Archiv für den Monat: Februar 2015

WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 6

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt jetzt der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt.

KAPITEL 5 (SS.84 – 102)

DIE THESE

Für das Ziel, eine mögliche absolute Verankerung für die Menschenwürde in Form des Urteils ‚Dem Menschen kommt (absolut) Würde zu‘ zu finden, bildet das Kapitel 5 einen ersten ‚Höhepunkt‘ dahingehend, dass Paul Tiedemann in diesem Kapitel seiner Antwort auf die Frage eine erste konkrete Gestalt verleiht. Es folgt eine Wiedergabe der grundlegenden Idee ohne die Details (dazu muss auf eine eigene Lektüre verwiesen werden).

Gedankenskizze zu Kap.5 von Tiedemann (2014)
Gedankenskizze zu Kap.5 von Tiedemann (2014)

1. Wie das vorausgehende Schaubild nur andeuten kann, lokalisiert Paul Tiedemann einen absoluten Wert zwar einerseits im Individuum, das sich seiner im freien Urteilen ‚gewiss‘ sein kann, andererseits nicht nur im Individuum, sondern in der Gesamtheit aller menschlicher Individuen, insofern das einzelne Individuum seine Urteilsfähigkeit nur in der Wechselwirkung mit den anderen Individuen positiv ausbilden kann. Nach Tiedemann, der hier die Ergebnisse diverser Wissenschaften auswertet, kann der junge Mensch nur über angemessene soziale Interaktionen und sprachliche Kommunikation zu jenem Umgang mit sich selbst finden, der ihn in die Lage versetzt, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Einsichten angemessen zu identifizieren und im Einklang mit der sozialen Umwelt wahren.

2. Dies geht allerdings nur, wenn das Individuum über die grundlegende Fähigkeit der Selbsterfahrung verfügt (Reflexion, innerer Dialog, eigenes Entscheiden…), innerhalb dessen sich die diversen Wünsche, Bedürfnisse, Gedanken, Emotionen usw. identifizieren und ‚abwägen‘ lassen. Die Inhalte mögen wechseln, aber die Fähigkeit als solche bildet eine Konstante, einen ‚Raum‘, innerhalb dessen sich der einzelne als ’sich selbst bestimmend‘ erfahren kann und simultan auch den anderen, das Gegenüber, als komplementär selbstbestimmt.

3. Zwar ist dieses ‚Sich Selbst Bestimmen‘ unter den Bedingungen eines endlichen Körpers in einer endlichen Welt unausweichlich ‚begrenzt‘ und damit generell suboptimal, und zusätzlich können wichtige Randbedingungen von anderen ‚manipuliert‘ werden, so dass die individuelle Selbstbestimmung trotz ‚Autonomie‘ fehlgeleitet werden, dennoch kommt dieser generellen Selbstbestimmungsmöglichkeit ein grundlegender Wert zu, der durch die konkreten Einschränkungen nicht aufgehoben wird.

4. Also, in dem Maße wie man einem Menschen in Wechselwirkung mit anderen Menschen diese grundsätzliche Selbstbestimmungskompetenz zusprechen kann und muss, in dem Maße gibt es einen grundlegenden Wert, von dem alle anderen Werte abhängen.

5. Insofern ein Moment dieses komplexen Modells der Aufbau einer individuellen Identität (‚Ich‘) ist, schlägt Tiedemann vor, diesen Ansatz die ‚Identitätstheorie der Menschenwürde‘ zu nennen. (vgl. S.101f)

KRITISCHER DISKURS

6. Dieser Lösungsvorschlag von Paul Tiedemann hat viele Argumente für sich und – insofern man die vielen Voraussetzungen teilt, die in diese Überlegungen einfließen – hat einen gewissen Charme, da er mit einer Reihe von modernen (empirischen) Positionen ‚kompatibel‘ ist.

7. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass es ‚Problemzonen‘ in diesem Entwurf gibt, die man ernst nehmen sollte, da es ja nicht darum gehen kann, nur ein Deutungsmodell zu entwickeln, das nur ’schön aussieht‘, sondern das auch ‚wahr‘ ist im Sinne, dass es mit der vorgegebenen Realität der umgebenden Welt ‚im Einklang steht‘ (so gab es ja Zeiten – und irgendwo auf unserer Erde wird es dies womöglich immer noch geben), dass die Menschen ein Bild von der Natur und sich selbst hatten, was zwar in der jeweiligen Zeit ’sinnvoll erschien‘, aber in späteren Zeiten dann als ‚falsch‘ erkannt werden konnte.

8. Diese ‚Gefahrenmomente‘ beginnen schon bei der verwendeten Sprache. Natürlich können wir gar nicht anders, als Sprache zu benutzen, Begriffe darin, aber wenn wir uns die zur Verwendung kommenden Begriffe anschauen, dann finden wir fast ausschließlich Begriffe mit potentiellen Bedeutungen, die im subjektiven Erleben des einzelnen oder in vermuteten Prozessen ‚im Innern eines Menschen‘ verankert sind. Die Wissenschaft der Psychologie hatte angesichts dieser Problematik zum Ende des 19. den Weg einer experimentellen empirischen Psychologie eingeschlagen; analog gab es in der Philosophie aufkommende kritische wissenschaftstheoretische Strömungen, die später mit dem ‚linguistic turn‘ in der Philosophie korrelierten. Auch wenn man über die Erfolge dieser Wissenschaftstransformationen geteilter Meinung sein kann, so ist doch die Grundeinsicht in die fundamentale Bedeutungsproblematik keine Frage der Beliebigkeit. Was ein ‚Wille‘, ein ‚Wollen‘ ist, was ‚innerer Dialog‘ bedeutet, was genau ‚Wünsche‘, ‚Gefühle‘, ‚Wollen‘, ‚rationale Argumente‘ usw. sind, das ist bis heute alles andere als klar (zumindest nicht in der Wissenschaft). Im Alltag benutzen wir zwar weiterhin diese Begriffe, da wir ja den Alltag irgendwie praktisch meistern müssen, aber eine wissenschaftliche Bedeutungsklärung all dieser Begriffe steht noch aus (und die geringe Forschungsförderung dieser Themen und Disziplinen lässt kaum hoffen, dass sich dieser Notstand bald ändern wird).

9. Die mangelnde wissenschaftliche Fundierung all dieser zentralen Begriffe wirkt sich besonders schmerzlich dann aus, wenn es zu Grenzsituationen kommt: ab wann spricht man einem Menschen ‚volle Verantwortung‘ für sein Verhalten im Sinne einer authentischen Selbstbestimmung zu und wann nicht mehr? Wann ist jemand ’schuldfähig‘? Wann kommt einem Menschen keine Menschenwürde mehr zu? Usw.

10. Die konkrete Rechtspraxis behilft sich mit allerlei Fallunterscheidungen und praktischen Klauseln, um Entscheidungsnotstände zu ‚umschiffen‘, doch eine solche Rechtspraxis ist kein voller Ersatz für eine angemessene Erkenntnis. Möglicherweise wird die Erkenntnis immer hinter der Alltagspraxis hinterher hinken und insofern wird es – vermutlich – immer eine Rechtspraxis geben, die trotz mangelhafter wissenschaftlicher Erkenntnis zu praktischen Urteilen finden wird (finden muss?). Doch darf dies kein Grund sein, die tatsächliche Erkenntnislage unvoreingenommen zu prüfen und – sofern sie unzureichend ist – dies auch zu konstatieren. Manchmal hilft es bei der Suche nach der Wahrheit mehr, die offenen Fragen klar zu benennen als eine Lösung zu favorisieren, die möglicherweise zu viele ‚Leichen im Keller‘ hat, um mal ein Bild zu gebrauchen.

11. Was nun das Vorgehen von Paul Tiedemann betrifft, so ist es beeindruckend und hilfreich, wie er versucht, die Fragestellung mit einer Reihe von Annahmen einmal ganz durch zubauen. Man kann erkennen, ‚wohin die Reise geht‘ und man tut sich dann einfacher, mögliche Schwachstellen zu identifizieren, als wenn man einen solchen Entwurf nicht vorliegen hätte.

