Archiv für den Tag: 22. August 2014

WIE ÜBERWINDET WIR MENSCHEN DAS BÖSE?

FOKUS: DAS BÖSE

1. Seit kurzem (vgl. die letzten beiden Beiträge: das Böse in demokratischen Systemen am Beispiel USA sowie das Böse in Religionen) tritt vermehrt das Phänomen des ‚Bösen‘ in den Fokus der Betrachtungen. Nicht dass das Phänomen des ‚Bösen‘ neu wäre. Fängt man an, sich umzuschauen, dann findet man nahezu zu allen Zeiten, in denen es Menschen gab, Handlungen von Menschen, die man als ‚böse‘ bezeichnen könnte (angefangen von alltäglichen Unterdrückungen und Quälereien über direkte Gewalttaten, Vergewaltigungen, Folter, Mord und Totschlag, bis hin zur Tötung ganzer Familien, von Dörfern, Städten oder ganzer Völker (Völkermord). Und dies, wie gesagt zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten, in allen Ethnien. Die fürchterlichen Weltkriege 1 und 2, die Morde von Stalin, die systematische Vernichtung der Juden in Nazi-Deutschland, von Mao, die Roten Khmer in Kambodscha, die grausigen Kriege in Vietnam, Afghanistan und Irak seitdem, diese sind nur die Spitze des Eisbergs.

2. Betrachtet man die Vielfalt dieser Phänomene von Gewalt von Menschen gegen Menschen, dann wird einem bewusst, dass eine klare Definition des Bösen kaum möglich ist; erst recht nicht, weil ‚Gewalt‘ an anderen nicht nur ’schlecht‘ ist, ‚böse‘, wenn sie unter ‚Gleichen‘ verübt wird, sondern plötzlich ‚gut‘ erscheint, wenn sie gegen ‚Andere‘ verübt wird, gegen ‚Feinde‘, gegen die ‚Bösen‘. Im Südafrika der Apartheid galt es für viele Weiße als ‚gut‘ die ‚Schwarzen‘ zu unterdrücken oder gar zu töten; in den Zeiten der Sklaverei war ‚Gewalt gegen Schwarze‘ ’normal‘; bei der Kolonisierung fremder Länder und Völker durch die europäischen Staaten war Gewalt und Tötung ’normal‘; in den vielen Wanderungsbewegungen in Europa war das Überfallen, Töten und Plündern der ‚Anderen‘ ’normal‘. Eroberungsfeldzüge galten als ehrenvoll. Der sogenannte Dreißigjährige Krieg (1618 bis 1648 ) mit seinen Gräueltaten war keine Ausnahme.

3. Das Erschreckende an diesen Aufzählungen ist, dass man plötzlich merkt, dass diese Listen immer länger werden, je weiter man schaut. Fast kann man den Eindruck kriegen, dass der Mensch die Quelle des Bösen schlechthin ist.

FILM: PLANET DER AFFEN – REVOLUTION

4. Der aktuell in den Kinos laufende Film Planet der Affen – Revolution wirkt dagegen fast brav, wie eine nette Märchenstunde. Mit exzellenten Bildern in Szene gesetzt, fokussiert er auf die Grundtendenzen von allen Gruppen, den/ die ‚Anderen‘ zunächst mal mit Misstrauen zu betrachten (was angesichts der Gräueltaten der Geschichte tatsächlich auch angebracht erscheint) und im Anderen zunächst mal eher eine Bedrohung zu sehen, einen potentiellen Feind, als einen Freund. Dass sowohl bei den Affen wie bei den Menschen Protagonisten auftreten, die gegen diese Automatismen von Misstrauen und Hass immun erscheinen und ‚gegen den Strom‘ die Verständigung suchen, fällt auf, ist aber genau so wenig ‚erklärbar‘ in seinem Warum wie das Gegenteil. Dass man den/ die Anderen reflexhaft erst einmal zum ‚Bösen‘ stempelt, dem man alles zutraut, und den man bereit ist, zu bekämpfen, sitzt offensichtlich sehr tief drin in unseren Genen, in unseren basalen Verhaltensmustern, nah benachbart zur Bereitschaft von Gewaltanwendung, zum Töten. Die Gegenüberstellung von Menschen und Affen mag zwar kinowirksam sein, aber die Gegenüberstellung von Mensch zu Mensch würde den gleichen Stoff hergeben. Wir Menschen als homo sapiens haben tief drin in uns das genetische Arsenal zur Feindbildung und zum Töten; die Auslöser dieses Arsenals sind offensichtlich sehr niedrigschwellig (was jeder in seiner Umgebung leicht ausprobieren kann, wenn er/ sie dies nicht sowieso schon als tägliche Bedrohung, als tägliches Leid erfahren muss).

