SIND KINDER GUT? WIE KOMMT DAS BÖSE IN DIE WELT? MEMO philosophieWerkstatt vom 8.Februar 2015

Letzte Änderung: 9.Februar 2015, 21:33h (Musikeinschub)

1. Entsprechend der Einladung zur philosophieWerkstatt v2.0 fand die nächste philosophieWerkstatt in der DENKBAR (Frankfurt) statt.

2. Wegen eines technischen Problems fiel der Philosophie-Kunst Programmpunkt aus, was uns mehr Zeit für das Hauptthema gab.

3. Nach der Begrüßung gab es daher dann sofort einen kleinen Einführungsvortrag von Paul Scherfer Samid, unterstützt von Maria Siefen-Just; beides sehr erfahrene Psychotherapeuten mit unterschiedlichen Spezialisierungen. Sie gaben einen guten Überblick über wichtige Positionen zur Entwicklung von Kindern in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob Kinder ‚gut‘ sind, und wie das ‚Böse‘ in die Welt kommt. Da sie alle Positionen immer mit konkreten Beispielen illustrierten war der Vortrag auch für fachfremde Zuhörer sehr gut verständlich.

4. Es folgte dann eine erste Gesprächsrunde mit allen, in der sehr offen die unterschiedlichsten Meinungen zum Einführungsvortrag ausgetauscht werden konnten (mehr als 10 Redebeiträge).

5. Nach einer Blubberpause, in der jeder mit jedem reden konnte, gab es dann eine intensive Schlussrunde, in der versucht wurde, die Vielfalt der Aspekte in einem ‚Gedankenbild‘ einzufangen (siehe Bild unten).

6. Zum Schluss wurde das Thema für die nächste philosophieWerkstatt am 8.März 2015 ermittelt, dann wieder um 16:00h. Für das nächste Treffen einigte sich die überwältigende Mehrheit für das Thema ‚Was ist Weisheit‘.

Gedankenskizze philosophieWerkstatt vom 8.Februar 2015 Schlussrunde
Gedankenskizze philosophieWerkstatt vom 8.Februar 2015 Schlussrunde

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EINSCHUB: Eigentlich kann Musik ‚an sich‘ weder ‚gut‘ noch ‚böse‘ sein, aber insofern sie Menschen beeinflussen kann, können daraus Zustände resultieren, die der eine geneigt ist als ‚gut‘ zu bezeichnen, die andere als ‚böse‘; wäre dann eine Musik in diesem Zusammenhang ‚gut‘ oder ‚böse‘? Andererseits gibt es weltweit so unterschiedliche Musik, die die einen als ‚gut‘ empfinden (weil sie es gewohnt sind?), sie anderen als ‚igitt‘ … Kann die Musik etwas dafür? Sind Klänge nicht ’neutral‘? Empirische Forschungen legen den Schluss nahe, dass die ’normalen‘ Menschen zunächst global auf bestimmte Klänge eher positiv reagieren, auf andere negativ; so eine Art ‚musikalische Vorprägung‘, letztlich eine Art Programmierung; wir sind nicht ‚frei‘ im Klangerleben, sondern ‚voreingestellt‘. Kann man das ablegen? Es scheint so, vorausgesetzt, man beschäftigt sich aktiv mit unterschiedlichen Klängen. Dazu ein Soundtrack vom 9.Februar 2015: Ist dieser Soundtrack ‚böse‘? (Achtung: die Klangwiedergabe von Firefox ist fehlerhaft: ab einer bestimmten Länge werden Teile des Sounds wiederholt, dazu in einer Abfolge die nicht dem Original entspricht. In dem Falle hilft tatsächlich der Windows Explorer.

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7. Das vorausgehende Bild zeigt die ‚Gedankenskizze‘, die während der Schussrunde entstanden ist. Dieses Bild kann natürlich nur die groben Strukturen wiedergeben.

8. Die Grundposition wird markiert durch die Gedanken des Einführungsvortrags, dass Kleinkinder – speziell in den ersten 12 Monaten – zwar mit einer Grundausstattung an (angeborenen) Fähigkeiten, Bedürfnissen und Dynamiken in die Welt eintreten (nachdem auch schon erste Wahrnehmungs- und Interaktionsprozesse während der Schwangerschaft stattgefunden haben!), sie aber zunächst über keine explizite Strukturierung, keine Einordnung der Vielzahl an Eindrücken verfügen.

9. Die Strukturierung der Welt erfolgt in Interaktion mit der umgebenden Welt, in der die jeweiligen Bezugspersonen eine dominante Stellung einnehmen(auch durch ihre Abwesenheit). Die ersten 12 Monte gelten als besonders prägend mit Auswirkungen auf das ganze restliche Leben.

