Archiv für den Tag: 27. Januar 2014

IST DIE DEMOKRATIE DOCH NOCH NICHT GANZ AM ENDE? HUBERT SEIPELs INTERVIEW MIT SNOWDEN IN DER ARD So 26.Januar 2014

IN DIESEM BLOG

schreibe ich seit Juni 2013 (auch) zu den Themen, die die Veröffentlichungsaktionen von Edward Snowden ausgelöst haben. Weder war ich bis dahin sehr politisch noch hatte ich vor, über diese Themen zu schreiben. Aber, wenn man an den grundlegenden Strukturen dieser unserer Welt interessiert ist, an der allgemeinen Entwicklungsdynamik über das aktuelle Tagesgeschehen hinaus, dann ist es fast unmöglich, die Entwicklung der US-amerikanischen Gesellschaft, ihres politischen Systems und ihrer Rolle in der Welt ‚zu übersehen‘. Was immer wir uns philosophisch-wissenschaftlich denken können und wollen, in der konkreten Realität unserer Welt im Jahr 2014 spielen die USA immer noch eine solch unvergleichliche Rolle, dass ein Schweigen dazu das gleiche wäre, als ob jemand vor einem lodernden Feuer stehen würde und so täte, als ob es dieses nicht gäbe. Damit will ich nicht sagen, dass Länder wie Rußland und China unwichtig wären, oder gar Europa und Südamerika, aber bei allem, was man Wichtiges über diese anderen Länder sagen kann, aus meiner Sicht kommen den USA eine absolute Sonderstellung zu, da Sie das Paradigma für die Entstehung und Praxis einer demokratischen Gesellschaft in der Neuzeit schlechthin sind, dies gepaart mit einer wirtschaftlichen und militärischen Macht, die noch immer eine Führungsrolle in der Welt innehat.

DIE BRISANZ: DEMOKRATIE AM SCHEIDEWEG

Während viele Monate die Snowden-Affäre eher rein ‚technisch‘ gesehen wurde – und bei sehr vielen (den meisten?) noch immer – , Abhöraktivitäten, die man durch technische Maßnahmen eindämmen oder unterbinden könnte, hatte ich schon ab Ende Juli 2013 (angeregt durch TomEngelhardt und seine tomdispatch.com Webseite) damit begonnen, nach den politischen Konsequenzen und Rahmenbedingungen zu fragen, innerhalb deren solche weltweiten Abhörmaßnahmen möglich waren: Die Originaltexte der US-amerikanischen Verfassung, verschiedene Gerichtsurteile, viele Veröffentlichungen und Dossiers der Washington Post und anderer engagierter demokratischer Institutionen und Bewegungen (z.B. die American Civil Liberties Union (ACLU), und mehr.

Fügt man diese verschiedenen Quellen zu einem Gesamtbild zusammen, dann kann man den Eindruck bekommen, dass (i) die Texte und die Interpretation der US-amerikanischen Verfassung mehr und mehr hinter die technische Entwicklung zurückgefallen sind. Dass ferner (ii) die Besonderheit der US-amerikanischen Verfassung mit der starken Stellung des Präsidenten zusammen mit dem politischen Universaltrigger ‚Nationale Sicherheit‘ geeignet sind, alle anderen demokratischen Elemente auf Dauer zu neutralisieren, und dass (iii) eine Gemengelage von nationalem Stolz, Bedrohungsszenarien und starken militärisch-wirtschaftlichen Partikularinteressen hinter der Regierungsmaschinerie – über Jahrzehnte — eine riesige Druckwelle aufgebaut haben, die sich diese Schwachstellen der amerikanischen Verfassung und realen Politik zu Nutze gemacht haben und machen.

Für viele (die meisten?) Menschen sind diese Gedanken so ungeheuerlich, dass sie sich spontan innerlich wehren, so etwas überhaupt zu denken (zumal es ja immer bequemer ist, nicht zu denken, als durch eigenes Denken auf unangenehme Sachverhalte zu stoßen). Denn, wäre die Realität tatsächlich so, wie die verschiedenen Veröffentlichungen und Ereignise es nahelegen, dann hätten wir nicht nur mit einer eminente technologische ‚Krise‘ aus Sicht der Anwender zu tun, sondern wir hätten eine eminente politische Krise mit Blick auf den Status und die Zukunft einer demokratischen Gesellschaft primär in den USA, dann aber auch in der ganzen Welt (aufgrund der gegeben Sonderstellung der USA (es ist nicht absehbar, wann Rußland oder China zu demokratischen Gesellschaften werden; wäre dies der Fall, würde dies natürlich die Machtverhältnisse erheblich verschieben, mehr, als durch jeden noch so großen Rüstungsetat)).

SNOWDEN, DAS ZIPFELCHEN HOFFNUNG

Vor diesem weltpolitischen Hintergrund bekommt die persönliche Aktion von Edward Snowden eine besondere Bedeutung.

