUKTIONISMUS, ERMERGENZ, KREATIVITÄT, GOTT – S.A.Kauffman – Teil 1

ZUSAMMENHANG MIT DEM BLOG

Letzte Korrekturen: 23.März 2013

(1)Der Zusammenhang mit dem Blog besteht darin, dass im Blog der klassische Widerspruch zwischen ‚Geist‘ auf der einen Seite und ‚Materie‘ auf der anderen von vielen Seiten neu reflektiert wird. Dabei zeigte sich u.a. dass durch die Einbeziehung der neueren Erkenntnisse über das Biologische und seiner Entstehung die Phänomene des Biologischen zu einer neuen Sicht der Materie und der Energie führen können, zu einer Sicht, die deutlich macht, dass die klassische Sicht der Physik sich immer mehr als unbefriedigend erweist. Ergänzt wurden diese Reflexionen durch frühere Einträge im Blog, in denen auch die Sicht des ‚Geistes‘ aus Sicht der Philosophie dahingehend ‚aufgebrochen‘ worden sind, dass auch die klassische Philosophie im Lichte der neueren Erkenntnisse zum Leben ihre eigenen Erkenntnisvoraussetzungen neu bedenken kann und auch muss (dies wurde spätestens seit dem Vortrag in Bremerhaven offenbar!). Zwar bedeutet die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse eine ‚Verletzung‘ des klassischen philosophischen – und insbesondere des phänomenologischen – Paradigmas, aber es bedeutet keine vollständige Auflösung noch gar eine ‚Zerstörung‘ der Philosophie, sondern – möglicherweise – eine notwendige ‚Erneuerung‘, die schließlich dazu führen kann, die unselige Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften aufzuheben. Diese Trennung erscheint im neuen Denken als ein ‚Artefakt‘ des klassischen Denkens aufgrund falscher Voraussetzungen.
(2) Diese veränderte Sicht auf das Verhältnis zwischen ‚Geist‘ und ‚Materie/ Energie‘ wirkt sich auch aus auf eine veränderte Sicht zum Glauben an das mit ‚Gott‘ Gemeinte, zur Rolle der Religionen und Kirchen (siehe z.B. den Blog zum 24.Dez.2012 und seinen Teil 2).
(3)In diesem Zusammenhang bin ich auf das Buch von Stuart Alan Kauffman gestossen „Reinventing The Sacred. A new View of Science, Reason, and Religion.“ (etwa: Die Wiederentdeckung des Heiligen. Eine neue Sicht der Wissenschaft, des Verstandes und der Religion). Veröffentlicht 2008 (siehe weitere Angaben zu Kauffman unten).

EINSTIEG IN DAS BUCH

(4) Die Einleitung und das erste Kapitel sind ein wenig ’schleppend‘ und ich war schon fast versucht, es wieder weg zu legen, aber dann ab S.10 nimmt das Bucht deutlich Fahrt auf. Und ich habe den Eindruck, dieses Buch kann helfen, die neue Sicht insbesondere im Bereich Physik und Biologie weiter zu differenzieren. Außerdem hat das Buch die unangenehme Eigenschaft, dass Kauffman praktisch nirgends richtig zitiert. Es gibt zwar im Anhang verschiedene Quellenangaben, aber im Text werden die Namen von Autoren oder deren Aussagen zwar erwähnt, aber es gibt keine klare Quellenangaben. Das ist schade, ärgerlich und erschwert das Nachlesen (in diesem Blog mache ich das zwar auch sehr oft, aber es ist auch ein Blog und keine offizielle Veröffentlichung).
(5) Das große Thema des Buches ist nach Kauffman die Unzulänglichkeit einer Physik (bzw. der ganzen Naturwissenschaft), sofern sie sich ‚reduktionistisch‘ versteht, d.h. die Wirklichkeit ausschließlich interpretiert als Rückführung aller Phänomene auf eine Ansammlung von Teilchen. Dieser Denkweise hält er Fakten entgegen, die aus seiner Sicht etwas anderes repräsentieren: die ‚Emergenz‘ des Biologischen, das sich von der Molekülebene aus bis hin zu den komplexen gesellschaftlichen Ausprägungen als eine Form des ‚Zusammenwirken‘ zeigt, die sich nicht aus den physikalischen Gesetzen ableiten lässt, aber dennoch ‚real‘ ist. D.h. es gibt Realität, die uns alle bestimmt, die sich nicht physikalisch (bzw. allgemeiner ’naturwissenschaftlich‘) erklären lässt.
(6) In diesem ‚irreduziblen‘ Phänomen des ‚Biologischen‘ sieht Kauffman eine ‚Kreativität‘ am Werk, die typisch ist für diese Phänomene und er möchte den Begriff ‚Gott‘ für diese das ganze Universum durchwaltende ‚Kreativität‘ benutzen, sozusagen das mit ‚Gott‘ Gemeinte als das sich überall ‚kreativ‘ Zeigende und darin sich Manifestierende (vgl. z.B. S.XI). In diesem Verständnis sieht er einen Anknüpfungspunkt an den weltweiten Glauben an einen Schöpfergott (‚creator god‘), speziell natürlich in der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. S.XII). Damit wird das Göttliche stückweise ‚empirisch‘, was neue Ansatzpunkte liefert für ein in der Welt lokalisierte ‚Spiritualität (’spirituality‘), für eine Wiederentdeckung des ‚Heiligen‘ (’sacred‘).(vgl. S.XII)
(7) Den ‚Reduktionismus‘ sieht er schon in den Anfängen der Wissenschaft (Galilei, Descartes, Newton, Laplace) gegeben (vgl. S.2), er kulminiert in der modernen Sicht, dass die Physik letztlich annimmt, dass wir ‚am Grunde‘ der Materie nur ‚Partikel oder Strings haben, die sich in Bewegung befinden‘ (vgl. S.3). Aber mit dieser Basis lässt sich die Vielfalt der biologischen Phänomene nicht beschreiben, auf keinen Fall ‚voraussagen‘. (vgl. S.3ff) Und von daher kann er sagen, dass diese (biologischen) Phänomene (dazu gehören auch die gesellschaftlichen Ausprägungen, insbesondere die Wirtschaft) jenseits der bisherigen Naturgesetze liegen. (Vgl. S.5)
(8) Für Kauffman charakteristisch am Biologischen ist neben seiner vollständigen Nicht-Voraussagbarkeit dass es sich trotz nicht vorhandener Gesetze quasi von selbst organisiert, eine große Vielfalt entwickelt, dabei aber kohärent bleibt.(vgl. S.6) Eine Besonderheit des Biologischen in ihrem selbstorganisatorischen Auftreten ist auch die Eigenschaft der ‚Agentenschaft‘ (‚agency‘), die einhergeht mit Fragen von ‚Werten‘ (‚values‘) und des ‚Tuns‘ (‚doings‘). Biologische Systeme sind nicht ’neutral‘, sondern sie sehen in allem ‚Werte‘. (vgl. SS.6-9)
(9) Und in diesem Kontext der sich überall zeigenden Kreativität wiederholt er seinen Vorschlag aus dem Vorwort, dass das mit ‚Gott‘ Gemeinte zu sehen ist als dasjenige, was sich in all dem manifestiert. Dazu gehört auch eine entsprechende ‚Mystik‘.(vgl. S.6,9)

