Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014
KONTEXT
Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann nun die wichtigsten Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor.
KAPITEL 2 (SS.33-50)
1. Im vorausgehenden Schaubild sind die beschriebenen Interpretationsrichtungen aus dem Buch hier mit eigenen Worten zusammengefasst. Für einen Nichtjuristen (und möglicherweise auch für viele Juristen, die auf anderen Gebieten spezialisiert sind) ist dieser Überblick (der im Buch differenziert erläutert wird) sicher aufschlussreich. Zeigt dieser Überblick doch trotz aller Feinheiten im Detail, dass es eigentlich nur zwei große Positionen gibt: (i) Jene, die einem Menschen grundsätzlich eine Würde vor aller staatlicher Gesetzgebung zugesteht und (ii) jene, die dem Begriff Menschenwürde keinen eigenständigen Inhalt zuspricht und daher nach Wegen sucht, den Inhalt der Menschenwürde durch Rückgriff auf ’sekundäre‘ Faktoren zu sichern, die außerhalb des einzelnen Menschen liegen.
2. Betrachtet man die Position, die durch Rückgriff auf sekundäre Faktoren nach einer Lösung sucht, dann kann man folgende Faktoren benennen: die jeweilige Gesellschaft mit ihren Organen kann (i) Verträge schließen, in denen je nach aktuellem Weltverständnis (‚Verletzungen‘, ‚Allgemeinwohl‘, ‚Normen‘, ’soziologische Erkenntnisse‘, ‚Genetik‘, …) Menschenwürde definiert und geregelt wird; (ii) die Anwendung dieser Verträge wird Spezialisten (Juristen) übertragen, die nach eigenem Gutdünken (Willkür?) die Interpretation der Verträge vornehmen.
3. Sollte jene Position, die dem Menschen vorab zu aller staatlichen Gesetzgebung eine grundlegende Würde zuschreibt, nicht argumentativ abgesichert werden können, dann müsste man sich – spätestens dann – mit den vielen Aspekten möglicher sekundären Faktoren im einzelnen beschäftigen.
4. Nehmen wir an, es gäbe eine Position, in der Menschenwürde vorab zu aller staatlichen Gesetzgebung ‚gegeben‘ ist und somit den Status einer ‚Vorab-Norm‘ für die staatliche Gesetzgebung besitzen würde. Da ‚Menschenwürde‘ schwerlich ein empirisch-sinnliches Objekt ist, das man wie einen Gegenstand der Alltagswelt gemeinsam einfach anschauen und darüber reden könnte, sondern eher mit einer ‚Sicht der Dinge‘, mit einer ‚Sicht des Lebens‘ korrespondiert, innerhalb der der Mensch in einer ’spezifischen Weise gedeutet‘ wird, dann würde die ‚Bedeutung‘ des Begriffs Menschenwürde zu einem Konstrukt des subjektiven Wissens, das über Sprache (einschließlich dazu möglicher Handlungen) zwischen den verschiedenen Gehirnen ‚vermittelt‘ werden müsste.
5. Bei dieser Sachlage würde die Bedeutung des Begriffs ‚Menschenwürde‘ unweigerlich in die Abhängigkeit von herrschenden Anschauungen, von einem herrschenden Weltverständnis gelangen, und es ist eine spannende Frage, ob und wie sich eine ‚eigenständige Bedeutung‘ des Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext des jeweiligen subjektiven Wissens, verwoben mit dem jeweiligen Weltverständnis, identifizieren und argumentativ vermitteln lassen würde.
6. Die historischen Tatsachen der Geistes-, Ideen-, Kultur-, Wissenschafts- usw. Geschichte(n) legen jedenfalls die Vermutung nahe, dass sich das uns Menschen verfügbare Weltverständnis unausweichlich geändert hat und beständig weiter verändert, allein schon deswegen, weil grundlegende Annahmen zur Natur des Menschen und zur Natur überhaupt einem beständigen und grundlegenden Wandel unterworfen sind. Alle Versuche der Philosophie, in diesem Wandel Strukturen zu identifizieren, die ‚aus sich heraus‘ beständig und ‚absolut‘ gültig sind, können eigentlich als gescheitert angesehen werden.
7. Parallel mit dem fortschreitenden Scheitern klassischer (metaphysischer) Konzeptionen schälen sich aber im Empirischen (dem philosophisch ‚Kontingentem‘) immer mehr Strukturen heraus, die – trotz ihrer empirischen Abkunft – eine ‚Geltungskraft‘ enthüllen, die mit dem ‚klassisch Absoluten‘ nicht mithalten können, aber dennoch weit über beliebige Zufälligkeiten hinausgehen. So eine Art ‚Absolutes im Werden‘.
8. Solch ein ‚Absolutes im Werden‘ erheischt Aufmerksamkeit und Verantwortung, ohne dass sich ein einzelner unabhängig davon zu einem ‚absoluten Lehrer für Alle‘ aufwerfen könnte. Das ‚Absolute im Werden‘ verlangt forschende Demut, verlangt vernetzte Teams, ermöglicht ‚Wahrheit‘ und ist kein Spielball für Willkür.
9. Als Leser bin ich gespannt, was das nächste Kapitel im Buch eröffnen wird.
Eine Fortsetzung mit Kap.3 findet sich HIER.
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