Archiv für den Monat: November 2015

EINLADUNG URAUFFÜHRUNG NEUES PERFORMANCE-FORMAT PHILOSOPHY-IN-CONCERT, Konzert Nr.1, EVANGELISCHE AKADEMIE FRANKFURT IN KOOPERATION MIT DEM INM FRANKFURT

Di, 1.Dez.2015, 19:00 – 21:00h

Im INM – Institut für Neue Medien Frankfurt
Schmickstrasse 18 (Kein Aufzug!)
Parken direkt hinter dem Haus oder im Umfeld begrenzt möglich

Ausführende Künstler:

cagentARTIST (G.Doeben-Henisch)
acrylnimbus (T.Schmitt)

Facebook-Link dazu von der Evangelischen Akademie

Facebook-Link des INM zum Ereignis

Info Seite der Philosophy-in-Konzert Gruppe des Emerging Mind Projektes.

INDUKTIVES SERVICE-LEARNING? Plädoyer für mehr Vertrauen in die Generation der Zukunft. Mehr Selbstvertrauen in die Mission Zukunft der Hochschulen.

ZUFÄLLIGER KONTAKT

  1. Aufgrund einer besonderen Konstellation an unserer Hochschule war ich im März 2015 Teilnehmer an der Gründungsveranstaltung des Vereins Hochschulnetzwerk Bildung durch Verantwortung, ein seit 2009 bestehender Zusammenschluss von zunächst 5 Universitäten. Dadurch erfuhr ich von der Existenz dieses Netzwerkes. Mittlerweile (November 2015) sind es 30 Hochschulen.

MEMORANDUM SERVICE-LEARNING

  1. Im Memorandum von 2013 wird der Gedanke der gesellschaftlichen Verantwortung der Hochschulen feierlich festgehalten. Die Grundidee klingt einfach und schlüssig: auf der einen Seite haben wir die Hochschulen mit ihrer Lehre und Forschung, auf der anderen Seite die Zivilgesellschaft, und gesellschaftliche Verantwortung wird von den Hochschulen wahrgenommen, wenn sie ihre Potentiale in den Dienst dieser Zivilgesellschaft stellen. Dabei wird der Begriff Zivilgesellschaft gerne noch eingegrenzt auf den Teilbereich der gemeinnützigen Einrichtungen.
  2. Dies klingt zunächst ausgesprochen positiv. Wer will nicht die Zivilgesellschaft unterstützen? Und unterschwellig klingt mit, dass die Hochschulen, für die die Gesellschaft viel Geld ausgibt, sich dann doch auch ein wenig Dankbar zeigen können, indem sie ihr Potential einbringen.

HOCHSCHULE ALS ELFENBEINTURM

  1. Wenn man die Texte unvoreingenommen liest, dann klingt hier ein Bild von Hochschulen an, das die Hochschulen eher von außen sieht, ein teures Etwas, von dem man annimmt, dass die Hochschulen ‚für sich alleine betrachtet‘ gesellschaftsfern sind, praxisfern, nicht wirklich Verantwortung für die Gesellschaft wahrnehmen, die sie doch alimentiert. Das Bild des weltfremden Akademikers, des akademischen Elfenbeinturms, ist hier nicht fern.
  2. Die Hochschullandschaft in Deutschland ist aber nicht monolithisch. ca. 150 von 425 Hochschulen haben Promotionsrecht und genügen – wenn überhaupt – dem klassischen Bild der Universität. Die restlichen 275 Hochschulen sind vom Ansatz her eher praxisorientiert und sind schon immer eng und vielfältig verflochten mit der umgebenden Gesellschaft. Hier den Gedanken von mehr sozialer Verantwortung quasi ‚von außen‘ an die Hochschulen heran zu tragen wirkt bizarr, ein bisschen weltfremd: die Lehrenden an diesen praxisorientierten Hochschulen waren alle mindestens 5 Jahre, meistens viel länger, in gesellschaftlichen Institutionen aktiv, bevor sie Hochschullehrer wurden, und in ihrer Lehrtätigkeit behalten sie meistens einen engen Kontakt zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Einrichtungen, auch in ihrer Lehre. Dabei ist diese Lehre in der Regel schon über das Curriculum im Normalfall mit ca. 50% Praxisanteil ausgestattet (nicht zu vergessen die vielen Lehrbeauftragten, die bis 60% und mehr des Lehrpersonals stellen. Diese Lehrbeauftragten kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft!).
  3. Diese Vielfalt der Hochschulen kommt im Selbstverständnis des Hochschulnetzwerk Bildung durch Verantwortung nicht so wirklich zum Ausdruck.

EINENGUNG VON ZIVILGESELLSCHAFT

  1. Auch die Fokussierung auf nur einen Teilbereich der Zivilgesellschaft — nämlich den Bereich der gemeinnützigen Einrichtungen – lässt Fragen offen: wenn der gemeinnützige Bereich so wichtig ist, warum ist dies dann keine Herausforderung an die ganze Gesellschaft? Warum sollen sich hier besonders die Hochschulen angesprochen fühlen? Wenn z.B. eine erfolgreiche Einrichtung zur Unterstützung von Frauen mit Migrationshintergrund von der Politik nicht mehr gefördert wird, gerade in einer Zeit, wo immer mehr Flüchtlinge die Bundesrepublik erreichen, warum soll dann gerade eine Hochschule einspringen? Um es nicht falsch zu verstehen: dieser Einrichtung zu helfen ist grundsätzlich sinnvoll, ich bewundere die, die sich da engagieren, aber warum ist dies dann eine Aufgabe für die Hochschulen speziell?
  2. Und dann wissen wir alle (wissen wir es wirklich?), dass Deutschland seinen Wohlstand einer vielfältigen international leistungsfähigen wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Struktur verdankt, die entsprechend vielfältig bestens ausgebildete MitarbeiterInnen braucht. Diese zu haben ist keinesfalls selbstverständlich. Dies verlangt nicht nur Rahmenbedingungen in der Ausbildung und in der umgebenen Gesellschaft, sondern auch junge Menschen, die für sich Motivation genug besitzen, sich den vielfältigen Herausforderungen zu stellen. Angesichts dieser Breite der Herausforderung kann man – muss man? – sich fragen, ob die Engführung und Zuspitzung auf den Bereich der gemeinnützigen Einrichtungen der gesellschaftlichen Situation gerecht wird? Warum nimmt man nicht z.B. auch den Bereich der Medien in den Blick? Für eine Demokratie ist eine funktionierende Öffentlichkeit lebenswichtig. Zugleich erleben wir heute, wie immer mehr freie Presse- und Medienorgane aus wirtschaftlichen Gründen und aufgrund eines Technologiewandels verschwinden und interessegebundenen Medienerzeugnissen Platz machen. Freier, kritischer Journalismus stirbt aus. Eine entsprechende kritisch-informierende Öffentlichkeit trocknet aus. Dies bedroht unsere Demokratie zentral. Warum darf dies kein Betätigungsfeld für eine junge, nachwachsende Generation sein? Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Die unreflektierte Fokussierung auf einen engen Bereich der Gesellschaft erscheint mir sehr frag-würdig

HOCHSCHULE ALS SOLCHE KEINEN WERT?

  1. Im Memorandum ist von den Hochschulen allgemein die Rede, und sehr abstrakt von deren Verantwortung für die heutigen und zukünftigen Herausforderungen der Gesellschaft. Dazu sei ein Dialog notwendig. Die Studierenden, gleichsam im ‚Besitz‘ der Hochschulen, sollen an ein gesellschaftliches Engagement herangeführt werden.
  2. Was man hier gänzlich vermisst, ist der Gedanke, dass Lehre und Forschung als solche ja auch ein gesellschaftlichen Prozess darstellen könnten, dass die Studierenden und ihre Lehrenden gerade durch Gestaltung der Lern- und Forschungsprozesse für die ganze Gesellschaft einen substanziellen Beitrag für die Zukunft der Gesellschaft leisten, und zwar einen einzigartigen, der von keiner anderen Einrichtung der Gesellschaft in dieser Form erbracht werden kann.
  3. Wer sich überhaupt mal mit Wissen, Lernen, Lernprozessen intensiver beschäftigt hat (mein Hauptthema seit gut 40 Jahren), der kann wissen, dass das Erkennen von möglichen und wichtigen zukünftigen Prozessen und Technologien extrem herausfordernd und schwierig ist, absolut kein Selbstgänger (man betrachte nur die geringe Innovationskraft vieler gesellschaftlicher Bereiche). Dies gilt sowohl auf der theoretisch-praktischen Ebene (wie macht man es), dies gilt aber auch und ganz besonders in der psychologisch-sozialen Dimension: Menschen die offen, motiviert, kreativ, engagiert und wissend mit der Welt umgehen können sollen, fallen nicht so einfach vom Himmel. Sie müssen viele, viele Jahre Lern- und Trainingsprozesse durchlaufen, in denen sie sich nicht nur Erfahrungen und Wissen aneignen können sollen, sondern speziell auch, um die inneren Einstellungen und Motivationen zu finden, die sie im Alltag und Stresssituationen befähigen, ihre jeweilige Aufgabe sachlich, ruhig und doch engagiert wahrnehmen zu können.