REDUKTIONISMUS (VERSUCH DER ZURÜCKFÜHRUNG ALLER PHÄNOMENE AUF EINFACHSTE ELEMENTE)

(10)Der Punkt ohne Wiederkehr der Reduktionisten sind die einfachsten, kleinsten Elemente/ Teilchen/ Strings mit ihrer ‚Selbstbewegung‘, hinter und neben denen nichts mehr geht. Kauffman zitiert hier u.a. das Diktum des (großen?) Physikers Weinberg „Je mehr wir das Universum verstehen, umso bedeutungsloser wird es.“(vgl. S.10)
(11)Diese Art des reduktionistischen Denkens weist vielerlei Schwachstellen und Ungereimtheiten auf. Ungereimtheiten, die nah betrachtet eigentlich schon eher eklatante Denkfehler sind, bei denen man sich nur wundern kann, dass Nobelpreisträger sie nicht wahrhaben wollen. Doch zunächst wiederholt Kaufffman einige dieser Ungereimtheiten auf den SS.10-18. Mit der Fixierung des Blicks auf letzte kleinste Elemente gibt es keine ‚Handelnde‘ (‚agency‘) mehr, damit keine ‚Werte‘ und keine ‚Bedeutung‘. Eine ‚teleologische Sprache‘ ist verpönt. Newtons Gesetze induzieren einen umfassenden Determinismus (allerdings noch mit einer umkehrbaren Zeit!). Theistische Gottesauffassungen tendieren nun zu ‚Deistischen‘ (Gott als ‚Uhrmacher‘-Typ…); Gott interveniert nicht mehr. (vgl.S.15) Ein ‚freier Wille‘ wird fragwürdig. Wie soll der Geist mit einem mechanistischen Körper interagieren? Descartes kreiert den expliziten Dualismus.(vgl. S.15)

ARGUMENTE GEGEN EINEN NAIVEN REDUKTIONISMUS

(12)Kauffman zitiert auf den SS.19-21 den Physiker und Nobelpreisträger Philip W.Anderson, der in einer Arbeit 1972 darauf aufmerksam gemacht hat, dass es mit steigender Komplexität in der Anordnung der Atome in Moleküle ‚Symmetriebrüche‘ dahingehend gibt, dass die Lokalisierung der Atome in diesen Verbindungen ab einem bestimmten Punkt nicht mehr in alle mögliche Richtungen stattfindet, sondern nur noch in bestimmte (man spricht von ‚Chiralität‘ im Sinne von ‚Rechts-‚ oder ‚Linkshändigkeit‘). Dies bedeutet, dass auf einer ‚höheren‘ Organisationsebene ‚Phänomene‘ ‚real‘ werden, die sich nicht aus den einzelnen ‚Bestandteilen‘ ‚ableiten‘ lassen. Ein Reduktionismus würde hier nicht nur nichts erklären, sondern würde – im Gegenteil – reale Phänomene ‚leugnen‘.
(13)Kauffman zitiert auf den SS.22f nochmals Anderson mit einer Überlegung zur Berechenbarkeit und dass dieser Berechenbarkeitsbegriff nicht auf physikalischen Eigenschaften beruht. Hier gehen nach meinem Verständnis aber verschiedene Dinge durcheinander. (i) Die Vermischung des Konzepts ‚Turingmaschine‘ von Turing mit dem Rechnerarchitekturkonzept von von Neumann: Turing hatte keine Rechnerarchitektur beschrieben sondern ein logisch-mathematisches Konzept für Berechenbarkeit formuliert, das keinerlei Annahmen bzgl. einer bestimmten Architektur trifft (im Gegensatz zu von Neumann); (ii) die Anführung der Unentscheidbarkeits- und Unvollständigkeitsbeweise von Goedel und Turing an dieser Stelle wirken ein wenig ‚Beziehungslos‘; man weiß nicht so richtig, was sie hier sollen; (iii) die Beweise mit Hilfe der Turingmaschine sind nicht an konkrete physikalische Eigenschaften geknüpft: dies benutzt Anderson/ Kauffman als Argumente gegen den Reduktionismus. Hier zeigen sich Eigenschaften auf einer ‚höheren Ebene‘, die sich nicht auf einzelne Bestandteil zurückführen lassen.
(14)Kauffman erwähnt auf SS.23f das philosophische Konzept der ’supervenience‘ (von vielen einzelnen Aussagen auf einer ‚tieferen‘ Ebene auf eine Aussage auf einer ‚höheren‘ Ebene schließen, wobei die ‚höhere‘ Ebene ‚types‘ (Typen, Klassen) verkörpert und die tiefere (Realisierungs-)Ebene ‚token‘ (Instanzen, Elemente der Klassen). Diese Einlassung bleibt allerdings zu vage, um ihre Tragweite beurteilen zu können.
(15)Kauffman zitiert dann einen anderen Nobelpreisträger, den Physiker Robert Laughlin (SS.24f). Am Beispiel von Gasen und festen Körpern macht Laughlin darauf aufmerksam, dass viele reale Eigenschaften von solchen großen Aggregaten nur messbar und definierbar sind auf der Ebene der Gesamtaggregate; eine Rückführung auf die einzelnen Bestandteile macht keinen Sinn.
(16)Kauffman zitiert ferner (S.25) den Physiker Leo Kadanoff (kein Nobelpreisträger, aber lange Jahre Präsident der amerikanischen Gesellschaft der Physiker (‚American Physical Society (APS)‘). Er konnte aufzeigen, dass die Navier-Stokes Gleichungen für das Verhalten von Flüssigkeiten, die nicht quantenmechanisch abgeleitet werden können, von einem idealisierten (mathematischen) Modell abgeleitet werden können. Auch diese Eigenschaften hängen also nicht ab von den zugrunde liegenden Elementen/ Teilchen/ Strings.
(17)Auf den SS.25-27 erwähnt Kauffman das Beispiel der klassischen Thermodynamik von Sadi Carnot, nach dem (2.Hauptsatz der Thermodynamik) die Entropie in einem geschlossenen System nur zunehmen kann. Dies bedeutet, dass die Zeit nur eine Richtung kennt. Damit entsteht ein Widerspruch zur klassischen Mechanik von Newton, in der die Zeit sowohl ‚vorwärts‘ wie auch ‚rückwärts‘ laufen konnte. Boltzman, Gibbs und andere haben zwar versucht, diesen Widerspruch durch Einführung der statistischen Mechanik zu lösen (alle Elemente streben dem Zustand einer ‚höheren Wahrscheinlichkeit‘ zu), aber diese Begründung erfolgt nicht aus den Elementen selbst, sondern aufgrund von Zusammenhängen, die über die einzelnen Elemente hinausgehen (Kauffman zitiert stattdessen ein anderes Argument, das mich nicht überzeugt).
(18)Auf den SS.27f diskutiert Kauffman das Problem der Naturkonstanten. Das Standard-Modell der Physik vereint mit der allgemeinen Relativitätstheorie können das bekannte Universum nur erklären, wenn sie 23 spezielle Naturkonstanten annehmen. Die konkreten Werte dieser Konstanten lassen sich nicht irgend woher aus einem Modell generisch ableiten, sondern müssen speziell, von Hand, bestimmt werden. Verändert man einzelne Werte auch nur geringfügig, dann hätten wir ein vollständig anderes Universum. Nach dem Physiker Lee Smolin würde schon eine Abweichung in der Größenordnung von (1/10)^27 das Universum ‚lebensunfreundlich‘ machen. (Vgl.S.28). Diese speziellen Makroeigenschaften lassen sich in keiner Weise aus den bekannten Eigenschaften der einzelnen Elemente/ Teilchen/ Strings ableiten. Sie zeigen sich nur im Zusammenhang.
(19)Mögliche Antworten (vgl. S.28f) sind das starke und das schwache anthropische Prinzip: (i) Im starken anthropischen Prinzip wird ein Schöpfer-Gott angenommen, der die Welt genauso geschaffen hat, wie sie nun mal für ‚Leben‘ günstig ist. Dies ist aber keine überzeugende Antwort. (ii) Im schwachen anthropischen Prinzip nimmt man eine Vielzahl von Welten an. Einige von diesen haben die Parameter so, wie sie für das Leben ‚günstig‘ sind; unser Universum ist eines davon.
(20)Die Annahme einer Vielzahl möglicher Universen hat bislang die meisten Argumente für sich. Die Position des klassischen Reduktionismus wirkt in diesem Kontext mehrfach unglaubwürdig und letztlich argumentativ schwach.

