Letzte Änderung: 14.Februar 2015, 23:30h (Ab Nr.20)
Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014
KONTEXT
Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versucht eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4.
KAPITEL 4 (SS.68-83)
ERSETZUNG VON GESCHICHTE DURCH ISOLIERTE BEGRIFFE?
1. Die – sicher nicht ganz unproblematische – Auffassung von Paul Tiedemann, dass man die Verwirrung der möglichen Bedeutung des Begriffs ‚Menschenwürde in der Philosophiegeschichte durch eine ‚unabhängige‘ Bedeutungsklärung auflösen könnte, führt ihn zum Kapitel 4.
2. Er beginnt das Kapitel, indem er sagt, dass er einen ‚metasprachlichen‘ Standpunkt einnimmt, also einen Standpunkt, von dem aus er ‚auf‘ den Begriff ‚Menschenwürde‘ und seine Verwendung schaut.(vgl. S.68) Dies ist in der Philosophie – und speziell in der Wissenschaftstheorie – ein gängiges Verfahren.
3. Allerdings trifft Paul Tiedemann sogleich eine Vorentscheidung damit, dass er seinen metasprachlichen Standpunkt im Stile einer klassischen Grammatiktheorie realisiert: der Begriff ‚Menschenwürde‘ wird in diesem Grammatiksprachspiel als ‚Nomen‘ klassifiziert, das als ‚Kompositum‘ einen zusammengesetzten ‚Gegenstand‘ bezeichnet, in dem dem Menschen ‚Würde‘ zugesprochen wird.
4. Indem Paul Tiedemann an dieser Stelle feststellt, dass dieses Kompositum eigentlich nur als ein Satz der Art ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ vorkommt, also etwas Sprachliches, nennt er den Begriff ‚Menschenwürde‘ ‚metasprachlich‘ zu dem Ausdruck ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘.
5. Durch diese gedankliche Wendung verändert aber Paul Tiedemann die Bedeutung von ‚metasprachlich‘. Wenn eine Metatheorie wie die ‚Grammatik‘ mit einer grammatischen Fachsprache (Substantiv, Verb, Adjektiv, …) über die Ausdrücke einer vorgegebenen Sprache als ihre Objekte spricht, dann beschreibt die Grammatiksprache unterschiedliche Aspekte von sprachlichen Ausdrücken, sofern diese Aspekte das ‚Funktionieren‘ dieser sprachlichen Ausdrücke im Kontext eines Diskurses eine Rolle spielen. Wenn er die ‚Bedeutung‘ eines Ausdrucks als ein Kompositum analysiert, das sich wiederum durch einen sprachlichen Ausdruck repräsentieren lässt, dann ‚ersetzt‘ er die ursprüngliche Bedeutung durch einen ‚künstlichen‘ sprachlichen Ausdruck. In diesem Sinne wird plötzlich der Ausdruck ‚Menschenwürde‘, der zuvor Gegenstand einer grammatischen Metasprache war, selbst zu einem metasprachlichen Ausdruck, aber in einem veränderten Sinne.
6. Zugleich muss man fragen, ob seine Behauptung, dass der Ausdruck ‚Menschenwürde‘ damit nicht mehr auf ein ‚außersprachliches‘ Objekt verweist, tatsächlich zutrifft, oder ob er nicht ein Seiteneffekt seiner eigenen abstrakten Konstruktion ist. Denn wenn der Ausdruck ‚Menschenwürde‘ als Kompositum auf einen Menschen verweist, dem ‚Würde‘ zukommt, dann würde man immerhin dem Ausdruck ‚Mensch‘ reale Objekte aus der realen Welt zuordnen können. Was mit der Eigenschaft ‚Würde‘ gemeint ist, wäre damit zwar nicht unbedingt klar, aber der Träger dieser Eigenschaft ist ein realer Bestandteil der realen Welt.
