Bernhard Kegel, (2015), Die Herrscher der Welt, Wie Mikroben unser Leben bestimmen, Köln: Dumont
1. Der Autor dieser Besprechung muss zunächst bekennen, dass er von der Materie des Buches vor der Lektüre kaum etwas gewusst hatte. Das kann gegen ihn sprechen (wie kann er dann so ein Buch besprechen), das kann aber gerade auch ein guter Maßstab sein, die kommunikative Qualität des Buches zu messen. Denn in der heutigen Welt explodierender Einzelwissenschaften ist das wechselseitige Verstehen der vielen Disziplinen durch die Spezialisierungen und Menge der neuen Publikationen eher schwierig geworden.
2. Und das muss man dem Buch gleich vorweg zugestehen: es ist gut lesbar geschrieben, es schildert nicht nur einzelne Fakten sondern stellt Zusammenhänge her; mehr noch, es bettet die Ergebnisse auch in die Schilderung der Forschungsprozesse selbst ein. Man kann buchstäblich miterleben, wie junge Forscher und Forscherinnen sich im Forschungsalltag jenseits der Banalitäten an aufregende Sachverhalte heranarbeiten, wie viele Jahre, ja Jahrzehnte notwendig sind, um einzelne Aspekte zu klären, abzusichern, verständlich zu machen. Und wen es interessiert, den führen die zahlreichen Anmerkungen zu der einschlägigen Fachliteratur.
3. Das dies alles so wunderbar ineinandergreift ist dem Umstand geschuldet, dass der Autor – obgleich sehr sachkundig –, nicht primär als Einzelwissenschaftler schreibt, sondern als Vermittler zwischen vielen Forschungsgruppen, als jemand, der die vielen neuen Ergebnisse zusammenfasst, in einen Gesamtrahmen einfügt, bisweilen versuchsweise, noch nicht als letzte feste Theorie, und dies eingebettet in einen sehr lesbaren Schreibstil. Das einzige, was man als Kritik äußern könnte, wenn man kritisieren wollte, wäre aus meiner Sicht, dass ein paar zusätzliche Übersichtstafeln hilfreich sein könnten, um die Vielfalt im Zusammenhang noch besser sichtbar zu machen.
MIKROBEN ÜBERALL (SS.1-48)
4. Zeitlich verortet die Wissenschaft den Beginn von ersten Mikroben ungefähr bei -4 Milliarden Jahren, also in einer Zeit, in der die Erde noch immer ungemütlich war. Bis zum Auftreten erster Tiere auf dem Land vor ca. -700 bis -800 Mio Jahren beherrschten die Mikroben die Erde und, wie man seit ungefähr 10 Jahren immer mehr entdecken kann, sind sie auch heute allgegenwärtig.
5. Man findet sie im Meeresschlamm wie in den Böden (1 Teelöffel enthält ca. 20.000 Arten mit einer Überdeckung von nur 0.1% (vgl. S.22)). In den Meeren leben ungefähr 1 Mio verschiedene Arten mit einem Anteil von 50-90% der Biomasse der Meere. (vgl. S.21f) Im Gestein Kilometertief unter dem Meeresboden vermutet man 2/3 der Biomasse der Erde. (vgl. s.21) Man findet sie ferner unter dem Eis der Antarktis wie auch in der Atmosphäre und Troposphäre.
6. Diese fantastische Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Umgebungen wird ergänzt durch eine nicht weniger fantastische Kooperationsfähigkeit untereinander und mit Wirtssystemen.
7. Nach neuen Modellrechnungen umfasst der menschliche Körper ca. 37.2 Billionen (10^12) Körperzellen, die miteinander kooperieren (vgl. S.35). Es soll aber etwa 3x soviel Mikroben im menschlichen Körper geben (c. 100 Billionen). (vgl.S.34) Diese Mikroben im Körper erzeugen etwas 1/3 der Stoffwechselverbindungen im Blut, ws beinhaltet, dass Mikroben über solche Stoffwechselverbindungen das Gehirn beeinflusse können. (vgl. S.17) Neben den Mikroben im Körper kommen dann nochmals ca. 224 Milliarden (10^9) Mikroben auf der Haut. Also zum Kontrast: 1 cm^2 menschliche Haut beherbergt etwa 10 Mio verschiedene Arten von Mikroben, 1 cm^3 Darminhalt aber bis zu 1 Billion (10^12).(vgl. S.34) Zusätzlich hat man entdeckt, dass die Verteilung der Arten sehr kleinräumig ausdifferenziert ist und dass die Überdeckung mit gleichen Arten zwischen den Regionen gering ist.(vgl. S.30) Z.B. weisen rechte und linke Hand nur eine Übereinstimmung von ca. 17% auf. (vgl. S.39) Oder, von den 4700 Arten, die auf den Händen von 51 Studierenden gefunden worden waren, gab es nur 5 (!), die sich auf allen Händen fanden. (vgl.S.39) Im Buch selbst finden sich zahllose weitere beeindruckende Befunde.