CHODORKOWSKI

5. Für viele ist der russische Milliardär Michail Chodorkowski auch einer, den man aufgrund seines schnellen Reichtums in einer kritischen Periode Russlands geneigt ist, vielleicht eher den ‚Bösen‘ zuzuordnen als den ‚Guten‘. Durch umstrittene Prozesse war er mehrfach in Haft. Als ehemaliger Oligarch eine schillernde Person, der aber in der Zeit der Haft gelernt hat, in den Schicksalen seiner Mitgefangenen zu lesen und ihre Welt literarisch ’sichtbar‘ zu machen. Seine Briefe und Bücher erschließen eine ‚Mikrowelt‘ des Bösen, durchtränkt mit Gutem, wo einfache Zuordnungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ versagen. Zugleich werden die ‚Bosheiten‘ jenes staatlichen Systems sichtbar, das das ‚Gute‘ vertreten soll.

6. Dieses schillernde Wechselspiel von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ in den literarischen Darstellungen eines Chodorkoski finden sich auch in der Gegenwart vielfältig wieder.

ISLAMISCHER STAAT

7. Während ein Leon de Winter in der FAZ vom 20.Aug.2014 auf S.9 im Wirken der Kämpfer des Islamischen Staates das Böse schlechthin am Werke sieht, die totale Enthemmung von allem, was wir im Laufe des Zivilisationsprozesses gelernt haben, findet sich in der gleichen Zeitung am 21.Aug.2014 auf S.9 ein Interview von Souad Mekhennet mit einem Kämpfer aus dem inneren Kreis von Abu Bakr al Bagdadis, der sich zum Kalifen des ‚Islamischen Staates‘ [IS] hat ausrufen lassen. In diesem Interview erscheinen die USA als unglaubwürdig, aufgrund ihrer vorausgehenden Unterstützung genau der radikalen islamischen Kämpfer, solange sie den Interessen der US-Regierung gedient hatten, und den europäischen Staaten wird Heuchelei vorgeworfen, da sie zwar von Religionsfreiheit reden würden, aber die Ausübung des Islams nicht so zulassen würden, wie es die radiale Bewegung des IS versteht.

8. Und wenn man sich die Mühe macht, sich all der Gräueltaten bewusst zu werden, denen sich die USA und die europäischen Staaten in der Vergangenheit schuldig gemacht haben, dann werden die Gräueltaten der IS-Kämpfer in der Gegenwart dadurch nicht besser, aber man wird vielleicht vorsichtiger in der Zuordnung von ‚Guten‘ und ‚Bösen‘. Die Art und Weise, wie alleine die US-Regierung nach dem zweiten Weltkrieg einen Krieg nach dem anderen führt, wie die US-Regierung öffentlich für sich alles Recht in Anspruch nimmt und niemandem anderen auch nur ein Minimum an Recht zugesteht, wie sie seit Jahren massiert einen unerlaubten Dronenkrieg führt, der schon vielen tausend Zivilisten den Tod gebracht hat, dann werden aus den mörderischen Taten der IS-kämpfer immer noch keine guten Taten, aber man kann vielleicht erahnen, dass es Menschen auf unser Erde gibt, die angesichts dieses anhaltenden ‚Unrechts im Namen der Freiheit‘ für sich auch das Recht auf Töten reklamieren können.

