DAS GANZE IN EINER NUSSSCHALE – In gewisser Weise ‚Ja‘

ANREGUNG VON PLATO & ARISTOTELES

  1. Im Kontext der Relektüre von Platon und Aristoteles, zunächst angeregt durch das Buch von Decher, dann vertiefend mit anderen Büchern, entstand immer mehr der Eindruck, dass das Ringen von Aristoteles um eine realistischere Sicht der Ganzheit des Lebens im Vergleich zu dem stark dualistisch-apriorisierenden Denken Platons, in seinem Kern, in den erkennbaren Strukturen, nicht so weit weg ist vom heutigen Denken. Natürlich muss man einige Begriffe neu übersetzen, natürlich muss man viele Details aktualisieren, aber die gesamte Ausrichtung gibt eine Fülle von Anregungen, die auch Lücken in unseren heutigen Ansätzen sichtbar machen. Die Meinungen gehen auseinander, ob Aristoteles auf der Zielgeraden letztlich dann doch Platons Sicht übernommen hat (Priorität und Andersartigkeit des Geistes über und vor allem anderen), oder ob man seine ähnlich klingenden Begriffe nicht doch von seinem Gesamtansatz her doch anders denken müsste.
  2. Bevor es aber dazu kam, dass ich mich in diese Begriffswelt von Platon, ganz besonders aber von Aristoteles, neu versenken konnte, setzte sich ein ganz anderes Karussell von Analogien in Bewegung.
Die fünf Paradoxien - Vorstufe: Geist und Materie
DAS GANZE IN EINER NUSSSCHALE. Fünf Themenkomplexe. Vorstufe: Geist und Materie