12. Nun kann man auch mich, den Autor cagent kritisieren, warum ich hier so herum mäkele. Dafür gibt es einen handfesten Grund: ich habe die gleichen Fragen wie Paul Tiedemann und ich beschäftige mich nicht nur abstrakt mit Methoden der Philosophie oder der Wissenschaften (speziell der Psychologie), sondern ich beschäftige mich seit vielen Jahren auch mit der Möglichkeit eines ‚künstlichen Geistes‘. Und aus meiner Kenntnis der Möglichkeiten eines ‚künstlichen‘ Geistes weiß ich, dass all das, was Paul Tiedemann als zentrale Eigenschaften für die ‚Menschenwürde‘ hier herausgearbeitet hat, bei heutigem Wissensstand von einer computerbasierten Maschine ohne Einschränkungen auch erfüllt werden könnte (was nicht heißt, dass jemand solch einen künstlichen Geist gebaut hat (nur in den science fiction Romanen und Filmen)). Wenn man angesichts dieser technologischen Möglichkeiten noch an einer ‚Sonderstellung des Menschen‘ festhalten möchte, dann muss man begrifflich, philosophisch erheblich mehr Umstände herausarbeiten, als dies bislang geschehen ist.

13. Dazu kommt die weitere Erkenntnisschiene über die moderne Evolutionstheorie in Kombination mit Molekularbiologie und Quantenphysik. Selbst wenn man dem Menschen als homo sapiens einige besondere Qualitäten neben den übrigen Lebensformen zugestehen kann/ will/ muss, so hebt dies den Menschen nicht so grundsätzlich ab vom biologischen Leben als solchem. Eine Diskussion der grundlegenden Werte muss heute möglicherweise den Wert des gesamten Lebens mit berücksichtigen und den Menschen als Teil eines größeren komplexen Zusammenhangs sehen. Die Fokussierung auf die Selbstbestimmung greift da möglicherweise zu kurz (so wissen wir ja, dass selbst im ‚Innersten‘ der biologischen Entwicklung grundsätzlich ein Form von Selbstbestimmung stattfindet, die ihre optimale Gestalt auch nicht ‚isoliert‘ findet sondern in ‚Wechselwirkung‘ mit der Umgebung. Hier rühren wir an sehr grundsätzlichen Themen, und das sind noch nicht einmal die grundlegendsten).

14. Wenn man andererseits sieht, wie heute das ‚globale Kapital‘ alles dazu tut, über Freihandelsabkommen (wie z.B. TTP), die nationalen politischen Systeme zu neutralisieren und damit die Selbstbestimmung ganzer Völker aufzuheben versucht, dann wird man ja schon ganz bescheiden, wenn wenigstens die althergebrachte Menschenwürde verteidigt wird. Dennoch, das ‚Mehr‘ ist der Feind des ‚Ist‘. Und die Tendenzen des ‚globalen Kapitals‘ sind ja auch nur möglich, weil von den starken Playern kaum irgendwelche Werte akzeptiert werden außer dem eigenen (individuellen) machtorientierten Willen, der den komplexen Lebenszusammenhang, der über 3,8 Milliarden Jahre unsere heutige Existenz ermöglicht hat, weiterhin ohne Rücksicht auf Verluste zerstören.

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SIND KINDER GUT? WIE KOMMT DAS BÖSE IN DIE WELT? MEMO philosophieWerkstatt vom 8.Februar 2015

Letzte Änderung: 9.Februar 2015, 21:33h (Musikeinschub)

1. Entsprechend der Einladung zur philosophieWerkstatt v2.0 fand die nächste philosophieWerkstatt in der DENKBAR (Frankfurt) statt.

2. Wegen eines technischen Problems fiel der Philosophie-Kunst Programmpunkt aus, was uns mehr Zeit für das Hauptthema gab.

3. Nach der Begrüßung gab es daher dann sofort einen kleinen Einführungsvortrag von Paul Scherfer Samid, unterstützt von Maria Siefen-Just; beides sehr erfahrene Psychotherapeuten mit unterschiedlichen Spezialisierungen. Sie gaben einen guten Überblick über wichtige Positionen zur Entwicklung von Kindern in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob Kinder ‚gut‘ sind, und wie das ‚Böse‘ in die Welt kommt. Da sie alle Positionen immer mit konkreten Beispielen illustrierten war der Vortrag auch für fachfremde Zuhörer sehr gut verständlich.

4. Es folgte dann eine erste Gesprächsrunde mit allen, in der sehr offen die unterschiedlichsten Meinungen zum Einführungsvortrag ausgetauscht werden konnten (mehr als 10 Redebeiträge).

5. Nach einer Blubberpause, in der jeder mit jedem reden konnte, gab es dann eine intensive Schlussrunde, in der versucht wurde, die Vielfalt der Aspekte in einem ‚Gedankenbild‘ einzufangen (siehe Bild unten).

6. Zum Schluss wurde das Thema für die nächste philosophieWerkstatt am 8.März 2015 ermittelt, dann wieder um 16:00h. Für das nächste Treffen einigte sich die überwältigende Mehrheit für das Thema ‚Was ist Weisheit‘.

Gedankenskizze philosophieWerkstatt vom 8.Februar 2015 Schlussrunde
Gedankenskizze philosophieWerkstatt vom 8.Februar 2015 Schlussrunde

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EINSCHUB: Eigentlich kann Musik ‚an sich‘ weder ‚gut‘ noch ‚böse‘ sein, aber insofern sie Menschen beeinflussen kann, können daraus Zustände resultieren, die der eine geneigt ist als ‚gut‘ zu bezeichnen, die andere als ‚böse‘; wäre dann eine Musik in diesem Zusammenhang ‚gut‘ oder ‚böse‘? Andererseits gibt es weltweit so unterschiedliche Musik, die die einen als ‚gut‘ empfinden (weil sie es gewohnt sind?), sie anderen als ‚igitt‘ … Kann die Musik etwas dafür? Sind Klänge nicht ’neutral‘? Empirische Forschungen legen den Schluss nahe, dass die ’normalen‘ Menschen zunächst global auf bestimmte Klänge eher positiv reagieren, auf andere negativ; so eine Art ‚musikalische Vorprägung‘, letztlich eine Art Programmierung; wir sind nicht ‚frei‘ im Klangerleben, sondern ‚voreingestellt‘. Kann man das ablegen? Es scheint so, vorausgesetzt, man beschäftigt sich aktiv mit unterschiedlichen Klängen. Dazu ein Soundtrack vom 9.Februar 2015: Ist dieser Soundtrack ‚böse‘? (Achtung: die Klangwiedergabe von Firefox ist fehlerhaft: ab einer bestimmten Länge werden Teile des Sounds wiederholt, dazu in einer Abfolge die nicht dem Original entspricht. In dem Falle hilft tatsächlich der Windows Explorer.

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7. Das vorausgehende Bild zeigt die ‚Gedankenskizze‘, die während der Schussrunde entstanden ist. Dieses Bild kann natürlich nur die groben Strukturen wiedergeben.

8. Die Grundposition wird markiert durch die Gedanken des Einführungsvortrags, dass Kleinkinder – speziell in den ersten 12 Monaten – zwar mit einer Grundausstattung an (angeborenen) Fähigkeiten, Bedürfnissen und Dynamiken in die Welt eintreten (nachdem auch schon erste Wahrnehmungs- und Interaktionsprozesse während der Schwangerschaft stattgefunden haben!), sie aber zunächst über keine explizite Strukturierung, keine Einordnung der Vielzahl an Eindrücken verfügen.

9. Die Strukturierung der Welt erfolgt in Interaktion mit der umgebenden Welt, in der die jeweiligen Bezugspersonen eine dominante Stellung einnehmen(auch durch ihre Abwesenheit). Die ersten 12 Monte gelten als besonders prägend mit Auswirkungen auf das ganze restliche Leben.

