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DESCARTES IMPLODIEREN LASSEN. Dualität mutiert zur Monade

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
14.Juli 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

IDEE

Bei der Lektüre des Buches ’Quanten sind anders’ (2006) von Görnitz [1] bin ich auf den Seiten 27-49 über Erklärungen gestolpert, die man so zwar eigentlich in allen heutigen Interpretationen zu Descartes wiederfindet, die aber deswegen nicht unbedingt richtig sein müssen. Möglicherweise angeregt durch den Erklärungskontext bei Görnitz sowie meinen eigenen Überlegungen in verschiedenen Zusammenhängen (u.a. in den Rekonstruktionen von Stace, insbesondere ab Teil 3  und 4) erscheint mir die schnelle Etikettierung von Descartes Ansatz als Dualist nur bedingt hilfreich, zumindest wenn man über ihn vom heutigen Wissensstand aus spricht.

I. DESCARTES

a) Descartes klassisch interpretiert: Vereinfachend kann man die klassische Interpretation von Descartes in zwei Punkten zusammenfassen.1) Bei der Suche nach einem ’Ankerpunkt’ für sein Denken meinte Descartes in der ’Gewissheit seiner eigenen Denktätigkeit’ einen Punkt gefunden zu haben , von dem aus sich alles weitere – die verschiedenen wechselnden Inhalte und Formen – sortieren und diskutieren lassen. 2) Von diesem markierten Denkpunkt aus hat er dann versucht, diese beiden ’Pole’ seiner Bewusstheit– das ’Sich-im-Denken-gewiss-sein’ und die ’wechselnden Inhalte’ – seinsmäßig (ontologisch) zu ’interpretieren. Eine solche Interpretation in Form von spezifischen ’Zuordnungen’ folgt nicht zwingend aus den Phänomenen des Ausgangspunktes. Diese Zuordnung stellt eine freie Auswahl aus verschiedenen Denkmöglichkeiten dar.

Descartes wählte für seine freie Zuordnung (Deutung,Interpretation, Kodierung) die Begriffe ’res cogitans’ und ’res extensa’, die zur damaligen Zeit in verschiedenen philosophischen Konzepten verfügbar waren. Und er ordnete dann seine ’Gewissheit’ der ’res cogitans’ zu und die wechselnden Inhalte und Formen der ’res extensa’. Belässt man es bei dieser Interpretation, dann spaltet sich in der Tat die Wirklichkeit in zwei ontologisch unterschiedliche Seinsbereiche auf, deren Beziehung untereinander logisch größte Probleme aufwirft.

Dass Descartes selbst hier eine Lösung über eine postulierte ’Zirbeldrüse’ andachte (was die logischen Probleme faktisch nicht löste), soll uns hier weiter nicht beschäftigen.

2b) Descartes neu interpretiert: Nach dem heutigen Wissensstand können wir annehmen, dass das bewusste Denken sich – wie genau, das ist noch nicht vollständig geklärt – in Verbindung mit dem ’Gehirn’ abspielt. Das Gehirn ist ein Organ unseres Körpers und wäre im Sinne Descartes der ’res extensa’ zuzuordnen. Anstatt nun eine weiter ’Substanz’ zu postulieren, die ’res cogitans’, wie es Descartes tat (und vermutlich aufgrund seines Wissensstandes auch gar nicht anders konnte), könnten wir heute sagen, dass das bewusste Denken, die Selbstgewissheit, eine ’Eigenschaft des Gehirns’ ist, genauer eine ’Funktion des Gehirns’. Damit wären ’res cogitans’ und ’res extensa’ nicht mehr zwei ontologisch unverbundene Seinsweisen sondern die ’res cogitans’ wird zu einer Eigenschaft, zu einer Funktion der ’res extensa’. Die res extensa, als ’Sammelbecken’ von statischen Eigenschaften, wird mit der ’res cogitans’ zu jenem’ dynamischen Etwas’ als das wir heute die ’Materie (= res extensa)’ erleben und erforschen. Statt einer klassischen Dualität haben wir dann eine dynamische ’Monadizität’, eine Art ’Implosion‘ der res cogitans in die res extensa hinein (Anmerkung: In direkte Antwort zu Descartes waren es speziell Spinoza und Leibniz, die seinen dualistischen Ansatz ablehnend-kritisch sahen. In der Einleitung zum 5.Kapitel seiner Ethik hat Spinoza [2] den Ansatz von Descartes analysiert und als nicht akzeptabel verworfen. Sein eigener Lösungsansatz versucht die ’Einheit’ von Denken und Körper durch Annahme einer in Gott gründenden ’einen Substanz’ zu retten, die in vielen Punkten ebenso wenig nachvollziehbar ist wie Descartes Rettungsversuch über die Zirbeldrüse. (Für die weitere kritische Diskussion von Spinoza siehe auch Decher (2015) [3]:SS.101-108) Der Lösungsansatz von Leibniz in seiner ’Monadologie’ [4] kommt einem systematisch-modernen Denken weiter entgegen, doch bringt er auch als Letztbegründung wieder Gott ins Spiel (vgl. Decher (2015) [3]:SS.110-117). Würde man diesen Faktor bei Leibniz ’herausrechnen’, dann erscheint seine Monadologie in einem interessanten Licht. Der hier benutze Begriff der ’Monadizität’ setzt das Wort ’Monadologie’ voraus.).