7. Der sprachliche Ausdruck ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ ist von daher nicht vollständig unhintergehbar, auch nicht vollständig unauflösbar, sondern er lässt sich zumindest partiell in der realen Welt verankern und hat einen realen empirischen Kern. Metatheoretisch (im Sinne der Wissenschaftstheorie) könnt man sagen, dass der sprachliche Ausdruck ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ eine sprachliche Repräsentation einer möglichen ‚Bedeutung‘ des Ausdrucks ‚Menschenwürde‘ ist, und diese sprachliche Repräsentation hat eine mögliche ‚reale Interpretation‘ in eben dem empirischen Vorkommen von ‚Menschen‘, denen man als eine – unter vielen anderen – Eigenschaft ‚Würde‘ zusprechen kann. In diesem Sinne wäre dann der Ausdruck ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ rekonstruierbar als ein Moment in einer abstrakten Interpretationsbeziehung (letztlich einer Abbildung), die entweder als ‚abgeschlossen‘ betrachtet werden kann (es gibt nur diese beiden Ausdrücke) oder eben als ‚offen‘ für zusätzliche Abbildungen, z.B. durch einen Bezug zur Empirie des Menschen mit all den historischen Varianten, die diese Beziehung bislang durchlebt hat.
8. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn Paul Tiedemann sagt, dass man diesen Satz ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ nur verstehen kann, wenn man den verschiedenen Bedeutungsanteilen nachspürt. (vgl. S.68)
9. Nicht so ohne weiteres verstehbar ist es dann allerdings, wenn er die Analyse des gesamten Ausdrucks nicht – wie Wittgenstein es der Moderne aufgezeigt hat – als komplexes ‚Sprachspiel‘ analysiert, sondern einzelne Bestandteile – ‚Mensch‘, ‚Würde‘ – herausbricht und diese isoliert für sich betrachten will. Verschärft wird diese Selektion noch dadurch, dass er die mögliche Bedeutung des Begriffs ‚Mensch‘ als ’nicht eindeutig‘ klassifiziert, diesen Begriff damit zur Seite schiebt, und sich auf den nicht minder unklaren Begriff ‚Würde‘ fokussiert. Bedenkt man, dass Würde als Eigenschaft von etwas Vorausgehendem, nämlich dem Menschen, zu sehen ist, muss man fragen, wieweit man über ‚Würde‘ reden kann, ohne den ‚Träger dieser Eigenschaft‘ analysiert zu haben.
10. In der Tat wirkt dann die anschließende Auflistung von verschiedenen etymologischen Bedeutungsmomenten ein wenig steril. Es handelt sich um isolierte, Kontextarme Bedeutungszuschreibungen, die in dieser Armut eine ‚Klarheit‘ vorgaukeln, die in der tatsächlichen Verwendung im ‚realen Leben‘ so selten oder nie anzutreffen sind. Insofern war der vorausgehende Ausflug in ausgewählte Positionen der Philosophiegeschichte eigentlich realitätsnäher, wenngleich ‚verwirrender‘.
‚WÜRDE‘ BEDEUTET’WÜRDE‘?
11. Paul Tiedemann fasst dann seinen etymologischen Exkurs in der Formel zusammen, dass die Bedeutung des Ausdrucks ‚Würde‘ als ‚Vorzugswürdigkeit‘ zu verstehen sei; im Falle von Nicht-Menschen übersetzbar als ‚Wertigkeit‘, im Falle von Menschen übersetzbar als ‚Würde‘. Während ‚Wertigkeit‘ auch mit einem ‚Preis‘ korrelieren kann, ist dies bei ‚Würde‘ nach Paul Tiedemann nicht der Fall.(vgl. S.71)
12. Also ‚Würde‘ bedeutet ‚Würde‘! Worin liegt der Erkenntnisgewinn?
BEGRIFF ‚WÜRDE‘ UND IMPLIZITES WERTURTEIL?