10. Die Kinder lernen, die Vielfalt der Eindrücke zu ’sortieren‘ nach eigenem Körper oder Außenwelt, nach verschiedenen Objektarten, mit Sonderstellung menschlicher Bezugspersonen, nach unterschiedlichen Bedürfnissen/ Emotionen/ Gefühlen in Wechselwirkung mit der Umgebung.

11. In dieser Phase ist es entscheidend, wie sich die Bezugspersonen während dieses Lernprozesses verhalten.

12. Wenn die Bezugspersonen mit sich selbst Probleme haben, dann werden sie ihre eigene verzerrte Weltwahrnehmung und ihre verzerrten Reaktionen auf die Welt auf die Kinder übertragen und diese werden mit einem verzerrten inneren Bild der Welt und von sich selbst ‚trainiert‘. Dies kann z.B. beinhalten, dass ‚Ängste‘ überzogen, Verhaltensweisen unterdrückt, Erwartungen enttäuscht werden. Das Kind kann als ‚unerwünscht‘ eingestuft werden, als ‚Störenfried‘, und dergleichen mehr. Da Kinder in dieser frühen Phase bzgl. solcher Strukturierungen mehr oder weniger wehrlos sind, werden sie mit all diesen Verzerrungen (falsch programmiert) ihren weiteren Weg gehen, und all dies als ‚Ballast‘ mit sich tragen. Langzeituntersuchungen zeigen, dass sich stark negative erste Prägungen über das ganze Leben hemmend bzw. stark belastend auswirken können. Das, was Kindern in ihrer frühen Kindheit an positiven Lernerfahrungen, speziell an ‚Anerkennung‘, versagt wurde, das versuchen sie sich dann später auf ihre Weise wieder zurück zu holen. Gewalttäter, Amokläufer und Terroristen sind hier Extrembeispiele.

13. Umgekehrt, wenn Kinder das Glück haben, mit Bezugspersonen aufwachsen zu können, die es schaffen, ihnen ein realistisches und ‚funktionierendes‘ Selbstbild samt Weltordnung zu vermitteln, dann können sie ihre Dynamiken weitgehend ‚konstruktiv‘ ausleben. Wichtige Bezugspersonen sind nicht nur die Eltern, sondern auch – wenn vorhanden – Geschwister und andere Kinder. Diese können sehr verletzend sein wie auch unterstützend.

14. Auf der Basis des – hier nur sehr grob gezeichneten – Bildes von den frühkindlichen Lernprozessen stand die These im Raum, dass die Kinder als solche weder ‚gut‘ noch ‚böse‘ sind. Kinder bringen zunächst einmal ihre körpergebundene Dynamiken ‚mit‘ (Ängste, Erwartungen, Neugierde, Bedürfnisse, Aggression, Trauer, …) und erfahren von der Umwelt, von ihren Bezugspersonen, was ‚gut‘ angesehen wird und was ‚böse‘. In einer Gesellschaft werden Mädchen von Anfang an als ‚geringwertig‘ behandelt, in anderen Gesellschaften nicht; in der einen Gesellschaften gelten ‚aggressive‘ Kindern als Lebenstüchtig, in anderen wird Aggression bestraft; in einer Gesellschaft darf man sich frei bewegen und laut sein, in anderen muss man immer leise sein und wird man vorwiegend eingesperrt; in der einen Gesellschaft wird viel liebkost und geschmust, in anderen betont man Distanz und zeigt eher keine Gefühle; usw.

15. Unter der Voraussetzung, dass jede Gesellschaft ihre – ausdrücklichen oder unausgesprochenen – Regelsysteme hat, was man tut oder nicht tut, was als ‚gut‘ oder ‚böse‘ gilt, wird die Gesellschaft das Verhalten eines Menschen entsprechend als ‚gut‘ und ‚böse‘ bewerten. Und es wird die Tendenz bestehen, Menschen, die im Sinne der geltenden Regeln ‚böses‘ Verhalten zeigen, als ‚böse Menschen‘ zu klassifizieren, und entsprechend andere als ‚gute Menschen‘.

16. Sowohl aus der Geschichte wie aus der Gegenwart haben wir endlos viele Beispiele, wie Menschen in der einen ‚Werteordnung‘ als ‚gut‘ gelten, weil sie Tat X tun, in der anderen Werteordnung aber genau deshalb als ’schlecht‘ gelten. Extremtaten wie das Töten (Quälen, Erniedrigen, Foltern, …) von Menschen können zur ‚Heldentat‘ werden, wenn eine Gesellschaft mehrheitlich als ‚gut‘ einstuft. Zu allen Zeiten in allen Regionen dieser Welt hat es dies gegeben und gibt es dies weiterhin (z.B, heute radikale islamistische Gruppen, Russland – Ukraine, politische Terroristen, Verbrechersyndikate, Geheimdienste, Drohnenkrieg, …). Das Naziregime mit seiner systematischen Vernichtung von Millionen Juden, verknüpft mit der Tötung von ‚lebensunwerten‘ Menschen, verbunden mit der Tötung von politisch unbequemen Menschen, verbunden mit der Tötung von kulturell ‚abartigen‘ Menschen, ist kein Einzelfall. In der Geschichte zuvor wurden hunderttausende und Millionen von Menschen hingeschlachtet und Stalin, Mao, Pol Pot sind nur einige Beispiele von anderen beispiellosen Tötungsorgien in der Zeit während und nach dem Naziregime.

17. Angesichts dieser Geschichte des Grauens stellt sich die Frage, ob alle diese Taten erklärbar sind allein durch die Psychostruktur des einzelnen Menschen und der jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnis- und Bedrohungslagen, oder muss man darüber hinaus annehmen, dass das ‚Böse‘ eine ‚umfassende Wirklichkeit über die einzelnen Menschen hinaus‘ sei?

18. Eine Minderheit der Anwesenden vertrat – wenn auch unterschiedlich – den Standpunkt, das dem ‚Bösen‘ eine Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit des einzelnen‘ zukomme.

19. Die überwiegende Mehrheit meinte jedoch, dass das ‚Gute‘ und ‚Böse‘ ausschließlich ein ‚Epiphänomen‘ menschlichen Verhaltens und Wertens sei. Wenn man sieht, wie vielfältig die gleichen Menschen Sachverhalte unterschiedlich bewerten können, wenn man sieht wie innerhalb der gleichen religiösen Traditionen (im Judentum, im Christentum, im Islam, im Buddhismus, …) ganz unterschiedliche bis gegensätzliche Werte auftreten können, die aber dennoch alle durch Bezug auf ‚Gott‘ bzw. eine höchstes Prinzip begründet werden, dann spricht dies eher für eine Verwurzelung im menschlichen Urteilen und Bewerten. Und wenn man dann noch sieht, wie es die jeweiligen ‚Weltbilder‘ sind, die zur Begründung für bestimmte Werte herangezogen werden, Weltbilder, die die Menschen selber aufgestellt haben, dann spricht dies weiter für die ‚Quelle Mensch‘. Und wenn man dann auch sieht, wie der Mensch sich selbst, seine Bedürfnisse, seine Eigenheiten im Laufe der Geschichte und in den verschiedenen Kulturen so ganz verschieden bewertet hat und bewertet, dann wird man umso mehr das ‚Böse‘ und das ‚Gute‘ auf den Menschen selbst zurückführen müssen, da es ja keinen allgemeinen Begriff von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ gibt. Wer nach der Bedeutung der Begriffe ‚Gut‘ und ‚Böse‘ im Gesamt der Menschheit sucht, wird ganz unterschiedliche Deutungen finden.