ANGEWANDT UND NICHT ANGEWANDT

  1. Eigentlich ist es kontraproduktiv für die Selbstfindung der Hochschulen ausgerechnet den Unterschied zwischen angewandter und nicht-angewandter Forschung immer wieder zu betonen (ein deutscher Sonderweg, den es in keinem anderen Land so noch gibt). Aber im Fall des Service Learnings spielt es bislang offensichtlich eine große Rolle.
  2. Betrachten wir ein Beispiel. An der Universität Kassel, die sich führend im Netzwerk Service-Learning engagiert, werden pro Semester 20 Projekte durchgeführt, die dem Service Lerning zugerechnet werden. Diese Projekte verteilen sich auf 2/3 aller Fachbereiche. Für dieses außergewöhnliche Engagement wird die Universität Kassel vielfältig zusätzlich gefördert. Dies ist grundsätzlich gut und positiv. Nimmt man das Beispiel der University of Applied Sciences Frankfurt, dann führen dort die Lehrenden eines einzigen Studiengangs (‚der interdisziplinäre Masterstudiengang ‚Barrierefreie Systeme‘) pro Semester 10-13 vollständig interdisziplinäre Projekte durch, viele einschlägige Masterthesen noch gar nicht mit gerechnet. Darüber hinaus sind fast alle anderen Studiengänge dieser Hochschule für angewandte Wissenschaften in vielen anderen ähnlichen Projekten engagiert, nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall. Diese Projekte werden allerdings nicht speziell gefördert. Sie alle leiden eher an Unterfinanzierung und an Personalmangel.
  3. Die Schlussfolgerung hieraus sollte nicht sein, dass Kassel kein Geld mehr bekommt; das wäre kontraproduktiv. Das Denken sollte aus diesem Tatbestand eher angeregt werden, sich zu fragen, warum eine an sich wunderbare gesellschaftlich breit aufgestellte Lehre und Forschung an den angewandten Hochschulen so wenig gesellschaftliche Achtung und Anerkennung bekommt? Außerdem sollte man sich fragen, warum die offiziellen Theorien zu Hochschullehre und -Forschung diese massive Praxis so wenig reflektieren?
  4. Bei der letzten Tagung des Netzwerkes im November in Frankfurt am Main waren bei den Sektionen mit Vorträgen auf dem Papier 24% Professoren. Von diesen 24% konzentrierten sich 46% auf die Sektion zur Theorie des Service Learnings. Und diese theoretischen Vorträge waren fast ausschließlich affirmativ, d.h. es fand wenig kritische Reflexion auf die Voraussetzungen und die große Ausrichtung statt. Der krasse Gegensatz war die Sektion, wo es um die konkrete Anbahnung von Kooperationen zwischen Hochschulen und Zivilgesellschaft ging. Real teilgenommen hat hier ein Professor (7.6%), der auch tatsächlich selber solche Projekte durchgeführt hatte (mehr als 79 Projekte in 10 Jahren), und der kam von einer Hochschule für angewandte Wissenschaften, der University of Applied Sciences Frankfurt.
  5. Diese Zahlen müssen nichts bedeuten; und doch, kennt man die Verhältnisse an den Hochschulen, dann spiegeln diese Zahlen ein wenig von der Realität an den Hochschulen wieder: die normalen Professoren sind in der Regel durch ihre Lehre und Forschung so überlastet, dass sie sich wenig um institutionelle Prozesse und langfristige Strategien kümmern können. Die großen Hochschulen bilden aufgrund ihrer größeren Ressourcen sehr schnell Verwaltungseinheiten zu politisch relevanten Themen und können dann mit den MitarbeiternInnen dieser Verwaltungseinheiten in diesen Themenfeldern schnell agieren. Daraus erklärt sich auch der überproportionale Anteil von Nichtprofessoren gegenüber Professoren (im Extremfall in der einen Sektion 92% Nichtprofessoren). Auch ist auffällig, dass Professoren aus den angewandten Hochschulen bislang kaum vertreten sind. Ihnen erschließt sich die Thematik Service Learning kombiniert mit der Engführung auf gemeinnützige Einrichtungen kaum, da sie selbst schon immer Service Learning im großen Stil und im Dauerbetrieb betreiben.

STUDIERENDE ALS VERFÜGUNGSMASSE

  1. Ein letzter, vielleicht der wichtigste Punkt. Das Memorandum spricht abstrakt von Hochschulen und deren Verantwortung fokussiert auf gemeinnützige Einrichtungen. Dazu soll ferner das gesellschaftliche Engagement von Studierenden nutzbar gemacht werden, Studierende sollen an das Engagement herangeführt werden. Damit dies geschieht, werden aufwendig Einrichtungen geschaffen, die im Vorfeld gesellschaftliche Einrichtungen ausgucken, diese präparieren und letztlich den Studierenden dann damit konfrontieren, dass hier eine konkrete Aufgabe ausgeführt werden soll. Soll man diese Sicht der Dinge gut finden?
  2. Man kann diese Texte unterschiedlich interpretieren. Die reale Praxis lässt aber wenig Spielraum. Es sind hier nicht die Studierenden selbst, die sich eine Aufgabe suchen; es sind nicht die Studierenden selbst die diese Aufgabe gestalten; es ist nicht die normale Lehre und Forschung, die hier angeregt wird, sondern Ausnahme- und Sondersituationen, die eine spezielle Anstrengung und speziellen Aufwand erfordern.
  3. Betrachtet man die Realität in den gesellschaftlichen Einrichtungen (und auch darüber hinaus in den Firmen), dann finden wir dort überwiegend eingefahrene Abläufe, fixierte Rollen, wenig Bereitschaft für Neues oder Experimente. In Firmen speziell oft beständig hohen Leistungsdruck durch den Markt, die Kunden, die Konkurrenz. Ich habe immer noch die Worte eines Vorstands von einem großen deutschen IT-Konzern im Ohr, der mir bei einem Gespräch über mögliche Forschungskooperationen sagte, dass er immer nur in 3-Monats-Zyklen denken kann, maximal 1 Jahr. Längerfristige Forschung, selbst wenn sie vielversprechend ist, kann er sich nicht leisten. Im Kontrast dazu sehe ich, wie unsere Studierende mit ihren Masterthesen in den letzten zwei Jahren sehr oft Produktionssteigerungen von vielen 100% bewirken konnten, nur weil sie von außerhalb kamen, neue Ideen mitbrachten, und die eingefahrenen Abläufe aufsprengten. Alle wurden sofort übernommen; in anderen Fällen hatten Sie zwar ebenfalls tolle Arbeiten gemacht, aber die Firma selbst (z.B. ein global agierender Energiekonzern) hatte sich durch schlechtes Management selbst so ins Abseits manövriert, dass es überall Stellenstreichungen gab. Wieder andere haben in einem in Deutschland gesellschaftlich vernachlässigten Bereich (autistische Kinder und Jugendliche) Konzepte für neue technische Assistenzsysteme entwickelt, um den Kindern und Jugendlichen in ihren Lernprozessen zu helfen, für die sich sonst nirgends Unterstützung fand. Zwei davon promovieren jetzt um ihre Arbeiten fortsetzen zu können. Und in Behörden, in wichtigen Behörden, in Behörden großer Städte, finden sich – neben bewundernswertem Engagement – nicht wenige Abteilungen, wo Nichtstun Standard ist, wo Kriege zwischen Abteilungen irgendwie normal sind, wo Mitglieder eines Schulamtes Außenstehenden sagen ‚Wir diskutieren nicht‘.
  4. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Was ich damit sagen möchte ist, dass wir uns vor einer unkritischen Heiligsprechung der Zivilgesellschaft hüten sollten. Die umgebende Gesellschaft ist weder besonders schlecht noch besonders gut; sie ist normal. Normal heißt hier, dass menschliche Grenzen, Trägheiten, Ängste, Eitelkeiten usw. normal sind. Und diese Gesellschaft, unsere Gesellschaft, bedarf dringend und immer einer jungen Generation, die mit Schwung, Mut, Kreativität in diese verkrusteten Strukturen einbricht und Neues möglich macht. Ohne eine solche dynamische junge Generation verspielen wir ernsthaft die Zukunft.
  5. Wenn man diese Sicht akzeptiert (was eher nicht selbstverständlich ist), dann darf man die Studierenden nicht wie die Lämmer betrachten, die man zur Schlachtbank der Zivilgesellschaft führt. Auf keinen Fall. Wir müssen ernsthaft anfangen, in der jungen Generation das größte Potential, den größten Schatz zu sehen, den wir als Gesellschaft haben. Wir müssen anfangen, in diese Generation zu vertrauen, ernsthaft und konkret! Wir müssen Wissen nicht als Selbstzweck sehen, sondern als ein Medium, das zu noch besserem Wissen und besserem Handeln hinführen kann. Dies kann letztlich nur so geschehen, dass die Studierenden lernen, die verschiedenen Aufgaben in eigener Regie anzugehen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen, ihre eigenen Entdeckungen zu machen, ihre Neugierde real ausprobieren können, usw.
  6. Der krasse Fall, dass Lehrende stundenlang auf Studierende einreden und später in der Prüfung verlangen, dass sie dies dann 1-zu-1 wiedergeben gespickt mit unterschwelligen Behinderungen, dass sie es ja auf keinen Fall leicht haben, ist leider noch viel zu weit verbreitet, als dass man ihn nicht erwähnen sollte. Studierende, die diesem Format ausgeliefert sind, lernen kaum und keinesfalls nachhaltig. Auf keinen Fall werden sie sich auf diese Weise zu motivierten, verantwortungsvollen, kreativen Problemlösern der Zukunft entwickeln.
  7. Das Gegenteil gibt es, aber noch viel zu wenig. Ich habe in den letzten Jahren (zusammen mit zwei anderen KollegenInnen) u.a. 39 interdisziplinäre Projekte mit Bachelor-Studierenden aus allen Studiengängen der Hochschule erleben dürfen, wo diese in eigener Regie interessante Probleme der Gesellschaft identifiziert haben, diese in eigener Regie auf vielfache Weise analysiert und aufbereitet haben; wo sie in eigener Regie mit unterschiedlichen Einrichtungen, Behörden und Firmen kommuniziert und verhandelt haben, wo sie Experimente außerhalb der Hochschule durchgeführt haben und wo sie dann diese Ergebnisse öffentlich in vielfältigen Formen (Berichte, Filme, Theaterstücke, Talkshows, Spiele usw.) präsentiert haben. Zugleich haben sie gelernt, mit anderen, zunächst fremden Studierenden aus anderen Fachbereichen, zusammen zu arbeiten und Probleme zu lösen. Keiner der beteiligten Professoren hätten ihnen all dies vermitteln können. Die Professoren schufen einen Raum, sie schenkten Vertrauen, sie gaben gelegentlich auf Rückfragen Feedback, und haben selbst jedes mal eine Menge gelernt.
  8. Wo sollen aber Professoren herkommen, die Studierenden Vertrauen schenken, wenn die Gesellschaft schon ihre junge Generation nur als Verfügungsmasse für aktuelle Defizite betrachtet? Wo sollen solche Professoren herkommen, wenn ihnen heute schon bei der Einstellung gesagt wird, sie müssen auf jeden Fall viel Geld einwerben, da sie ansonsten keine gute Professoren sind?
  9. Es gibt hier viele offene Fragen. Ich konnte auch nur einige der vielen Aspekte ansprechen, die hier anzusprechen wären. Es ist bedauerlich, dass die Hochschulen selbst, ja, dass nicht einmal die Professoren selbst, genau über diese Fragen kaum diskutieren. Die Leistungsanforderungen sind im Alltag (entgegen dem Klischee außerhalb der Hochschulen, dass Professoren ja soviel Zeit haben) permanent so hoch, dass selbst ein normales Gespräch zwischen nur zwei Kollegen eine organisatorische Herausforderung darstellt. Böse Zungen und Verschwörungstheoretiker würden jetzt sofort vermuten, dass dies System habe; dass die Politik auf diese Weise kritische Stimmen mundtot machen möchte, um die Hochschulen von kritisch-kreativen Orten in dumpfe Ausführungsorgane der Politik zu verwandeln. Bewusst sicher nicht.

Einen Überblick über alle Beiträge des Autors cagent in diesem Blog nach Titeln findet sich HIER.

PARISATTENTAT – PANZERPOLITIKER – KULTURREVOLUTION. Impressionen von einem nicht ganz gewöhnlichen Sonntag

  1. Die folgenden Notizen sind das Echo auf einen nicht ganz normalen Sonntag mit intensiven Gesprächen mit FreundenInnen, mit Fernsehberichten, Abhängen und dem Abschluss einer Buchlektüre.