BIOLOGISCH VERSUS TECHNOLOGISCH

  1. Das vorausgehende Diagramm zeigt eine Gegenüberstellung von biologischen Systemen, wie z.B. dem homo sapiens, und von technischen Systemen wie z.B. intelligente Maschinen.
  2. Das Faszinierende bei biologischen Maschinen ist das Phänomen, dass rein materielle Bestandteile – wie man salopp im Alltag sagen würde – in der Lage sind, hochkomplexe Verhaltensweisen zu ermöglichen, die wir umschreiben mit Worten wie nett, liebenswürdig, gemein, aggressiv, dumm, intelligent, einfühlsam, vorausschauend, usw. Einem Menschen schreiben wir gewöhnlich geistige-emotionale Eigenschaften zu (ganz im Stile von Platon und Aristoteles; wobei beide nicht nur vom Geist sprechen, sondern auch von der Seele als dem eigentlichen Lebensprinzip mit dem Geist als Huckpackeigenschaft).
  3. Da wir heute die materiellen Bestandteile immer mehr auf ihre Zusammensetzung hin analysieren können (anders als Platon und Aristoteles), können wir wissen, dass der Körper ein Verband von vielen Billionen (10^12) Zellen darstellt, die wiederum aus einer unfassbar großen Zahl von Molekülen bestehen, diese wiederum aus Atomen, diese wiederum aus subatomaren Teilchen, die sich dann im Raum quantenphysikalischer Modelle von Wahrscheinlichkeitsverteilungen verlieren.
  4. Und dieses ganze Ensemble benötigt in jedem Moment Energie, die über Nahrung zugeführt wird; zusätzlich auch Flüssigkeit. Wird diese Zufuhr lang genug unterbrochen, bricht das System in sich zusammen. Wir sagen, es stirbt, und damit verschwindet auch sein Verhalten; die Aktivitäten, aufgrund deren wir einem Organismus Gefühle und Geist zugeschrieben haben, sind nicht mehr da. Ist damit der Geist (oder wie Platon und Aristoteles sagen würden: die Seele) auch vollständig weg (bei Aristoteles ja, bei Plato nein), oder existieren diese Nicht-Dinge Seele und Geist getrennt von den biologischen Körpern irgendwie weiter? Falls dem so wäre, müsste die Existenzform von Seele (Psyché) und Geist (Nous) im Sinne von Platon (und z.T. Aristoteles) anders sein als die Existenzform, die wir von biologischen Körpern kennen.
  5. Eher spontan hatte ich neben diese Struktur von biologischen Systemen jene von sogenannten intelligenten Maschinen aufgezeichnet. Strukturell kann man eine starke Analogie beobachten. Auch hier kann man materielle Bestandteile unterscheiden (Chips, Gatter, Verbände von Atomen), die ihre Zustände ändern können, und ein Verhalten, das man – je nach Ausführung und Kontext – auch als nett, intelligent, vorausschauend usw. beschreiben könnte.
  6. Solange Menschen wissen, dass es ja nur eine Maschine ist, sagen sie immer, das ist natürlich nicht wirklich wie beim Menschen. Ist es nicht so offensichtlich (z.B. bei Hausrobotern, die äußerlich wie echte Tiere aussehen), dann verschwindet dieser Vorbehalt und Menschen entwickeln zu den Maschinen eine – zumindest äußerlich ähnlich erscheinende – Beziehung wie zu biologischen Systemen.
  7. Auch Maschinen benötigen beständig Energie, um funktionieren zu können. In dem Fall elektrische Energie, die mittels Transformationsprozessen aus natürlichen Energiequellen gewonnen werden (Fossile Energien, biologische, Wasser- und Windenergie, Sonnenenergie, atomar, …).
  8. Im Wissen um die unterschiedlichen materiellen Substanzen, die den Verhaltensmanifestationen zugrunde liegen, stellt sich die Frage, wie kann es sein, dass so unterschiedliche Strukturen ein so ähnliches Verhalten hervorbringen können? Wie groß ist die Ähnlichkeit? Welche Rückschlüsse kann man auf den bei biologischen Systemen unterstellten Geist (bzw. auch auf das Lebensprinzip der Psychè von Platon und Aristoteles) ziehen nur aufgrund der unterschiedlichen materiellen Strukturen, die sie hervorbringen? Hätte ein Aristoteles seine Überlegungen geändert, wenn er von diesen neuen Details gewusst hätte? Platon möglicherweise ja, Aristoteles – nach meiner Einschätzung – eher nicht. Das Modell von Aristoteles könnte theoretisch mit diesen neuen Erkenntnissen umgehen.
  9. Die ganze Frage besitzt noch eine pikante Note, da die sogenannten intelligenten Maschinen ja nicht an Bäumen wachsen oder als Teil von Korallenriffen entstehen, sondern sie sind vollständig ein Produkt des homo sapiens, seines Denkens und seines Produzierens. Es ist der Mensch, der im Laufe der Jahrtausende gelernt hat, seine Wahrnehmung der Welt zu strukturieren, sie mittels Sprachen mit anderen zu teilen, sie in Handlungen zu überführen, und nach und nach es geschafft hat, die Funktionsprinzipien der Natur – einschließlich der biologischen Phänomene, also auch von sich selbst – soweit zu rekonstruieren, dass er Gebäude errichten konnte, ganze Städte baut, Flugkörper, Kommunikationsmittel, Computer, die ihm helfen können, sein eigenes Denken mehr und mehr zu imitieren und partiell sogar zu übertreffen. Anders gewendet, es ist der Mensch, der seine Art zu denken sowohl in ein gedachtes Modell übersetzt hat (Turing, von Neumann), als auch in eine reale Maschine (viele Personen), die man anschauen, mit der man konkret arbeiten kann.
  10. So betrachtet liegt eigentlich keine Parallelität vor, sondern eher so etwas wie eine Aufschichtung: die materiellen Strukturen des Menschen (sein Körper) sind in der Lage, intern Wolken von Ladungszuständen zu erzeugen und zu modifizieren, mittels denen sie die erfahrbare Welt wahrnehmen, vorstellen und denken können. Mittels diesen Bildern von der aktuellen Welt wie von denkbaren = möglichen Welten hat der Mensch ein mögliches Modell eines künstlichen Geistes gedacht und realisiert, der erkennbare Prinzipien der biologischen Natur sichtbar macht und dem Handlungs- und Denkraum des Menschen hinzufügt.
  11. Der Mensch selbst ist direkt und unmittelbar ein Produkt des evolutionären Naturprozesses. Die intelligenten Maschinen sind – vermittelt durch den biologischen Geist des Menschen – ebenfalls ein Produkt der Evolution. Allerdings finden wir hier eine dramatische Weiterentwicklung im Mechanismus der biologischen Evolution! Verfügte die Evolution bis zum Auftreten des homo sapiens nur über die Möglichkeit, anhand von (blinden! Rein zufälligen!) Änderungen im DNA-Molekül Veränderungen im Bereich des biologischen Lebens herbei zu führen, so stellte die Struktur des homo sapiens selbst schon eine Revolution dar: die biologische Möglichkeit innerer geistiger Zustände in einem biologischen System, die Fähigkeit von Selbstbewusstsein, das sich selbst als in der Welt seiend wahr zu nehmen, alternativ zu denken und zu kommunizieren, dies ermöglicht eine völlig neue Weise, Veränderungen im Kontext der biologischen Evolution einzuführen! Statt viele hundert oder tausend oder noch mehr Generationen abwarten zu müssen, bis irgendwelche zufälligen Änderungen eine brauchbare Veränderung entstehen ließen, kann jetzt jeder einzelne homo sapiens im Verbund mit allen anderen sehr schnell beliebige und komplexe Änderungen erfinden und umsetzen. Ergänzt und verstärkt durch intelligenten Maschinen kann dieser Prozess noch komplexer, noch schneller ablaufen. Einbettet in Netzwerke und verbunden mit Datenbanken ist prinzipiell noch mehr möglich.
  12. Nur der Mensch selbst, seine aktuelle körperliche und – wie wir noch immer salopp sagen – seine psychologische Struktur erweisen sich immer mehr als Hemmschuh: unsere Informationsverarbeitungskapazität ist sehr beschränkt und unser emotionales und triebhaftes Korsett erweist sich als sehr eng, schwerfällig und schlecht angepasst. Möglicherweise der größte Anteil aller Zukunftsmöglichkeiten des einzelnen und der ganzen Populationen wird aktuelle vergeudet, weil die Menschen nicht in der Lage sind, mit ihren Emotionen und Trieben nachhaltig umzugehen.
Die fünf Paradoxien der Menschheit heute - Version 2
DAS GANZE IN EINER NUSSSCHALE. Fünf Themenkomplexe. Version 2