20. Von daher erscheint es allein schon aufgrund dieser Sachlage schwierig bis unmöglich, von DEM ‚Guten‘ oder DEM ‚Bösen‘ zu sprechen. Kein lebender Mensch kann für sich beanspruchen, zu sagen ER/ SIE wüsste, was ‚Gut‘ und ‚Böse‘ ‚grundsätzlich‘ ist. Was wir haben sind jeweils mehr oder weniger anerkannte Regelsysteme, die für eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit festschreiben, was als ‚gut‘ und ‚böse‘ in dieser Gesellschaft gelten soll. Sie sind gespeist von Erfahrungen aus der Vergangenheit und durchtränkt von vielen starken Interessen der Lebenden. Diese Regelsysteme sind aber weder einheitlich noch global. Und für die ‚Anhänger‘ der verschiedenen Regelsysteme habe diese Regeln eine hohe Geltung. Sie zu verletzen wird in der Regel schwer bestraft. Wie soll diese Verschiedenartigkeit ‚aus sich heraus‘ ‚zueinander finden?

21. Abschließend – das war nicht mehr Teil der Diskussion – muss man vor diesem Hintergrund fragen, was wir als Menschheit bislang überhaupt über unsere gemeinsame Zukunft wissen bzw. wissen können. Wenn wir bis heute noch so verstrickt sind in partikuläre, sich vielfältig widersprechende, Regelsysteme, mit sehr verwirrenden Bedeutungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘, und ohne klare Zukunftsbilder, dann ist aktuell schwer zu erkennen, wie wir gemeinsam eine konstruktive Zukunft gestalten können.

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WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 5

Letzte Änderung: 14.Februar 2015, 23:30h (Ab Nr.20)

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versucht eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4.

KAPITEL 4 (SS.68-83)

ERSETZUNG VON GESCHICHTE DURCH ISOLIERTE BEGRIFFE?

1. Die – sicher nicht ganz unproblematische – Auffassung von Paul Tiedemann, dass man die Verwirrung der möglichen Bedeutung des Begriffs ‚Menschenwürde in der Philosophiegeschichte durch eine ‚unabhängige‘ Bedeutungsklärung auflösen könnte, führt ihn zum Kapitel 4.

2. Er beginnt das Kapitel, indem er sagt, dass er einen ‚metasprachlichen‘ Standpunkt einnimmt, also einen Standpunkt, von dem aus er ‚auf‘ den Begriff ‚Menschenwürde‘ und seine Verwendung schaut.(vgl. S.68) Dies ist in der Philosophie – und speziell in der Wissenschaftstheorie – ein gängiges Verfahren.

3. Allerdings trifft Paul Tiedemann sogleich eine Vorentscheidung damit, dass er seinen metasprachlichen Standpunkt im Stile einer klassischen Grammatiktheorie realisiert: der Begriff ‚Menschenwürde‘ wird in diesem Grammatiksprachspiel als ‚Nomen‘ klassifiziert, das als ‚Kompositum‘ einen zusammengesetzten ‚Gegenstand‘ bezeichnet, in dem dem Menschen ‚Würde‘ zugesprochen wird.

4. Indem Paul Tiedemann an dieser Stelle feststellt, dass dieses Kompositum eigentlich nur als ein Satz der Art ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ vorkommt, also etwas Sprachliches, nennt er den Begriff ‚Menschenwürde‘ ‚metasprachlich‘ zu dem Ausdruck ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘.

5. Durch diese gedankliche Wendung verändert aber Paul Tiedemann die Bedeutung von ‚metasprachlich‘. Wenn eine Metatheorie wie die ‚Grammatik‘ mit einer grammatischen Fachsprache (Substantiv, Verb, Adjektiv, …) über die Ausdrücke einer vorgegebenen Sprache als ihre Objekte spricht, dann beschreibt die Grammatiksprache unterschiedliche Aspekte von sprachlichen Ausdrücken, sofern diese Aspekte das ‚Funktionieren‘ dieser sprachlichen Ausdrücke im Kontext eines Diskurses eine Rolle spielen. Wenn er die ‚Bedeutung‘ eines Ausdrucks als ein Kompositum analysiert, das sich wiederum durch einen sprachlichen Ausdruck repräsentieren lässt, dann ‚ersetzt‘ er die ursprüngliche Bedeutung durch einen ‚künstlichen‘ sprachlichen Ausdruck. In diesem Sinne wird plötzlich der Ausdruck ‚Menschenwürde‘, der zuvor Gegenstand einer grammatischen Metasprache war, selbst zu einem metasprachlichen Ausdruck, aber in einem veränderten Sinne.

6. Zugleich muss man fragen, ob seine Behauptung, dass der Ausdruck ‚Menschenwürde‘ damit nicht mehr auf ein ‚außersprachliches‘ Objekt verweist, tatsächlich zutrifft, oder ob er nicht ein Seiteneffekt seiner eigenen abstrakten Konstruktion ist. Denn wenn der Ausdruck ‚Menschenwürde‘ als Kompositum auf einen Menschen verweist, dem ‚Würde‘ zukommt, dann würde man immerhin dem Ausdruck ‚Mensch‘ reale Objekte aus der realen Welt zuordnen können. Was mit der Eigenschaft ‚Würde‘ gemeint ist, wäre damit zwar nicht unbedingt klar, aber der Träger dieser Eigenschaft ist ein realer Bestandteil der realen Welt.

7. Der sprachliche Ausdruck ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ ist von daher nicht vollständig unhintergehbar, auch nicht vollständig unauflösbar, sondern er lässt sich zumindest partiell in der realen Welt verankern und hat einen realen empirischen Kern. Metatheoretisch (im Sinne der Wissenschaftstheorie) könnt man sagen, dass der sprachliche Ausdruck ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ eine sprachliche Repräsentation einer möglichen ‚Bedeutung‘ des Ausdrucks ‚Menschenwürde‘ ist, und diese sprachliche Repräsentation hat eine mögliche ‚reale Interpretation‘ in eben dem empirischen Vorkommen von ‚Menschen‘, denen man als eine – unter vielen anderen – Eigenschaft ‚Würde‘ zusprechen kann. In diesem Sinne wäre dann der Ausdruck ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ rekonstruierbar als ein Moment in einer abstrakten Interpretationsbeziehung (letztlich einer Abbildung), die entweder als ‚abgeschlossen‘ betrachtet werden kann (es gibt nur diese beiden Ausdrücke) oder eben als ‚offen‘ für zusätzliche Abbildungen, z.B. durch einen Bezug zur Empirie des Menschen mit all den historischen Varianten, die diese Beziehung bislang durchlebt hat.

8. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn Paul Tiedemann sagt, dass man diesen Satz ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ nur verstehen kann, wenn man den verschiedenen Bedeutungsanteilen nachspürt. (vgl. S.68)

9. Nicht so ohne weiteres verstehbar ist es dann allerdings, wenn er die Analyse des gesamten Ausdrucks nicht – wie Wittgenstein es der Moderne aufgezeigt hat – als komplexes ‚Sprachspiel‘ analysiert, sondern einzelne Bestandteile – ‚Mensch‘, ‚Würde‘ – herausbricht und diese isoliert für sich betrachten will. Verschärft wird diese Selektion noch dadurch, dass er die mögliche Bedeutung des Begriffs ‚Mensch‘ als ’nicht eindeutig‘ klassifiziert, diesen Begriff damit zur Seite schiebt, und sich auf den nicht minder unklaren Begriff ‚Würde‘ fokussiert. Bedenkt man, dass Würde als Eigenschaft von etwas Vorausgehendem, nämlich dem Menschen, zu sehen ist, muss man fragen, wieweit man über ‚Würde‘ reden kann, ohne den ‚Träger dieser Eigenschaft‘ analysiert zu haben.

10. In der Tat wirkt dann die anschließende Auflistung von verschiedenen etymologischen Bedeutungsmomenten ein wenig steril. Es handelt sich um isolierte, Kontextarme Bedeutungszuschreibungen, die in dieser Armut eine ‚Klarheit‘ vorgaukeln, die in der tatsächlichen Verwendung im ‚realen Leben‘ so selten oder nie anzutreffen sind. Insofern war der vorausgehende Ausflug in ausgewählte Positionen der Philosophiegeschichte eigentlich realitätsnäher, wenngleich ‚verwirrender‘.

‚WÜRDE‘ BEDEUTET’WÜRDE‘?