PARISATTENTATE

  1. Am Freitag den 13.November 2015 hat eine Gruppe junger Männer mit ihren Gewaltaktionen eine Blutspur erzeugt, die Angst, Entsetzen, und Horror unter den Menschen verbreitet hat.
  2. Wie sich jetzt herausschält, sind mindestens vier davon Franzosen. Einer ist noch flüchtig, und der Rest noch unbestimmt. Von einem wurde ein Pass gefunden, der ihn angeblich als Flüchtling ausweist. Experten deuten aber an, dass es sich hier um eine bewusste Fälschung handeln könnte, um Gastländer und Flüchtlinge zu entzweien.

HINTERGRÜNDE

  1. Von den identifizierten Tätern weiß man, dass sie allesamt Franzosen sind mit Aufenthalten in einem seit langem bekannten sozialen Spannungsgebiet in der Region Brüssel, Moolenbeek. Moolenbeek gilt seit vielen Jahren als Sammelbecken für radikale Islamisten; die Polizei hat hier seit langem kapituliert, weil die Politik Nichtstun verordnet hat.
  2. Ebenso wie in Frankreich, wo es viele soziale Brennpunkte mit vielen tausend jungen Leuten aus Flüchtlingsbewegungen gibt, die kaum Schulbildung haben, keine Arbeit, gesellschaftlich abgehängt sind, so ist auch Moolenbeek z.T. bevölkert von Menschen – so scheint es –, die nicht wirklich integriert sind, und die ihre Identität aus ihrer Spielart von Islam ziehen, der ein starkes Hassmoment gegen die westliche Kultur enthält (das Konzept der freien westlichen Gesellschaften wird von vielen radikalen Islamisten interpretiert als direkter Widerspruch zu ihrem Verständnis des Islam).
  3. Diese Probleme sind seit vielen Jahren sehr gut bekannt. Funktionierende Lösungen hat bislang niemand erfunden. In Teilen der Bevölkerung gibt es (rechtsnationale) Strömungen, die aus dieser sozialen und kulturellen Disfunktionalität Kapital für Ressentiments zu schlagen versuchen. Dies funktioniert umso besser, als es vielen anderen Franzosen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation auch nicht gut geht. Die aktuelle Regierung kann bislang wenig (oder gar keine?) Erfolge vorweisen. Der Wahlkampf ist schon im Gange. wetterwendisch, wie viele Politiker leider sind, versuchen Sie sich jetzt auch einen rechtsradikalen-nationalen Touch zu geben, um sich diese irrationale Stimmung zu nutze zu machen (wobei die Regierung mit verantwortlich ist sowohl für das Nichtstun im sozialen Bereich wie auch für die schlechte wirtschaftliche Situation; man kann es auch Unfähigkeit nennen).
  4. Jetzt passiert ein Attentat, das unmenschlich und grausam unverstellt Hass sichtbar werde lässt, Hass einer jungen Generation, die in einem Land lebt, das nicht ihr eigenes geworden ist. Hass, der sich Anleihen genommen hat bei einer radikal-islamischen Bewegung genannt ‚Islamischer Staat‘, der aus den Trümmern des verunglückten US-amerikanischen Irakkriegs hervorgegangen ist. Diese Bewegung stellt – verglichen mit der überwältigenden islamischen Kultur von 700 – 1400 – nur ein Zerrbild des Islams dar, eine rudimentäre Form, die alle tötet, vergewaltigt, foltert, die nicht IS sind, auch solche, die Muslime sind, die sich ihnen aber nicht unterwerfen wollen.

RADIKALISIERTER ISLAM

  1. Ein wichtiges Motivationselement des IS ist der Hass auf alles andere, natürlich und besonders auch auf alles Westliche. Das Konzept einer aus Aufklärung, Wissenschaft, Menschenrechte, Demokratie hervor gegangenen westlichen Gesellschaft ist für IS-Mitglieder reines Gift, da es ihre eigenen Werte im Kern ablehnt und verurteilt. Der Islam als solcher ist – betrachtet man seine Blütezeit – nicht notwendigerweise ein Gegensatz zur westlichen Moderne (viele Kernelemente der westlichen Moderne gibt es nur, weil die islamische Kultur sie gegen die Barbarei der westlichen Papstkirche über Jahrhunderte gerettet hatte!), aber der Islam in der Spielart von IS hat alles aus sich selbst ausgeschieden, was auch nur den leisesten Ansatz zu einer Menschen- und Weltoffenheit liefern könnte.
  2. Der IS steht damit nicht alleine. Radikale Formen des Islam gab es schon immer, und sie finden sich in allen großen islamischen Strömungen (wie übrigens auch analog innerhalb des Hinduismus, des Judentums, des Christentums und des Buddhismus!) wie den Schiiten (Anhänger der Schia) und den Sunniten, insbesondere in Gestalt des Wahabisus. Gegenüber der goldenen Zeit des Islam stellen sie alle Vereinfachungen dar, sind im Kern wissenschaftsfeindlich, sind Radikalisierungen, sind ausgrenzend, abgrenzend, bei gleichzeitigem Totalanspruch an ihre Mitglieder.

INTEGRATION – JA, ABER

  1. Wenn jetzt zehntausende von jungen Menschen in einem Land wie Frankreich sozial nicht integriert werden und sie zugleich in geistiger Verbindung zu solchen radikal-islamischen Weltanschauungen stehen, deren simples Weltmodell sowohl direkt ‚Bruderschaft‘ verheißt wie auch eine einfache Logik für ihren Hass liefert, dann folgt daraus zwar nicht automatisch ein menschenverachtender Terror, aber die Tendenz dahin wird doch massiv unterstützt. Die Tatsache, dass allein aus Frankreich viele tausend junge Franzosen sich freiwillig dem IS angeschlossen haben, dort sogar als Selbstmordattentäter bekannt geworden sind, zeigt, dass das Konzept funktioniert. Das französische Lebensmodell hat sie nicht überzeugt. Hat die Politik versagt oder hat jeder Staat heute seine obligatorische Verliererquote, die im Fall von Frankreich (und Belgien, und England, und Spanien, und Deutschland, und …) nur so tragisch endet, weil ein IS die Verlierer psychisch zu Terroristen umprogrammieren kann?
  2. Die martialischen Worte des Staatspräsidenten als Reaktion auf die Attentate, die Ausrufung des Notstands, das Paktieren mit allen Rechten, die Ausrufung des Krieges gegen den IS (der ja schon längst stattfindet), dies alles wirkt nicht nur hilflos und kopflos, sondern erscheint sogar gefährlich. Das tatsächliche Problem IN Frankreich, die Existenz einer verunglückten Generation, der starke Einfluss einer spezifischen Weltanschauung, wird weder durch diese Worte noch durch diese Taten auch nur ansatzweise adressiert. Es erscheint eher als ein kopfloses, sinnloses um sich Schlagen mit Luftraketen, die die Verursacher nur jubeln lassen kann: der dumme Westen, er lässt sich ärgern, er zeigt Emotionen, er schränkt genau die Freiheiten ein, die dem IS ein Dorn im Auge sind; und die Flüchtlinge, die vor genau dem IS-Terror fliehen, werden jetzt auch noch verdächtigt (Söder, diese politische Lichtgestalt, hat vornweg – als noch gar nichts wirklich klar war – sofort erklärt, jetzt müsse man den Flüchtlingsstrom wegen potentieller Bedrohung, erst recht stoppen). Bomben auf den IS schüren die Emotionen unter der verlorenen Generation IN Frankreich weiter; noch mehr werden sich dem IS anschließen, noch mehr werden Attentate in Frankreich ausüben, und in der kopflosen politischen Reaktionen wird die freie Gesellschaft in Frankreich weiter gedrosselt, werden die rechten Ressentiments geschürt, die im Endeffekt einem IS näher sind als einer modernen Demokratie. Gut gemacht Hollande!

INTEGRATION MODELL DE

  1. Als in Deutschland die Flüchtlingszahlen sprunghaft anstiegen und die Kanzlerin spontan ausrief: Das schaffen wir, blitzte für einen Moment ein großes Deutsches Herz auf, alle waren begeistert, weil die Mehrheit der Deutschen tatsächlich so ist. Man ist sich bewusst, dass wir als Deutschland nicht isoliert leben, sondern vielfältig verflochten sind: wirtschaftlich, ethnisch, kulturell, wissenschaftlich. Für sich alleine könnte Deutschland überhaupt nicht mehr existieren (wozu auch, welchen Sinn sollte dies machen?). Aber schon in kurzer Zeit wurde dann klar, dass der Zustrom ein Ausmaß annahm, das real immer weniger zu bewältigen war, jedenfalls nicht ohne erhebliche Belastungen und Einschränkungen der eigenen Bevölkerung. Dazu kam, dass die Deutsche Regierung in den Jahren zuvor die Hilferufe der Italiener und Griechen geflissentlich überhört hatte, dass Europa die vielen Millionen Flüchtlinge an den Grenzen Syriens nicht (!) unterstützt hatte (die waren ja weit weg), dass die EU seit Jahren mit ihrer Wirtschaftspolitik in vielen Ländern Afrikas die einheimische Industrie und Landwirtschaft derart zerstört hat, dass ganze Landstriche verarmt sind, und ihr Heil nur noch in einer Flucht nach Europa sahen, und schließlich, dass Merkel mit ihrem spontanen Ausruf nicht nur geltendes EU-Recht schlicht außer Kraft gesetzt hat ohne die anderen zu fragen, ob sie mitmachen. Natürlich erscheint die Reaktion vieler östlicher EU-Staaten dann ‚primitiv‘, die Flüchtlingsfrage dann einfach an Merkel und Deutschland zurück zu spielen (denn die Flüchtlingsfrage als solche ist ja unabhängig von Deutschland), aber es zeigt einen eher erschreckend unfähigen Politikstil in Europa.
  2. War das Bild von der europäischen Wertegemeinschaft schon die letzten Jahre durch die diversen Finanzkrisen, speziell auch im Fall Griechenlands, als eigentlich nicht vorhanden demaskiert worden, zeigt die Uneinigkeit im Umfeld der Flüchtlingsproblematik tiefe Diskrepanzen auf. Wo sind die gemeinsamen Werte? Worin bestehen sie? Warum lohnt es sich, Europäer zu sein?
  3. Von deutschen Kindergärten wird berichtet, dass die Zahlen an Kindern aus anderen Kulturen stark angestiegen sind, oft die Mehrheit bilden, und dass es die Eltern dieser Kinder sind, die Abgrenzung und Unfrieden in die Kinder hineintragen: mit dem darfst Du auf keinen Fall spielen; das sind ganz Schlimme; das darfst Du auf keinen Fall essen….. Die Erzieherinnen fühlen sich überfordert; die neuen Eltern sprechen meist nicht genügend Deutsch; bis zu fünf verschiedene Mahlzeiten müssen gekocht werden, um der Vielfalt gerecht zu werden …. Von immer mehr jungen Erzieherinnen hört man, dass sie sich angesichts dieser schwer zu handhabenden Alltagsrealität von der Politik allein gelassen fühlen und sich rechtem Gedankengut zuwenden (wenn man erlebt, wie die Bundesvorsitzende der Grünen, Simone Peter in einer Talkshow auf die konkreten Erfahrungen eines Bürgermeisters letztlich immer nur Durchhalteparolen anzubieten hatte ohne wirklich konkreten Bezug, dann kann man zumindest nachvollziehen, warum überlastete Erzieherinnen kein wirkliches Zutrauen zu dieser Art von Parolen-Politik finden können).
  4. Ähnliches berichtete der Schulleiter einer großen Gesamtschule, die für ihre hervorragende, auch soziale, Arbeit bekannt ist. Mittlerweile muss die Schulordnung neben Deutsch auch in Englisch und Arabisch vorliegen, weil die Eltern sie sonst nicht verstehen. Auch hier ist analog zu beobachten, wie es die Eltern der Kinder sind, die Animositäten, Feindschaften zwischen unterschiedlichen Volksgruppen über ihre Kinder in die Schule hineintragen. Nicht in Gegenwart von Lehrern, aber in der übrigen Zeit. Alle konstatieren eine deutliche Verschlechterung des Schulklimas. Mögliche Sanktionen gegen solche Einflüsse stehen der Schule nicht zur Verfügung; notwendige Kommunikation kann mangels Fachkräften und Sprachkenntnissen offensichtlich nicht genügend stattfinden.
  5. Dies führt zum Faktor Zeit: aus der Psychologie und aus der Geschichte wissen wir, dass Assimilationsprozesse (ein anderes Wort für Integrationsprozesse) Zeit brauchen, sehr viel Zeit. Und auch viel Zeit garantiert gar nichts (man betrachte nur das Problem des Rassismus in den USA und Brasilien; offiziell gibt es dies nicht, faktisch, im Alltag, aber auf Schritt und Tritt; oder man betrachte das Thema Mann – Frau; bis heute nur in wenigen Ländern dieser Welt ansatzweise gelöst; oder das Problem der verschiedenen Religionen, die ja immerhin schon über 1300 Jahre koexistieren, usw.) In der Theorie geht alles, im Wunschdenken retten wir die Welt, im konkreten Alltag mit realen Menschen und deren realen Weltbildern im Kopf geht erst einmal nur soviel, wie die realen Menschen sowieso können und wollen. Wer hier über die Köpfe anderer hinweg Formen des Zusammenlebens voraus nimmt, die es so – zumindest nicht ganz schnell – nicht geben kann, der überfordert Menschen, spielt mit dem Leben von Menschen, setzt den sozialen Frieden aufs Spiel.
  6. Damit kommen wir zum möglicherweise entscheidenden Knackpunkt unserer Gegenwart.