ENTSTEHUNG VON KOMPLEXITÄT

  1. Damit kommen wir zur zweiten Skizze. Sie ist aus der ersten hervorgegangen.
  2. Ausgangspunkt waren die biologischen Strukturen, und hier das Phänomen der Entstehung der Komplexität im Laufe der Zeit.
  3. Zwar haben wir bislang eigentlich nur winzige Fragmente der vorausgehenden Zeit, aber mit den heutigen Methoden der Genetik und Molekularbiologie (ergänzt um viele Methoden aus vielen anderen Wissenschaften) ermöglichen diese Fragmente Blicke zurück in die Zeit, die bis noch vor 10 – 20 Jahren unvorstellbar waren. Immer noch verstehen wir nicht alles; immer noch bleiben viele Fragen offen; aber das Gesamtbild gewinnt immer mehr Konturen.
  4. Es gibt viele Ansätze, wie man diese Zeit des biologischen Lebens auf der Erde (ca. 4 Mrd.Jahre von heute rückwärts) strukturieren und deuten kann. Einer von vielen ist z.B. der von Nick Lane (2009), der versucht hat, die zehn wichtigsten Ereignisse der biologischen Evolution zu identifizieren und zu beschreiben. Er bezieht zwar das Phänomen des Bewusstseins (consciousness) mit ein, nicht mehr aber das, was sich auf der Basis von Bewusstsein dann getan hat. Für ihn als biologischer Chemiker ist dies nachvollziehbar, aber dem Phänomen der Evolution wird es möglicherweise nicht gerecht, weil Evolution mehr ist als das, was die Biochemie erfassen und behandeln kann.

