VORGESCHICHTE
Für einen Überblick zu allen vorausgehenden Beiträgen dieser rekonstruierenden Lektüre von Avicennas Beitrag zur Logik siehe AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – BLITZÜBERSICHT.
AVICENNAS DISKUSSION WIDERSPRÜCHLICHER AUSSAGEN
MANGEL AN SPEZIFIKATION
1. Schon in den vorausgehenden Abschnitten gab es immer wieder den Fall, dass eine Aussage verneint werden sollte und in nicht wenigen Fällen war nicht so ganz klar, wie Avicenna das Verhältnis von ‚Affirmation‘ und ‚Negation‘ genau verstand.
2. In der modernen formalen Logik sind die Verhältnisse vergleichsweise einfach. Die ‚Negation‘ eines Ausdrucks e wird repräsentiert durch ein entsprechendes Zeichen, z.B. durch das Zeichen ‚$latex \neg$‘, und in den syntaktischen Regeln wird genau festgelegt, welche Ausdrücke F der Ausdrucksmenge E ‚wohlgeformte‘ Ausdrücke einer Logiksprache L sind oder nicht. Diese ’syntaktischen‘ Festlegungen sind völlig unabhängig von irgendeiner ‚Bedeutung‘ M. Sofern diese so charakterisierte wohlgeformte Formelmenge F in der modernen formalen Logik eine zusätzliche Bedeutung M haben sollen, so dass man in jedem Fall sagen kann, wann ein Ausdruck $latex f \in F$ ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ im Sinne der Bedeutung M ist – geschrieben: $latex M \models f$ –, dann muss man die Bedeutung selbst komplett mit regeln beschreiben und im einzelnen genau hinschreiben, wann und wie diese Zuordnung zu verstehen ist; sie muss mit ‚endlichen Mitteln nachvollziehbar entscheidbar‘ sein.
3. Wie wir bisher gesehen haben – und wie es in diesem neuen Abschnitt von Avicennas Abhandlung erneut sichtbar wird –, tut Avicenna – hierin der antiken Logik folgend – die Bedeutung M nirgends spezifizieren. Selbst schon die Menge der wohlgeformten Ausdrücke A der Aussagen wird als Ausdrucksmenge nirgends rein syntaktisch charakterisiert. Damit ist die Ausgangslage für die Diskussion/ Analyse in allen Einzelfällen schwierig und meist nicht völlig auflösbar.
WIDERSPRUCH – AFFIRMATIV/ NEGATIV – WAR/ FALSCH
4. Ausgangspunkt sind zwei Ausdrücke A und B, die jeweils ‚Aussagen‘ darstellen. Ist der eine von ihnen – z.B. A – affirmativ, dann wäre der Widerspruch (engl.: ‚contradictory‘) zum affirmativen A ein negatives B, und umgekehrt. Im Falle eines Widerspruchs muss einer der Ausdrücke ‚wahr‘ und der andere ‚falsch‘ sein. Sei also das affirmative A wahr, dann müsste das negative B falsch sein.
5. [Anmerkung: Ein affirmatives A könnte der Ausdruck sein ‚Zid lacht‘. Die Negation als B dazu wäre ‚Zid lacht nicht‘. Wenn A wahr ist, dann ist B falsch].
ANFORDEREUNGEN AN EINEN WIDERSPRUCH
6. Für einen Widerspruch zwischen zwei Aussagen A und B muss gelten, dass die ‚Bedeutung‘ der Aussagen bezogen auf (S P) bzw. ‚Antezedenz – Konsequenz‘ die ‚gleiche‘ sein soll. Als Gegenbeispiele, wo dies nicht der Fall ist, bringt er zwei Fälle, in denen die Bedeutung der verwendeten Subjekte oder Prädikate ‚mehrdeutig‘ ist. Im einen Fall meint der Ausdruck ‚Lamm‘ (engl.: ‚lamb‘) ein Tier, im anderen Fall ein Sternbild; oder der Ausdruck ’sein Ziel‘ (engl.: ‚his end‘) kann einen konkreten Zustand meinen oder die ‚Bestimmung‘ einer Person.