KOOPERATION, KOMMUNIKATION, KOMPLEXITÄT

  1. Wir haben gesehen, welch großartige Leistungen wir Menschen seit den letzten 10.000 Jahren zuwege gebracht haben: vom Jäger und Sammlerdasein zu Handwerk, Landwirtschaft, Städtebau, Rechtswesen, Sprachen, Philosophie, Mathematik, Religionen, Literatur, Theater, Musik, Architektur, Infrastrukturen, Bibliotheken, Schulen, Krankenhäusern, Technik, … immer komplexeren sozialen Formen sind entstanden. Zugleich allerdings auch immer viele Kriege, immer größere Schlachten, bis hin zu Weltkriegen von unvorstellbaren Ausmaßen.
  2. ALLE diese Leistungen sind kopfgesteuert, hängen davon ab, dass Menschen in der Lage sind, Dinge zu abstrahieren, zu erinnern, in Regeln zu fassen, nach Regeln zu handeln, mit Sprachen zu kommunizieren,Wissen aufzuschreiben und zu speichern. Wäre es möglich, all das erarbeitete Wissen der Menschheit auf einen Schlag auszulöschen, würden alle Menschen mehr oder weniger nackt wieder da stehen und wären nicht in der Lage, sich zu ernähren und miteinander in komplexen Stadtgesellschaften zu leben. In kürzester Zeit würde die gesamte menschliche Population zusammenbrechen durch Gewalt, Hunger, Krankheiten.
  3. Das, was die Menschheit zu dem macht, was sie heute ist, ist ein komplexes Netzwerk von Erfahrungen, von Wissen, von Technologien, die auf Wissen beruhen. Oder am Beispiel von Religionen: wenn sie einige überzeugte Hinduisten, Buddhisten, Juden, Christen, Muslime nebeneinander stellen, dann sind dies alles Menschen mit der gleichen biologischen Herkunft und Ausstattung. Das einzige, was sie unterscheiden kann, das ist die Art und Weise, wie sie die Welt anschauen. Die Grundstrukturen, wie Menschen die Welt wahrnehmen und verarbeiten, sind allen Menschen angeboren. Innerhalb dieser Grundstrukturen gibt es aber viele Variationsmöglichkeiten. Diese werden von den einzelnen Menschen ausgestaltet; nicht isoliert, sondern als Teil einer sozialen Gemeinschaft, d.h. der normale Mensch übernimmt erst mal, was seine Umgebung ihm vorlebt. Würden alle Menschen als Hinduisten aufwachsen, wären sie erst einmal im Denken ‚gleichgeschaltet‘, ebenso als Juden oder Christen oder Muslime. Würde ein so aufgewachsener Muslim auf einen Hinduisten treffen, hätten sie ein grundlegendes Problem, desgleichen ein Jude mit einem Christ, ein Buddhist mit einem Hinduisten, usw. Aus der Geschichte kennen wir genügend Beispiele, wie solche Situationen zu Verteuflungen, Verfolgungen, Unterdrückungen Mord und Totschlag geführt haben. Gleichzeitig zeigt die Geschichte, dass es aber Menschen gab, die ihre eigene Überzeugung kritisch hinterfragen konnten, die sich der Relativität ihrer aktuellen Position bewusst wurden, und die dann über die eigene Anschauung hinaus mit Menschen anderer Anschauung sprechen konnten, gesprochen haben, und voneinander sehr viel gelernt haben. Alle großen Kulturen Europas waren von dieser Art: Toleranz gegenüber speziellen Weltsichten innerhalb eines größeren sozialen Gebildes (das römische Reich, das islamische Reich, die EU) war immer ein Erkennungszeichen für blühende Staatswesen.
  4. Dies ist heute nicht anders: alle ca. 7 Milliarden Menschen sind grundsätzlich gleich, gleich fähig. Dass sie als Kinder unterschiedliche Sprachen lernen, in unterschiedlichen kulturellen Regelsystemen aufwachsen, ist eher Zufall. Zugleich zeigt diese Vielfalt, wie anpassungsfähig und flexibel Menschen sein können, aber nicht beliebig. Menschen brauchen viele Jahre bis sie die jeweilige Kultur vollständig gelernt haben. Umlernen in eine andere Kultur geht grundsätzlich, aber nur mit viel Anstrengung und ebenfalls vielen Jahren Dauer. Außerdem gibt es Kulturen, die von sich her eher aufgeschlossen sind und Lernen erleichtern im Gegensatz zu Kulturen, die abgeschlossen wirken, statisch, wenig lernförderlich. Nicht wenige sehen daher heute eine Art Weltkrise, da die anwachsende Zahl der Menschen mit ihrer Vielfalt für viele bedrohlich wirkt. Immer wieder fallen ganze Gruppen dann zurück in eine Art Regression zum scheinbar Einfachen, Natürlichen, Reinen, …

HOLOBIONTEN

  1. An dieser Stelle kann es vielleicht helfen, sich bewusst zu machen, dass die Natur, und innerhalb der Natur ganz besonders der homo sapiens, also wir, eine ganz andere Geschichte erzählen!
  2. Wie die Biologie seit etwa 15 Jahren gelernt hat, gibt es nicht nur generell die Idee der Evolution von einfachen Zellen zu immer komplexeren Zellverbänden über die Gene mitsamt einer Epigenetik, sondern schon von Anfang an seit 4 Milliarden Jahren gibt es eine immer komplexer werdende Kooperation von jeder Zelle mit jeder Zelle, was zum Begriff des Holobionten führt.
  3. Wie ich in einem vorausgehenden Blogeintrag beschrieben habe, bildet jeder einzelne Mensch eine Lebensform, die in der Kooperation von ca.37 Billionen (= 10^12) einzelnen Körperzellen besteht, dazu IN unserem Körper nochmals ca. 100 Milliarden (=10^9) Bakterien, und auf unserer Haut ca. 220 Milliarden Bakterien. Die Viren sind dabei noch nicht berücksichtigt. Das ist die unvorstellbare Zahl von 814*10^43 einzelnen Elementen, die alle einerseits selbständig agieren, andererseits kooperieren. Jede einzelne Pflanze, jedes Insekt, jeder Vogel, jedes andere Tier, alle Lebewesen sind so organisiert. Ohne die Bakterien und Viren würde jedes Lebewesen auf der Stelle sterben, weil die Bakterien komplexe chemische Prozesse beisteuern, ohne die der jeweilige Organismus nicht existieren könnte. Das Gleiche gilt für die Kooperation der Zellen im Körper untereinander. Dass also das Leben auf der Erde es aus dem Meer auf das Land geschafft hat, dass es überhaupt auch im Meer überlebt hat, ca 300 Millionen Jahre Vereisung der Erde, und vieles mehr, liegt nur daran, dass im Laufe von 4 Milliarden Jahren die einzelnen Zellen gelernt haben, immer mehr, immer vielfältiger, immer komplexer zu kooperieren. Kooperation und Kommunikation sind die Zauberworte de Lebens.
  4. Betrachtet man sich die aktuelle Weltsituation ist klar, dass eine weitere gemeinsame Zukunft nur über noch mehr Kooperation und Kommunikation gelingen kann. Alle Weltanschauungen, die von Aus- und Abgrenzung zu leben scheinen, von Wissensfeindlichkeit, erscheinen hier wie Bremsklötze des Lebens. Einen Automatismus zum Besseren gibt es aber wohl nicht.
  5. Klar dürfte nur sein, dass eine Panzerpolitik dort fehl am Platze ist, wo es um Anschauungen in den köpfen geht. Nicht mehr Panzer sind gefragt, sondern mehr Lehrer, mehr Diskussion, mehr Kommunikation, mehr Aufklärung, mehr Wissen um das, was das Leben im Innersten zusammenhält und ermöglicht. Der Text eines Faust ist wenig hilfreich, um die Zukunft zu gestalten. Eine Kulturrevolution tut Not! Eine Kulturrevolution des mehr Wissens und mehr wechselseitigen Verstehens. Denn auch ein Industrie 4.0 wird zerstören, wenn sie nicht gesellschaftlich integriert wird. Auch hier muss in den Köpfen mehr geschehen als nur ein Denken in betriebswirtschaftichen Effizienzen. Das wäre zu einfach.

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STUNDE DER ENTSCHEIDUNG – Ist irgendwie immer, aber manchmal mehr als sonst

PARIS IST ES NICHT

  1. Dass in dem Augenblick, in dem ich diese Zeilen schreibe, wenige Stunden zuvor wieder einmal Terroranschläge in Paris stattgefunden haben, die vielfach dem sogenannten Islamischen Staat zugerechnet werden (klare Informationen habe ich noch keine), ist eher Zufall. Dennoch gibt es möglicherweise einen Zusammenhang mit dem Thema dieses Blogeintrags. Der Leser möge sein eigenes Urteil bilden.