DIE NICHTREDUZIERBARKEIT DER BIOLOGIE AUF DIE PHYSIK

(21)Auf den Seiten 31-43 entwickelt Kauffman zusätzliche Argumente, warum der klassische Reduktionismus nicht funktioniert, indem er die Besonderheiten der Biologie thematisiert. Allerdings springt er nach meinem Verständnis bisweilen zwischen verschiedenen Argumenten im Text hin und her, was die Argumentation erschwert.
(22)So ist der anfängliche Hinweis des Einflusses von Malthus auf Darwin wenig geeignet, die Besonderheit des Phänomens des Biologischen heraus zu stellen. Dies ist schon eher gegeben mit der Einsicht Darwins, dass zwischen der Elterngeneration und der Kindgeneration Veränderungen stattfinden können, die je nach Kontext mehr oder weniger ‚erfolgreich‘ sein können. Dies führte einerseits zum Aufsprengen des statischen Klassifikationssystems von Carl Linnaeus (vgl. S.32) und erlaubte eine zunehmende ‚logische‘ Interpretation der geologischen Befunde. (vgl.S.33) In den 1930igern vereinigte sich das evolutionäre Konzept Darwins mit der modernen Genetik (Mayer, Dobzhansky u.a.), weiter intensiviert durch die Erkenntnisse der Molekularbiologie ab den 1950igern (Watson, Crick u.a.).(vgl. S.33) Das Feststellen von Eigenschaften auf höherer Ebene der Komplexität, die sich nicht aus den zugrunde liegenden Elementen direkt ableiten lassen, nennt Kauffman dann ‚epistemologische Emergenz‘ (also etwa ‚Emergenz aus erkenntnistheoretischer Sicht‘), und die reale Gegebenheit von biologischen Strukturen höherer Komplexität bezeichnet er als ‚ontologische Emergenz‘. (vgl. S.34)
(23)Die Entstehung der vielen, immer komplexeren Arten, dazu stark variierend, lässt sich nach Kauffman nicht allein aus den beteiligten Elementen ableiten. Dies ist allein schon deshalb schwierig, weil viele wichtige beteiligten Faktoren ‚zufälliger‘ Natur sind. (vgl. S.37f) Dazu kommt aber noch ein ganz anderer Umstand. Nimmt man – mit den meisten Physikern – an, dass die Raum-Zeit kontinuierlich ist [Anmerkung: was nicht zwingend der Fall sein muss], dann hat Georg Cantor (1845 – 1918) aufgezeigt, dass die reellen Zahlen eine überabzählbar große Menge darstellen. Dies bedeutet, man kann sie nicht aufzählen. Dies wiederum bedeutet, dass es keinen Computer geben kann, diese Menge zu simulieren. Dies gilt dann auch für ein Universum mit einer kontinuierlichen Raum-Zeit.(vgl. S.39f)
(24)Dieses letzte Argument von Kauffman mit der Nichtaufzählbarkeit empfinde ich als wenig zwingend (wenngleich die Nichtaufzählbarkeit als solche natürlich Fakt ist). Wichtiger sind vielmehr jene Argumente, die auf zentrale Eigenschaften des Biologischen abheben, die sich nicht aus den Bestandteilen alleine ableiten lassen. In diesem Sinne verweist Kauffman auf den Umstand, dass der Mechanismus der Selbstreproduktion nicht an ein bestimmtes Material gebunden ist und sich von daher im gesamten Universum ‚irgendwo‘ ereignen könnte. (vgl. S.40f) In diesen Zusammenhang gehört das Astrobiologie-Programm und die Entwicklung einer ‚Allgemeinen Biologie‘, die über die Bedingungen des Lebens auch jenseits der Bedingungen auf der Erde nachdenkt.
(25)Kauffman spekuliert dann auch darüber, dass die Entdeckung des evolutionären Prinzips durch Darwin nicht nach dem Muster der ‚Induktion‘ entstanden sei, also viele einzelne Beispiele und dann eine verallgemeinernde Idee, sondern dass Darwins Überlegungen auf einer komplexeren Ebene abgelaufen seien, auf der er seine Konzepte definiert habe. (vgl.41-43) Diese Überlegungen erscheinen mir sehr spekulativ und wenig hilfreich. Entscheidend ist, ob wir empirische Phänomene einer Art P haben, die sich nicht aus den Eigenschaften P‘ vermuteter ‚einfacherer‘ Bestandteile direkt ableiten lassen. Wenn nicht, dann haben wir mit den Phänomenen P ‚genuine‘ empirische Phänomene, die erst auf einer höheren Organisationsstufe ’sichtbar‘ werden. Ob diese Einsichten ‚induktiv‘ oder ‚deduktiv‘ gewonnen wurden, spielt keine Rolle.
(26)Als solche ‚genuinen‘ Eigenschaften der Biologie nennt Kauffman Eigenschaften wie sie mit den Begriffen ‚Leben‘, ‚Handelnder‘, ‚Wert‘, ‚Bedeutung‘, ‚Bewusstsein‘ bezeichnet werden.

