Archiv für den Tag: 29. März 2016

MATHEMATIK UND PHILOSPHIE – Erste Bemerkung

  1. Obwohl ich in diesem Blog schon sehr viel geschrieben habe, habe ich noch niemals über das Verhältnis von Mathematik und Philosophie geschrieben. Dies ist umso erstaunlicher, als für mich das mathematische Denken einen roten Faden bildet, einen Rahmen, eine implizite Struktur, die eigentlich allem meinem Denken zugrunde liegt.
  2. Eine Schwierigkeit des Redens über Mathematik liegt natürlich darin, dass die Mathematik mindestens eine Geschichte von 4000 Jahren umfasst und in dieser Zeit viele Formen durchlaufen hat. Für die meisten Menschen beschränkt sich das Wissen um Mathematik auf verschiedene Rechenpraktiken in der Schule; die einen fanden das interessant, die anderen (die meisten?) fanden diese Praktiken fremdartig, schwierig, ohne klaren Zusammenhang. Und in der Tat, das, was in den Schulen vermittelt wurde (heutige Praxis kenne ich nicht), waren eher ‚Praktiken‘, Rechenverfahren, aber nicht eigentlich das, was die moderne Mathematik kennzeichnet: Strukturen.
  3. Eine gute Blitzübersicht der Formengeschichte der Mathematik von praktischen Alltagsproblemen (Landvermessung, Finanzwesen, Astronomie, …) zu immer abstrakteren Konzepten findet sich in den Artikeln zur Geometrie  (Mainzer 1995) und zur Algebra (Parshall 2008). Dies ist eine sehr beeindruckende Geschichte. Wer zunächst nur die Konkretheit und Vielfalt der praktischen Probleme kennt, und dann die vielen unterschiedlichen mathematischen Vorgehensweisen betrachtet, kann sich kaum vorstellen, dass diese Vielfalt dann im 20.Jahrhundert in dem endet, was so schmucklos einfach Algebra genannt wird (noch erweitert um den modernen Kategorienbegriff (vgl. Cheng (2008)).
  4. Der Vollblutmathematiker als solcher ist natürlich nicht interessiert an der Form als solcher, sondern an jenen Größen, Objekten, Strukturen, an und mittels deren sich mathematische Sachverhalte manifestieren. Andererseits, ohne darüber zu sprechen, wird er keinen Konsens mit anderen herstellen können. Also wird eine irgendwie geartete mathematische Sprache notwendig sein, die syntaktischen und semantischen Regeln folgt. Dies ist die Domäne der mathematischen Logik, die einen Anwendungsfall der allgemeinen formalen Logik darstellt (vgl. Marker (2008).
  5. Ein philosophischer Aspekt kommt ins Spiel insofern Mathematiker ja Exemplare biologischer Systeme der Gattung homo sapiens darstellen. Deren Denkleistungen werden zwar von Gehirnen erbracht, die man empirisch untersuchen kann, aber für den handelnden (= denkenden) Mathematiker ist diese Denkleistung nur insofern erfahrbar, als diese sich im Raum seines Bewusstseins als Phänomen manifestiert. Das Gehirn legt zwar die Spielregeln fest, wann und wie etwas sich im Bewusstsein in Gestalt von Phänomenen manifestieren kann, aber ohne diese sich ereignenden Phänomene kann kein Mathematiker denken.
  6. Es stellt sich damit die spannende Frage, wie die Inhalte und Strukturen der Mathematik mit dem Phänomenraum des Bewusstseins korrelieren?
  7. Wenn ein Mathematiker reale Worte ausspricht oder Zeichen hinschreibt, dann sind diese konkrete empirische Ereignisse S, die als solche mit konkreten Phänomenen des Bewusstseins S* korrelieren. Diese konkrete Ereignisse S* korrespondieren dann (meistens) mit allgemeineren Strukturen, abstrakten Einheiten S**, von denen die konkreten Instanzen, Beispiele sind. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob den sprachlichen Ausdrücken, die mathematische Objekte/ Sachverhalte repräsentieren sollen, jenseits der Ausdrücke noch etwas anderes (eine Bedeutung) entspricht oder nicht. Ist das Zahlzeichen schon die Zahl selbst oder nur ein symbolisches Mittel, um auf die Zahl, die unabhängig vom symbolischen Zeichen existiert, hinzuweisen? Würde man letztere Auffassung teilen, würden sich ernsthafte Probleme stellen: in welcher Form können mathematische Objekte/ Sachverhalte jenseits ihrer sprachlichen Form existieren? Man bräuchte eine spzielle Ontologie oder gar Metaphysik.
  8. In der mathematischen Modelltheorie (vgl. Marker (2008)) ist die Sachlage klar: es gibt einerseits symbolisch repräsentierte mathematische Strukturen und andererseits eine mathematische Sprache, die über die Strukturen sprechen kann. Mit Bezug auf die separaten symbolisch repräsentierten Strukturen bekommen mathematische Ausdrücke dann nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine Wahrheit oder Falschheit. Doch dann bleibt das Problem, wie man mit endlich vielen Zeichen über unendliche mathematische Größen sprechen kann.
  9. Courant und Robbins nehmen in ihrer Einleitung (1941) eine ambivalente Position ein: einerseits sehen sie in der zunehmenden Formalisierung eine Gefahr für das mathematische Denken. Andererseits sehen sie in der ‚Entsubstantalisierung‚ (‚dissubstantiation‘) des mathematischen Denkens einen entscheidenden Fortschritt: mathematische Objekte haben keine metaphysische Bedeutung in irgendwelchen Substanzen an sich, sondern Punkte, Linien etc. sind Elemente einer Struktur, in der nur die Beziehungen und Strukturen zählen.
  10. Hier wäre viel Arbeit zu leisten (und es gibt ja auch eine umfangreiche Literatur zum Thema).
  11. Ein Ansatzpunkt könnte sein, diese philosophischen Fragen zur Mathematik im Rahmen des Emerging-Mind Projektes mit zu verfolgen. Dort geht es ja darum, anhand von definierten Aufgabenstellung systematisch künstliche kognitive Strukturen aufzubauen, die mindestens den menschlichen kognitiven Leistungen entsprechen. Der primäre Ansatzpunkt wird das Erlernen und die Benutzung der normalen Sprache sein. Die Einbeziehung mathematischer Strukturen bietet sich an.