11. Paul Tiedemann fasst dann seinen etymologischen Exkurs in der Formel zusammen, dass die Bedeutung des Ausdrucks ‚Würde‘ als ‚Vorzugswürdigkeit‘ zu verstehen sei; im Falle von Nicht-Menschen übersetzbar als ‚Wertigkeit‘, im Falle von Menschen übersetzbar als ‚Würde‘. Während ‚Wertigkeit‘ auch mit einem ‚Preis‘ korrelieren kann, ist dies bei ‚Würde‘ nach Paul Tiedemann nicht der Fall.(vgl. S.71)

12. Also ‚Würde‘ bedeutet ‚Würde‘! Worin liegt der Erkenntnisgewinn?

BEGRIFF ‚WÜRDE‘ UND IMPLIZITES WERTURTEIL?

13. Paul Tiedemann versucht sich der Bedeutung des Ausdrucks ‚Würde‘ auch dadurch zu nähern, dass er den Begriff ‚Wertigkeit‘ in den Kontext des Sprachspiels ‚Werturteil‘ einbringt. Im Werturteil sagt man vom zu Beurteilenden, dass es ‚Gut‘ oder ‚Schlecht‘ sei. Dies geschieht nicht isoliert, sondern unter Voraussetzung eines ‚Kriteriums‘. In diesem Sinne teilt ein Satz wie ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ nach Paul Tiedemann nicht mit, aufgrund welchen Kriteriums dem Menschen ‚Würde‘ zukomme. Gibt es ein Kriterium jenseits alltäglicher Rollen, aus denen sich partikuläre Maßstäbe für ein Verhalten ergeben? Was kommt dem Mensch ‚als Mensch‘ zu?(vgl. SS.71-73)

14. Paul Tiedemann stellt dann zwei Gegenpole auf: die subjektive Werttheorie und die objektive Werttheorie. Beide Theorien versuchen zu erklären, woher mögliche Kriterien für Werturteile kommen können.

15. In der subjektiven Werttheorie setzen die Menschen jeweils selbst irgendwelche Präferenzen als Maßstab, nach denen gehandelt werden soll. In der objektiven Werttheorie sollen die Werte Teil der umfassenden Welt sein; man muss sie nur ‚zu lesen‘ lernen. Als ‚vorgegebene‘ sind sie für alle Menschen gleich.

16. Nach Paul Tiedemann korreliert die subjektive Werttheorie mit einem autonomischen Standpunkt, die objektive Werttheorie mit dem heterogenen Standpunkt.

17. Da Paul Tiedemann zuvor schon die Unversöhnlichkeit von einem autonomischen und heterogenen Standpunkt konstatiert hatte, wird damit klar, dass die subjektive und die objektive Werttheorie ebenfalls als solch ein unversöhnliche Paar gesehen werden.

18. Für Paul Tiedemann stellen Sachverhalte wie eine kulturelle Vielfalt oder das Faktum des Nichtbefolgens von Normen starke Hinweise dar für eine subjektive Position und gegen eine objektive (heteronome) Position.(vgl. Die Seiten 73-77)

19. Ist also die Zuschreibung von ‚Würde‘ zum ‚Menschen‘ im Sinne der subjektiven Werttheorie rein ‚willkürlich‘ und darin ‚autonomisch‘ oder ergibt sich solch eine Zuschreibung im Sinne der objektiven Werttheorie aus der ‚Natur‘ des Menschen und ist darin ‚heteronomisch‘? Spricht eine kulturelle Vielfalt wirklich gegen einen objektiven Wertansatz? Kann nicht sogar beides wahr sein in dem Sinne, dass die uns vorgegebene Welt sehr wohl eine objektive Vorgabe darstellt, wir aber in unserer individuellen Subjektivität Mühe haben, diese Vorgabe zu verstehen, sie missverstehen können, sie nicht wahrhaben wollen, weil es unangenehm ist usw.? Ist es nicht so, dass jede Form von Erkenntnis im Grund ’nicht zwingend‘ ist, d.h. dass wir Menschen die Freiheit haben, jegliche Art von Wirklichkeitseinsicht zu verleugnen (was in der Geschichte immer wieder hinreichend geschah und auch heute geschieht)? Und ist es nicht so, dass sich aus der Akzeptierung von empirischen Sachverhalten viele Arten von Konsequenzen aufdrängen, wenn man erst einmal diese Wirkzusammenhänge akzeptiert?

20. Nach diesen Überlegungen nutzt Paul Tiedemann seine bisherigen Argumente zu einer Art logischer Paradoxie mit ‚Hinterausgang‘: Wenn alle Werturteile subjektiv sind – und damit auch die Aussage, dass dem Menschen Würde zukomme –, dann können die Menschenrechte mit ihren Werturteilen über den Menschen nur dann noch Geltung haben, wenn jeder Mensch in seinem individuellen Werturteil letztlich auf einem ‚Grund‘ beruht, der allen gemeinsam ist, und der darin nicht beliebig wäre. (vgl. S.77f)

21. Mit teilweise Rückgriff auf Kant konstruiert Paul Tiedemann dann Begriffsketten der Art ‚Markt – Tauschwert – extrinsisch – was man damit anfangen kann — relativ — nur Mittel‘ im Gegensatz zu ‚Affektion – Eigenwert – intrinsisch – eigentlicher Zweck‘. (vgl. S.79) Und mit Bezug auf Kant gilt ein innerer Wert nur dann als absoluter Wert, wenn er ‚Zweck an sich selbst sein kann‘. (vgl. S.78f)

22. Allerdings würde die Lokalisierung eines absoluten Wertes in einem ‚Absoluten an sich‘ (wie bei Kant, Deutung Tiedemann) diese Werte völlig unerreichbar machen. Daher wendet sich Paul Tiedemann an dieser Stelle gegen Kant und postuliert, dass es kein ‚Absolutes an sich‘ geben kann. Auch ein Absolutes steht mindestens in Beziehung zu dem Menschen, der das Absolute für sich anerkennt. (vgl. S.80) Also, das Anerkennen durch ein Person ist subjektiv‘, das, was anerkannt wird, soll aber ‚absolut‘ sein, ‚unverfügbar‘, aber auch nicht nicht ‚zwingend‘. (vgl. S.80f)

23. Diese nicht ganz einfache Konstruktion erzwingt dann fast die weitere Konstruktion, dass diese subjektiv anerkannten, aber dennoch absoluten Werte mit unserer individuellen Existenz ‚gleich ursprünglich‘ sein müssen, dass sie also so eine Art unverrückbarer Bestandteil der individuellen Existenz sein müssen. Als Mensch kann ich sie zwar subjektiv verleugnen, sie existieren mit mir aber gleichwohl. (vgl. S.81) Ihre ‚Unhintergehbarkeit‘ besteht darin, dass wir sie nicht ändern können. (vgl. S.81)

ANALYTISCHE KORRELARIEN

24. Aus der angenommenen Bedeutung von ‚absolut‘ folgert Paul Tiedemann analytisch (tautologisch), dass es nur einen einzige absoluten Wert geben kann, andernfalls wäre es eben kein absoluter Wert. (vgl. S.81f)

25. Auf die rhetorische Frage, ob es etwas ‚Absolutes‘ überhaupt geben kann, wenn man es möglicherweise doch gar nicht kennt, bemerkt Paul Tiedemann zurecht, dass man aus dem Nichtwissen nicht auf die Nichtexistenz von etwas schließen kann. Eine Form von Nichtwissen kann ja z.B. auch eine Art von ‚Hintergrundwissen‘ sein, mit dem wir im Alltag vertraut sind, ohne dass es uns bewusst wäre. (vgl. 83)

26. Eine andere Frage könnte sein, ob es überhaupt einen ‚absoluten Wertmaßstab‘ angesichts einer subjektiven Werttheorie geben kann? Die Antwort nach Paul Tiedemann ist Ja, nämlich dann, wenn es etwas wäre, was notwendig zum Menschsein gehören würde (siehe auch schon oben). Als Beispiel erwähnt er die Regeln der Logik, die unhintergehbar seien; verleugnet man sie, verleugne man das Denken. (vgl. S.82)

KRITISCHER DISKURS

27. In der Lesart von Paul Tiedemann haben dieser Gedanken etwas scheinbar ‚Zwingendes‘. Man muss sich aber bewusst machen – was in den vorausgehenden Abschnitten immer wieder mal kurz angedeutet wurde –, dass dieses ‚Zwingende‘ auf einer Lesart beruht, die ganz spezifische Voraussetzungen macht, die als solch nicht unbedingt zwingend sind. Würde man die Voraussetzungen in Frage stellen, würde der ‚zwingende Charakter‘ weitgehend abhanden kommen.