13. Paul Tiedemann versucht sich der Bedeutung des Ausdrucks ‚Würde‘ auch dadurch zu nähern, dass er den Begriff ‚Wertigkeit‘ in den Kontext des Sprachspiels ‚Werturteil‘ einbringt. Im Werturteil sagt man vom zu Beurteilenden, dass es ‚Gut‘ oder ‚Schlecht‘ sei. Dies geschieht nicht isoliert, sondern unter Voraussetzung eines ‚Kriteriums‘. In diesem Sinne teilt ein Satz wie ‚Dem Menschen kommt Würde zu‘ nach Paul Tiedemann nicht mit, aufgrund welchen Kriteriums dem Menschen ‚Würde‘ zukomme. Gibt es ein Kriterium jenseits alltäglicher Rollen, aus denen sich partikuläre Maßstäbe für ein Verhalten ergeben? Was kommt dem Mensch ‚als Mensch‘ zu?(vgl. SS.71-73)
14. Paul Tiedemann stellt dann zwei Gegenpole auf: die subjektive Werttheorie und die objektive Werttheorie. Beide Theorien versuchen zu erklären, woher mögliche Kriterien für Werturteile kommen können.
15. In der subjektiven Werttheorie setzen die Menschen jeweils selbst irgendwelche Präferenzen als Maßstab, nach denen gehandelt werden soll. In der objektiven Werttheorie sollen die Werte Teil der umfassenden Welt sein; man muss sie nur ‚zu lesen‘ lernen. Als ‚vorgegebene‘ sind sie für alle Menschen gleich.
16. Nach Paul Tiedemann korreliert die subjektive Werttheorie mit einem autonomischen Standpunkt, die objektive Werttheorie mit dem heterogenen Standpunkt.
17. Da Paul Tiedemann zuvor schon die Unversöhnlichkeit von einem autonomischen und heterogenen Standpunkt konstatiert hatte, wird damit klar, dass die subjektive und die objektive Werttheorie ebenfalls als solch ein unversöhnliche Paar gesehen werden.
18. Für Paul Tiedemann stellen Sachverhalte wie eine kulturelle Vielfalt oder das Faktum des Nichtbefolgens von Normen starke Hinweise dar für eine subjektive Position und gegen eine objektive (heteronome) Position.(vgl. Die Seiten 73-77)
19. Ist also die Zuschreibung von ‚Würde‘ zum ‚Menschen‘ im Sinne der subjektiven Werttheorie rein ‚willkürlich‘ und darin ‚autonomisch‘ oder ergibt sich solch eine Zuschreibung im Sinne der objektiven Werttheorie aus der ‚Natur‘ des Menschen und ist darin ‚heteronomisch‘? Spricht eine kulturelle Vielfalt wirklich gegen einen objektiven Wertansatz? Kann nicht sogar beides wahr sein in dem Sinne, dass die uns vorgegebene Welt sehr wohl eine objektive Vorgabe darstellt, wir aber in unserer individuellen Subjektivität Mühe haben, diese Vorgabe zu verstehen, sie missverstehen können, sie nicht wahrhaben wollen, weil es unangenehm ist usw.? Ist es nicht so, dass jede Form von Erkenntnis im Grund ’nicht zwingend‘ ist, d.h. dass wir Menschen die Freiheit haben, jegliche Art von Wirklichkeitseinsicht zu verleugnen (was in der Geschichte immer wieder hinreichend geschah und auch heute geschieht)? Und ist es nicht so, dass sich aus der Akzeptierung von empirischen Sachverhalten viele Arten von Konsequenzen aufdrängen, wenn man erst einmal diese Wirkzusammenhänge akzeptiert?