URSPRUNG DES LEBENS

(27)Auf den SS.44-71 versucht Kauffman, den Ursprung des Lebens mit den Augen einer Allgemeinen Biologie zu bestimmen, die als Disziplin nicht nur völlig eigenständig gegenüber einer Physik ist, sondern darüber hinaus diese sogar beeinflussen und herausfordern kann. [ANMERKUNG: in einem Gespräch mit meinem Freund, dem Physiker MW (nicht zu verwechseln mit dem Physiker vom Cafe Siesmayer, das war der Freund und Physiker MK), hatten wir letztlich den Punkt der Disziplingrenzen diskutiert. Er meinte, dass es keine klaren Grenzen gäbe, wo die Physik anfängt oder aufhört. Letztlich hat die Physik einen ganz allgemeinen Erklärungsanspruch bzgl. der erfahrbaren Natur. Wenn sie das Biologische als eigenständiges Naturphänomen akzeptieren würde – woran sie niemand hindern kann außer sie sich selbst – dann gäbe es keine Abgrenzung hin zur Biologie).
(28) Die Ideen zur Entstehung des Lebens konzentrieren sich letztlich um die Frage eines geeigneten Modells, die Entstehung einer biologischen Zelle zu erklären. Eine Zelle wird dabei als ein ‚offenes System‘ angenommen, das sich nicht in einem Gleichgewichtszustand‘ befindet und zur Erhaltung dieses Nicht-Gleichgewichts beständig Energie zuführen muss. Zusätzlich besitzt sie die besondere Eigenschaft, sich selbst vollständig zu Duplizieren. (vgl.S.46f) Da eine ’normale‘ Zelle schon sehr komplex ist, wird nach ‚einfacheren Vorläuferstufen‘ gefragt, aus denen sich dann das komplexere Modell herleiten lässt.
(29)Nach Kauffman versteht die Wissenchaft bis heute nicht genau, wie die Verdopplungsfähigkeit genau funktioniert. Er will daher zunächst der Frage nachgehen wie sich Moleküle in einfachen Systemen reduplizieren können.(vgl.S.47)
(30)Kauffman diskutiert dann mehrere Theorieansätze (vgl. SS.47-54), bis er den Theorieansatz vorstellt, den er ‚kollektive Autokatalyse‘ nennt. Damit ist gemeint, dass die Molküle einer Menge sich zwar nicht selbst reproduzieren können, aber sie dienen sich wechselseitig als Katalysatoren, dass andere Moleküle dies tun können.(vgl. S.55) In diesem Sinne sind z.B. die Zellen in unserem Körper ‚autokatalytische‘ Zellen: die einzelnen Moleküle in der Zelle können sich selbst nicht vermehren, aber die Zelle als ganze wirkt als Katalysator dafür, dass die vielen Moleküle im Innern der Zelle dies können.(vgl.S.56) Dies bedeutet, dass das Gesamtverhalten ein wesentlicher Faktor darstellt, damit zwischen den Elementen bestimmten Reaktionen möglich sind.(vgl. S.58f)
(31)Für die Theorie der autokatalytischen Mengen benutzt Kauffman das Konzept des ‚Zufallsgraphen‘ (random graphs) von Paul Erdös und Alfréd Rényi (1959), der dann zum Konzept des ‚chemisch-Reaktionsgraphen‘ erweitert wird. Die verschiedenen chemischen Reaktionen werden dann in Form unterschiedlicher verbindender Kanten/ Pfeile repräsentiert. (vgl.SS.61ff) Mit Hilfe dieses Graphenkonzeptes lässt sich einfach ein ‚aktueller‘ Zustand definieren und ein ‚Nachfolgezustand‘, durch den die Menge der ‚möglichen neuen Nachbarn‘ (‚the adjacent possible‘) definierbar wird.(vgl.S.64) Im Übergang zu den neuen Nachbarn wird ein neuer aktueller Zustand zusammen mit den soeben neuen Nachbarn definiert, der wieder neue Nachbarn erlaubt, usw. Mit Hilfe dieses ‚Ausbreitungskonzeptes‘ will Kauffman auch ‚Kreativität‘ definieren, die Kreativität des Universums. (vgl. S.64) Simulation einfacher Modelle solcher autokatalytischer Mengen haben nun gezeigt, dass ab einer bestimmten Anzahl von Elementen die ‚Reaktionsdichte‘ natürlicherweise zunimmt, was dann sehr schnell zu großen ‚Clustern‘ führt.(vgl.S.65f)
(32)Andere haben diese Modelle dahingehend weiterentwickelt, dass sie sich ‚vererben‘ können und bei dieser Vererbung Veränderungen erlauben.(vgl. S.67f) Weitere Eigenschaften (Quellen von freier Energie, Metabolismus) lassen sich in dieses Modell integrieren. (vgl.SS.68-70) Noch ist offen, ob sich dieses mathematische Modell voll lauf reale Molekülmengen anwenden lässt. Klar ist allerdings, dass sich die Eigenschaften des Gesamtsystems nicht aus den Bestandteilen alleine herleiten lässt. Ein klassischer Reduktionismus wäre also ausgeschlossen.
(33)Fortsetzung folgt … kritische Auseinandersetzung am Schluss…

Fortsetzung von TEIL 2

Quellen:

Kauffman, S.A., Reinventing the Sacred. A new View of Science, Reason, and Religion. New York: Basic Books, 2008 (Paperback 2010)

Über S.A.Kauffman in der Englischen Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Stuart_Kauffman (Zuletzt besucht 5.Jan.2013)

Interessante Vorlesungen von Kauffman als Videos: http://csb.cs.tut.fi/stu_news.php (Zuletzt besucht 5.Jan.2013)

Eine Übersicht über alle bisherige Blogeinträge nach Themen findet sich HIER

MENSCHWERDUNG GOTTES – UND WIR – Teil 2

(Letzte Änderung im Anhang: 9.Jan.2013)

  1. In meinem Blog vom 24.Dez.2012 (siehe: https://www.cognitiveagent.org/2012/12/24/weihnachten-2012-menschwerdung-gottes-und-wir/ ) — etwa ab Nr.11 – habe ich versucht jene Eckwerte zu benennen, die aus heutiger Sicht gelten, wenn wir über die mögliche Beziehung eines jeden Menschen (letztlich von jedem Lebewesen, von jedem Materiellen, von allem in diesem Universum) zu Dem-mit-‚Gott‘-Gemeinten nachdenken. Ich möchte dabei nochmals betonen, dass ich diesen Eintrag am 24.Dez. spontan geschrieben habe; ich hatte nicht vor, dazu etwas zu schreiben. Aber dann habe ich es irgendwie doch getan und bin selbst ein wenig überrascht von dem, was dabei ‚zutage‘ getreten ist…
  2. Das Problem mit diesem Blogeintrag vom 24.Dez.2012 ist, dass diese Gedanken, sofern sie ‚wahr‘ sind, eigentlich ‚über sich‘ hinaus weisen in dem Sinne, das jeder Mensch, jeder Zeit, überall, mit Gott in unmittelbarer Beziehung steht und diese Beziehung individuell persönlich jederzeit nutzen und ausgestalten kann (ein Gedanke, der sich sowohl im alten Testament (Ursprache Hebräisch mit frühen Übersetzungen u.a. ins Lateinische und Griechische) an vielen Stellen findet (u.a. Propheten Jeremiah und Jesajah) wie auch im Neuen Testament (Jesus ’selbst‘ (mit einer letzten Unsicherheit immer, da bei keinem Text sicher ist, wieweit er auf Jesus selbst zurückgeht) wie auch die Bilder von der ‚Geistaussendung‘ nach dem Tod Jesu wie auch u.a. der berichteten Gotteserfahrung des Saulus, ebenfalls nach dem Tod Jesu, die ihn dazu brachte, sein Leben zu ändern). (Anmerkung: während Jesus eher Aramäisch/ Hebräisch gesprochen haben soll, ist der Urtext des Neuen Testaments das damalige Umgangsgriechisch (Koine). Allein schon aus diesem Sachverhalt ergibt sich, dass zwischen den Worten Jesu und den unbekannten Autoren des griechischen Textes verschiedene Übersetzungs- und damit Interpretationsprozesse stattgefunden haben müssen).
  3. Jetzt kann man sich spontan fragen, na und, wenn das so ist, warum kann ich dann nicht direkt mit Dem-mit-‚Gott‘-Gemeinten sprechen? Diese Frage haben sich in der Vergangenheit schon sehr viele Menschen gestellt, viele viele Tausend, und nicht wenige viele viele Tausend haben von sich gesagt, dass Sie in ihrem Leben etwas erfahren haben, was sie als ‚Erfahrung mit Gott‘ bezeichnen würden. Man denke z.B. nur an das wunderbare Buch des berühmten Psychologen William James (1842-1910) The Varieties of Religious Experience, in dem er versucht, die historischen Berichte von Menschen über ihre Gotteserfahrung so ‚empirisch wie möglich‘ zu rekonstruieren. Aber seit dem Tod Jesu (von entprechenden Erfahrungen außerhalb der christlichen Religion(en) gar nicht zu reden) gab es unfassbar viele Menschen, die solches erfahren und berichtet haben. Besonders gut dokumentiert sind natürlich die Erfahrungen jener Männer und Frauen, die durch das, was sie ihre Erfahrung mit Dem-mit-‚Gott‘-Gemeinten nennen, dann ihr Leben soweit geändert haben, dass dies für ihre Umgebung ’sichtbar‘ und erfahrbar wurde. Unter diesen ragen dann nochmals besonders jene hervor, die durch ihre veränderte Lebensweise andere Menschen so beeindruckt haben, dass Sie ‚religiöse Lebensgemeinschaften‘ gebildet haben, auch solche, die dann innerhalb der Kirchen ‚offiziell anerkannt‘ wurden als solche religiöse Lebensgemeinschaften, kurz ‚Orden‘ genannt (ich selbst war einmal 22 Jahre Mitglied eines solchen Ordens).
  4. Klingt das nicht wunderbar: viele, viele tausend Menschen erfahren etwas, das sie mit Dem-mit-‚Gott‘-Gemeinten in Verbindung bringen, gestalten ihr Leben daraufhin merklich neu, manchmal sehr radikal, um ein ‚Zeichen‘ zu setzen? Sie initiieren neue sozial Strukturen in Form neuer Lebensgemeinschaften, die z.T. nicht nur Generationen, sondern sogar Jahrhunderte überdauern, quer zu sozialen Schichten, quer zu Nationalitäten. Ja, in gewisser Weise ist es wunderbar, geradezu unfassbar: z.T. entgegen herrschenden gesellschaftlichen Regeln ohne Rücksicht auf ‚übliche‘ gesellschaftliche ‚Würden‘, ohne Rücksicht auf soziale Absicherung usw. haben religiöse Menschen in der Vergangenheit ihren Alltag, ihre Zeit gestalterisch gelebt.
  5. Bei aller Begeisterung muss man aber auch hier nüchtern bleiben und feststellen, neben vielen wunderbaren Beispielen gab und gibt es auch die Beispiele, bei denen man den Eindruck hat, dass es bei dieser Art ‚religiöser Lebensgestaltung‘ um alles andere geht als um eine Lebensführung, die in einer lebendigen Beziehung mit Dem-mit-‚Gott‘-Gemeinten steht, d.h. ‚Verirrung‘ und ‚Missbrauch‘ sind auch hier niemals gänzlich ausgeschlossen; nur weil einer eine religiöse Beziehung leben will heißt dies natürlich nicht automatisch, dass er dies auch tatsächlich kann. Warum eigentlich nicht? Ist Das-mit-‚Gott‘-Gemeinte nicht per se so ‚allmächtig‘, dass dann ‚alles geht‘, dass dann ‚alles erkannt wird‘, dass man dann nur noch ‚gut‘ ist?
  6. Hier nähern wir uns dem zentralen Punkt einer ‚Lebensführung‘, die vollständig aus einer Beziehung zu Dem-mit-‚Gott‘-Gemeinten geschehen soll.