28. Ein Dritter könnte diese Bemerkungen vom Autor cagent möglicherweise als ’negativ‘ einstufen. Dies trifft aber nicht zu. Vielmehr versucht hier ein anerkannter Experte – Paul Tiedemann – ein hochkomplexes Thema (Menschenwürde) in seinen möglichen Bedeutungsbezügen (offensichtlich vorwiegend aus philosophischer Sicht) begrifflich aufzuhellen. Dabei versucht er einen Argumentationsweg zu finden, der die ‚Absolutheit‘ der ‚Menschenwürde‘ plausibel macht. Dabei geht er sehr viele Wege, um den einen Weg zu finden, der möglicherweise zum Ziel führt. Soll dieser Versuch von Paul Tiedemann kein ‚Solo‘ bleiben, sozusagen ein reine Privatvergnügen, dann müssen seine Überlegungen von möglichst vielen aktiv gelesen und diskutiert werden. Und ein philosophischer Diskurs ist nun mal nicht anders zu haben als in der aktiven Begegnung von Gedanken, in denen die verwendeten sprachlichen Ausdrücke von allen möglichen Seiten hin und her gewendet werden, um jene Bedeutungsanteile zu ermitteln, die sich in der Begegnung unterschiedlicher Gehirne vielleicht finden lassen. Das einzelne Gehirn ist von seiner Natur aus erst einmal – zwangsläufig – ’solipsistisch‘, ‚monadisch‘, in sich selbst ‚eingeschlossen‘. Eine Brücke zu einem anderen Gehirn zu schlagen ist – entgegen der Alltagsmeinung – keinesfalls selbstverständlich, keinesfalls ein Selbstgänger. Vor diesem Hintergrund sind ‚kritische Fragen‘ nichts ‚Feindliches‘, sondern das Beste, was einem passieren kann. Die Rettung der eigenen, subjektiven, individuellen Wahrheit kann nur über das Feuer des Diskurses geschehen, indem sich im Wechselspiel Dinge anders und neu zeigen und darin vielleicht ‚gemeinsam‘; was aber nichts garantiert.

29. Wie schon mehrfach angedeutet, kann eine wirklich kritische Auseinandersetzung erst nach Abschluss der Lektüre einsetzen. Dennoch braucht es die Zwischenreflexionen, um mit den Gedanken des Buches ‚Tuchfühlung‘ aufzunehmen…Nehmen wir beispielsweise mal die letzten drei Punkt 24-26.

30. Der analytisch-tautologische Schluss, dass es nur einen einzigen absoluten Wert geben kann, ist solange richtig, solange man eine Definition von ‚Absolut‘ voraussetzt, die diesen Schluss erlaubt. Nun kommt aber dem Ausdruck ‚Absolut‘ in keiner mir bekannten Sprache eine ‚Bedeutung‘ zu, die in der Erfahrungswelt eine direkte Entsprechung hätte. Falls dem so wäre, käme dem Ausdruck ‚Absolut‘ nur eine Bedeutung im Rahmen komplexer sprachlicher Ausdrücke zu, die alle mehr oder weniger abstrakt wären, und damit kaum noch intersubjektiv fassbar wären. Die Bücher der Philosophen sind voll von solchen Ausdrücken, und der Versuch ‚eindeutiger‘ Interpretationen ist im Ansatz zum Scheitern verurteilt. In solch einem Kontext davon zusprechen, dass es nur ‚ein‘ Absolutes geben kann, ist gewagt, wissen wir doch in der Regel nicht, wie wir die vielfältigen Verwendungen des Ausdrucks ‚absolut‘ deuten sollen. Natürlich kann jeder Deutungsversuche vornehmen, und in gewisser Weise bleibt uns auch gar nichts anderes übrig, als dies immer wieder zu versuchen, nur sollten wir uns bewusst sein, dass es bei einer bestimmten Klasse von Ausdrücken immer nur hypothetische Deutungsversuche sein können. Ich verstehe die Überlegungen von Paul Tiedemann in diesem Sinne als einen interessanten Deutungsversuch, der möglicherweise ein vertiefendes Verständnis ermöglicht, aber der Charakter der Argumentation ist keinesfalls ‚zwingend‘.

31. Die Bemerkung von Paul Tiedemann, dass man aus dem Nichtwissen nicht auf die Nichtexistenz von etwas schließen könne, mit Verweis auf eine Art von ‚Hintergrundwissen‘ im Alltag, könnte auch als Argument für den ‚heteronomischen‘ Ansatz gewertet werden. Denn der heteronomische Ansatz geht ja im Prinzip davon aus, dass es auf jeden Fall eine Struktur gibt, die unserer Subjektivität vorgelagert ist und nur deswegen kann es einen möglichen Wertbezug geben, der für jeden einzelnen ‚gleich verbindlich‘ ist. Sofern es sich um Strukturen handelt, die unsere menschliche (oder überhaupt biologische) Existenz ermöglichen, wären sie unhintergehbar und – auch im Sinne der Begriffe von Paul Tiedemann – ‚absolut‘. Damit würde dann der radikal reflektierte autonomische Standpunkt und der heteronomische Standpunkt sich als zwei Aspekte ein und derselben Sache erweisen.

32. Der Verweis auf die Regeln der Logik, die unhintergehbar seien, findet sich häufig, muss aber deshalb nicht unbedingt ‚wahr‘ sein. Wir leben in einer Kultur, die es geschafft hat, die klassische griechische (inhaltsorienierte) Logik zu erweitern in Richtung der modernen formalen (nicht inhaltsgebundenen) Logik. In dieser Logik gibt es prinzipiell unendliche viele Folgerungsbegriffe und entsprechend unendlich viele Wahrheitswerte. Ob eine dieser vielen Logiken überhaupt einen Bezug zum tatsächlichen Denken hat müsste in jedem einzelnen Fall mühsam empirisch festgestellt werden. Dies resultiert daraus, dass die moderne formale Logik unabhängig vom tatsächlichen Denken der Menschen entwickelt wurde. So leben wir in einer Situation, in der die Wissenschaft von der Logik sich formal nahezu unendlich erweitern konnte, wir aber gleichzeitig immer noch keine allgemein akzeptierte und brauchbare empirische Theorie des tatsächlichen realen Denkens haben. Weder die formale Logik noch die Neurowissenschaften können uns hier helfen, einzig eine empirische Psychologie, die aber hier bislang wenig gefördert wird. In dieser Situation von den unverrückten Regeln des Denkens zu sprechen erscheint mutig oder gar waghalsig. Fakt ist, wissenschaftlich wissen wir nicht, wie die Regeln des tatsächlichen Denkens lauten. Wir leben mi vielen Ersatzkonstruktionen und Unterstellungen, haben aber kein wirkliches (wissenschaftliches) Wissen.

33. Was diese letzten kritischen Bemerkungen letztlich für das Projekt von Paul Tiedemann bedeuten, ist momentan noch schwer abzuschätzen. Ich würde mich aber wundern, wenn man es so stehen lassen kann, wie er es bislang gedacht hat. Dies muss – wie gesagt – nicht negativ sein. Es kann der Anlass sein, die Sachlage möglicherweise ‚tiefer‘ oder ’neu‘ verstehen zu lernen. Das ist das Maximum dessen, was ein philosophischer Diskurs leisten kann: sich der Wahrheit ein kleines Stück weiter annähern (vorausgesetzt, es gibt die Wahrheit als Vorgabe; was ich glaube).