NATUR UND GEIST

  1. Die Aufspaltung der Wissenschaft in Natur- und Geisteswissenschaften hat zwar in Europa eine lange (unglückliche?) Tradition, aber aus historischen Zufälligkeiten und Gewohnheiten folgt nicht ohne weiteres, dass dies auch dem Phänomen des Lebens als Teil der Natur gerecht wird. Der Mensch selbst erscheint aktuell als jene Revolution der Evolution, durch die sich die sogenannte materielle Natur in eine sogenannte geistige Natur transformiert hat. Die Revolte von Aristoteles gegen Plato wurzelt genau hier: Aristoteles wollte das Geistige als Teil des Natürlichen verstehen. Mit dem heutigen Wissen sind wir soweit, dass wir von dem heute Wissbaren ausgehend eigentlich nur sagen können, dass das bekannte Geistige eine Eigenschaft der bekannten materiellen Natur ist. Wer diese Aussage vorschnell als mögliche Abwertung des Geistigen versteht, sollte einen Moment innehalten: er/ sie sollte sich fragen, was er/sie denn vom sogenannten materiell Natürlichen weiß?
  2. Wenn es so ist, dass das bekannte Geistige als Eigenschaft des Natürlichen auftritt, sich zeigt, manifestiert, dann wäre die normale logische Fragerichtung jene, eben dieses materiell Natürliche einer neuen Analyse (und Interpretation) zu unterziehen. Wenn sogar intelligente Maschinen Phänomene hervorbringen können, die wir geistig zu nennen gewohnt sind, dann muss man die Frage stellen, welche inhärenten/ impliziten Eigenschaften des Materiellen sind es, die Geistiges real werden lassen?
  3. Bislang wissen wir, dass die komplexen Zellansammlungen von biologischen Lebewesen sich nur sehr langsam entwickelt haben. Allein schon der Übergang von einzelnen Zellen zu größerem Zellverbänden, die kooperieren, hat Milliarden Jahre gedauert. Und der Übergang von Molekülen zu Strukturen wie es eine Zelle ist hat mindestens einige hundert Millionen Jahre gedauert. Vollständige Erklärungsmodelle, wie man sich diesen Bildungsprozess auf der Basis der bekannten Naturgesetze vorstellen sollte, liegen noch nicht vor.
  4. Die bisherigen Denkmodelle der Physik zur Entstehung des bekannten Universums bieten nicht all zu viel: ein singuläres Energieereignis, in dessen Gefolge sich bei Abkühlung immer mehr Strukturen zeigten (subatomar, atomar, …), die zur Entstehung von Sternen führte, deren Fusionsprozesse weitere schwere Atome hervorbrachten, die wiederum zu Bausteinen jener Moleküle wurden, die im Verlauf von ca. 9 Mrd. Jahr dann bei der Entstehung biologischer Zellen beteiligt waren. Dann noch ein Entropiegesetz, das nicht wirklich ein Gesetz ist und vielfältige Interpretationen zulässt. Schließlich ein großes Schweigen angesichts des Phänomens einer nach 9 Mrd Jahren einsetzenden (biologischen) Komplexitätsbildung, für dies es bis heute keinerlei Ansatzpunkte in den bisherigen physikalischen Modellen gibt. Diejenigen Eigenschaften von Molekülen, die sich physikalisch erklären lassen, reichen nicht aus,um das Gesamtverhalten befriedigend erklären zu können.
  5. Die berühmte Formel von Einstein e=mc2 , durch die eine Beziehung zwischen dem Term Energie e und dem Term Masse m mal Quadrat der Lichtgeschwindigkeit c2 erhält ihre Bedeutung natürlich nur innerhalb des mathematischen Modells, in dem diese Terme definiert sind. In einer saloppen Interpretation kann man aber vielleicht sagen, dass die beobachtbaren (messbaren) Massen und Geschwindigkeiten mit jener Energie korrespondieren, die notwendig ist, dass sich dies beobachten lässt. Masse kombiniert mit Raumzeit ist die Manifestation von jener Energie, die die Physik bislang in ihre Modelle abgebildet hat. Dass diese Massen innerhalb der Raumzeit zu einem Prozess fähig sind, den wir als Ansteigen von funktionaler Komplexität im Bereich biologischer Systeme identifizieren, ist in den bisherigen physikalischen Modellen schlicht nicht vorgesehen. Warum auch; ein normaler Physiker interessiert sich nicht für Phänomene des Lebens (außerdem hat er ja auch ohne die biologischen Phänomene noch genügend Baustellen (dunkle Materie, dunkle Energie, Gravitation,…). Und jene Physiker, die es dann doch manchmal versucht haben (Schroedinger, Davis, ..) sind dann in den Modus des Staunens verfallen und haben immerhin dahingehend Größe gezeigt, dass sie ihr Nocht-Nicht-Verstehen zugegeben haben.
  6. Schliesslich gibt es auch noch die offene Frage, wie man den von den Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsräumen der Quantenphysik zur jeweilig konkreten Welt (Universum) kommt. Zu sagen, dass unendlich viele Welten rein theoretisch möglich sind, war eine revolutionäre Einsicht. Wie kommt man aber von der Möglichkeit zur Singularität eines konkreten Universums? Und auch hier: wie verhält sich die immer mehr erkennbare evolutionäre biologische Komplexität zum physikalischen Modell einer Energie, die mit Masse und Raumzeit korrespondiert?
Die fünf Paradoxien - Bild 4
DAS GANZE IN EINER NUSSSCHALE. Fünf Themenkomplexe. Version 4
  1. Die vorausgehenden Überlegungen führten zwanglos zu einer dritten Skizze, die sich durch ein langes Telefonat mit Si.Sch. in eine Skizze mit vielen Anmerkungen verwandelte (Diagramm 4).
  2. Ich merke schon, dass eine vollständige Beschreibung dieser Version den Rahmen dieser Blogeintrags völlig sprengen würde. Daher hier nur ein paar erste Gedanken, die dann in weiteren Blogeinträgen (und Gesprächen in der Philosophiewerkstatt und im Emerging Mind Projekt) zu vertiefen sind.