10. Die Kinder lernen, die Vielfalt der Eindrücke zu ’sortieren‘ nach eigenem Körper oder Außenwelt, nach verschiedenen Objektarten, mit Sonderstellung menschlicher Bezugspersonen, nach unterschiedlichen Bedürfnissen/ Emotionen/ Gefühlen in Wechselwirkung mit der Umgebung.

11. In dieser Phase ist es entscheidend, wie sich die Bezugspersonen während dieses Lernprozesses verhalten.

12. Wenn die Bezugspersonen mit sich selbst Probleme haben, dann werden sie ihre eigene verzerrte Weltwahrnehmung und ihre verzerrten Reaktionen auf die Welt auf die Kinder übertragen und diese werden mit einem verzerrten inneren Bild der Welt und von sich selbst ‚trainiert‘. Dies kann z.B. beinhalten, dass ‚Ängste‘ überzogen, Verhaltensweisen unterdrückt, Erwartungen enttäuscht werden. Das Kind kann als ‚unerwünscht‘ eingestuft werden, als ‚Störenfried‘, und dergleichen mehr. Da Kinder in dieser frühen Phase bzgl. solcher Strukturierungen mehr oder weniger wehrlos sind, werden sie mit all diesen Verzerrungen (falsch programmiert) ihren weiteren Weg gehen, und all dies als ‚Ballast‘ mit sich tragen. Langzeituntersuchungen zeigen, dass sich stark negative erste Prägungen über das ganze Leben hemmend bzw. stark belastend auswirken können. Das, was Kindern in ihrer frühen Kindheit an positiven Lernerfahrungen, speziell an ‚Anerkennung‘, versagt wurde, das versuchen sie sich dann später auf ihre Weise wieder zurück zu holen. Gewalttäter, Amokläufer und Terroristen sind hier Extrembeispiele.

13. Umgekehrt, wenn Kinder das Glück haben, mit Bezugspersonen aufwachsen zu können, die es schaffen, ihnen ein realistisches und ‚funktionierendes‘ Selbstbild samt Weltordnung zu vermitteln, dann können sie ihre Dynamiken weitgehend ‚konstruktiv‘ ausleben. Wichtige Bezugspersonen sind nicht nur die Eltern, sondern auch – wenn vorhanden – Geschwister und andere Kinder. Diese können sehr verletzend sein wie auch unterstützend.

14. Auf der Basis des – hier nur sehr grob gezeichneten – Bildes von den frühkindlichen Lernprozessen stand die These im Raum, dass die Kinder als solche weder ‚gut‘ noch ‚böse‘ sind. Kinder bringen zunächst einmal ihre körpergebundene Dynamiken ‚mit‘ (Ängste, Erwartungen, Neugierde, Bedürfnisse, Aggression, Trauer, …) und erfahren von der Umwelt, von ihren Bezugspersonen, was ‚gut‘ angesehen wird und was ‚böse‘. In einer Gesellschaft werden Mädchen von Anfang an als ‚geringwertig‘ behandelt, in anderen Gesellschaften nicht; in der einen Gesellschaften gelten ‚aggressive‘ Kindern als Lebenstüchtig, in anderen wird Aggression bestraft; in einer Gesellschaft darf man sich frei bewegen und laut sein, in anderen muss man immer leise sein und wird man vorwiegend eingesperrt; in der einen Gesellschaft wird viel liebkost und geschmust, in anderen betont man Distanz und zeigt eher keine Gefühle; usw.

15. Unter der Voraussetzung, dass jede Gesellschaft ihre – ausdrücklichen oder unausgesprochenen – Regelsysteme hat, was man tut oder nicht tut, was als ‚gut‘ oder ‚böse‘ gilt, wird die Gesellschaft das Verhalten eines Menschen entsprechend als ‚gut‘ und ‚böse‘ bewerten. Und es wird die Tendenz bestehen, Menschen, die im Sinne der geltenden Regeln ‚böses‘ Verhalten zeigen, als ‚böse Menschen‘ zu klassifizieren, und entsprechend andere als ‚gute Menschen‘.