Fortsetzung folgt

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WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 4

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgt dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte.

KAPITEL 3 (SS.51-67)

Philosophische Wurzeln des Begriffs 'Menschenwürde' nach P.Tiedemann (2014), Kap.3
Philosophische Wurzeln des Begriffs ‚Menschenwürde‘ nach P.Tiedemann (2014), Kap.3

1. Bei der Lektüre diese Kapitels scheinen zwei Grundsätze leitend zu sein: (i) der juristische Begriff der ‚Menschenwürde‘ hat nach Paul Tiedemann innerhalb Europas eine philosophische Herkunft, und (ii) sofern der Jurist keine ‚Legaldefinitionen‘ vorfindet, die ihn binden, sollte er sich in seiner Auslegung der Bedeutung an diese philosophische Wurzeln halten. (vgl. S.51)

2. Dies könnte stutzig machen. Denn wenn (ii) stimmt, dann bedeutet dies, dass das Rechtssystem in einem Land die Autonomie besitzt, die Verwendung von Begriffen gegenüber der Vergangenheit zu ändern. Wenn dem so ist, dann erscheint die Rückfrage in eine mögliche philosophische Tradition nicht mehr zwingend. Warum sollte man dies tun?

3. Bejaht man (ii), dann erscheint (i) fraglich. Bejaht man die Notwendigkeit von (i), dann muss man (ii) zumindest mit einem Fragezeichen versehen. Ein Fragezeichen in dem Sinne, dass die ‚Legalität‘ als solche noch nichts über einen möglichen ‚Wahrheitsbezug‘ aussagt noch etwas über eine mögliche ’sachliche Angemessenheit‘. Wie die deutsche Geschichte (und nicht nur diese) zeigt, können legale Gesetze in hohem Maße unmenschliche, tödliche, und zerstörerische Handlungen decken.

4. Liest man das folgende dritte Kapitel, dann scheint der Autor Taul Tiedemann eher letzterer Interpretation zuzuneigen.

5. Bei seinem Ausflug in die Philosophiegeschichte folgt Paul Tiedemann dem zuvor eingeführten Begriffspaar ‚autonomisch‘ und ‚heteronomisch‘.

6. Bedenkt man, wie viele Schriften es gibt, erscheint der Aufweis von gerade mal jeweils drei Positionen für jede Richtung wenig, wenngleich die zitierten Positionen ’schwergewichtig‘ sind.

AUTONOMISCH

7. Nach dem zuvor entwickelten ‚Vorverständnis‘ basiert die ‚autonomische‘ Position auf einer Eigenschaft, die dem Menschen qua Menschen zukommt, vorab zu allen anderen Wertungspositionen und Rechtsansprüchen. Bei Augustinus und Pico della Mirandola ist es die grundlegende Fähigkeit zur Wahl, die als solche eine grundlegende Freiheit – und damit ‚Würde‘ – repräsentiert. Während Augustinus diese Wahl festschreibt als Wahl zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘, ist es bei Mirandola einfach die Freiheit, etwas ‚Neues‘ zu schaffen, was bislang noch nicht da war. Bei Kant radikalisiert sich diese Position durch sein erkenntniskritischen Sichtungen und er sieht dann nur noch das Faktum der Vernunft als solcher als Quelle möglicher nicht-kontingenter Erkenntnisse. Letztlich ist es dann auch diese Autonomie der Vernunft und ihre Entscheidungsfähigkeit, die allem anderen voraus liegt.

HETERONOMISCH

8. Nach dem bisherigen Vorverständnis definiert sich die heteronomische Position über eine Relativierung der individuellen Würde durch Rückbeziehung auf etwas ‚Anderes‘ (‚Heteronomes‘). In der Stoa ist es die vorgegebene Ordnung, die sich aus dem Logos ergibt und an der der menschliche Geist Anteil hat; diese soll gegenüber der Triebwelt umgesetzt werden.

9. In der christlichen Theologie (wie weit ist dies ‚philosophisch‘?) ist es ‚Gott‘, der mit den geoffenbarten ‚Geboten‘ eine Ordnung erkennen lässt, der sich der Mensch ‚anzugleichen‘ hat. Damit trägt der Mensch seiner Stellung als ‚Geschöpf‘ Rechnung: im rechten Gebrauch seiner Wahlfreiheit wird die ‚Ebenbildlichkeit‘ zu Gott real. Trotz geschenkter Gottesähnlichkeit darf der Mensch aber bestraft werden – bis hin zum Tode –, wenn er seine Wahlmöglichkeiten nicht in der rechten Weise wahrnimmt.

10. Im naturalistischen Naturrecht, das man als historische Antwort auf die vorausgehenden blutigen Religionskriege verstehen kann, wird die Würde zwar auch in der grundlegenden Wahlmöglichkeit des Menschen angesiedelt, aber anstatt diese Wahlmöglichkeit an einem göttlichen Gebot zu messen, wird dieses rückgebunden an die vorgegebene Gemeinschaft: zwar muss die Gemeinschaft das Individuum achten, aber das Individuum hat keine absoluten Rechte gegenüber der Gemeinschaft.

NEGATIVE SCHLUSSFOLGERUNGEN VON PAUL TIEDEMANN

11. Bedenkt man, dass der Ausflug in die philosophische Vergangenheit des Begriffs ‚Menschenwürde‘ von Paul Tiedemann damit motiviert worden war, dass die aktuelle Diskussion mit ihren unterschiedlichen Interpretationsstandpunkten widersprüchlich, verwirrend erscheint, so wird man zusammen mit ihm auch enttäuscht sein können, dass auch dieser Ausflug mit einer Verwirrtheit endet: für Paul Tiedemann erscheint eine Verknüpfung zwischen der autonomischen und der heteronomischen Position zu einer einzigen Position ‚unmöglich‘. „Beide Konzepte stehen zueinander im Widerspruch“. (S.66)

12. Tiedemann diagnostiziert, dass der Begriff der ‚Menschenwürde‘ nicht ‚ambivalent‘ sei, sondern ‚mehrdeutig‘, und in dieser Mehrdeutigkeit stehen sie ‚unversöhnlich nebeneinander‘. (vgl. S.66)

DISKUSSION

13. Eine umfassendere Diskussion soll zwar erst es am Schluss dieser reflektierenden Lektüre erfolgen, doch hier wiederum ein paar erste Gedanken.

14. Für mich ist die Abgrenzung von einer ‚ambivalenten‘ Bedeutung zu einer ‚mehrdeutigen, widersprüchlichen‘ Bedeutung nicht zwingend; aber vielleicht ist dies hier auch nicht so wichtig. Entscheidend erscheint jedenfalls für Paul Tiedemann das Faktum zu sein, dass die von ihm identifizierten ‚Bedeutungen‘ widersprüchlich sind.

15. Dieser identifizierte Widerspruch wird darin lokalisiert, dass die autonomische Position auf eine allgemeine Eigenschaft des Menschen rekurriert, die ihm als Mensch zukommt, vor allem anderen und die ‚aus sich heraus‘ eine Würde konstituiert, die durch nichts anderes in Frage gestellt werden kann.

16. Demgegenüber sieht die heteronomische Position im Kontext des Individuums eine Ordnung, die zum Individuum mindestens gleichwertig ist und die aus diesem Grund eine Beachtung verlangt. Die ‚wahre Sittlichkeit‘ zeigt sich dann daran, dass das Individuum seine grundlegende Wahlmöglichkeit im ‚Einklang‘ mit dieser vorfindlichen Ordnung ausübt.

17. Aus Sicht der autonomen Position bietet die Anerkennung einer verbindlichen Ordnung im Kontext des Individuums die Gefahr, dass die grundlegende Wahlfreiheit zerstört wird (falls die erkannte Ordnung ‚falsch‘ sein sollte). Aus Sicht der heteronomischen Position hingegen bietet die autonomische Position die Gefahr, dass die Willkürlichkeit (= Wahl ohne Verpflichtung) jedwede bestehende Ordnung zerstören kann.