ISRAEL

9. Schauen wir nach Israel und den Konflikt um den Gaza-Streifen. Angesichts des Leides, das Juden in der Vergangenheit erlebt haben, besonders in der Zeit von Nazi-Deutschland, dann würde man erwarten, dass der jüdische Staat ein besonderes Bewusstsein für Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit ausgeprägt hat. Dem ist aber – allem Anschein nach – nicht so. Schon die Gründung begann mit Gewalt; und all die folgenden Jahrzehnten spielte der Kampf gegen und die Unterdrückung der vertriebenen Palästinenser eine Dauerrolle. Etgar Keret, ein jüdischer Schriftsteller, beschreibt am 22.Juli in der FAZ (S.10) von der zukunftslosen Logik der israelischen Regierung, die im Krieg gegen die Hamas und deren Unterwerfung ihre Zukunft sieht aber keinerlei Einsichten/ Reflexionen erkennen lässt, wie es denn nach einem (End-)Sieg über die Hamas weitergehen soll (vorausgesetzt, man könne die Hamas überhaupt besiegen)? Wie kann eine friedliche Zukunft von Israel aussehen, wenn man dies nur in Kategorien der Vernichtung der Nachbarn denkt? Ist es nur ein Zufall, dass die Radikalisierung der israelischen Öffentlichkeit sich auch messbar darin ausdrückt, dass rechte Krawallmacher über die Siedler und den orthodoxen hinaus mittlerweile in Israel einen solchen Einfluss genommen haben, dass Menschen mit abweichenden Meinungen öffentlich zusammengeschlagen und öffentlich verfolgt werden? Ein Hauptakteur scheint der Rapper Yoav HaZel zu sein, der über seine Facebook-Seite offen zu Gewalt aufruft, sie organisiert und bislang unbehelligt bleibt (siehe den eindringlichen Bericht von Alexander Belopolsky in der FAZ vom 28.Juli 2014 (S.14). Es ist richtig, dass die jüdischen Botschaften und Einrichtungen in den Ländern Europas Kritik üben, wenn radikale Gruppen bei Demonstrationen den Tod Israels fordern, aber es ist erstaunlich, dass die gleichen jüdischen Gruppen sich nur dann mit Kritik melden, und darüberhinaus kaum erkennen lassen, dass sie an einer friedlichen Zukunft Israels aktiv interessiert sind. Sich darauf zu beschränken, die Entwaffnung der Hamas zu fordern bei gleichzeitig aktiver Unterdrückung der Palästinenser erscheint zu wenig. Wo bleibt die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle, jetzt, heute?

10. Aus Sicht von Israel ist die Hamas ‚böse‘, weil Sie Raketen abschießen und morden. Und die Hamas erscheint in keinem besseren Licht, wenn sie sich (so der Berichte von Hans-Christian Rößler in der FAZ vom 21.Aug.2014, S.2) von Quatar finanzieren (und politisch erpressen?) lässt. Stellt man sich für einen Moment auf die Seite der Hamas, dann haben die natürlich auch ihre Gründe und Motive; auch sie fühlen sich im Recht, auch sie wollen leben, auch sie wollen Freiheit, auch sie wollen Frieden. Aus ihrer Sicht ist die anhaltende Unterdrückung durch Israel die Ursache allen Übels. Wer also hat Recht?

WO DAS UNHEIL BEGINNT

11. Das Unheil beginnt in den Herzen und Köpfen der beteiligten Menschen. Das Unheil beginnt in den (falschen?) Bildern von der Welt, in der man lebt. Das Unheil beginnt dort, wo man die Entscheidung fällt, den ‚Anderen‘ nicht als gleichwertigen Menschen zu sehen, anzuerkennen. Das Unheil beginnt dort, wo ich dem ‚Anderen‘ grundsätzlich das Recht abspreche, soviel Anerkennung zu bekommen wie man selbst gerne haben möchte.

(ORIENTALISCHE) CHRISTEN

12. Seit den Tagen, an denen die IS-Kämpfer begannen, andere Religionen brutal zu töten und deren religiöse Stätten zu schänden wird bewusst (vgl. Rainer Herman in der FAZ 31.7.2014 S.11), welche Vielfalt an religiösen – insbesondere orientalisch-christliche – Gruppierungen im Irak und Syrien seit Jahrhunderten gelebt haben. Deren Niedermetzelung ist brutal und ‚böse‘. Doch sollte man nicht übersehen, dass in den vorausgehenden Jahrhunderten die christlichen Gruppierungen auch immer wieder im Namen von Religion und Wahrheit andere verfolgt und getötet haben. Und wenn man sieht, wie heutzutage insbesondere US-amerikanische Freikirchen radikal gegen Andersgläubige, insbesondere gegen Homosexuelle, vorgehen und ganze Staaten zur Verfolgung von Homosexuellen bis hin zum Tod aufrufen (vgl. den Bericht von Thomas Scheen in der FAZ vom 21.8.2014, S.3), dann sollten wir vorsichtig sein mit vorschnellen Schuldzuweisungen.

VERGEBLICHE LEHRSTUNDEN DES TODES?