  7. Auch wenn wir nach dem heutigen Wissensstand sagen können, dass die Lebensform des homo sapiens sapiens als Teil eines umfassend gigantischen Komplexes genannt ‚Leben‘ mit zu den absolut unglaublichsten Erscheinungen gehört, von denen wir im bekannten Universum bislang Kenntnis erlangt haben, so wissen wir auch, dass dieser homo sapiens sapiens, als jeder von uns, die wir uns Menschen nennen, in seiner konkreten leiblichen Existenz einer Reihe von materiellen Bedingungen unterworfen ist, die die Art und Weise festlegen, wie wir wahrnehmen, erinnern und denken können, welche körperlichen Bedürfnisse wir haben, welche emotionalen Zustände wir empfinden können, wie wir mittels Sprache (= Symbolen) uns mitteilen können, usw. Mit diesem konkreten Körper, so wie er jetzt ist (im Rahmen der Evolution und den neuen Möglichkeiten der Gentechnologie aber nicht sein muss und sich zwangsläufig weiter verändern wird), gibt es ganz klar Dinge, wie wir aktuell können, vor allem aber auch, die wir aktuell NICHT können.
  8. Wenn jemand also glaubt, dass Das-mit-‚Gott‘-Gemeinte Teile dieser aktuellen konkreten Struktur außer Kraft setzen würde, der irrt. Warum sollte Das-mit-‚Gott‘-Gemeinte dies tun nachdem – bleiben wir in diesem Bild – es/ er/ sie sich ca. 13.6 Mrd Jahre Zeit genommen hat, um dieses unglaubliche Wunderwerk Leben und darin den homo sapiens sapiens so ‚enstehen‘ zu lassen, wie er nun mal entstanden ist. Bedenkt man das (letztlich alle Vorstellungen sprengende) Potential, das notwendig sein musste, damit das bekannte Universum entstehen konnte, dann wäre es ‚im Prinzip‘ natürlich ein Leichtes, in jedem Moment alles ‚zu verändern‘. Doch, warum sollte dies geschehen. Der ‚Sinn‘ des Ganzen – sofern es überhaupt einen Sinn gibt – liegt ja gerade in dieser Konkretheit des Gewordenen, darin, wie es ‚ist‘, etwas , das uns die sogenannten Naturwissenschaften in den letzten 100 – 500 Jahren mühevoll, schrittweise, aufzeigen konnten (wobei dieser Prozess sicher noch nicht an seinem Ende angekommen ist).
  9. Der Hang zur Wundergläubigkeit bis hin zu allen möglichen Spielarten von sogenannter Magie – auffindbar zu allen Zeiten, quer zu allen Kulturen, auch in den Religionen — entspringt kindlichen Machtfantasien gepaart mit einer gehörigen Portion Unwissenheit, mit denen Menschen gerne ihre scheinbare Kleinheit und Hilflosigkeit im Alltag vergessen machen möchten. Es ist wie eine Art ‚kognitiver Droge‘. Letztlich verdunkeln solche Gedanken aber die Erkenntnis dessen was wirklich ist. Und das, was ‚wirklich‘ ist, enthält real mehr und größere Wunder als alles, was wir uns gewöhnlich so vorzustellen vermögen (verglichen damit selbst die wildestens Wunder-, Magie- und Horrorgeschichten wirklich nur ‚Kinderkram‘ sind).
  10. Also, wir, Exemplare der Art homo sapiens mit der Unterart homo sapiens sapiens, sind während unseres körperlichen Daseins sehr konkreten Bedingungen unterworfen, die aus einem Prozess hervorgegangen sind, der nach heutigem Erkenntnisstand ca. 13.6 Milliarden Jahre gedauert hat. Nimmt man an, dass dies alles einem ‚göttlichen Plan‘ entspricht (man muss dies nicht annehmen, aber wir tun jetzt mal so, als ob es so wäre), dann muss man akzeptieren, dass es genau diese ‚Konkretheit‘ ist, in und durch die sich ‚etwas aussagen kann‘ (sofern überhaupt etwas ausgesagt werden soll). In religiösen Termini würde man hier von einer möglichen ‚Offenbarung‘ (lat.: ‚revelatio‘) sprechen, nämlich einer Art ‚Sichtbarwerdung‘ von Strukturen, Sachverhalten, die vor dieser Sichtbarwerdung einfach nicht bekannt waren, und deren Sichtbarwerdung dem menschlichen Erkennen und Wollen vorausgeht. In unserem menschlichen Erkennen finden wir dies alles vor, einschließlich unserer selbst. Allerdings, und das haben wir in den letzten paar tausend Jahre mühsam gelernt (bzw. konnten wir lernen), ist der Prozess als solcher eine Sache, unsere Kenntnisnahme von diesem Prozess bzw. unser Verstehen dessen, was man zur Kenntnis nehmen kann, war bislang sehr langsam, eher mühsam, schleppend. Vielleicht kann man sagen, dass er sich in den letzten 100 bzw. 50 Jahren ‚beschleunigt‘ hat. Auf jeden Fall ist das Hauptproblem – soweit wir heute erkennen können – nicht der ‚Mangel‘ an Wahrheit in Form von sich ereignenden Prozessen von schier unfassbaren Eigenschaften, sondern unsere Schwachheit und Unfähigkeit das, was sich ereignet, ‚zur Kenntnis‘ zu nehmen. Wir sind die meiste Zeit entweder mit ‚Überlebensfragen‘ beschäftigt oder ‚mit uns selbst‘ und haben kaum bis gar keine Zeit, um unsere Fähigkeit zu ‚Wissen‘, zu ‚Verstehen‘ und dieses Wissen ‚praktisch zu nutzen‘ zu entwickeln. D.h. wir paralysieren uns selbst.
  11. Bislang war es so, dass alles, einschließlich uns selbst, entstanden ist, ohne dass wir – bildlich gesprochen – den kleinsten Finger dafür krumm gemacht hätten. Dies ging nicht ohne große Dramen ab, verglichen mit denen die Katastrophen der letzten paar tausend Jahre winzig erscheinen. Dennoch scheint der Prozess des Lebens im Universum eine neue Qualität dahingehend gewonnen zu haben, dass dieser Prozess mit dem homo sapiens sapiens eine Spezies hervorgebracht hat, die nicht nur erstmalig ’sich selbst‘ in einem kleinen Umfang verstehen kann, sondern mit dem aktuell möglichen begrenzten Verstand immerhin so viele Kräfte der Natur nutzen und verändern kann, dass eine Auslöschung des gesamten Lebens prinzipiell nicht mehr unmöglich ist. Ein wichtiger Bestandteil des Universums – nach heutigem Kenntnisstand – wäre damit zerstört. Damit bekommt die aktuelle ‚Geistigkeit‘ der Spezies homo sapiens sapiens eine neue Qualität: das ‚Mehr‘ an ‚Migestaltungsmöglichkeiten‘ zieht ein ‚Mehr‘ an ‚Verantwortung‘ nach sich. Dabei geht es niemals nur um einen einzelnen. Es geht immer um das ‚Ganze‘ des Lebens. Aus Sicht des einzelnen mag dies Ganze oft so ‚unwirklich‘ erscheinen, aber jeder einzelne existiert in einem umfassenden Sinne nur und ausschließlich weil es dieses Ganze gibt, von dem er in jedem Augenblick zu 99,9999… % abhängig ist. All sogenannten Ethiken, Moralvorstellungen, Gesetze und dergleichen, die dies nicht artikulieren, sind im Ansatz schlicht und einfach falsch. Sie widersprechen diametral der grundlegenden Wahrheit des Lebens.
  12. … eigentlich noch nicht zu Ende ..

