Archiv für den Tag: 15. September 2014

AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 17

VORGESCHICHTE

Für einen Überblick zu allen vorausgehenden Beiträgen dieser rekonstruierenden Lektüre von Avicennas Beitrag zur Logik siehe AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – BLITZÜBERSICHT.

Übersicht zum Wissen K bestehend aus Ausdrücken E, Objekten O sowie Bedeutungsbeziehungen M
Übersicht zum Wissen K bestehend aus Ausdrücken E, Objekten O sowie Bedeutungsbeziehungen M

1. Die bisherigen Untersuchungen haben bislang schon zu einem sehr interessanten Ansatzpunkt geführt. Die Strategie, eine geeignete Objekthierarchie O als Widerpart der komplexen Ausdrucksseite E vorauszusetzen und entsprechend zu ‚konfigurieren‘ kann bislang viele bekannte Ausdruckstypen, angefangen von den einfachen (S P) und (P S) Strukturen bis hin zu lokalen Anzahl-, Raum- und Zeitoperatoren und -Quantoren einfach ‚erklären‘.

VERÄNDERUNGEN

2. Für die weitere Analyse bieten sich nun viele weitere Ansatzpunkte. Einer sticht besonders hervor. Alle bisherigen Begriffe bezogen sich auf Verhältnisse/ Beziehungen zwischen Teilen der Objekthierarchie O, die mehr oder weniger ’statisch‘ waren/ sind. Ein wesentlicher Zug unserer Realität ist aber, dass sie sich beständig ‚verändert‘!

3. Nicht nur haben alle biologischen Systeme die Eigenschaft, dass sie mit einer einzigen Zelle ihre Existenz beginnen, vielfältige Wachstumsprozesse zeigen um dann wieder ‚abzusterben‘, auch die umgebende nicht-biologischen Strukturen unterliegen permanenten Veränderungen, wenngleich die Zeitskala hier mit – oft – viel größeren Einheiten rechnet. Dazu kommt, dass die biologischen Systeme, die als Systeme permanenten Veränderungen unterliegen, zusätzliche Aktivitäten über ihr ‚Verhalten‘ entwickeln. Wir haben also mindestens zwei Arten von Veränderungsquellen: (i) die nichtbiologische Umwelt und (ii) die biologischen Systeme. Beide zeigen ‚Veränderungen‘ ‚an sich‘ (Erosionen, Wachstum), aber auch Veränderungen, die deutlichere Wirkungen ’nach außen‘ zeigt (‚Regnen‘, ‚Donnern‘, ‚Erde Beben‘, wegtragen, schlagen, umgraben…).

4. Ein erster Ansatz bestände darin, zu sagen, man muss die verschiedenen möglichen Veränderungen ‚benennen‘ können und zugleich markieren, welche Objekte ‚Träger‘ der Veränderungen sind, (‚Wer bebt?‘, ‚Wer donnert?‘, ‚Wer gräbt um‘), und welche Objekte die ‚Ziele der Veränderungen‘ sind (falls vorhanden). (‚Er gräbt den Boden um‘).

5. Eine Veränderung wäre dann eine ‚benannte Beziehung‘ mit einem möglichen Akteur und möglichen Adressaten, als z.B. ‚(X_quelle_1, …, X_quelle_k V Y_ziel_1, …, Y_ziel_n).

BEISPIELE NICHT-BIOLOGISCHE UMWELT

6. ‚Die Erde bebt‘ mit ‚Erde‘ als Akteur und ‚beben‘ als Aktivität (S P), S=’Die Erde‘, P=’bebt‘; ähnlich ‚Der Himmel donnert‘, (S P), S=Der Himmel, P=’donnert‘; ‚Es stürmt‘, (S P), S=’Es‘, P=’donnert‘; ‚Die Sonne scheint‘, (S P), S=’die Sonne‘, P=’scheint‘; usw. Im Beispiel ‚Schnee fällt‘ (S P), S=’Schnee‘, P=’fällt‘, kann man ‚Schnee‘ als Akteur sehen oder als ‚Objekt‘ der Veränderung; dann muss man sich den Akteur ‚dazu denken‘ als ‚(Der Himmel) lässt den Schnee fallen‘ (S P), S=’Der Himmel‘, P=(V Y), V=’lässt fallen‘, Y=’den Schnee‘;. ‚Der Mond geht auf‘, (S P), S=’der Mond‘, P=’geht auf‘; ‚Die Sterne leuchten‘, (S P), S=’die Sterne‘, P=’leuchten‘.

