Archiv für den Tag: 5. Januar 2016

DECHER – HANDBUCH PHILOSOPHIE DES GEISTES – VORSOKRATIKER – DISKURS (Teil 2)

Decher, Friedhelm, Handbuch der Philosophie des Geistes, Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015 (Im Folgenden abgekürzt: HPG)

KONTEXT

  1. Nach der kurzen Einführung in das Phänomen Geist beginnt Decher seine gedankliche Expedition zum Begriff Geist bei den alten Ägyptern und den Vorsokratikern.
  2. An dieser Stelle sei nochmals ausdrücklich angemerkt (vgl. die Anmerkungen im ersten Teil dieser Besprechung, besonders Nr.4), dass diese Besprechung in keiner Weise die eigene Lektüre des Buches von Decher ersetzt. Ich lese das Buch im Lichte meiner Fragen, andere werden möglicherweise etwas anderes in dem Buch erkennen. Die Lektüre eines Buches ist niemals eine 1-zu-1 Angelegenheit (ein Umstand, warum auch sogenannte Offenbarungsschriften immer wieder unterschiedlich interpretiert werden).
Schaubild Vorsokratiker nach Decher (2015) - Neu zusammengestellt und interpretiert von Doeben-Henisch
Schaubild Vorsokratiker nach Decher (2015) – Neu zusammengestellt und interpretiert von Doeben-Henisch

ÄGYPTEN EINE RANDNOTIZ (SS.17-19)

  1. Bedenkt man, wie umfangreich und komplex die ägyptische Kultur ist, dann wirken die 2.6 Seiten Text zur Selbstreflexion der Psyche in Ägypten bestenfalls als eine Randnotiz. Ich gehe nicht weiter darauf ein.
  2. [ANMERKUNG: Die Existenz anderer großer Kulturen gleichzeitig zur europäischen bzw. weitgehend auch vor der europäischen wie z.B. in China, Indien und Babylonien werfen viele grundsätzliche Fragen auf nach dem tatsächlichen Stellenwert der europäischen Ideengeschichte. Schon ein kurzer Blick in den Philosophie-Atlas von Holenstein (2004) lässt erkennen, dass das Phänomen Denken, speziell philosophisches Denken, zeitlich und geographisch weit ausgedehnter und differenzierter ist als es der fokussierende Blick auf Europa ahnen lässt. Auch stellt sich mit einer Ausweitung des Blicks auf die ganze Erde die Frage nach den Kriterien für das, was als philosophisches Denken gelten soll, anders, radikaler, differenzierter. Die minimale Position bei Holenstein ist der Rückgriff auf die Sprache als Basismedium alles philosophischen Denkens (vgl. Holenstein S.17), und damit die Ausweitung der Geschichte der Philosophie auf die Geschichte des homo sapiens, der seit ca. 100.000 Jahren die Erde, ausgehend von Afrika, bevölkert hat. Alle weitere Differenzierungen mit zusätzlichen Kriterien werden schwierig. So kann man sicher streiten, ob die Philosophie aus dem Mythos (und/ oder der Religion) hervorging oder ob nicht – wofür viele Artefakte sprechen – ordnungspolitische ethische Vorstellungen den Ausgangspunkt bildeten, die erst nachträglich mit religiösen Vorstellungen aufgeladen wurden, um ihre Bedeutung zusätzlich abzusichern.]

HOMER (SS.20-24)

  1. Decher wählt – neben den Anmerkungen zur ägyptischen Kultur – als Referenzpunkt für das weitere die homerischen Texte. Am Beispiel der drei Begriffe Psyché, Thymos und Noos zeigt er auf, wie einerseits hier die Keimzellen der späteren Bedeutungen sehr wohl vorhanden sind, zugleich aber auch, dass die hier vorfindlichen Bedeutungen konkreter und statischer sind als später.
  2. Psyché ist hier noch sehr am empirischen Phänomen des Atmens orientiert, am Lufthauch, als Kriterium des Lebendigen, das im Tod verschwindet. Thymos als ‚Ort‘ der Gefühle, der Regungen, die der Mensch erlebt, die mit ihm etwas tun. Und Noos als Ort, in dem sich die Wahrnehmung als Vorstellung sammelt. Insgesamt in der Sicht Dechers eher statisch, unveränderlich, vorgegeben. Änderungen können nur von den Göttern, von außerhalb des Menschen kommen. (vgl. SS.20-24) Mit den Worten Dechers: „Die Homerischen Menschen sind noch nicht zu dem Bewusstsein erwacht“. (S.24)

DIE VORSOKRATIKER (SS.24-40)

