Archiv für den Tag: 10. Mai 2015

WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 10

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

Begriffsnetz aus Kap.9 von Paul Tiedemann
Begriffsnetz aus Kap.9 von Paul Tiedemann

VORBEMERKUNG

In den Blogbeiträgen 1-10 zum Buch von Paul Tiedemann handelt es sich um eine erste ‚Wahrnehmungsstufe‘ des Textes und seiner möglichen Bedeutung(en). Angereichert mit ersten Fragen und Querüberlegungen. Erst nach Abschluss dieser ersten wahrnehmenden Lektüre erfolgt eine darauf aufbauende Reflexion, die die Einordnungen der Position von Paul Tiedemann in andere denkerische Kontexte versuchen wird. Schon jetzt kann man aber sagen, dass dieses Buch zu dieser Zeit – unabhängig von möglichen späteren Reflexionsergebnissen – einen wichtigen Beitrag darstellt, da es in einer schwierigen geistigen-kulturellen Situation mit dem Begriff ‚Menschenwürde‘ einen Aspekt unseres individuellen und gesellschaftlichen Daseins thematisiert, der durch die aktuellen globalen Strömungen eher als gefährdet zu betrachten ist als gesichert. Wie das Buch zeigt, ist die Materie alles andere als einfach und es ist schon ein Glücksfall, dass der Richter Paul Tiedemann zugleich auch ein Philosoph ist, der auf die juristischen Sachverhalte zusätzlich mit einem veränderten philosophischen Blick schauen kann. Auch wenn man nicht alle philosophischen Einschätzungen teilen muss, gewinnt das Bild, das Paul Tiedemann zeichnet, doch eine Tiefe und Differenziertheit, die in der aktuellen Diskussion von unschätzbarem Wert ist. Nimmt man die Sicht von Paul Tiedemann ernst, dann kann man sehr besorgt sein über die Zukunft von Menschenwürde unter den Menschen, wenn man sieht, welche wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kräfte auf unsere Gegenwart Einfluss nehmen und zu nehmen versuchen.

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Paul Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt dann der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet Paul Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthält als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’). Dann folgt eine Anzahl möglicher Einwände gruppiert nach vier Themen: Anderer, Determiniert, Böse, nicht-personale Menschen. Dann betrachtet er in Kap.7, einem etwas längeren Kapitel, wichtige Konkretisierungen von Menschenwürde, wie sie uns im Alltag real begegnen. Sehr anschaulich führt er die verschiedenen Punkte aus, so dass man nachvollziehen kann, wie verschiedene Verhaltensweisen/ Lebensweisen tief in das Selbst- und Lebensgefühl eines Menschen eingreifen können, bis dahin, dass er in der Wurzel getroffen, verletzt oder gar nachhaltig zerstört wird. Es sind weniger die äußerlichen Dinge als solche, sondern ihre Wirkung auf das ‚Innere‘ eines Menschen, sein Fühlen, seine Fähigkeit zu vertrauen, sein Denken usw.

KAPITEL 9 (SS.163-167)

1. Im Kapitel 9 des Buches von Paul Tiedemann geht es um Begriffe wie ‚Werte‘ – ‚Normen‘, ‚Pflichten‘, oder auch um ‚Moral‘. Insbesondere die Frage, wie komme ich von ‚Werten‘ zu ‚Normen‘? Ferner die Problematik des Verhältnisses von ‚Individuum‘ zur ‚Gesellschaft‘: inwiefern können sanktionierte gesellschaftliche Normen eine ‚Pflicht‘ für ein Individuum sein, das auf ‚authentische‘ Weise versucht, jene Werte und daraus sich ergebenden Pflichten zu bestimmen, denen es folgen will? Ist ‚Moral‘ im Sinne der Übereinstimmung von ‚gesellschaftlich‘ auferlegten Pflichten und ’subjektiv‘ auferlegten Pflichten möglich?

2. Es ist aufschlussreich, wie Paul Tiedemann diese komplizierte Begriffslage aufschlüsselt und seine Sicht darlegt.

3. Die ‚Kluft‘ zwischen individueller und gesellschaftlich sanktionierter Selbstverpflichtung schließt sich bei Paul Tiedemann dadurch, dass er die gesellschaftlichen Institutionen, die Normen in Form von Recht inhaltlich erlassen, sich in ihrem Geltungsgrund letztlich auf das Wollen der Wählerschaft zurückführen müssen. Durch diese Rückkoppelung des gesellschaftlichen Normgebers an das Wollen des einzelnen besteht im Prinzip die Möglichkeit, dass die ‚Werte‘ des einzelnen, an die sich der einzelne binden möchte (über die Delegierung an den gesellschaftlichen Normgeber), dem einzelnen nicht als ‚fremde‘ Normen gegenübertreten, sondern letztlich seinen eigenen intrinsischen Werten entsprechen.

4. Liegt dieser positive Fall von Kongruenz zwischen individuellem Wertesystem und sanktioniertem gesellschaftlich Wertesystem vor, dann spricht Paul Tiedemann auch von einem ‚moralischen‘ System von Rechten bzw. Normen.

5. Ist hingegen der Geltungsgrund der gesellschaftlichen normgebenden Instanzen nicht ausreichend aus dem individuellen Wollen und den individuellen Werten abgeleitet, dann gibt es eine Disharmonie, einen Widerspruch, dann ist die individuelle Integrität und Authentizität bedroht.