Steht man auf dem Standpunkt, dass die Aktivitäten der verschiedenen Geheimdienste in den USA – insbesondere auch die der NSA — auf dem Boden der Verfassung stehen und der nationalen Sicherheit dienen, dann erscheint Snowden als ‚Verräter‘; steht man auf dem Standpunkt, dass die Dienste – insbesondere die NSA – den Boden der Verfassung längst verlassen haben (bzw. selbst wenn Sie formal mit dem geltenden Gesetz übereinstimmen, sie doch faktisch den ‚Geist‘, die ‚Intention‘ der amerikansichen Verfassung) ‚verlassen’/ ‚verletzt‘ haben)), dann erscheitn Snowden als ‚Whistleblower‘, d.h. als ein Mensch, den eine hohe ethische Verantwortung dazu treibt, erkannten Machtmissbrauch öffentlich zu machen.

Die tatsächlich Praxis im Umgang mit Whistleblower lässt den Eindruck entstehen, dass potentielle Whistleblower in der letzten Zeit verstärkt (unter Obama!?) schon im Vorfeld ’neutralisiert‘ werden, was es für einen potentiellen Whistleblower fast unmöglich erscheinen lässt, sein Anliegen vor zu bringen. Die vielfachen Aussagen von Snowden zu diesem Punkt deuten darauf hin, dass er dieses Problem des im Vorfeld ’neutralisiert Werdens‘ sehr ernst nimmt und deswegen den ungewöhnlichen Weg gewählt hat, einen vorläufigen Schutz außerhalb der USA zu suchen.

Während die ‚Regierungstreuen‘, die auf das formale Recht pochen, Snowden genau dies zum Vorwurf machen, dass er sich nicht den US-amerikanischen Behörden stellt (und sie offensichtlich das Verhalten der eigenen Behörden in einem eher positiven Licht sehen trotz aller entgegenstehenden Fakten), liegt es in der Logik der Sachverhalte, die Snowden enthüllt hat, dass die Auswirkungen der Tätigkeiten US-amerikanischer Behörden sich in diesem Fall ja nicht auf die USA beschränken, sondern nahezu alle Länder (und damit Menschen) dieser unserer Erde betreffen. Snowden ist ein Mensch , der offensichtlich die Geltung und Bedeutung von Demokratie und Menschenrechten auch jenseits der Landesgrenzen der USA sieht und persönlich für wichtig hält und deshalb eine ethische Verantwortung spürt, diesen ‚Menschen‘ außerhalb der USA ein Signal zu senden, was mit Ihnen durch die US-amerikanischen Behörden gemacht wird (natürlich auch mit den Bürgern der USA selbst).

Zum Verständnis der US-Behörden ist auch wichtig zu erinnern, dass die US-Behörden jegliche Normen und rechtliche Institutionen außerhalb der USA für sich kategorisch ablehnen. Weder erkennen sie für das Handeln von US-Behörden die Menschenrechte an noch irgendwelche Verlautbarungen der UN oder irgendwelcher Gerichte (diese Verletzungen durch US-Behörden gehen mittlerweile – nach den bekannten Fakten – in die hundert Tausende, wenn nicht Millionen). Jeder Nicht-US-Mensch ist für die US-Behörden aktuell laut Gesetzt vollständig rechtlos und kann jederzeit ohne jeglichen juristischen Beistand beliebig ‚vereinnahmt‘ werden. Rechtsverletzungen, sogar Menschenrechtsverletzungen an Nicht-US-Menschen, spielen in den Augen von US-Regierungsbehörden daher keine wirkliche Rolle. Dass Snowden möglicherweise die ethischen und juristischen Interessen von vielen Millionen Nicht-US-Menschen durch seine Aktion zu schützen versucht, ist gemessen an der offiziellen US-amerikanischen Rechtsauffassung irrelevant. Aus Sicht der US-Regierung hat er – so stellt es sich in der Außenwirkung dar – das US-Recht elementar verletzt.

Ob Snowden nun tatsächlich im Sinne der herrschenden US-Regierungsinterpretation von US-Recht anzuklagen ist oder ob er im Lichte übergreifender Rechtsauffassungen gerade das uns alle tragende und verbindende Recht, auf dem ALLE Demokratien beruhen, eher geschützt hat, wird sich so schnell nicht einvernehmlich klären lassen. Fakt ist allerdings, dass Snowden es geschafft hat, mit seiner Aktion, die Diskussion über die demokratischen Grundlagen der aktuellen Technologieentwicklung und ihrer verdeckten Nutzung durch Regierungsbehörden ansatzweise in die Öffentlichkeit und in die Diskussion zu bringen.