7. [Anmerkung: Dies Beispiel zeigt klar, dass bei Avicenna die Definition eines Widerspruchs nicht unabhängig von der zugehörigen Bedeutung vorgenommen werden kann. In der modernen formalen Logik kann man – unabhängig von jeder möglichen Bedeutung sagen, dass ein Ausdruck $latex \neg A$ auf jeden Fall ein Widerspruch zu der Aussage A darstellt, unabhängig davon, welche Bedeutung A hat. Denn, welche Bedeutung M(A) auch vorliegen mag, diese spezielle Bedeutung M(A) ist so, dass sie den Ausdruck im affirmativen Fall A wahr machen würde, und dann wäre $latex \neg A$ der Widerspruch und ‚falsch‘. Sollte hingegen $latex \neg A$ wahr sein – egal mit welcher Bedeutung –, dann wäre A der Widerspruch und falsch. ]
8. In einer zweiten Forderungen müssen widersprüchliche Aussagen A und B in ihrer Bedeutung auch bzgl. ‚Aktualität‘ und ‚Potentialität‘ übereinstimmen. Damit ist gemeint, dass bei einer Aussage wie ‚Der Mann stirbt‘ geklärt sein muss, ob er ‚aktuell stirbt‘ oder oder er nur ‚potentiell sterben könnte‘.
9. [Anmerkung: Angenommen die affirmative Aussage sei (S P), dann muss man eigentlich voraussetzen, dass beide das Gleiche meinen. In diesem Fall wäre der Widerspruch (S nicht P). Im alltäglichen Reden ist aber die Feststellung der Gleichheit von Bedeutungen ein notorisches Problem. sehr oft ‚glaubt‘ man, dass man die gleiche Bedeutung annehme wie der Gegenüber, und erst später stellt sich heraus, dass dies nicht so war. An der Definition eines Widerspruchs ändert dieses praktische Problem aber eigentlich nichts.]
10. In einer dritten Forderung müssen widersprüchliche Aussagen A und B in ihrer Bedeutung auch bzgl. ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ übereinstimmen.
11. [Anmerkung: Zu sagen, ‚Hans ist um 17:00h gestorben‘, obwohl er schon um 16:00h gestorben ist, mag in vielen Kontexten unbedeutend sein, in einem Mordfall kann es sehr bedeutsam sein. Die Aussage ‚Hans ist nicht um 16:00h gestorben‘ wäre aber kein Widerspruch zu ‚Hans ist um 17:00h gestorben‘.]
12. In der vierten Forderung greift er nochmals die erste Forderung mit der Gleichheit der Bedeutung von Subjekt und Prädikat auf, verfeinert sie aber bzgl. des Zusammenspiels von Quantor, Subjekt und Prädikat (Q (S P)), indem er sagt dass der Widerspruch von (Einige (S P)) gegeben sei als (Nicht Einige (S P)), und der Widerspruch von (Nicht Alle (S P)) sei (Einige (S P)).
13. [Anmerkung: Die Aussage (Nicht Alle (S P)) ist äquivalent zu (Einige (S nicht P)). Die Verneinung von (Einige (S nicht P)) wäre wieder (Alle (S P)). Die Behauptung von Avicenna erscheint für den Fall ‚Widerspruch zu (Nicht Alle (S P)) sei (Einige (S P))‘ zumindest unklar.]
ERGEBNIS
14. Grundsätzlich liefert dieser Abschnitt keine neuen Erkenntnisse, wohl aber weitere Beispiele zur Illustration des schwierigen Verhältnisses zwischen Ausdrucksstrukturen mit logischen Operatoren und Quantoren einerseits sowie einer möglichen Bedeutung andererseits. Ohne eine deutliche Verbesserung der Beschreibung des Wechselspiels zwischen Ausdrucksseite und Bedeutungen wird das Reden über alltägliche Logik zu viele Unklarheiten behalten.
Fortsetzung folgt
QUELLEN
- Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
- Digital Averroes Research Environment
- Nicholas Rescher (1928 – ),The Development of Arabic Logic. University of Pittsburgh Press, 1964
- Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
- Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
- Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
- Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
- Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7
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