20. Nach diesen Überlegungen nutzt Paul Tiedemann seine bisherigen Argumente zu einer Art logischer Paradoxie mit ‚Hinterausgang‘: Wenn alle Werturteile subjektiv sind – und damit auch die Aussage, dass dem Menschen Würde zukomme –, dann können die Menschenrechte mit ihren Werturteilen über den Menschen nur dann noch Geltung haben, wenn jeder Mensch in seinem individuellen Werturteil letztlich auf einem ‚Grund‘ beruht, der allen gemeinsam ist, und der darin nicht beliebig wäre. (vgl. S.77f)
21. Mit teilweise Rückgriff auf Kant konstruiert Paul Tiedemann dann Begriffsketten der Art ‚Markt – Tauschwert – extrinsisch – was man damit anfangen kann — relativ — nur Mittel‘ im Gegensatz zu ‚Affektion – Eigenwert – intrinsisch – eigentlicher Zweck‘. (vgl. S.79) Und mit Bezug auf Kant gilt ein innerer Wert nur dann als absoluter Wert, wenn er ‚Zweck an sich selbst sein kann‘. (vgl. S.78f)
22. Allerdings würde die Lokalisierung eines absoluten Wertes in einem ‚Absoluten an sich‘ (wie bei Kant, Deutung Tiedemann) diese Werte völlig unerreichbar machen. Daher wendet sich Paul Tiedemann an dieser Stelle gegen Kant und postuliert, dass es kein ‚Absolutes an sich‘ geben kann. Auch ein Absolutes steht mindestens in Beziehung zu dem Menschen, der das Absolute für sich anerkennt. (vgl. S.80) Also, das Anerkennen durch ein Person ist subjektiv‘, das, was anerkannt wird, soll aber ‚absolut‘ sein, ‚unverfügbar‘, aber auch nicht nicht ‚zwingend‘. (vgl. S.80f)
23. Diese nicht ganz einfache Konstruktion erzwingt dann fast die weitere Konstruktion, dass diese subjektiv anerkannten, aber dennoch absoluten Werte mit unserer individuellen Existenz ‚gleich ursprünglich‘ sein müssen, dass sie also so eine Art unverrückbarer Bestandteil der individuellen Existenz sein müssen. Als Mensch kann ich sie zwar subjektiv verleugnen, sie existieren mit mir aber gleichwohl. (vgl. S.81) Ihre ‚Unhintergehbarkeit‘ besteht darin, dass wir sie nicht ändern können. (vgl. S.81)
ANALYTISCHE KORRELARIEN
24. Aus der angenommenen Bedeutung von ‚absolut‘ folgert Paul Tiedemann analytisch (tautologisch), dass es nur einen einzige absoluten Wert geben kann, andernfalls wäre es eben kein absoluter Wert. (vgl. S.81f)
25. Auf die rhetorische Frage, ob es etwas ‚Absolutes‘ überhaupt geben kann, wenn man es möglicherweise doch gar nicht kennt, bemerkt Paul Tiedemann zurecht, dass man aus dem Nichtwissen nicht auf die Nichtexistenz von etwas schließen kann. Eine Form von Nichtwissen kann ja z.B. auch eine Art von ‚Hintergrundwissen‘ sein, mit dem wir im Alltag vertraut sind, ohne dass es uns bewusst wäre. (vgl. 83)
26. Eine andere Frage könnte sein, ob es überhaupt einen ‚absoluten Wertmaßstab‘ angesichts einer subjektiven Werttheorie geben kann? Die Antwort nach Paul Tiedemann ist Ja, nämlich dann, wenn es etwas wäre, was notwendig zum Menschsein gehören würde (siehe auch schon oben). Als Beispiel erwähnt er die Regeln der Logik, die unhintergehbar seien; verleugnet man sie, verleugne man das Denken. (vgl. S.82)
KRITISCHER DISKURS
27. In der Lesart von Paul Tiedemann haben dieser Gedanken etwas scheinbar ‚Zwingendes‘. Man muss sich aber bewusst machen – was in den vorausgehenden Abschnitten immer wieder mal kurz angedeutet wurde –, dass dieses ‚Zwingende‘ auf einer Lesart beruht, die ganz spezifische Voraussetzungen macht, die als solch nicht unbedingt zwingend sind. Würde man die Voraussetzungen in Frage stellen, würde der ‚zwingende Charakter‘ weitgehend abhanden kommen.