ENTSCHEIDUNGEN IM GROSSEN

  1. Die Formulierung Stunde der Entscheidung kann pathetisch klingen, je nachdem, wo und wie man solch eine Formulierung benutzt. Meist denkt man wohl an kriegerische Auseinandersetzungen, an Kriege zwischen Völker und Nationen, wenn es für alle Beteiligten um Sein oder Nichtsein ging. Das hatte dann schon etwas von Stunde der Entscheidung.

ENTSCHEIDUNGEN GANZ KLEIN

  1. Wenn man den Blick auf solch eine Sondersituation fokussiert, dann gerät man aber in Gefahr, den Blick für das Ganze zu verlieren. Das Ganze ist der Lebensprozess auf dieser Erde. Wir Menschen – das vergessen wir gerne – sind keine losgelösten Sonderwesen, die alleine auf diesem Planeten leben, die alleine über das Schicksal des Lebens auf diesem Planeten entscheiden. Nein. Nichts falscher als dieses. Wir Menschen, jeder einzelne Menschen, JEDER!, bilden eine Lebensform, die in der Kooperation von ca.37 Billionen (= 10^12) einzelnen Zellen besteht. 37 Billionen! (zum Vergleich, man schätzt, dass die Milchstraße, unsere Heimatgalaxie, ca. 100 Milliarden (= 10^9) Sonnen umfasst). Und das ist noch nicht alles. Man schätzt, dass IN unserem Körper nochmals ca. 100 Milliarden (=10^9) Bakterien leben, und auf unserer Haut ca. 220 Milliarden. Diese alle zusammen bilden eine Lebensgemeinschaft, die dafür sorgt, dass wir Körperfunktionen haben, das wir uns ernähren können, dass wir denken können, dass wir in dieser Welt voller Bakterien überhaupt existenzfähig sind. Ohne diese Bakterien würden wir innerhalb von Stunden zugrunde gehen, elendig, hilflos.

(Anmerkung: Alle Informationen zu den Mikroben habe ich dem Buch von Kegel entnommen (s.u.), das ich hier im Blog auch noch ausführlich besprechen werde).

  1. Jede einzelne dieser Zellen ist so komplex, dass ein modernes Lehrbuch über die Zelle 1342 engbedruckte Seiten umfasst, und man nach der Lektüre von diesen 1342 Seiten wissen kann, dass viele wichtige Fragen – vielleicht sogar die wichtigsten? – noch unbeantwortet sind. Klar ist aber, dass jede einzelne Zelle in jedem Moment der Ort von Entscheidungen ist, von vielen Entscheidungen gleichzeitig, die alle darüber entscheiden, wird das Leben in den nächsten Minuten noch stattfinden oder nicht. Also, in jeder Sekunde, nein, in jeder Millisekunde, haben wir 37*10^12 * 100*10^19 * 220*10^9 Zellen und Bakterienorte, in denen jeweils mehr als eine Entscheidung gefällt wird, was als nächstes geschehen wird. Dort, wo diese Entscheidungen geschehen, sind sie unabhängig voneinander, aber in ihrem Effekt zeigen sie, dass sie auf wunderbare Weise aufeinander abgestimmt sind! Wenn wir sagen, dass wir gesund und leistungsfähig sind, dann sind alle diese 37*100* 220* 10^12 * 10^19 *10^9 = 814*10^43 Entscheidungsbereiche so aufeinander abgestimmt, dass wir subjektiv das Gefühl haben, alles ist OK, alles ist perfekt, alles ist gut.
  2. Zum Vergleich, ein Weltkonzern wie Siemens hatte im März 2015 ca. 342.000 Mitarbeiter, also 342 * 10^3 menschliche Entscheidungsbereiche. Wenn man sieht, wie schwer sich solch ein Weltkonzern mit einer Komplexität von 10^3 Entscheidungsbereichen tut, alles miteinander gut laufen zulassen, welcher Aufwand getrieben wird, wie viel Misskommunikation stattfindet, wie viele Pannen, dann kann man – aber nur sehr schwach und dunkel – erahnen, was es bedeutet, dass jeder einzelne Mensch eine Komplexität von 10^43 aufweist; ehrlicherweise entzieht sich dies unser Vorstellungskraft. Die Menge der Gegenstände, die wir mit unserem Gehirn bewusst gleichzeitig denken können, liegt in der Größenordnung von 4-9 Auch bei einem Nobelpreisträger!!!
  3. Laut dem statistischen Bundesamt waren von allen Arbeitnehmern in Deutschland 2014 offiziell 9,5 Tage krank gemeldet . Bezogen auf 365 Tage im Jahr sind dies 2.6% eines Jahres. Also, unser unvorstellbares Gebilde von 814*10^43 Mikroentscheidungsbereichen unseres Körpers hat eine – bezogen auf die Arbeitsfähigkeit – Ausfallrate von 2.6%. Wenn wir bedenken, dass wir bis heute nicht in er Lage sind, auch nur eine einzige Zelle selbst komplett herzustellen (wir benutzen dafür das Knowhow der Zellen, die sich selbst reproduzieren können), geschweige denn verstehen, wie man solch komplexe Gebilde mit einer Komplexität von 814*10^43 herstellen würde (obwohl jede Zeugung eines Menschen mit Geburt und anschließendem Wachstum den Eindruck erweckt, wir sind zumindest am Geschehen beteiligt), dann erleben wir in jedem Augenblick ein Ereignis-Wunderwerk, das sich unserem wissenschaftlichen Verstehen bislang weitestgehend entzieht. Immerhin gewinnen wir immer mehr erste Einblicke, durch die wir überhaupt merken (wer merkt es wirklich?), mit welch ungeheuerlichen Sache wir es hier zu tun haben.

PLANET DER MIKROBEN

  1. Würde man jetzt anfangen zu rechnen, wie viele Zellen und Bakterien es auf der Erde gibt, mit dem Wissen, das Bakterien sich sowohl viele Kilometer tief im Boden, im Meer, unterm Meer, in der Luft über uns vorfinden (mit vielen Milliarden pro Gramm Boden), dann kann man irgendwie erahnen, dass es eine ungeheuer große Zahl sein muss. Und es gibt keine Lebensform auf der Erde, weder bei den pflanzlichen noch den tierischen, die zu ihren elementaren Funktionen nicht Bakterien benötigt, und zwar immer sehr, sehr viele. Die Erde ist in erster Linie ein Planet der Bakterien, genauer der Mikroben, da man in der heutigen Wissenschaft neben den Bakterien noch die  Archaea kennt.
  2. Alle komplexeren Lebensformen, jene, die wir mit unseren Sinnesorganen direkt wahrnehmen können, sind letztlich Konstruktionen unter Verwendung der einfachen Strukturen (Eukaryoten, Bakterien, Archaea). Selbst das Gehirn, beim Menschen der Sitz von Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Sprechen, Bildverstehen, Emotionen, Gefühlen usw. ist nah besehen nichts anderes als eine Ansammlung von ca. 100 Milliarden Gehirnzellen (plus vieler weiterer Hilfszellen), die jede für sich ist. Die einzeln Zelle weiß in gewisser Weise nichts von all den anderen. Und doch kooperieren diese Zellen im Millisekundenbereich miteinander auf eine Weise, die uns, die wir solch ein Gehirn haben, den Eindruck erwecken, als ob wir Objekte im Raum sehen mit Formen, Farben, verschiedenen Positionen, wir hören Laute, wir betasten Gegenstände, wir haben gerade mal keinen Hunger aber vielleicht Durst, … das Gehirn bietet uns einen Raum des Bewusstseins, angefüllt mit Phänomenen. Und dies leisten diese 100 Milliarden einzelne Zellen, die nichts voneinander wissen. Die Neurowissenschaften, die bislang viele wunderbare Eigenschaften über das Gehirn herausgefunden haben, können bislang aber nicht wirklich erklären, woher und wie diese 100 Milliarden Zellen + X weitere Zellen es wissen, was zu tun ist.

WIE IST DAS MÖGLICH?

  1. Wie gesagt, das was wir sind, jeder einzelne von uns, ist so ungeheuerlich, so unfassbar, dass man sich – aktuell, momentan – kaum vorzustellen vermag, wie es möglich ist, dass es uns (und all die anderen unfassbaren Lebensformen) tatsächlich gibt, so gibt, wie wir uns vorfinden.
  2. Wunderbarerweise hat die Wissenschaft seit ca. der Mitte des 19.Jh immer mehr einzelne Fakten entdeckt, gesammelt, in Beziehung gesetzt, so dass wir heute davon ausgehen müssen, dass die Geschichte dieser Mikroben vor etwa 4 Milliarden Jahren begonnen zu haben scheint. Zu Beginn gab es noch keinen Sauerstoff, der heute so allgegenwärtig erscheint und ohne den die meisten Lebensformen nicht existieren könnten. Alle ersten Lebensformen kamen ohne Sauerstoff aus; es waren di Cyanobakterien, die als erste und einzige ein Verfahren zur Fotosynthese ‚erfunden‘ haben, das als Abfallprodukt Sauerstoff freisetzt. Dies begann vor ca. -3 Milliarden bis – 2.7 Milliarden Jahren, und setzte einen Prozess in Gang, der schrittweise, das Meer und die Atmosphäre nachhaltig veränderte. Die neuen Oxidationsprozesse erzeugten massive Treibhausgase, die u.a. zur Totalvereisung der Erde (Huronische Eiszeit) führten, die mehrere hundert Millionen Jahre gedauert hat.
  3. Vor ca. -1.45 bis -1.85 Milliarden kamen dann die eukaryontischen Zellen ins Spiel, die schon auf der Basis von Sauerstoff operierten. Zwischen -0.6 Milliarden und -0.85 Milliarden finden sich dann die ersten Vielzeller. Sehr trockene Fakten für ein kosmologisches Drama der Sonderklasse. Das biologische Leben als Ganzes hat die Qualität einer kosmologischen Singularität (unter anderem gilt: es funktioniert als Entropiekonverter, für den es keine bekannten physikalischen Gesetze gibt; für deren Auftreten es keinen bekannten Grund gibt; der Vorgang besitzt eine implizite anwachsende Komplexität; er ist irreversibel).