16. Sowohl aus der Geschichte wie aus der Gegenwart haben wir endlos viele Beispiele, wie Menschen in der einen ‚Werteordnung‘ als ‚gut‘ gelten, weil sie Tat X tun, in der anderen Werteordnung aber genau deshalb als ’schlecht‘ gelten. Extremtaten wie das Töten (Quälen, Erniedrigen, Foltern, …) von Menschen können zur ‚Heldentat‘ werden, wenn eine Gesellschaft mehrheitlich als ‚gut‘ einstuft. Zu allen Zeiten in allen Regionen dieser Welt hat es dies gegeben und gibt es dies weiterhin (z.B, heute radikale islamistische Gruppen, Russland – Ukraine, politische Terroristen, Verbrechersyndikate, Geheimdienste, Drohnenkrieg, …). Das Naziregime mit seiner systematischen Vernichtung von Millionen Juden, verknüpft mit der Tötung von ‚lebensunwerten‘ Menschen, verbunden mit der Tötung von politisch unbequemen Menschen, verbunden mit der Tötung von kulturell ‚abartigen‘ Menschen, ist kein Einzelfall. In der Geschichte zuvor wurden hunderttausende und Millionen von Menschen hingeschlachtet und Stalin, Mao, Pol Pot sind nur einige Beispiele von anderen beispiellosen Tötungsorgien in der Zeit während und nach dem Naziregime.

17. Angesichts dieser Geschichte des Grauens stellt sich die Frage, ob alle diese Taten erklärbar sind allein durch die Psychostruktur des einzelnen Menschen und der jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnis- und Bedrohungslagen, oder muss man darüber hinaus annehmen, dass das ‚Böse‘ eine ‚umfassende Wirklichkeit über die einzelnen Menschen hinaus‘ sei?

18. Eine Minderheit der Anwesenden vertrat – wenn auch unterschiedlich – den Standpunkt, das dem ‚Bösen‘ eine Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit des einzelnen‘ zukomme.

19. Die überwiegende Mehrheit meinte jedoch, dass das ‚Gute‘ und ‚Böse‘ ausschließlich ein ‚Epiphänomen‘ menschlichen Verhaltens und Wertens sei. Wenn man sieht, wie vielfältig die gleichen Menschen Sachverhalte unterschiedlich bewerten können, wenn man sieht wie innerhalb der gleichen religiösen Traditionen (im Judentum, im Christentum, im Islam, im Buddhismus, …) ganz unterschiedliche bis gegensätzliche Werte auftreten können, die aber dennoch alle durch Bezug auf ‚Gott‘ bzw. eine höchstes Prinzip begründet werden, dann spricht dies eher für eine Verwurzelung im menschlichen Urteilen und Bewerten. Und wenn man dann noch sieht, wie es die jeweiligen ‚Weltbilder‘ sind, die zur Begründung für bestimmte Werte herangezogen werden, Weltbilder, die die Menschen selber aufgestellt haben, dann spricht dies weiter für die ‚Quelle Mensch‘. Und wenn man dann auch sieht, wie der Mensch sich selbst, seine Bedürfnisse, seine Eigenheiten im Laufe der Geschichte und in den verschiedenen Kulturen so ganz verschieden bewertet hat und bewertet, dann wird man umso mehr das ‚Böse‘ und das ‚Gute‘ auf den Menschen selbst zurückführen müssen, da es ja keinen allgemeinen Begriff von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ gibt. Wer nach der Bedeutung der Begriffe ‚Gut‘ und ‚Böse‘ im Gesamt der Menschheit sucht, wird ganz unterschiedliche Deutungen finden.

20. Von daher erscheint es allein schon aufgrund dieser Sachlage schwierig bis unmöglich, von DEM ‚Guten‘ oder DEM ‚Bösen‘ zu sprechen. Kein lebender Mensch kann für sich beanspruchen, zu sagen ER/ SIE wüsste, was ‚Gut‘ und ‚Böse‘ ‚grundsätzlich‘ ist. Was wir haben sind jeweils mehr oder weniger anerkannte Regelsysteme, die für eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit festschreiben, was als ‚gut‘ und ‚böse‘ in dieser Gesellschaft gelten soll. Sie sind gespeist von Erfahrungen aus der Vergangenheit und durchtränkt von vielen starken Interessen der Lebenden. Diese Regelsysteme sind aber weder einheitlich noch global. Und für die ‚Anhänger‘ der verschiedenen Regelsysteme habe diese Regeln eine hohe Geltung. Sie zu verletzen wird in der Regel schwer bestraft. Wie soll diese Verschiedenartigkeit ‚aus sich heraus‘ ‚zueinander finden?

21. Abschließend – das war nicht mehr Teil der Diskussion – muss man vor diesem Hintergrund fragen, was wir als Menschheit bislang überhaupt über unsere gemeinsame Zukunft wissen bzw. wissen können. Wenn wir bis heute noch so verstrickt sind in partikuläre, sich vielfältig widersprechende, Regelsysteme, mit sehr verwirrenden Bedeutungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘, und ohne klare Zukunftsbilder, dann ist aktuell schwer zu erkennen, wie wir gemeinsam eine konstruktive Zukunft gestalten können.

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