28. Ein Dritter könnte diese Bemerkungen vom Autor cagent möglicherweise als ’negativ‘ einstufen. Dies trifft aber nicht zu. Vielmehr versucht hier ein anerkannter Experte – Paul Tiedemann – ein hochkomplexes Thema (Menschenwürde) in seinen möglichen Bedeutungsbezügen (offensichtlich vorwiegend aus philosophischer Sicht) begrifflich aufzuhellen. Dabei versucht er einen Argumentationsweg zu finden, der die ‚Absolutheit‘ der ‚Menschenwürde‘ plausibel macht. Dabei geht er sehr viele Wege, um den einen Weg zu finden, der möglicherweise zum Ziel führt. Soll dieser Versuch von Paul Tiedemann kein ‚Solo‘ bleiben, sozusagen ein reine Privatvergnügen, dann müssen seine Überlegungen von möglichst vielen aktiv gelesen und diskutiert werden. Und ein philosophischer Diskurs ist nun mal nicht anders zu haben als in der aktiven Begegnung von Gedanken, in denen die verwendeten sprachlichen Ausdrücke von allen möglichen Seiten hin und her gewendet werden, um jene Bedeutungsanteile zu ermitteln, die sich in der Begegnung unterschiedlicher Gehirne vielleicht finden lassen. Das einzelne Gehirn ist von seiner Natur aus erst einmal – zwangsläufig – ’solipsistisch‘, ‚monadisch‘, in sich selbst ‚eingeschlossen‘. Eine Brücke zu einem anderen Gehirn zu schlagen ist – entgegen der Alltagsmeinung – keinesfalls selbstverständlich, keinesfalls ein Selbstgänger. Vor diesem Hintergrund sind ‚kritische Fragen‘ nichts ‚Feindliches‘, sondern das Beste, was einem passieren kann. Die Rettung der eigenen, subjektiven, individuellen Wahrheit kann nur über das Feuer des Diskurses geschehen, indem sich im Wechselspiel Dinge anders und neu zeigen und darin vielleicht ‚gemeinsam‘; was aber nichts garantiert.
29. Wie schon mehrfach angedeutet, kann eine wirklich kritische Auseinandersetzung erst nach Abschluss der Lektüre einsetzen. Dennoch braucht es die Zwischenreflexionen, um mit den Gedanken des Buches ‚Tuchfühlung‘ aufzunehmen…Nehmen wir beispielsweise mal die letzten drei Punkt 24-26.
30. Der analytisch-tautologische Schluss, dass es nur einen einzigen absoluten Wert geben kann, ist solange richtig, solange man eine Definition von ‚Absolut‘ voraussetzt, die diesen Schluss erlaubt. Nun kommt aber dem Ausdruck ‚Absolut‘ in keiner mir bekannten Sprache eine ‚Bedeutung‘ zu, die in der Erfahrungswelt eine direkte Entsprechung hätte. Falls dem so wäre, käme dem Ausdruck ‚Absolut‘ nur eine Bedeutung im Rahmen komplexer sprachlicher Ausdrücke zu, die alle mehr oder weniger abstrakt wären, und damit kaum noch intersubjektiv fassbar wären. Die Bücher der Philosophen sind voll von solchen Ausdrücken, und der Versuch ‚eindeutiger‘ Interpretationen ist im Ansatz zum Scheitern verurteilt. In solch einem Kontext davon zusprechen, dass es nur ‚ein‘ Absolutes geben kann, ist gewagt, wissen wir doch in der Regel nicht, wie wir die vielfältigen Verwendungen des Ausdrucks ‚absolut‘ deuten sollen. Natürlich kann jeder Deutungsversuche vornehmen, und in gewisser Weise bleibt uns auch gar nichts anderes übrig, als dies immer wieder zu versuchen, nur sollten wir uns bewusst sein, dass es bei einer bestimmten Klasse von Ausdrücken immer nur hypothetische Deutungsversuche sein können. Ich verstehe die Überlegungen von Paul Tiedemann in diesem Sinne als einen interessanten Deutungsversuch, der möglicherweise ein vertiefendes Verständnis ermöglicht, aber der Charakter der Argumentation ist keinesfalls ‚zwingend‘.