BEISPIELE BIOLOGISCHE SYSTEME

7. ‚Die Blumen blühen‘, (S P), S=’Die Blumen‘, P=’blühen‘; ‚Das Korn wächst‘ (S P), S=’das Korn‘, P=’wächst‘; ‚Der Fuchs beißt die Gans‘ (S P), S=’Der Fuchs‘, P=(V Y), V=’beißt‘, Y=’die Gans‘; ‚Der Hai jagt den Fisch …‘, (S P), S=’der Hai‘, P=(V Y), V=’jagt‘, Y=’den Fisch‘; ‚Der Baum wird immer größer‘ (Q S P), Q_t=’immer‘, S=der Baum‘, P=’größer werden‘; ‚Hans liebt Inge‘, (S P), S=’Hans‘, P=(V Y), V=’liebt‘, Y=’Inge‘; ‚Er streckte ihn nieder‘ (S P), S=’Er‘, P=(V Y), V=’niederstrecken‘, Y=’ihn‘.

8. ‚Er nahm den Bohrer und bohrte ein Loch in die Wand‘, (S1 P1 UND P2). Hier kann man eine Zusatzregel einführen, um diese ‚Kurzform‘ mit den bisherigen Annahmen zu ‚harmonisieren‘, indem man sagt, das diese Kurzform sich explizit hinschreiben lässt als (S1 P1) UND (S1 P2). Ferner tauchen zwei Ausdruckselemente auf, die Aufmerksamkeit erregen: ‚einen‘ sowie ‚in‘. Man kann den Ausdruck dem Aspekt ‚Anzahl‘ zuordnen, dann wäre es ein lokaler Quantor, der sagen will ‚genau ein Loch‘ und nicht mehr. Ferner kann ‚in‘ auf den Aspekt ‚Raum‘ bezogen werden; dann wäre es eine lokale Raumbeziehung, also S1=’Er‘, P1=(V1 Y1), V1=’nahm‘, Y1=’den Bohrer‘, P2=(V2 (Q_a Y2) (R_r Y3)) V2=’bohrte‘, Q_a=’EIN‘, Y2=’Loch‘, R_r=’IN‘, Y3=’die Wand‘.

9. ‚Er trat verzweifelt gegen die verschlossene Tür‘. Dieser Ausdruck enthält Ausdruckselemente, die über die bisherigen Begriffe hinausgehen. Geht man von der Struktur (S P) aus, so kann man sagen S=’Er‘. Dann wird es anders. Die Ausdrücke ‚verzweifelt‘ und ‚geschlossen‘ passen nicht in das bisherige Begriffsgefüge. Es sind weder ‚echte Objekte‘ noch ‚Tätigkeiten‘ noch lokale Beziehungen von ‚Anzahl‘, ‚Raum‘ oder ‚Zeit‘. In der Objekthierarchie gibt es noch den Begriff des ‚unechten Objekts‘, genannt ‚Eigenschaft‘ (Attribut, At). Damit könnte man sagen, ‚verzweifelt‘ ist eine Eigenschaft At1 des Akteurs beim Ausführen der Tätigkeit des ‚Tretens‘ und ‚verschlossen‘ At2 ist eine Eigenschaft des Objekts ‚Tür‘. Der Ausdruck ‚gegen‘ wäre wieder eine lokale Relation des Aspekts Raum. Dann könnte man schreiben P=((At1 V) (R_r At2 Y)) mit At1=’verzweifelt‘, V=’treten‘, R_r=’gegen‘, At2=’verschlossen‘, Y=’die Tür‘.

10. ‚Das Auto raste mit 150 Stundenkilometern gegen die Absperrung‘, (S P),S=’Das Auto‘, P=((V At1) (R_r Y)), V=’raste‘ At1=’mit 150 Stundenkilometern‘, R_r=’gegen‘, Y=’die Absperrung‘. Hier liegt wieder der Fall vor, dass es eine Eigenschaft At1 gibt, die zu der Tätigkeit V in Beziehung steht. Im vorausgehenden Beispiel wurde die Eigenschaft vor das V gesetzt, hier dahinter. Frage ist, ob man dies festlegen soll oder ob man die Position dem Satzbau der aktuellen Sprache folgen soll. Benutzt man Klammern, ist die Beziehung klar, die Position des Schreibens spielt keine Rolle.