Einen Überblick über alle bisherige Blogeinträge nach Themen findet sich HIER

Hier als Anhang ein musikalisches Fragment aus meinen Experimenten: Sternenzeit . ‚Im Kopf‘ soll der Song eigentlich anders klingen. Mir fehlen aber schlicht die Mittel, das so umzusetzen wie ‚gedacht‘. Habe zumindest mal die Idee festgehalten, ein Fragment. Es geht um das Leben in diesem Universum, das von der Sternenzeit geprägt ist, aber in dieser scheinbaren Undendlichkeit ist mit dem Leben etwas sichtbar geworden, etwas aufgebrochen, was eigentlich alles Bisherige sprengt. Dies zu verstehen, dies auszudrücken, da mangelt es bislang überall an Mittel, an Ausdruck, vielleicht sogar am vorauseilenden Verstehen, und sei es noch so intuitiv. Es geht hier um mehr als ‚Romantik‘, ‚Naturglückseligkeit‘, es geht um das ‚Herz der Materie‘, ‚um den Atem des Geistes im gesamten Universum‘, um ein unvorstellbares Ereignis jenseits aller Kategorien, eine ‚pure Singularität‘. Kurzweil und Co räsonnieren über einen speziellen Fall von Singularität, einen, der viele logische Löcher aufweist; tatsächlich haben wir aber schon längst einen Fall von Sigularität unvorstellbaren Ausmasses, eine Singularität, von der wir alle ein Teil sind, ein lebendiger Teil, ein reales Daseiendes, Mitwirkendes in einem realen kosmischen Netz. Denken kann man es kaum; ahnen irgendwo, irgendwie; fühlen…???