31. Die Bemerkung von Paul Tiedemann, dass man aus dem Nichtwissen nicht auf die Nichtexistenz von etwas schließen könne, mit Verweis auf eine Art von ‚Hintergrundwissen‘ im Alltag, könnte auch als Argument für den ‚heteronomischen‘ Ansatz gewertet werden. Denn der heteronomische Ansatz geht ja im Prinzip davon aus, dass es auf jeden Fall eine Struktur gibt, die unserer Subjektivität vorgelagert ist und nur deswegen kann es einen möglichen Wertbezug geben, der für jeden einzelnen ‚gleich verbindlich‘ ist. Sofern es sich um Strukturen handelt, die unsere menschliche (oder überhaupt biologische) Existenz ermöglichen, wären sie unhintergehbar und – auch im Sinne der Begriffe von Paul Tiedemann – ‚absolut‘. Damit würde dann der radikal reflektierte autonomische Standpunkt und der heteronomische Standpunkt sich als zwei Aspekte ein und derselben Sache erweisen.
32. Der Verweis auf die Regeln der Logik, die unhintergehbar seien, findet sich häufig, muss aber deshalb nicht unbedingt ‚wahr‘ sein. Wir leben in einer Kultur, die es geschafft hat, die klassische griechische (inhaltsorienierte) Logik zu erweitern in Richtung der modernen formalen (nicht inhaltsgebundenen) Logik. In dieser Logik gibt es prinzipiell unendliche viele Folgerungsbegriffe und entsprechend unendlich viele Wahrheitswerte. Ob eine dieser vielen Logiken überhaupt einen Bezug zum tatsächlichen Denken hat müsste in jedem einzelnen Fall mühsam empirisch festgestellt werden. Dies resultiert daraus, dass die moderne formale Logik unabhängig vom tatsächlichen Denken der Menschen entwickelt wurde. So leben wir in einer Situation, in der die Wissenschaft von der Logik sich formal nahezu unendlich erweitern konnte, wir aber gleichzeitig immer noch keine allgemein akzeptierte und brauchbare empirische Theorie des tatsächlichen realen Denkens haben. Weder die formale Logik noch die Neurowissenschaften können uns hier helfen, einzig eine empirische Psychologie, die aber hier bislang wenig gefördert wird. In dieser Situation von den unverrückten Regeln des Denkens zu sprechen erscheint mutig oder gar waghalsig. Fakt ist, wissenschaftlich wissen wir nicht, wie die Regeln des tatsächlichen Denkens lauten. Wir leben mi vielen Ersatzkonstruktionen und Unterstellungen, haben aber kein wirkliches (wissenschaftliches) Wissen.
33. Was diese letzten kritischen Bemerkungen letztlich für das Projekt von Paul Tiedemann bedeuten, ist momentan noch schwer abzuschätzen. Ich würde mich aber wundern, wenn man es so stehen lassen kann, wie er es bislang gedacht hat. Dies muss – wie gesagt – nicht negativ sein. Es kann der Anlass sein, die Sachlage möglicherweise ‚tiefer‘ oder ’neu‘ verstehen zu lernen. Das ist das Maximum dessen, was ein philosophischer Diskurs leisten kann: sich der Wahrheit ein kleines Stück weiter annähern (vorausgesetzt, es gibt die Wahrheit als Vorgabe; was ich glaube).
Fortsetzung folgt
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