11. ‚Er bestieg das Flugzeug und schnallte seinen Gurt fest‘, (S P) als (S P1) UND (S P2), S=’Er‘, P1=(V Y), V=’bestieg‘, Y=’das Flugzeug‘, P2=(V2 At Y2), V2=’schnallte fest‘, At=’seinen‘, Y2=’Gurt‘. In diesem Fall wurde der Ausdruck ’seinen‘ auch allgemein als Eigenschaft gewertet. Von der Alltagssprache her wissen wir, dass Eigenschaften, die sich auf individuelle ‚Besitz- und Verantwortungsverhältnisse‘ beziehen, in der Regel sprachlich besonders hervorgehoben werden. Man spricht von ‚Possesivpronomen‘ oder von ‚Besitzanzeigenden Fürwörtern‘. Dies würde dann auf eine ‚Beziehung’/ ‚Relation‘ verweisen, die neben ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ zwischen Objekten a und b bestehen kann und Bezug nehmen auf spezifische kulturelle Gegebenheiten, nämlich auf ‚Besitz‘ oder ‚Verantwortung‘ (für diesen Gurt hat er Verantwortung). Sofern man voraussetzen kann, dass ‚Besitz’/ ‚Verantwortung‘ eine allgemeine kulturelle Beziehungsgegebenheit ist (was nicht aus der primären Struktur der Welt folgt!), wäre der Ausdruck ’sein‘ eine spezielle lokale Relation R_x. Dann müsste man schreiben: P2=(V2 (R_x(S Y2))) mit SEIN(Er Gurt), V2=’schnallt an‘.

12. Diese zweite Interpretation verstärkt nochmals die Hypothese, dass es zusätzlich zu der dynamischen Objekthierarchie O eine Vielzahl von ‚Meta-Begriffen‘ und ‚Meta-Relationen‘ gibt, die wesentlich dazu gehören. Dies legt nahe, nicht nur von der Objekthierarchie O zu sprechen, sondern explizit möglicherweise von einer Menge von Relationen R1, R2, …, die alle über O definiert sind, also $latex < O, R1, R2, …, Rk>$. Die Bedeutungsbeziehung M würde dann lauten $latex M \subseteq E \times <O, R1, …, Rk>$.

13. ‚Nachdem er das Essen bestellt hatte las er erst einmal die Zeitung‘, (S P). Der Ausdruck ‚Nachdem‘ ist eindeutig bezogen auf den Aspekt der ‚Zeit‘ und damit ein globaler Zeitquantor oder eine lokale Zeitrelation. Letzteres scheint hier zuzutreffen: zwei Sachverhalte A und B werden in eine zeitliche Ordnung gesetzt: R_t( A, B), R_t=’NACHDEM‘ mit der Bedeutung, dass der Sachverhalt B auf den Sachverhalt A in der ‚Zeit‘ ’nachfolgt‘. Mit A=(S P) und B=(S2 P2) würden wir dann bekommen NACHDEM((S1 P1), (S2 P2)). Da hier S1=S2 ist, kann man sagen S1=’Er‘, P1=(Y1 V1), Y1 =’das Essen‘, V1=’bestellt hatte‘, P2=((V2 R_t2) Y2), V2=’las‘, R_t2=’erst einmal‘, Y2=’die Zeitung‘. Hier liegt ein zweiter Ausdruck vor, den man als lokale Zeitrelation R_t2 auffassen kann: ‚erst einmal‘. Hiermit wird die Zeitdimension referenziert und zwar der Aspekt, dass auf der Zeitachse mit einer Tätigkeit V2 begonnen wird und es angedeutet wird, dass andere Tätigkeiten folgen können.