GEIST-PLUS

(1)Im Rahmen der Notizen zu dem Geist-Sichtbarmachungs-Projekt wurden Aussagen gemacht, die ein bestimmtes Bild von dem andeuten, was mit ‚Geist‘ gemeint sein könnte. Hier ist noch vieles zu sagen. Es wird Teil dieses Experimentes sein, immer mehr Aspekte des Geistes sichtbar zu machen.
(2) In diesem Zusammenhang habe ich die Tage wieder eine dieser typischen Leseerfahrungen gemacht: man liest einen Artikel, der eine bestimmte Idee in der Wissenschaft propagiert und diese Idee gleich als Grundlage für eine ganze Richtung in einer Disziplin benutzt (so eine Art ‚Wissenschaftspolitik‘; da die Wissenschaft mehr und mehr kommerziell unter Druck gesetzt wird, zählt es nicht mehr, dass man einen Gedanken in Ruhe sachlich in alle Richtungen entwickelt, sondern dass man möglichst oft und schnell mit einem neuen ‚(Ideen-)Produkt‘ auf den ‚Markt (der Ideen)‘ kommt. Dieser Druck kommt nicht von den Wissenschaftlern, sondern von der Gesellschaft. Je weniger man Wissenschaft versteht, umso mehr wollen die Politiker (und Unternehmen) die Wissenschaft ‚kontrollieren‘. Eine weitgehend sinnlose Kontrolle, die dazu führt, dass immer mehr partikulare Interessen des Politikbetriebes (eng verbandelt mit allen möglichen Lobbyisten) zu sagen versucht, was ‚wahr‘ sein soll…). Eine Analyse möglicher Querbezüge oder möglicher Vorläufer findet immer weniger oder gar nicht statt.
(3)Auf der anderen Seite muss man – unabhängig von aller Politik — aber auch selbstkritisch festhalten, dass angesichts der heutigen Publikationsflut (allein zum Thema ‚Bewusstsein‘ und verwandter Begriffe ca. 5000 Publikationen pro Jahr, laut Baars (2010)) der einzelne Wissenschaftler in dieser Informationsflut quasi ‚absäuft‘. Die sowieso sehr geringe Zeit für eigene Lektüre führt angesichts dieser explosiven Publikationsvermehrung zwangsläufig zu einer immer größeren Engführung und Verarmung. Ohne neue leistungsfähige ‚Kulturtechniken‘, die die Wissensverarbeitung verbessern, werden wir durch unsere eigene Wissensproduktion im Wissen so fragmentiert, dass es sich fortlaufend selbst relativiert und entwertet; ‚Beliebigkeit‘ als gesellschaftlich aufgezwungener Nomalzustand, ‚Rauschen‘ als neue Wahrheit, in der alle Wahrheit zur Unkenntlichkeit ‚aufgesogen‘ und ’nivelliert‘ ist (OK, ich übertreibe etwas, aber in übertreibenden Zuspitzungen werden Dinge deutlicher).
(4)Der Artikel stammt von Hollan et al. (2000) und entwickelt – inspiriert durch die Praxis — die Idee des ‚verteilten Wissens‘. Wissen ist nicht nur das, was wir ‚in unserem Kopf, in unserem Gehirn‘ haben, sondern in der unmittelbaren Wechselwirkung mit der umgebenden Situation. Ohne die jeweiligen Eigenschaften einer Situation haben wir in diesem Ansatz eigentlich kein Wissen. mehr noch, Teile der Situation, Objekte, Geräte, Computer, andere Menschen sind mit ihren Eigenschaften Teil des Wissens. Ein geschriebenes Buch verändert mein Wissen qualitativ, meine Notizen, die ich wieder lesen kann, das Messgerät, das Sachverhalte anzeigt, usw. Diese Sicht kommt eine gewisse Plausibilität zu. Wenn man Wissen verstehen will, dann muss man das ‚Netzwerk‘ all jener Elemente berücksichtigen, die in den Wissensprozess eingehen (also auch unser Erziehungssystem mit Eltern, Kindergarten, Schulen usw., unsere Medien, etc.).
(5) Soweit, so gut. Ärgerlich ist nur, dass es in diesem Artikel keinen Hinweis darauf gibt, dass es eine ‚ökologische Psychologie‘ gibt, zu der ein Mann wie Gibson gehört, der/ die 20-30 Jahre früher ganz ähnliche Gedanken entwickelt hatten. Aber heute können wir dies wissen (und Dank Wikipedia kann heute jeder ohne Geld bezahlen zu müssen sehr schnell erste qualitativ gute Bezüge herausfinden!). Allerdings muss man umgekehrt feststellen, dass die ökologische Psychologie offensichtlich auch keinen Bezug zum Paradigma des ‚verteilten Wissens‘ genommen hat.
(6) Man kann diesen Faden weiter spinnen. Nach meinem Verständnis hat das Paradigma des verteilten Wissens seinen eigentlichen Vorläufer im Werk des Biologen Jakob Johann von Uexküll 1864 – 1944). Seine ‚biologische‘ Bedeutungslehre enthält alle fundamentalen Erkenntnisse. Allerdings fehlen bei ihm natürlich verschiedene Teilaspekte, die erst später virulent wurden. Eine Integration der Gedanken von Uexküll und jener aus dem Paradigma des verteilten Wissens könnte sehr fruchtbar sein. Zumal der Artikel von Hollan und Co. theoretisch wenig ausgearbeitet ist. Das zentrale Konzept von ‚verteiltem Wissen‘ bleibt äußerst vage und lässt viele Ausdeutungen zu.
(7) Viele weitere Querbezüge kommen hier noch in Betracht. Erwähnt wird oft der ‚Konstruktivismus‘ oder die ‚evolutionäre Erkenntnistheorie‘. Ich würde noch den ’symbolischen Interaktionismus‘ hinzufügen, die Wissenspsychologie oder auch die Wissenssoziologie, oder – wenngleich ich kein Freund davon bin, den ‚Strukturalismus‘ mit seinem vielen Spielarten. Und sicher vieles mehr.
(8) Man sollte sich aber klar machen, dass das Paradigma des ‚verteilten Wissens‘ ambivalent ist: man kann es sowohl in Richtung eines verstärkten ‚Realismus‘ deuten (wie es z.B. Gibson getan hat oder wohl auch die meisten offiziellen Vertreter des Paradigmas es tun), oder auch mehr ‚kognitiv’/ ‚mental‘, wie es Ansätze bei Uexküll gibt, oder dann in der Phänomenologie (speziell müsste man da vielleicht bei Merleau-Ponty 1908-1961 nachschauen).
(9) Verfolgt man die ‚kognitiv-mentale‘ Sicht der Dinge wäre hier die Monadologie (1714) von Leibniz sehr interessant. Zu seiner Zeit eher ein Fragment gewinnt es heute eine neue Aktualität, wenn man eine Monade interpretiert als einen kognitiven Prozessor.(Natürlich wäre diese Interpretation möglicherweise eine Verkürzung der Bedeutung, die Leibniz in diesen Begriff hineingelegt hat. Andererseits würde durch die neuen Überlegungen zum Verhältnis von Geist – Materie – Energie hier eine Interpretation von ‚kognitivem Prozessor‘ möglich, die die metaphysische Konnotation von Leibnizens Begriff und dem im ersten Aufgenblick technisch anmutenden Begriff des ‚kognitiven Prozessors‘ aufeinander zubewegen könnten. Der Begriff ‚Prozessor‘ ist hier nicht im engeren Sinne technisch-digital gemeint sondern mathematisch als Ausdruck für einen ‚Zuordnungsvorgang‘. In diesem Sinne kann man technische Vorrichtungen, biologische Strukturen und andere Strukturen, die wir noch garnicht kennen, unter einem gemeinsamen Blickwinkel betrachten. So gesehen ist die mathematuische Denk- und Sprechweise sicher die wichtigsten philosophische Denkweise, auch wenn viele (die meisten?) Philosophen dies garnicht verstehen (Descartes und Leibniz waren wundersame Ausnahmen!)). Weiß nicht, ob das schon jemand versucht hat. Die theoretische Situation im Bereich ‚verteiltes Wissen‘ ist jedenfalls noch nicht sehr weit fortgeschritten.
(10)Muss damit meine Notiz abschließen. Eigentlich gibt es hier vielen interessanten Stoff zum Weiterdenken, ich muss mich jetzt aber um organisatorische Fragen des Studiengangs kümmern. Muss auch sein. Wir leben nicht im luftleeren Raum sondern sehr konkret, körperlich, energetisch, kommunikativ interagierend, wo Worte notwendig sind, um Handlungen zu ermöglichen. Dies alles kostet Zeit, Energie, und verlangt nach ‚geeigneten Emotionen’….

Baars, J.B.; Gage, N.M. Cognition, Brain, and Consciousness. Introduction to Cognitive Neuroscience, 2nd.ed., Amsterdam et: Elsevier, 2010

Ecological Psychology, online: http://en.wikipedia.org/wiki/Ecological_psychology
Gibson, J.J.; 1904-1979, http://en.wikipedia.org/wiki/James_J._Gibson (last access: 4.Jan.2013)

Hollan, J.; Hutchins, E.; Kirsh,D.; Distributed cognition: toward a new foundation for human-computer interaction research, June 2000, Transactions on Computer-Human Interaction (TOCHI) , Volume 7 Issue 2, Publisher: ACM

Holling, C.S.; Resilience and Stability of Ecological Systems, Annual Review of Ecology and Systematics, Vol. 4: 1-23 (Volume publication date November 1973), DOI: 10.1146/annurev.es.04.110173.000245

Leibniz, G.W.; Monadologie, 1714, siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Monadologie (last access: 4.Jan.2013)

Uexküll, J.J.v., Lebensthema: Umwelt als Bedeutungsraum, siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Johann_von_Uexk%C3%BCll (last access: 4.Jan.2013)

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