SELBSTABSCHALTUNG – VERWEIGERUNG VON ZUKUNFT

  1. Der Themenkomplex 4 wird inspiriert von dem alltäglichen Phänomen der Selbstabschaltung des Menschen. Zwar ist unser kognitiver Apparat so gebaut, dass die Wahrnehmung schon vorab, ohne Zutun des Bewusstseins, den Strom der sensorischen Reize stark reduziert, abstrahiert und selektiert, aber darüber hinaus gibt es das Phänomen, dass Menschen sich in ihrem Bewusstsein, in ihrem Denken von innen heraus abschalten! Abschalten heißt hier, sich auf ein bestimmtes (meist – aber nicht notwendigerweise – vereinfachendes) Bild der Wirklichkeit festzulegen und dann alles zu tun, um es nicht mehr ändern zu müssen. Von diesem Zeitpunkt an hat in diesem Bild alles irgendwie seinen Platz. Dies ist sehr bequem. Man muss sich nicht mehr mühsam damit beschäftigen, was wirklich wahr ist, ob es wirklich so wahr, ob es wirklich nicht anders geht, ob der Andere vielleicht ganz anders ist als gedacht, usw.
  2. Im Falle von intelligenten Maschinen spricht man salopp von falsch programmiert, wenn das Programm nicht das tut, was es tun soll. Letztlich haben falsche Bilder im Kopf die gleichen Wirkungen wie falsch programmierte Maschinen: sie liefern falsche Bilder von der Welt, verstellen richtige Einsichten, begünstigen falsches Verhalten. Menschen, die nicht merken, dass sie falsche Bilder im Kopf haben (bzw. falsch programmiert sind), können Zukunft gefährden oder ganz unmöglich machen, ihre eigene wie die ganzer Gruppen oder Populationen.
  3. Da die Welt sich permanent ändert, heute womöglich schnelle denn je, ist es eine Herausforderung an das biologische Leben, dafür zu sorgen, dass die Bilder im Kopf aktuelle sind, differenziert, wahr, empathisch, also zukunftsfähig.
  4. Hier sind alle Formen des Lernens einschlägig, kulturelle Muster die vorleben, wie man mit sich selbst, den anderen, der Wirklichkeit umgeht. Die Wirklichkeit, die Wahrheit lässt sich weder verordnen noch einsperren. Wohl aber kann man Menschen einsperren, abrichten, mit Ängsten der Hass vollpumpen, um sie an eigenen, anderen Erkenntnissen zu hindern.

GESELLSCHAFTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR EVOLUTION

  1. Dies führt zum Fragenkomplex Nr.5. Die Geschichte hat verschiedene Gesellschaftssysteme hervorgebracht, u.a. auch solche, die sich demokratisch nennen. Diese Gesellschaftssysteme haben als Grundeinsicht, dass die Chance für eine mögliche nachhaltige Zukunft durch Öffnung und Beteiligung von jedem einzelnen wächst. Analog der blinden biologischen Evolution, die nur Erfolg hatte durch umfassendes radikales Experimentieren, so können auch die Menschen mit der Masse ihres falschen Wissens nur weiter kommen, wenn sie sich allen sich bietenden Möglichkeiten gegenüber öffnen, sie ausprobieren. Freiheit, Offenheit, Kreativität, Meinungsaustausch, funktionierenden Öffentlichkeit, Menschenrechte sind kein überflüssiger Luxus, sondern die biologisch motivierten und sachlich notwendigen Voraussetzungen für eine mögliche Begegnung mit einer nachhaltigen Zukunft. Schon heute kennen wir zahllose Beispiele von umfassenden Zerstörungen, die entstehen, wenn Menschen glauben, dass dies alles nicht notwendig sei.
  2. Der Slogan vom ‚Überleben der Tüchtigsten‘ wird gerne benutzt, um allerlei Arten von Egoismen und Grausamkeiten zu rechtfertigen, gepaart mit riesengroßen Dummheiten in der Zerstörung vielfältigster Ressourcen. Der Slogan beschreibt aber nur einen Teilaspekt der Evolution! Natürlich überleben nur die, die sich für die jeweilig Weltsituation fit gemacht haben, aber dies ist keine Eigenschaft eines Individuums, sondern einer ganzen Population, die nur durch vielfältige Kooperationen mit zahllosen Faktoren Leben gelingen lässt. In der aktuellen Phase der Evolution gilt mehr denn je, dass nur das Zusammenwirken aller Beteiligen eine Chance hat, und hier spielt das gemeinsam geteilte Wissen eine zentrale Rolle, das nicht von einzelnen Playern egoistisch für partielle Zwecke missbraucht wird, sondern von allen für eine gemeinsame nachhaltige Zukunft genutzt werden kann. Ohne Vertrauen und umfassende Transparenz wir die Komplexität an sich selbst scheitern. Es reicht nicht, dass einzelne mächtig und reich sind, alle müssen optimal leben, um die Aufgabe der kommenden Zeit meistern zu können. Die aktuellen Wertesysteme sind weitgehend veraltet und tödlich. Nur gemeinsam kann Neues entstehen.

Anmerkung: Diese Perspektive, die sich jetzt im Verlaufe dieser Überlegungen herausgeschält hat, ist stark verwoben mit den Überlegungen von Manfred Fassler im Blog Emergent Life Academy. Ich verdanke den intensiven Gesprächen mit Manfred sehr viele wichtige und tiefe Einsichten. Möglicherweise hilft es uns beiden, dass wir von unterschiedlichen Blickwinkeln aus auf das Geschehen schauen: er als Soziologe und Kulturanthropologe, ich als Philosoph  und Infomatiker (mit starken Einflüssen aus den Kognitionswissenschaften).

 

QUELLEN

  • Nick Lane, Life Ascending. The Ten Great Inventions of Evolution, London: Profile Books Ltd, 2009

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