DNA ALS INFORMATION

  1. Sind alle diese Fakten schon atemberaubend, so erleben wir in unserer Gegenwart, seit ca. 50-60 Jahren einen Prozess, der das Zeug dazu hat, zu einem weiteren Meilenstein der Evolution beitragen zu können.
  2. Bislang in den vier Milliarde Jahren Leben auf dem Planet Erde hat das Leben sich dadurch behauptet und weiter entwickelt, dass es in der Lage war, Moleküle (DNA) dazu zu benutzen, um Bauprozesse und Ablaufprozesse in Form von chemischen Verbindungen zu kodieren und wieder zu dekodieren. Diese revolutionäre Erfindung von Information im Vollsinn (zum Vergleich, der heute vielfach benutzte sogenannte Informationsbegriff von Shannon deckt nur einen Teilbereich von Information ab; Shannon selbst war sich dieses Sachverhalts voll bewusst!) war – im Nachhinein betrachtet – mit Abstand die wichtigste aller Innovationen, die das Leben auf diesem Planeten auszeichnet. Denn nur dadurch konnte Evolution überhaupt stattfinden. Was immer der Selbstreproduktionsmechanismus leistete, nur durch die Einbeziehung einer Informationsstruktur, die aktuelle ‚Anweisungen‘ speicherte, konnten sich die verschieden – weitgehend zufällig erzeugten Änderungen – in der Gesamtheit erfolgreicher Bauteine ‚erhalten‘ und damit sich zu den Bauplänen von Leben entwickeln, die wir heute vorfinden und partiell kennen.
  3. Eine Theorie der Welt, die nur die bekannten physikalischen Gesetze berücksichtigen würde, wäre angesichts der biologischen Phänomene, wesentlich unvollständig (wobei die heutige Physik ja auch in sich selbst unvollständig und widersprüchlich ist und bezogen auf bekannte empirische Phänomene wie ‚dunkler Materie‘ bzw. ‚dunkler Energie‘ nicht einmal die leiseste Idee hat, wie sie damit umgehen soll).

JENSEITS DER DNA

  1. Nimmt man die biologischen Phänomene ernst, nimmt man diesen Selbstreproduktionsmechanismus mit dem vollen Informationsmechanismus im Kern ernst, dann erleben wir mit dem Auftreten von Gehirnen generell und mit dem Auftreten spezieller Technologien seit dem letzten Jahrhundert etwas Besonderes.
  2. Mit dem Auftreten der Gehirne, speziell dem Gehirn des homo sapiens (dazu werden wir gezählt), kommt eine neue Qualität ins Spiel. Während die in der DNA kodierte Information im Prinzip ‚fest‘ ist (obgleich wir heute gelernt haben, dass es ’nicht ganz fest‘ ist, Stichwort Epigenetik), können Gehirne ad hoc lernen, speziell können sie von der Wirklichkeit abstrahieren und in Echtzeit Modelle/ Theorien über mögliche Strukturen und Zusammenhänge der Wirklichkeit bauen. Insbesondere können sie mittlerweile auch die Gehirne selbst bzw. die DNA aller Lebewesen untersuchen, modellieren, simulieren, verändern, und experimentell die Veränderungen ausprobieren. Die aktuellen Lebensformen (und hier wieder speziell und ausschließlich der homo sapiens) können also erstmalig nach vier Milliarden Jahren den bisherigen DNA-gesteuerten Evolutionsprozess erweitern zu einem DNA-Gehirn-Computer-gesteuerten Evolutionsprozess, der die Entwicklung begrenzt beschleunigen kann.

EVOLUTIONSSPRUNG?

  1. Dies ist klar ein strukturelles Ereignis im Evolutionsprozess, das markant ist. Neben der Erfindung der DNA als generischem Informationsträger (vor mehr als 4 Milliarden Jahren) und dem Gehirn als erweiterter adaptiver Meta-Informationsstruktur (seit etwa -0.6 Milliarden Jahren) findet diese Rückanwendung von Gehirnerkenntnissen auf die Trägerstrukturen erst jetzt langsam in der Gegenwart statt (vor ca. 0 Jahren). Wenn man will, kann man darin eine Form von Beschleunigung erkennen.
  2. Was sich jetzt aber anzudeuten beginnt, ist ein Problem, das bislang eher verdeckt war, nun aber nicht mehr weiter unter der Decke gehalten werden kann: die Frage nach dem Wohin!

WOHIN?

  1. Solange das biologische Leben nur mit der DNA als steuernder Information gearbeitet hat, gab es zwei Komponenten: (i) Der Mechanismus des Kopierens und (zufälligen) Variierens im Bereich der informatorischen Kombinationsmöglichkeiten und der physikalisch-chemischen Realisierung; (ii) das Referenzsystem Erde, das nur solche ‚Entwicklungen‘ hat überleben lassen, die zu den jeweils aktuellen Lebensbedingungen der Erde (die sich im Laufe der vier Milliarden Jahre z.T. dramatisch geändert hatten) gepasst haben. D.h. alles, was sich bis heute entwickeln konnte, basiert auf den Erfolgen der Vergangenheit unter den Bedingungen der konkreten Erde.
  2. Im Rahmen unseres neuen Erkennens und Verstehens kann man sich aber – zumindest symbolisch-theoretisch – von den gesetzten Bedingungen der Erde frei machen, und die generelle Frage stellen, was das Ganze überhaupt soll? Geht es nur um Optimierung von Energiegewinnung und -nutzung? Geht es nur um immer bessere Kooperation und Koordinierung und damit um immer mehr Komplexität? Geht es nur um ein Leben auf der Erde (bis zur Ausdehnung der Sonne und dem Anstieg der Temperaturen haben wir ca. 1 Milliarde Jahre noch Zeit) oder auch um weitere Räume? Kann es nicht sogar noch ganz andere Lebensformen geben, auch für uns homo sapiens, für alle Zellen?
  3. Viele neue interessante radikale Fragen, die sich jetzt mit neuer Realität, mit neuer Wucht stellen. Fragen, die uns alle betreffen.

WER KANN ANTWORTEN?

  1. Schaut man sich dann Tagesereignisse an, dann erleben wir hier eine bizarre Ungleichzeitigkeit: auf der einen Seite steuert die Evolution durch die Erfolge des homo sapiens real auf einen neuen qualitativen Evolutionssprung zu, auf der anderen Seite erleben wir, wie in vielen Ländern dieser Welt ein Denken neue Macht gewinnt, das weder von der modernen Wissenschaft noch von den kulturellen Entwicklungen der letzten 10.000 Jahren Kenntnis zu haben scheint.
  2. Wenn Mitglieder des IS von sich behaupten, dass sie Muslime sind, dann muss man ernsthaft fragen, was sie überhaupt vom Islam wissen? Mag sein, dass sie Verse aus dem Koran zitieren können (das können heute schon die meisten Roboter), aber daraus folgt nicht, dass sie irgendetwas von dem Islam verstanden haben. Nicht nur hatte der Koran selbst, was man wissen kann, eine eigene dynamische Entstehungsgeschichte, in die unterschiedliche Überlieferungen und Interpretationen mit eingeflossen sind, sondern die Geschichte des Islams ist bunt, reich, vielschichtig und hatte Gesamteuropa in der Zeit 700 – 1400 eine Blütezeit geschenkt, die mit zu dem Größten zählt, was die europäische Kultur damals hervorgebracht hatte. Nicht nur lebte der Islam damals mit allen Religionen friedlich zusammen, sondern der Islam war u.a. die treibende Kraft in den Wissenschaften, und zwar auf allen Gebieten. Die größten Philosophen, Theologen und Wissenschaftler jener Zeit waren Muslime, und es gab für einen Muslim keine größere Ehre, als das Wissen der ganzen Welt zu sammeln, Übersetzungen anfertigen zu lassen, Bibliotheken für alle einzurichten, Schulen für alle, Krankenhäuser, medizinische Forschung und vieles mehr. Zur gleichen Zeit boten die westlichen christlichen Ländern ein Bild des Jammerns, wissenschaftsfeindlich, kein Sinn für das Gemeinwohl, keine Schulen, keine Bibliotheken usw.
  3. So, wie es auch im Christentum zu allen Zeiten unterschiedliche Strömungen gab, und sich nicht unbedingt die durchgesetzt haben, die am meisten christlich waren, so gab und gibt es auch im Islam unterschiedliche Strömungen. Eine sehr starke Strömungen heute, der Wahabismus, nimmt für sich (wie es jede Sekte tut), in Anspruch den wahren Islam zu vertreten. Aber wenn man den Koran und die Geschichte des Islams ernst nimmt, gibt es wenig Grund, warum man diesen Anspruch ernst nehmen sollte, außer, dass Wahabiten alle umbringen, die ihren Anspruch nicht akzeptieren. Eine solche Einstellungen widerspricht allen elementaren Erkenntnissen über den Menschen, über die Welt und widerspricht – soweit ich sehe – den meisten großen islamischen Philosophen und Theologen.
  4. Bedenkt man aber, wie wenig Christen einer Papstkirche widersprechen, wie wenig Juden den orthodoxen Juden in Israel widersprechen, dann sollte es uns auch nicht wundern, dass so wenig Muslime sich gegen den Wahabismus erheben. Eine Religion hat nur drei Wahrheitsquellen: die direkte Begegnung mit Gott, die Liebe zum Leben und die Wissenschaft. Wer eines davon ausschließt (und die Wahabiten schließen – so wie sie sich darstellen – alle drei Quellen aus) kann schwerlich zu einer lebendigen Religion finden, die das Leben von innen heraus liebt und fördert.
  5. Zurück zur Wertefrage: Wohin überhaupt? Die Wissenschaft ist heute an den Punkt gekommen, wo sich mehr und mehr die Wertefrage radikal stellen muss. Die Wissenschaft als solche ist aber nicht auf Ethik und Philosophie oder noch weitergehende Fragen eingestellt. Sie macht ihren Job als Sachklärerin, das macht sie bislang leidlich gut, aber mehr ist nicht drin. Was aber nun? Wenn kann man fragen?
  6. Wir alle sind gefragt.

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QUELLEN

Bernhard Kegel, Die Herrscher der Welt. Wie Mikroben unseer Leben bestimmten, Köln: DuMont, 2015

EINLADUNG ZUR NÄCHSTEN philosophieWerkstatt v3.0 am So 8.Nov. 2015, 16:00h – WISSEN, WISSENSCHAFT und OFFENBARUNGSRELIGIONEN (Judentum, Christentum, Islam) – ANNÄHERUNG AN EIN TRAUMA

Logo philosophieWerkstatt v.30
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EINLADUNG ZUR NÄCHSTEN

philosophieWerkstatt v3.0

am

Sonntag, 8.Nov.2015

16:00 – 19:00h

in der
DENKBAR Frankfurt
Spohrstrasse 46a

Essen und Trinken wird angeboten von Michas Essen & Trinken. Parken ist im Umfeld schwierig; evtl. in der Rat-Beil-Strasse (entlang der Friedhofsmauer).

Anliegen der Philosophiewerkstatt ist es, ein philosophisches Gespräch zu ermöglichen, in dem die Fragen der TeilnehmerInnen versuchsweise zu Begriffsnetzen verknüpft werden, die in Beziehung gesetzt werden zum allgemeinen Denkraum der Philosophie, der Wissenschaften, der Kunst und Religion. Im Hintergrund stehen die Reflexionen aus dem Blog cognitiveagent.org, das Ringen um das neue Menschen- und Weltbild.