6. Dieses Modell von Paul Tiedemann geht davon aus, dass der einzelne Menschen idealerweise seine natürlichen primären Wünsche erster Ordnung (die sich offensichtlich aus den verschiedenen Bedürfnissen und Begierlichkeiten des Körpers herleiten) auf einer Ebene zweiter Ordnung von reflektierten Wünschen zusätzlich bewerten und einordnen kann. Während die körperlichen Dynamiken mehr oder weniger vorgegeben zu sein scheinen, nimmt Paul Tiedemann an, dass die Wünsche zweiter Ordnung durch den einzelnen (aufgrund von Erfahrungen und/ oder Erkenntnissen) auch geändert werden können. Die Wünsche zweiter Ordnung wechselwirken auch mit dem, was Paul Tiedemann ‚Selbstbild‘ nennt. Es scheint dieses ‚Selbstbild‘ zu sein, was der primäre Bezugspunkt für das Wertempfinden und den daraus sich ergebenden subjektiven Pflichten bildet.

DISKUSSION

7. Auf den ersten Blick scheint diese Rekonstruktion der Leitbegriffe durch Paul Tiedemann konsistent zu sein.

8. Blickt man näher hin, können sich jedoch Fragen stellen.

9. Da wir wissen, wie komplex die Bedeutung von Begriffen in der Realität sein kann, wie fast undurchsichtig die Bewusstseinswirklichkeit eines einzelnen Menschen sein kann, und wie kaum noch überschaubar die verschiedenen Delegationsprozesse von Geltungsgrund und inhaltlicher Bestimmung im Alltag unseres Rechtswissens ist (ganz abgesehen von der dynamischen Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst), können wir diese Strukturierung (und damit Modellbildung) von Paul Tiedemann sehr begrüßen, doch sollten wir uns vor der Erwartung hüten, dass mit diesem Modell alle Fragen beantwortet wären. Für ein gemeinsames Gespräch kann dieses Modell ein hervorragender Ausgangspunkt sein, aber seine Bestimmung im einzelnen kann mehr Fragen aufwerfen, als vielleicht wünschenswert erscheinen.

10. Speziell der Bereich des individuellen Wertfühlens, Werte Bestimmens, Werte umdeutend auf subjektive Pflichten hin, ist im Alltag – so der Eindruck des Schreibers dieser Zeilen – eher unklar und forschungsmäßig nicht hinreichend erforscht.

11. Insbesondere, wenn es der einzelne ist, der ‚Menschenwürde‘ für sich als ‚Wert‘ erkennen und dann als subjektive Verpflichtung für sein Verhalten verpflichtend machen soll, damit eine gesellschaftliche Norm basierend auf dem Wert Menschenwürde Geltung bekommen kann, dann stellt sich die Frage, ob und wie der einzelne Mensch überhaupt in der Lage sein kann, ‚Menschenwürde‘ als Wert und dann als Verpflichtung zu erkennen.

12. Die bisherige Geschichte der Menschheit präsentiert zahllose Beispiele von Menschen, die Menschenwürde keinesfalls als Wert für sich anerkannt haben bzw. ein Verständnis von Menschenwürde manifestieren, das ‚dem heutigen Verständnis‘ (wo macht dieses sich zweifelsfrei fest?) von Menschenwürde nahezu diametral entgegen gesetzt ist. Welcher Mensch hat ‚aus sich heraus‘ hier eine absolute Norm?

13. Mir scheint, dass die Verlagerung des Geltungs- und Wertgrundes in das Individuum, in seine gefühlte Subjektivität, das Problem nicht wirklich löst.

14. Dass man die normgebenden Instanzen in einer Gesellschaft in ihrem Geltungsanspruch vom ‚Willen des Volkes‘ abhängig macht ist sicherlich ein starkes Argument, die individuelle Integrität im und vor dem Recht zu bewahren. Ich vermute aber, dass dieser Ansatz für eine letzte inhaltliche und wertmäßige Bestimmung von Menschenwürde auf Dauer nicht ausreichen wird. Der einzelne ist selbst nur ein kleines Moment in einem größeren Geschehen, ohne das es diesen einzelnen gar nicht geben würde. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass man die Bedeutung des einzelnen sowie weiterreichende Zusammenhänge überzeugend formulieren kann, ohne dass man die ermöglichenden übergreifenden Zusammenhang selbst auch angemessen würdigt.

15. Dass dieser übergreifende Zusammenhang bislang ‚Natur‘ genannt wird und die meisten Menschen einen inneren Widerspruch zwischen der ‚allgemeinen Natur‘ und dem ‚Menschen‘ sehen, folgt nicht aus der Sache als solcher,sondern ist ein Artefakt der Ideengeschichte der letzten 2000 – 4000 Jahren (oder länger). Wenn der Mensch sachlich ein wesentliches Moment er allgemeinen Natur ist, dann können noch so abenteuerliche Begrifflichkeiten, die dies negieren oder verschleiern, diesen Sachverhalt als solchen nicht verändern.

16. Für mich würde aus solchen weitergehenden Reflexionen nicht ein Bedeutungsverlust des Begriffs ‚Menschenwürde‘ folgen, sondern im Gegenteil eine Rückgewinnung jener Bedeutungsanteile, die dem Begriff ‚Menschenwürde‘ erst ihre volle Wucht verleihen würden.

Fortsetzung folgt

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