18. Bei Mirandola gibt es den Hinweis auf das ‚Neue‘, was jeder Mensch schaffen kann, etwas, das es bislang noch nicht gegeben hat. Und die Geschichte der letzten Jahrtausende – sofern sie uns bekannt wurde – legt den Schluss nahe, dass nicht nur die Natur als Ganze (letztlich das ganze bekannte Universum) ‚im Werden‘ begriffen ist, d.h. beständig ‚Altes vergeht‘, ‚Altes zerstört wird‘, damit das ‚Neue‘, das ‚Leben‘ entstehen konnte und entsteht. Zwar spricht man auch oft von ‚der Ordnung der Natur‘, diese ‚Ordnung‘ ist aber keine ’statische‘ Ordnung sondern – wie wir heute wissen können – ein dynamischer Prozess, dessen ‚Gesetze‘ das ‚Unvorhersehbare‘ mit einschließen.

19. Bedenkt man nun, dass das menschliche Individuum ja ein ‚Teil‘ dieses Prozesses ist, und zwar ein ‚gewordener‘ Teil, ein ’noch nicht abgeschlossener‘ Teil, dann fällt es schwer, nachzuvollziehen, warum eine – historisch – punktuelle Eigenschaft an einem einzelnen Individuum einen ‚absoluten‘ Wert haben soll. Ohne ‚Kontext‘ gibt es dieses Individuum überhaupt nicht und ohne Kontext ist dieses Individuum gar nicht verständlich. Wie wir wissen können, besteht ein sogenanntes Individuum aus mehr als 4 Billionen Zellen, die permanent mit weiteren zig Billionen anderen Zellen kooperieren, die wiederum eingebettet sind in diesen gigantischen Prozess genannt Natur, so dass es fast willkürlich erscheint, einem winzigen Ausschnitt aus diesem ganzen ‚Wunderwerk‘ eine spezielle abgehobene Stellung zuzusprechen.

20. Allerdings, und dieser Punkt wird sehr selten beachtet, folgt aus dieser scheinbaren ‚Einebnung‘ eines menschlichen Individuums NICHT – wie Kant und viele andere es unterstellen –, dass dies auf eine Beliebigkeit hinauslaufe, die ein ernsthaftes sittliches Verhalten unmöglich mache. Das Gegenteil ist richtig. Aber schauen wir erst einmal, was die weitere Lektüre an Einsichten bringen wird.

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WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 3

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann nun die wichtigsten Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor.

KAPITEL 2 (SS.33-50)

Interpretationsrichtungen zum Begriff 'Menschenwürde' in der deutschen Rechtsgeschichte (vgl. Tiedemann (2014), Kap.2))
Interpretationsrichtungen zum Begriff ‚Menschenwürde‘ in der deutschen Rechtsgeschichte (vgl. Tiedemann (2014), Kap.2))

1. Im vorausgehenden Schaubild sind die beschriebenen Interpretationsrichtungen aus dem Buch hier mit eigenen Worten zusammengefasst. Für einen Nichtjuristen (und möglicherweise auch für viele Juristen, die auf anderen Gebieten spezialisiert sind) ist dieser Überblick (der im Buch differenziert erläutert wird) sicher aufschlussreich. Zeigt dieser Überblick doch trotz aller Feinheiten im Detail, dass es eigentlich nur zwei große Positionen gibt: (i) Jene, die einem Menschen grundsätzlich eine Würde vor aller staatlicher Gesetzgebung zugesteht und (ii) jene, die dem Begriff Menschenwürde keinen eigenständigen Inhalt zuspricht und daher nach Wegen sucht, den Inhalt der Menschenwürde durch Rückgriff auf ’sekundäre‘ Faktoren zu sichern, die außerhalb des einzelnen Menschen liegen.

2. Betrachtet man die Position, die durch Rückgriff auf sekundäre Faktoren nach einer Lösung sucht, dann kann man folgende Faktoren benennen: die jeweilige Gesellschaft mit ihren Organen kann (i) Verträge schließen, in denen je nach aktuellem Weltverständnis (‚Verletzungen‘, ‚Allgemeinwohl‘, ‚Normen‘, ’soziologische Erkenntnisse‘, ‚Genetik‘, …) Menschenwürde definiert und geregelt wird; (ii) die Anwendung dieser Verträge wird Spezialisten (Juristen) übertragen, die nach eigenem Gutdünken (Willkür?) die Interpretation der Verträge vornehmen.

3. Sollte jene Position, die dem Menschen vorab zu aller staatlichen Gesetzgebung eine grundlegende Würde zuschreibt, nicht argumentativ abgesichert werden können, dann müsste man sich – spätestens dann – mit den vielen Aspekten möglicher sekundären Faktoren im einzelnen beschäftigen.

4. Nehmen wir an, es gäbe eine Position, in der Menschenwürde vorab zu aller staatlichen Gesetzgebung ‚gegeben‘ ist und somit den Status einer ‚Vorab-Norm‘ für die staatliche Gesetzgebung besitzen würde. Da ‚Menschenwürde‘ schwerlich ein empirisch-sinnliches Objekt ist, das man wie einen Gegenstand der Alltagswelt gemeinsam einfach anschauen und darüber reden könnte, sondern eher mit einer ‚Sicht der Dinge‘, mit einer ‚Sicht des Lebens‘ korrespondiert, innerhalb der der Mensch in einer ’spezifischen Weise gedeutet‘ wird, dann würde die ‚Bedeutung‘ des Begriffs Menschenwürde zu einem Konstrukt des subjektiven Wissens, das über Sprache (einschließlich dazu möglicher Handlungen) zwischen den verschiedenen Gehirnen ‚vermittelt‘ werden müsste.

5. Bei dieser Sachlage würde die Bedeutung des Begriffs ‚Menschenwürde‘ unweigerlich in die Abhängigkeit von herrschenden Anschauungen, von einem herrschenden Weltverständnis gelangen, und es ist eine spannende Frage, ob und wie sich eine ‚eigenständige Bedeutung‘ des Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext des jeweiligen subjektiven Wissens, verwoben mit dem jeweiligen Weltverständnis, identifizieren und argumentativ vermitteln lassen würde.

6. Die historischen Tatsachen der Geistes-, Ideen-, Kultur-, Wissenschafts- usw. Geschichte(n) legen jedenfalls die Vermutung nahe, dass sich das uns Menschen verfügbare Weltverständnis unausweichlich geändert hat und beständig weiter verändert, allein schon deswegen, weil grundlegende Annahmen zur Natur des Menschen und zur Natur überhaupt einem beständigen und grundlegenden Wandel unterworfen sind. Alle Versuche der Philosophie, in diesem Wandel Strukturen zu identifizieren, die ‚aus sich heraus‘ beständig und ‚absolut‘ gültig sind, können eigentlich als gescheitert angesehen werden.

7. Parallel mit dem fortschreitenden Scheitern klassischer (metaphysischer) Konzeptionen schälen sich aber im Empirischen (dem philosophisch ‚Kontingentem‘) immer mehr Strukturen heraus, die – trotz ihrer empirischen Abkunft – eine ‚Geltungskraft‘ enthüllen, die mit dem ‚klassisch Absoluten‘ nicht mithalten können, aber dennoch weit über beliebige Zufälligkeiten hinausgehen. So eine Art ‚Absolutes im Werden‘.

8. Solch ein ‚Absolutes im Werden‘ erheischt Aufmerksamkeit und Verantwortung, ohne dass sich ein einzelner unabhängig davon zu einem ‚absoluten Lehrer für Alle‘ aufwerfen könnte. Das ‚Absolute im Werden‘ verlangt forschende Demut, verlangt vernetzte Teams, ermöglicht ‚Wahrheit‘ und ist kein Spielball für Willkür.

9. Als Leser bin ich gespannt, was das nächste Kapitel im Buch eröffnen wird.

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