PROGRAMMVORSCHLAG

Nach der Sommerpause ist dies die erste Veranstaltung der philosophieWerkstatt, nunmehr in der dritten Auflage. Normalerweise gibt es einen Themenvorschlag aus der letzten Sitzung. Für diese erste Sitzung war das Thema offen. Angeregt durch vielerlei Faktoren werde ich diese Sitzung mit dem Thema einleiten:

WISSEN, WISSENSCHAFT und OFFENBARUNGSRELIGIONEN (Judentum, Christentum, Islam) – ANNÄHERUNG AN EIN TRAUMA

Letzter Anstoss zu diesem Thema war möglicherweise die Lektüre des Buches von Pohlmann zur Entstehung des Korans. Grundsätzlich sehe ich im Verhältnis von Wissen und moderner Wissenschaft gegenüber den großen drei Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam eine Art Trauma vorliegen: es gibt heute beides, die Wissenschaften und das Wissen einerseits sowie die großen Offenbarungsreligionen. Aber ihr Verhältnis ist gezeichnet von tiefen Verletzungen auf Seiten der modernen Wissenschaften und durch extreme Verdrängungen auf Seiten der Offenbarungsreligionen. Der Modus der Koexistenz in europäischen Gesellschaften erscheint eher gezwungen zu sein anstatt lebendig und einer natürlichen Einstellung entspringend. Ich kenne keinen einzigen Wissenschaftler, der das Thema Religion noch für wichtig hält. Ich kenne zugleich keinen einzigen engagierten Gläubigen (Juden, Cristen, Muslime), der ein wirklich offenes und positives Verhältnis zur modernen Wissenschaft hat. Psychologisch liegen hier tiefe Verletzungen und Verunsicherungen vor, die ein wirkliches Gespräch blockieren.

In der Philosophiewerkstatt am 8.November möchte ich mich diesem europäischen Trauma ein wenig annähern, wohl wissend, dass dieses Thema so groß und vielschichtig ist, dass wir zunächst keine zu großen Erwartungen haben sollten.

Als Programmablauf wird vorgeschlagen:

1. Begrüßung
2. Kurzeinführung durch Gerd Doeben-Henisch
3. Gemeinsame Reflexion zum Thema mit begleitender Erstellung eines gemeinsamen
Begriffsnetzwerkes.
4. ‚Blubberphase‘ – jeder kann mit jedem reden, um das zuvor gesagte ‚aktiv zu verdauen‘
5. Schlussdiskussion mit Zusammenfassung der Ergebnisse

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER

KURZNOTIZ: POHLMANN – ENTSTEHUNG DES KORANS – Teil 2

Karl-Friedrich Pohlmann, Die Entstehung des Korans. Neue Erkenntnisse aus der Sicht der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, 3.komplett überarbeitete und erweiterte Aufl., 2015, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG)

 

RÜCKBLICK

 

  1. In einem vorausgehenden Beitrag hatte ich damit begonnen, die Grundaussagen des Buches von Pohlmann kurz darzustellen, ergänzt um eigene Kommentare bzw. freie Assoziationen, die sich anlässlich des Textes einstellten.
  2. Das Buch von Pohlmann ist interessant, wenn nicht gar spannend, liest man es vor dem Hintergrund, dass sich die muslimische Welt bislang eher schwer tut, den Text des Korans historisch-kritisch zu betrachten. In der Haltung des Glaubens meinen sehr viele (fast alle?), dass der Koran nur dann ein heiliges Buch sei, wenn alle Worte mehr oder weniger direkt auf Mohammed zurückgeführt werden können, der wiederum alles direkt von Gott gehört haben soll.
  3. Im Christentum war dies bis ins 18.Jahrhundert nicht anders. Dann aber, zunächst im evangelischen, dann auch im römisch-katholischen Christentum, öffnete sich das Denken zunehmend den neuen wissenschaftlichen Denkweisen der Aufklärung und der historisch-kritischen Wissenschaften und man begann die Glaubensquellen im Lichte der historischen und textlichen Tatsachen neu zu lesen und neu zu bewerten. Dies ist auf Seiten der islamischen Koranforschung bislang nicht der Fall; selbst die westliche Koranforschung folgt bislang eher der dogmatisch inspirierten Einstellung der islamischen Koranforschung. Diese das Denken einschränkende Haltung verhindert bislang u.a., dass es eine wissenschaftlich editierte kritisch-historische Textausgabe gibt. Die Funde von sehr alten Koranfragmenten in Sanaa (Jemen) wurden jedenfalls bislang offiziell nicht berücksichtigt. (vgl.SS.24-28)

 

BIBELWISSENSCHAFTLICHE METHODEN UND ERKENNTNISSE (SS.45-58)

  1. Aus der Vielzahl der Arbeiten historisch-kritischer Forschungen zum Alten Testament konzentriert sich Pohlmann auf die Prophetenbücher Jesaja, Ezechiel und Jeremia. Anders als bei den Forschungen zum Pentateuch und zu den Geschichtswerken hatte man bei den Prophetenbücher eine besonders starke Hemmung, ihre Authentizität kritisch zu hinterfragen. (vgl. S.46f)
  2. Am Beispiel der historisch-kritischen Forschungen zu diesen Büchern zeigt er auf, wie schrittweise Bearbeitungsprozesse sichtbar wurden, die letztlich alle Prophetenbücher betrafen.
  3. Es sind unterschiedliche literarische Elemente, mit denen spätere Bearbeiter Einfluss genommen haben. Pohlmann präsentiert Beispiele mit der Gestaltung der zeitlichen Rahmenvorgaben, die von den historischen Fakten abweichen bzw. sie uminterpretieren. Dann das Element der Wiederaufnahme eines Themas; in der Wiederaufnahme kann man neue Akzente setzen. Ferner die Vorschaltung eines Textes, in dem man eine Deutungsanleitung für die folgenden Texte gibt. Schließlich der Einsatz der expliziten Gottesrede, um dem Prophetenwort mehr Gewicht zu verleihen. Man kann auch mehrere redaktionelle Bearbeitungen erkennen, in denen unter jeweils veränderten Interessenlagen unterschiedliche Deutungen in die Texte eingearbeitet worden sind. Auch gibt es das Phänomen von redaktionellen Einschaltungen (Beispiel die Gebete im Jeremiah Text, die dem Prophet eine theologische Deutung in den Mund legt, die zu seiner vermuteten Entstehungszeit nicht gepasst hätte).(vgl. SS.48-55)

 

BIBELWISSENSCHAFT UND KORANFORSCHUNG

 

  1. Nach Einschätzung von Pohlmann gibt es im Bereich der islamischen (und großen Teile der westlichen) Koranforschung bislang keine wirklich konsequenten Ansätze, mögliche redaktionelle Prozesse zu ergründen. Das Dogma von der durchgehenden Inspiriertheit der Texte (trotz eingeräumter redaktioneller Endbearbeitung nach dem Tode Mohammeds) blockiert bislang ernsthafte historisch-kritische Arbeit.(vgl. SS.56-58)

 

FORMEN DER GOTTESREDE (SS.63 – 83)

 

  1. Um der Frage nach möglichen redaktionellen Prozessen im Bereich der Koranentstehung nachzugehen, geht Pohlmann verschiedenen Phänomenen nach. Eines ist das Phänomen der Gottesrede, die in unterschiedlicher Form (Er, Wir, Ich,…) auftreten kann. Die Analyse dieser Texte wird dadurch erschwert, dass neben den Menschen und Gott bisweilen auch Zwischenwesen angenommen werden, die entweder den Engeln oder dem Teufel zugerechnet werden können.
  2. Nach Analyse sehr vieler Stellen im Korantext kommt Pohlmann zum Schluss, dass es sich bei diesen Gottesreden deutlich um spätere Einschübe handelt, die unterschiedlichen Zwecken dienen. Einer ist auch, die Textautorität zu steigern (Gott gebührt mehr Autorität als einem bloßen Menschen).(vgl. S.75f)
  3. Wollte man an der Rolle Mohammeds festhalten als einziger Quelle für alle diese Texte, dann müsste man Mohammed eine Doppelrolle als ursprünglicher Verkünder und späterem reflektierenden Redakteur zuschreiben, der Strömungen, die erst nach dem Todes Mohammeds aufkamen, vorgreifend aufgegriffen habe und entsprechend seine ursprünglichen Texte abgeändert habe. Dies erscheint höchst unplausibel. Pohlmann optiert daher für die Interpretation, dass jene Kreise, die nach dem Tode Mohammeds dafür verantwortlich waren, seine Verkündigung in den stürmischen Jahren zu bewahren, versucht haben, die ursprüngliche Botschaft unter Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse und Fragen bewahrend zu gestalten.(vgl. S.83)

 

WEITERE BELEGE: DIE IBLIS/ SATAN TEXTE (SS.85-94, 95-153)

  1. Am Beispiel der Iblis/Satan-Texte führt Pohlmann weitere sehr ausführliche Untersuchungen durch und kommt zu gleichlautenden Ergebnissen. Der spätere historisch Kontext hat dazu geführt, theologische Frage aufzugreifen und zu beantworten, die in den Texten bestenfalls implizit angelegt waren. Aufgrund der aktuellen Situation wurde daher eine Antwort gesucht und konstruiert, die sich nach Meinung der jeweiligen Redakteure aus der vorliegenden Überlieferung ableiten lässt.(vgl. S.94)
  2. Alles deutet darauf hin, dass es frühes jüdisches und christliches Schrifttum war, das den Redakteuren als zusätzliche Quelle zur Verfügung stand. Der Übergang der Benennung von Iblis zu Satan ist eingebettet in die besondere Stellung Adams, der in der jüdisch-christlichen apokryphen Überlieferung durch seine Fähigkeit der Namensgebung der Tiere durch seine größere Weisheit im Vergleich zu den Engeln auffiel. Hier handelt es sich nach Pohlmann nicht um eine schlichte mündliche Tradition, sondern um fixierte Texte aus dem jüdisch-christlichen Milieu. Die Existenz jüdischer und christlicher Gruppierungen zu Mohammeds Zeit war nach  Sinai unbestritten. Angesichts dieser vielen Hinweise spricht die Koranwissenschaftlerin Neuwirth denn auch davon, dass man die Entstehung des Koran eher als einen Kommunikationsprozess verstehen sollte, bei dem aramäische bzw. syrische Christen eine wichtige Rolle gespielt haben. (vgl. S.143) Die vielen Iblis/Satan-Texte sind also zu verstehen als ergänzende und erhellende Textarrangements über einen längeren Zeitraum von mehreren Dekaden. (vgl. S.147f,152) Inhaltlich scheint es sich um die Spätphase der Korangenese zu handeln, in der viele offene theologische Fragen eine Antwort fanden. Würde man die späteren Iblis/Satan-Texte weglassen, dann wären die ursprünglichen Iblis/Satan-Texte nur schwer systematisierbar. Mit den späteren Zusätzen ist aber die Herkunft, Stellung und Bestimmung Satans für die gesamte Menschheit geklärt. (vgl. 151)

 

MOSE UND DIE KINDER ISRAELS IM KORAN (SS.153-175)