13. Von seiner biologischen Natur her, von seiner genetischen Ausstattung her, hat der Mensch – glücklicherweise – einen starken Überlebenstrieb, und in der Vergangenheit hatte Überleben sehr viel mit Kampf und Töten zu tun, ein Verhalten, das sich auf Gruppen, Stämme, ganze Völker und Staaten übertragen kann und übertragen hat. Kampf und Töten setzt das Freund-Feind Schema voraus: sobald jemand nicht als Freund klassifiziert wird, wird er zu einem Kandidaten für Angriff und Tot. Die Unzahl der Kriege in der Vergangenheit belegen dies nachdrücklich und noch in den letzten beiden großen Weltkriegen wurde dieses Schema bis zum Exzess ausgelebt mit einem unvorstellbarem Ausmaß an Leid und Tod. Eigentlich hätten diese Lehrstunden des Todes ausreichen können, um uns zur Besinnung zu bringen. Aber offensichtlich ist dies nicht der Fall. Allen voran der ‚weiße Ritter‘ USA begann wieder in unvorstellbarem Ausmaß zu Rüsten und mit schwarz-weiß-Kategorien die Welt in ‚Gute‘ und ‚Böse‘ einzuteilen; viele andere folgten, freiwillig, oft gezwungen, auch in Opposition zum ‚weißen Ritter‘, auch, weil es im Menschen so tief drinsitzt.

UNSERE VERANLAGUNG ZUM BÖSEN

14. Zusätzlich zu unserer genetischen Erblast des ‚inhärenten Bösen‘ haben wir eine kognitive Ausstattung, durch die wir das ‚jeweilige Bild von der Welt‘ immer wieder neu mühsam, Schritt für Schritt, konstruieren müssen. Dieses Bild ist im einzelnen verortet, primär Ich-orientiert, notorisch begrenzt und fehleranfällig. Um ‚gemeinsam‘ zu handeln müssen wir uns ‚koordinieren‘, durch ‚Sprache‘. Diese ist noch fehleranfälliger, dennoch ist sie die einzige Verbindung zwischen unseren individuellen Gehirnen; ohne Sprache sind wir individuelle ‚Zombies‘, verfangen in unseren individuell zufälligen Bilder einer Welt, in der wir vorkommen. Differenzierte Bilder der Welt zu erarbeiten ist sehr schwierig, aufwendig, benötigt viel Zeit, benötigt komplexe Infrastrukturen, benötigt spezifische Rahmenbedingungen. Nicht von ungefähr hat der homo sapiens mehr al 100.000 Jahre gebraucht, um Ansätze von Wissenschaft und Technologie zu entwickeln, die ein Zusammenleben von vielen Millionen Menschen in einer Stadt möglich machen, mit all dem, was dazu gehört: Ernährung, Entsorgungen, Verkehr, Gesundheitswesen, Ausbildung, Wirtschaft, ….

15. Die Geschichte zeigt uns, dass solche diffizilen zivilisatorischen Strukturen durch ‚barbarisches Verhalten‘ oder auch Naturereignisse sehr schnell wieder ‚ausgelöscht‘ werden können (z.B. die Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, Maos Kulturrevolution, die Sezessionskriege im ehemaligen Jugoslawien, der Zerfall des römischen Reiches, der Untergang der Mayas, … viele, viele Beispiele).

KÖNNEN WIR ETWAS LERNEN?

16. Können wir daraus irgendetwas lernen? Können wir Menschen als homo sapiens irgendeine sinnvolle ‚Strategie‘ finden, das ‚inhärent Böse‘ in uns so zu überwinden, dass es eine gemeinsame friedvolle Zukunft für ALLE Menschen gibt? Das ist die einzig wirklich wichtige Frage, und es wäre die Frage, ob aktuelle Regierungen wie die US-Regierung, die russische Regierung, die chinesische Regierung, die israelische Regierung, die … alle anderen auch … es schaffen könnten, die klassisch-traditionellen Machtmuster zu überwinden und einen Weg finden könnten, der grundsätzlich allen einen Raum gibt. Eine Zukunft auf Kosten der anderen war gestern und wird in keiner wirklichen Zukunft funktionieren.

17. Das alte biblische Gleichnis vom Weizenkorn, das sterben muss, um zu leben, hat hier möglicherweise eine interessante Anwendung: wer morgen friedlich leben will, der muss sich heute mit seinen Nachbarn aussöhnen. Und das Leben im friedlichen Miteinander ist allemal schöner und produktiver als mit altertümlichen Freund-Feind-Kategorien sich selbst in andauernden Angtsträumen zu quälen und von einer Krise in die andere zu rutschen. Was kann uns helfen, unsere genetische Drift zum Bösen zu überwinden? Den Teufel zu beschwören, wie es in der Vergangenheit gerne getan wurde, hilft nicht weiter; der Teufel sind wir selbst. Wie werden wir weniger ‚Teufel‘?

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.