14. ‚Vom 18.Stockwerk aus hatten sie einen sehr schönen Ausblick‘, (S P), S=’sie‘, P=(R_r (At Y) (At2 V)), R_r=’Vom-aus‘, At=’18.‘, Y=’Stockwerk‘. At2=’sehr schönen‘, V=’Ausblick haben‘. Die Eigenschaft ’18.‘ kann man auch als lokale Raumrelation interpretieren; hier als Eigenschaft At. Genauso könnte man auch den ganzen Ausdruck ‚Vom 18.Stockwerk‘ als lokale Raumrelation ansehen, also R_r=’Vom 18.Stockwerk‘. Man sieht, dass die Zuordnungen innerhalb und über (meta) der Objekthierarchie O bislang noch viel Spielraum bieten. Die Analyse R_r=’Vom 18.Stockwerk‘ würde dann ein (implizites) Objekt (ein Haus, ein Gebäude) voraussetzen, das mindestens 18 Stockwerke besitzt. Dies würde sich daraus ergeben, dass die Objekthierarchie O nur dann die Raumlokalisierung R_r=’Vom 18.Stockwerk‘ anbieten kann, wenn es überhaupt solch ein Objekt gibt. Dies wäre dann eines von vielen Beispielen von ‚implizitem Wissen‘ aufgrund einer komplexen Objektstruktur, die bei den beteiligten Akteuren vorausgesetzt werden kann; sie tragen sie gleichsam ‚mit sich herum‘.

15. ‚Als sie hinunter sah wurde ihr schwindlig‘. Hier begegnet eine zweite lokale Zeitrelation R_t=’als‘ (vorher ’nachher‘). Die Zeitrelation ordnet zwei Sachverhalte A und B zeitlich zueinander, in diesem Fall als ‚gleichzeitig‘. Statt ‚als‘ könnte man auch z.B. sagen ‚während‘; R_t(A B), A=(S P), B=(S2 P2), S=’sie‘, S2=’ihr‘, mit der Bedeutung S=S2. Der Ausdruck ‚ihr‘ repräsentiert einen speziellen Fall von Subjekt. Es wird Bezug genommen auf das Subjekt vom Beginn des Ausdrucks; der Ausdruck ‚ihr‘ wiederholt gleichsam das Subjekt S. Der Ausdruck ’sie‘ von S nimmt indirekt Bezug auf ein Objekt ‚a‘, und der Ausdruck ‚ihr‘ greift diesen Bezug wieder auf. Also P1=(R_r V1), R_r=’hinunter‘ V1=’sah‘, P2=’schwindlig werden‘.

ERGEBNISSE

16. Diese kurze Analyse lässt erkennen, dass die Kodierung von Veränderungen mittels Ausdruckselementen innerhalb eines Prädikates P mittels ‚Veränderungsausdrücken‘ V oft nicht nur die beteiligten Objekte Y benennt, sondern zusätzlich zahlreiche weitere Ausdruckselemente aktiviert, die räumliche Gegebenheiten R_r bezeichnen, zeitliche Relationen R_t, zusätzliche Eigenschaften At an den Veränderungen; dazu ferner spezielle kulturelle Relationen R_x einbeziehen können sowie mit zusätzlichen Subjektrepräsentationen operieren. Auch kann man beobachten, wie die Aneinanderreihung von unterschiedlichen Sachverhalten (S P) mit logischen Operatoren (S P) UND (S2 P2) auch zu speziellen Verkürzungen führen kann wie (S P1 UND P2).

17. Dies lässt erahnen, dass eine vollständige Analyse auch nur einer einzigen Alltagssprache von ihrer logisch relevanten Semantik her eine schier unendliche Aufgabe ist. Diese wird weder ein einzelner Mensch alleine noch viele Menschen über viele Genrationen hinweg jemals vollständig erfüllen können.

18. Was aber möglich erscheint, das ist die Analyse des grundlegenden Mechanismus, der sich mit Hilfe von evolvierenden Computermodellen experimentell untersuchen und mit realen semiotischen Systemen überprüfen lässt (Erste Überlegungen für ein konkretes Projekt finden sich hier).

19. Es folgt die Fortsetzung der Analyse der Texte von Avicenna.

Fortsetzung folgt

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft‘, Riga, 1781
  • Konrad Lorenz, 1973, ‚Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens‘, München, Zürich: Piper
  • Nicholas Rescher (1928 – ),The Development of Arabic Logic. University of Pittsburgh Press, 1964
  • Hans-Jörg Sandkühler (Hg.) unter Mitwirkung von Dagmar Borchers, Arnim Regenbogen, Volker Schürmann und Pirmin Stekeler-Weithofer, ‚Enzyklopädie Philosophie‘, 3 Bd., Hamburg: FELIX MEINER VERLAG, 2010 (mit CD-ROM)
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

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