  1. Ein weiteres Thema, anhand dessen Pohlmann der redaktionellen Prozesse bei der Korangenese habhaft zu werden versucht, ist das Thema Mose und die Kinder Israels. Auch hier kommt er nach detaillierten Untersuchungen zu der Feststellung, dass man auch bei diesen Texten eine redaktionelle Tätigkeit in der Spätphase der Korangenese erkennen kann. In den verschiedenen Phasen der Textentstehung meint er u.a. eine Verschärfung der Kritik an der alleinigen Rolle Israels erkennen zu können. Die redaktionelle Intention kann man etwa wie folgt umschreiben: Der Bund Gottes bleibt zwar weiter bestehen, aber die Juden haben durch ihr Verhalten ihre einzigartige Stellung verspielt. Ab jetzt kann jeder diesem Bund beitreten, der sich an die Abmachungen mit Gott hält. Mohammed ist der neue Verkündiger dieses Bundes; wenn sich die Juden dem Islam anschließen, dann bleiben sie sich als Juden treu. Pohlmann vermutet denn auch den Kreis der Redakteure bei zum Islam konvertierten Juden zu suchen, die vorfindliche koranische Texte und jüdische Überlieferung auf literarischem Wege zu einer neuen Aussage im Koran formten. (vgl. S.172-174)

 

ROLLE UND RANG JESU IM KORAN (SS.175-193)

 

  1. Der letzte Themenkomplex, dem sich Pohlmann in seinem Buch widmet, ist die Rolle und der Rang Jesu. Durch die zunehmende Ausbreitung des Islam kam es nicht nur zu intensiven Begegnungen mit Juden, sondern auch mit Christen. Für letztere war es natürlich eine wichtige Frage, wie sich der Glaube an Jesus im Kontext des Korans einordnen lässt.
  2. Auch hier vermag Pohlmann durch detaillierte Vergleiche von Textstellen heraus zu arbeiten, dass es eine Redaktionsgeschichte gab. Während in den früheren Versionen des Koran der Person Jesu keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, änderte sich dies später. In mehreren Stufen wurden die Texte des apokryphen Protoevangeliums des Jakobus und des Lukasevangeliums benutzt. Allerdings wurden diese Texte dahingehend abgeschwächt, dass zwar eine grundlegende Bedeutung von Jesus und seiner jungfräulichen Geburt durch Maria erhalten blieb, aber eine Sonderstellung gegenüber Mohammed vermieden wurde.

 

AUSFÜHRLICHE ZUSAMMENFASSUNG (SS.197-209)

 

  1. Eine ausführliche Zusammenfassung des zuvor Berichteten findet sich dann auf den SS.197-209

 

DISKUSSION

 

  1. Hier einige (von vielen möglichen) Gedanken zum Buch von Pohlmann.
  2. In der gesamten bisherigen Koraninterpretation (wie sie von Pohlmann dargestellt wird) nimmt dieses Buch eine Sonderstellung ein, insofern es von vornherein konsequent die bisherige kanonische Interpretation mit ausschließlicher Inspiriertheit durch Mohammed zunächst einmal methodisch einklammert und sich die Texte anschaut, wie sie sich primär darbieten.
  3. Unter Anwendung von über 100 Jahren bewährten historisch-kritischen Methoden findet Pohlmann dann eine Fülle von Hinweisen, mittels deren die Unterstellung und ansatzweise Rekonstruktion von redaktionellen Prozessen im Rahmen der Korangenese möglich erscheint. Nach diesen Befunden gab es nach dem Tode Mohammeds sehr wohl kundige und gelehrte Kreise, die die Aussagen der ersten Koranversion(en) im Lichte von aktuellen Fragestellungen neu reflektiert haben und unter Einbeziehung neuer, zusätzlicher Traditionen die bisherigen Aussagen weiter entwickelt haben.
  4. Falls die Analysen von Pohlmann die Sachverhalte im Kontext der Entstehung des Korantextes angemessen beschreiben (seine Argumente lassen zunächst keine andere Deutung zu), dann öffnet sich ein Blick auf die Entstehung des Korantextes, der etwas mehr die menschlichen Prozesse hinter den historischen Phänomenen sichtbar macht. Was für die einen als ein Verlust erscheinen mag, ist für die anderen ein deutlicher Gewinn, da das Reden über Gott und die Bestimmung der Menschheit damit wieder näher an das tatsächliche Verstehen und Handeln der Menschen heranführt. Wenn die Menschen tatsächlich verantwortungsvoll mit dem geschenkten Leben, mit der geschenkten Schöpfung umgehen können sollen, dann nur, wenn sie genau diese Schöpfung und sich selbst hinreichend gut verstehen können. Andernfalls erscheinen sie wie ferngesteuerte Roboter, die nicht wirklich wissen, was sie tun, wenn sie etwas tun.
  5. Interessant ist auch die Perspektive, dass der Koran aufgrund seiner zeitlichen Stellung lange nach der jüdischen Thora und dem christlichen Alten und Neuem Testament schon eine mögliche friedliche Koexistenz zwischen dem jüdischen und dem christlichen Glauben im Koran angedacht hatte. So wie die christliche Tradition versucht hat, in ihrer Verkündigung die jüdische Tradition einzuordnen (eher durchgehend negativ, wegen der Abweisung und Verurteilung Jesu), so versucht auch die islamische Tradition das Judentum (sie haben durch ihre Verweigerung gegenüber Gott ihren Alleinvertretungsanspruch verwirkt) und das Christentum (es steht in der gemeinsamen abrahamitischen Tradition; Jesus ist bedeutsam aber hat keine Sonderrolle) zu vereinnahmen.
  6. Die Argumente sind – vom heutigen Standpunkt aus gesehen – sehr schlicht, fast naiv. Doch dies trifft auch auf die Positionierung des Christentums gegenüber den anderen Religionen wie auch auf die Positionierung des Judentums gegenüber den anderen Religionen zu. Während also die traditionellen Offenbarungsreligionen wie erstarrt seit nunmehr 2000 bzw. 1300 Jahren immer nur ihre Sonderrolle gegenüber den jeweils anderen beiden wiederholen, findet man erstaunlicherweise keine gemeinsamen – theologisch motivierte! – Bemühungen, die Gemeinsamkeiten in den drei großen Traditionen zu ergründen. Unter der Führung einer hoch entwickelten gesamteuropäischen islamischen Kultur gab es zwar in der Vergangenheit Phasen von gemeinsamer philosophischer und theologischer Praxis, die allem Anschein nach in die Richtung solch eines gemeinsamen Projektes einer universellen religiösen Kultur und Theologie ging, aber seitdem der Islam begonnen hat, sich selbst zu zerfleischen, seine eigene hochstehende Blütezeit vergessen hat und parallel die damaligen düsteren Denkwelten eines Papstchristentums Freiheit des Denkens und Wissenschaft verunmöglichten, seitdem verharren die großen Offenbarungsreligionen in einer Art Schockstarre.
  7. Wir können nur froh sein, dass sich neben und unabhängig von den großen religiösen Traditionen eine bürgerliche Gesellschaft in Europa entwickelt hatte, eine religionsfreie empirische Wissenschaft, ein Handels- und Wirtschaftsraum, neue politische Gesellschaftsformen, die einen offeneren Umgang mit Realität und Wissen begünstigt haben.
  8. Im Wechselspiel von Aufklärung und modernen Konzepten des Wissens profitierten zumindest Teile der christlichen Tradition von einem neuen, tiefer greifenden Verständnis religiöser Überlieferung, von Textkulturen, von Verstehensprozessen, von Erkenntnis, so dass Menschen heute eher einen Zugang finden können zum Wirken Gottes in seiner Welt als ohne diese Erkenntnisse.
  9. Allerdings, durch die massive Ablehnung und gar Verfolgung modernen Wissens seitens der Religionen tragen wir eine Erbe mit uns herum, das fatal erscheint. Obgleich die moderne Wissensformen auch dem religiösen Wissen entscheidende Grundlagen und Impulse geben könnten, versteht sich die moderne Wissenschaft aufgrund ihres wissenschaftlichen Freiheitskampfes bislang immer noch als Gegensatz zur Religion, als Bollwerk gegen wirklichkeitsverfremdendes religiöses Gedankengut. Nach der bisherigen Geschichte ist dies mehr als verständlich.
  10. Umgekehrt bieten die traditionellen Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, Islam) bislang immer noch mehr negative Beispiele für den Umgang mit Wissen als positive. Wenn man sieht, wie der Islam (siehe oben) sich bis heute schwer tut, ganz banal die historische Entstehung der Koran-Texte offen zu untersuchen, dann mangelt es hier ja schon an der Wurzel an Offenheit, Vertrauen und Redlichkeit im Umgang mit der gemeinsamen Welt (jüdische und christliche Fundamentalisten stehen darin dem Islam sicher kaum nach).
  11. Durch diese wechselseitige Ausgrenzung blockieren sich alle Parteien gegenseitig. Die Frage, wer ‚Recht‘ hat, scheint hier gar kein Rolle zu spielen. Zu sehr hat man den Eindruck, dass es hier um Machtpositionen geht, um Einfluss, dem alles andere (vorweg die Wahrheit) bedenkenlos geopfert wird.
  12. Während sich so die die Offenbarungsreligionen gegen die Wirklichkeit zu immunisieren scheinen und damit der Gefahr eines theologischen Atheismus sehr nahe sind (oder schon mitten drin? d.h. unter dem Vorwand, es gehe um Gott, wird gerade die Sache Gottes mit Füßen getreten?), läuft die Maschinerie der modernen Wissenschaften aufgesplittert in immer mehr Spezialdisziplinen geradezu heiß und verliert grundlegende Zusammenhänge und übergreifende Fragen aus dem Blick. Die Zahl der grundlegenden Fragen, die die moderne Wissenschaft bislang nicht gelöst hat, nimmt eher zu. In einer Situation, in der die Ergebnisse von Wissenschaft, das neue Wissen, die neue Technologien, den Menschen selbst in Frage stellen, und nach grundsätzlichen Neubewertungen verlangen, kann das Verdrängen wichtiger Aspekte unseres Daseins für Zukunftsentscheidungen existenzbedrohend sein.
  13. Während man im Kontext der modernen Wissenschaften zumindest ahnen und hoffen kann, auf ungelöste Fragen doch noch Antworten zu finden, erwecken die traditionellen Offenbarungsreligionen mit ihrer geistigen Selbstabschließung eher den Eindruck, als ob sie sich aus eigener Kraft aus dieser Erstarrung nicht mehr lösen können. Bevor diese Religionen es nicht schaffen, ihre eigene reale und historische Existenz offen und unvoreingenommen anschauen und untersuchen zulassen (sozusagen als Selbstschutz, um sich nicht selbst etwas vor zu machen), wird es kein fruchtbares Wechselverhältnis mit den modernen Wissenschaften geben können. Letzteres wäre eine minimale Voraussetzung, um Gott – so es ihn gibt – tiefer verstehen zu können. Wer im Rahmen einer Offenbarungsreligion sagt, er glaube an Gott, aber seine Schöpfung, speziell das biologische Leben und damit den Menschen, hasst und zerstört, der vollzieht einen fundamentalen Widerspruch in sich.
  14. Das Buch von Pohlmann ist ein Glücksfall, wenngleich in manchen Passagen mit einigen Längen und Wiederholungen.

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