QUELLEN

  • Eugenia Cheng. Categories. In Timothy Gowers, Editor THE PRINCETON COMPANION TO MATHEMATICS. Princeton University Press, Princeton (NJ), USA, 2008.

  • Richard Courant und Herbert Robbins. What is Mathematics? An Elementary Approach to Ideas and Methods. Oxford University Press, Oxford – New York, 1941, rev.ed. 1969.

  • Karen Hunger Parshall. The development of abstract algebra. In Timothy Gowers, Editor THE PRINCETON COMPANION TO MATHEMATICS, Kap. II.3, SS. 95–106. Princeton University Press, Princeton (NJ), USA, 2008.

  • Klaus Mainzer. Geometrie. In Jürgen Mittelstrass, Editor ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, Bd. 1: A-G, Kap. Geometrie, SS. 737–739. Verlag J.B.Metzler, Stuttgart – Weimar (DE), 1995.

  • David Marker. Logic and Model Theory. In Timothy Gowers, editor, THE PRINCETON COMPANION TO MATHEMATICS, Kap. IV.23, SS.1 635–646. Princeton University Press, Princeton (NJ), USA, 2008.

  • N. N. Kategorie. In Guido Walz, Editor Lexikon der Mathematik, Bd. Inp-Mon, Kap. Kategorie, SS. 92–93. Spectrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin (DE), 2001.

  • M. Schlichenmaier. Algebra. In Guido Walz, Editor Lexikon der Mathematik, Bd. A-Eif, Kap. Algebra, SS. 40–42. Spectrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin (DE), 2001.

  • Christian Thiel. Algebra. In Jürgen Mittelstrass, Editor ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, Bd. 1: A-G, Kap. Algebra, SS. 79-80. Verlag J.B.Metzler, Stuttgart – Weimar (DE), 1995.

  • Gereon Wolters. Kategorie. In Jürgen Mittelstrass:, Editor ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, Bd. 2:H-O, Kap. Kategorie, SS. 368–369. Verlag J.B.Metzler, Stuttgart – Weimar (DE), 1995.

Einen Überblick über alle Beiträge im Blog von cagent nach Titeln findet sich HIER.