  1. Trotz aller Problematik der Überlieferung der Gedanken der sogenannten Vorsokratiker, gibt es Lehrmeinungen dazu, was sie gemeint haben sollen.
  2. Der Grundtenor geht in die Richtung, dass über die sinnliche Wahrnehmung hinaus Beziehungen, Strukturen entdeckt wurden, die unabhängig von sinnlichen (empirischen) Einzelereignissen wahr zu sein scheinen. Dass diese allgemeineren Strukturen in dem zu finden sind, was Nous (früher Noos) genannt wird. Dass sich die Philosophen mehr und mehr dessen bewusst wurden, dass sie wahrnehmen und Erkennen, und wie. Dass sie aus sich heraus ihr Wissen vermehren können. Dass man mit dem Nous auch planen kann. Ein Alkmaion kam durch seine physiologischen Studien den modernen Erkenntnissen von der körperlichen Basis des Wahrnehmens und Denkens schon sehr nahe (Funktion der Sinnesorgane, Nervenbahnen, Gehirn als Basis geistiger Fähigkeiten). Auch grundsätzliche Überlegungen nach allerkleinsten ewigen Bausteinen (Semata, Atome) von allem, aus deren Kombinationen sich alles andere ergibt, finden sich (Anaxagoras, Demokrit). Ebenso der Versuch, den Nous nicht nur als Ort der allgemeinen Strukturen im Denken zu sehen, sondern auch als kosmologisches Prinzip, das alle Teilchen durchwaltet, gestaltet und damit den individuellen Sinn in einen umfassenden kosmologischen Sinn einbettet.
  3. Die Rolle der Psyché (Psyche, Seele) bleibt hier etwas unklar. Belebendes Prinzip? Wie vom Nous abzugrenzen?

DISKURS

  1. Es stellen sich hier viele Fragen.
  2. Da es ja um eine Bestandsaufnahme von philosophischem Denken am Beispiel des Begriffes Geist gehen soll, wäre interessant, die Kriterien in der Verwendung von Begriffen etwas näher heraus zu arbeiten.
  3. Bislang ist klar, wir haben auf jeden Fall Wortmarken, also bestimmte geschriebene Wörter (ursprünglich natürlich auch gesprochen), die in bestimmten Textkontexten vorkommen, anhand dessen man dann Hypothesen zur Bedeutung konstruiert.
  4. Nun ist eine Bedeutung ja kein normaler Gegenstand, auf den man einfach so hinweisen, hindeuten kann. Bedeutungen sind im einfachsten Fall gekoppelt an Leistungen unserer Sinnesorgane, die anlässlich von empirischen Objekten in der intersubjektiven Welt sensorische Ereignisse (auf der Basis von neuronalen Aktivitäten) im Bewusstsein erzeugen, die uns das Material liefern, aus dem unser Verstand (auf der Basis von neuronalen Aktivitäten) irgendwelche mentalen/ kognitiven Eigenschaften daraus abstrahiert, die sich dann – nach Bedarf – mit Wortmarken assoziieren lassen. Schon in diesem einfachen Fall können die sensorischen Ereignissen von gleichen Ausgangsereignissen bei verschiedenen Menschen unterschiedlich ausfallen (Defekte am Sinnesorgan, Wahrnehmungsstörungen, interne Faktoren (Erregung, Müdigkeit,…)…), und deren Verarbeitung zu abstrakten Strukturen ist ebenfalls nicht genormt. D.h. schon im scheinbar einfachen Fall von intersubjektiven Bedeutungsanlässen können die im Teilnehmer erzeugten Bedeutungskorrelate unterschiedlich sein. Dazu kommt, dass die Assoziierung von einer Wortmarke mit subjektiven Bedeutungskorrelaten grundsätzlich willkürlich (arbiträr) ist. Von außen kann ein Teilnehmer A nicht erkennen, welche Assoziierung (Zuordnung) ein Teilnehmer B in seinem Denken vornimmt. Er kann nur versuchen, seine eigene Zuordnung anhand von intersubjektiven Ereignissen zwischen A und B mit dem Sprachverhalten des anderen Teilnehmers vergleichen. Redet B immer dann von der roten Tasse, wenn auch A von einer roten Tasse redet?
  5. Bei komplexeren Bedeutungskonstrukten (wie z.B. Freiheit, Liebe, Demokratie, Gott, …) ist es in der Regel von vornherein nicht klar, unter welchen Bedingungen sie genau zustande gekommen sind bzw. unter welchen Bedingungen man sie wie verwenden soll. Meistens hat jeder Mensch seine individuelle Geschichte, wie er zu bestimmten Bedeutungen gekommen ist und dementsprechend seine individuelle Variante der Bedeutung, die im Einzelfall erst zu klären ist, bevor man sie gemeinsam benutzt.
  6. Wenn es hier also um Wortmarken wie Noos/ Nous, Thymos, Psyché, Aisthesis, Noema, Logos usw. geht, spielen also die fassbaren Kontexte ihres Gebrauchs eine zentrale Bedeutung.
  7. Ferner ist zu bedenken, dass wir selbst immer schon unsere eigenen (indivduellen) Bedeutungsstrukturen mit uns herum tragen, von denen wir so gut wie gar nicht abstrahieren können; sie stecken in uns drin, sie bilden die innere Struktur unseres Denkens; wir können aus ihnen nicht einfach aussteigen. Bestenfalls können wir sie sichtbar machen, so dass man selbst (und auch der jeweils andere) ansatzweise erkennen kann, warum man einen intersubjektiven Sachverhalt so oder anders interpretiert.
Schaubild: Denken-Bewusstsein-Koerper-Art-Evolution
Schaubild: Denken-Bewusstsein-Koerper-Art-Evolution
  1. Meine Bedeutungsstrukturen sind im Bild angedeutet.
  2. Wo und wie in dieser Struktur würde ich/ könnte ich die potentiellen Begriffe wie Noos/ Nous, Thymos, Psyché, Aisthesis, Noema, Logos einordnen? Ganz einfach, so ohne weiteres, geht dies wohl nicht.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

SONSTIGE QUELLEN

  1. Holenstein, Elmar; Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens, Zürich: Amman Verlag & Co, 2004

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