KORNBLUM IST KORNBLUM

Vor dem ersten Fernsehinterview von Snowden weltweit am So 26.Januar 2014 gab es eine Diskussionsrunde mit Günther Jauch, in der als Gast auch John Kornblum teilnahm (übrigens nicht zum ersten Mal). Kornblum ist zwar ingewisser Weise eben Kornblum und nicht direkt mit irgendeinem anderen direkt vergleichbar, aber dennoch leuchtet in seiner Person eine Haltung, ein Denken auf, das nach meinem Verständnis der US-Behördenhaltung sehr nahe kommt: einerseits – und auf den ersten Blick – wirkt er wie ein ’naiver Konservativer‘, der schon den leisesten Zweifel an möglichen Verfehlungen der Regierung oder ihrer Behörden im Keime einfach ablehnt (was angesichts der vielen historisch erwiesenen Fakten schwer nachvollziehbar ist; aber vielleicht daraus resultiert, dass er wirtschaftliche Interessen vertritt und massiver Lobbyist ist); andererseits hat er einen Blick in und auf die technologisch-wirtschaftliche Entwicklung und die damit einhergehenden politischen Machtprozesse, die ihn deutlich von den anderen Diskussionsteilnehmern abhoben. Einerseits eine erschreckende ‚Naivität‘, andererseits einen Tief- und Weitblick, der die Logik der aktuellen Entwicklung deutlich thematisiert. Gerade aber wenn man diese ansatzweise vorhandenen Einsichten annimmt, verwundert es aber auch, wie wenig kritisch er das demokratisch-ethische Umfeld dieser Entwicklungen sieht; zumindest hat er im Gespräch alles vermieden, um diesen Punkt anzusprechen.

Möglicherweise lag das auch an seinen Gesprächsgegenübern in Gestalt von Interview-Autor Hubert Seipel, MdB Christian Ströbele (Grüne) und der Politikerin und Bloggerin Marina Weisband (Piraten). Sie alle drei vertraten – auf unterschiedliche Weise – die Wertedimension im Umfeld von Snowdens Aktion. Die tatsächlichen politischen, wirtschaftlichen und technologischen Prozesse kamen bei Ihnen hingegen kaum zur Sprache. Die verschiedenen Bälle, die Kornblum ihnen mit seinen Aussagen zuspielte, wurden nicht aufgegriffen. Andererseits blockte Kornblum mit seiner extrem unkritischen Haltung gegenüber der US-Regierung viele interessante Ansätze ab. Jauch als Moderator gelang es nicht, die verdeckt vorhandenen Brücken auszunutzen, um über das reine Konfrontieren der verschiedenen Positionen hinaus zu kommen.

WIE GEHT ES WEITER?

Allein die Tatsache, dass das Deutsche Fernsehen in Gestalt von ARD, ZDF, arte sich engagiert des heiklen Themas Snowden und politisches Umfeld annehmen (und auch manche Zeitungen in Deutschland wie FAZ, Spiegel, die Zeit…) gibt Hoffnung, dass das bisherige nahezu totale Versagen der deutschen (und europäischen) Politik in diesen Fragen nicht das letzte Wort sind. Nachdem es viele tausend Jahre gedauert hat, bis es demokratisch verfasste Gesellschaften auf diesem Planeten Erde gab, wäre es furchtbar, wenn durch Dummheit, Feigheit der aktuellen Politikergeneration (und ihrer Behörden?) das Projekt demokratischer Gesellschaften mit all ihren Werten einem dumpfen Nationalismus und menschenverachtender Wirtschaft und Technologie zum Opfer fallen würde. Das Projekt ‚Leben auf der Erde‘ (und möglicherweise im Kosmos) ist evolutionstheoretisch gerade erst am Anfang. Wir stehen ganz am Anfang eines neuen, tieferen Verständnisses dessen, was überhaupt Leben ist, was ‚Geist‘ ist, was ‚das Ganze‘ überhaupt soll, wer ‚wir sind‘. Es wäre tragisch, wenn wir als Menschen genau an jenem historischen Punkt, an dem wir anfangen, neu zu verstehen, durch dumpfe kurzfristige Machtinteressen in die Dunkelheit des Nichtwissens zurückgeworfen werden. Dass wir eine weltweite Globalisierung durch immer mehr technische Möglichkeiten beobachten, ist in sich nicht notwendigerweise schlecht; es scheint sogar genau der Logik der Evolution zu entsprechen. Nur ist die Frage, wie wir als Menschen damit umgehen. Die große Entwicklung verlangt von uns neue Menschenbilder und eine neue, vertiefte Ethik. Die USA wären dazu prädestiniert, hier eine Vorreiterrolle zu übernehmen, aber viele Behörden, Regierungsvertreter und Wirtschaftsführer erwecken den Eindruck, dass sie in einem dumpfen, unreflektierten Nationalismus verharren, der unfähig ist, die Weite der Verantwortung für die grenzüberschreitenden Werte der demokratischen Ideale zu erkennen. Technologisch sind die USA ein Riese, ethisch-politisch-moralisch erwecken sie den Eindruck, dass sie (nicht alle!!!) in einer Vergangenheit verharren, die langfristig den eigenen technologischen Vorsprung zerstören wird.

Der menschliche Geist ist aber prinzipiell für Überraschungen gut. Nicht jedes totalitäre Regime muss a la Stalin – Hitler – Mao im Chaos enden. Vielleicht erweist sich im Nachhinein , dass Snowden der entscheidende Unterschied war.

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