8. Was hier so abstrakt theoretisch klingen mag, birgt ein riesiges Potential an möglichen praktischen Nutzanwendungen, da diese ungeheure Vielfalt eine unfassbar große Zahl an neuen Proteinen, Antibiotika und Enzymen beinhaltet, die sich der Mensch für spezielle Aufgaben nutzbar machen könnte. (vgl. S.24)
KORALLEN ALS HOLOBIONTEN (SS.49-90)
9. Im folgenden Kapitel entführt das Buch zu einem ersten Staunen über die sehr differenzierten Kooperationsmuster, die zwischen verschiedenen Mikroben zu beobachten sind. Am Beispiel des Meerwasserpolypen, der als Nebenprodukt riesige Korallenriffe entstehen lässt (und seinem unspektakulär erscheinenden Pendant im Süßwasser Hydra, der allein lebt) wird aufgezeigt, wie dieser Polyp sowohl unterschiedliche Algenarten (kleine Bakterien, die der Fotosynthese fähig sind) und unterschiedliche Bakterien, die Stickstoff synthetisieren können, in sich so aufnehmen kann, dass sie nicht als Nahrung verdaut werden, sondern als Partner fungieren, die die Stoffwechselprozesse des Polypen unterstützen. (vgl.S.83)
10. Damit solche Kooperationsprozesse möglich sind, mussten die Membranen der kooperierenden Zellen chemisch so umgebaut werden, dass hinreichend viele chemische Interaktionen als Kommunikation und Kooperation stattfinden können. Damit werden die Membranen jeweils zu einer Schnittstelle, zu einem Interface der Kooperation.(vgl. S.58) Diese Austauschprozesse sind hochkompliziert und sind labil. Je nach Umgebungsbedingungen, kommen unterschiedliche Mikrobenarten zum Einsatz.(vgl. S.63ff) Allerdings sind typische Verteilung relativ stabil, da sie auch im Genom des Wirtes verankert sind.(vgl. S.87ff)
11. Bedenkt man die chemischen Prozesse, die notwendig sind, damit sich solche komplexen und differenzierten Interaktionsmuster ausbilden können, dann wird klar, dass es viele Mio Jahre braucht, damit sich diese Muster ausbilden können. Rasche, abrupte Veränderungen der Umwelt, wie z.B. die aktuelle Erderwärmung, können von daher dieses komplexe Ökosystem überfordern. Grundsätzlich kann es reagieren, aber möglicherweise nicht schnell genug.
DISKURS
12. Für eine eigentliche Diskussion ist es noch zu früh. Man kann aber schon an dieser Stelle spüren, dass die Sicht auf das Leben unter Berücksichtigung der Welt der Mikroben eine radikal andere ist, als jene, in der die Mikroben nicht explizit berücksichtigt werden. Auch das Konzept einer evolutionären Entwicklung bleibt abstrakt, unwirklich, wenn es diese Vielfalt, diese unfassbare dichten und differenzierten Kooperationsmuster nicht berücksichtigt.
13. Vor allem wirft dies auch ein ganz neues Licht auf das Verständnis des Körpers. Zwar hat die Gehirnforschung mit ihrem Blick auf die 100 Mrd einzelnen Gehirnzellen (mit zusätzlichen diversen Unterstützerzellen) das Nachdenken über Bewusstsein, Geist, Kognition, Wahrnehmung, Gedächtnis usw. schon deutlich neue Impulse verliehen, aber so richtig scheinen mir diese neuen Überlegungen immer noch nicht im ‚Innern des kulturellen Bewusstseins‘ angekommen zu sein. Hier liegt noch ein sehr weiter Weg vor uns und es ist schwer abzuschätzen, wie unser Bild vom Leben, von der Welt, von der Zukunft des Lebens im Universum sich in den kommenden Jahrzehnten weiter entwickeln wird. Die Mikrobiologie wird hier unzweifelhaft eine zentrale Rolle spielen, wenngleich auch sie alleine viele wichtigen Fragen nicht wird beantworten können.
14. Fortsetzung folgt HIER
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