Im Denken selbst erscheint zwar ’Denken’ und ’Inhalt’ als etwas Getrenntes, aber ’ontologisch’ ist das Denken (die klassische ’res cogitans’) eine ’inhärente Eigenschaft’ des Körpers, der Materie (die klassische ’res extensa’). Eine Zirbeldrüse im Sinne des Descartes wird damit überflüssig.

c) Geist-Materie: Bislang wird der Begriff ‚Geist-Materie‘ kaum benutzt.  Mit dieser neuen implodierten Einheit von Denken und Sein lösen sich viele klassische Probleme, die aus einer speziellen Interpretation der primären Phänomene resultierten, es stellen sich aber ganz neue, möglicherweise noch radikalere Herausforderungen. Denn jetzt wird das ’Bewusstsein’, das ’Sich-Selbst-Denken’ zu einer genuinen Eigenschaft der Materie. Während die einen darin eine ’Abwertung’ des Denkens und des ’Geistigen’ sehen, werden die anderen darin eine ’Aufwertung’ des Körperlichen, des Materiellen sehen (oder auch, ganz im Gegenteil, eine ‚Verwässerung‘ des Materiebegriffs).

Die moderne Physik, hier allen voraus die Quantenphysik, hat schon längst die Positionen der klassischen Physik und damit eines deterministischen Objektdenkens aufgebrochen. Die schöne heile Welt der abgrenzbaren Objekte, der deterministischen Verhältnisse, wurde mit den neuen Forschungen quasi weggesprengt. Der fließende Übergang von Energie und Materie, das Verschwinden aller Determinismen, bei einer gleichzeitig zu beobachtenden Dynamik des bekannten Universums, das sich nicht als reines ’Chaos’ präsentiert, sondern als eine Quelle gerichteter und steigender Komplexität, allerdings nicht deterministisch, sondern ’frei’ … dies wirft tonnenweise Fragen auf, die bislang nicht einmal im Ansatz geklärt sind. Historisch mag man Descartes als jenen Meilenstein ansehen, an dem die Aporie des klassischen Geist-Materie Denkens sein historisches Maximum erreicht hat, das aber dann mit der modernen Quantenphysik (wann genau?) seine denkerische Transformation hinein in eine neue ontologische Geist-Materie-Einheit erlebte.

Im Prinzip war das klassische griechische Denken davon nicht weit entfernt, aber es fehlten ihnen damals einfach die notwendigen Daten.

d) Nachbemerkungen: Görnitz erwähnt in der Kritik an Descartes Dualismus auch zwei der heutigen Standardeinwände gegen Descartes Gewissheitsansatz: Freud mit seinem Unbewussten und Gödel mit seiner Unentscheidbarkeit hinreichend komplexer formaler Systeme (vgl. Görnitz S.45). Im Lichte der neuen Interpretation erscheinen mir beide Hinweise nicht zielführend zu sein.

Die Tatsache, dass ein Großteil der Vorgänge in unserem Körper – möglicherweise muss man heute sogar sagen: der überwiegende Teil – nicht im Zugriff des Bewusstseins liegt, muss nicht notwendigerweise ein Totschlagargument gegen die Position der Gewissheit von Descartes sein. Die ’Gewissheit im Denken’ bezieht sich ja gerade nicht auf die wahrnehmbaren ’Inhalte’ des Denkens, die variieren, die ganz unterschiedlichen Wirkursachen zu verdanken sind, sondern auf die Fähigkeit, in diesem Wandel einen Bezugspunkt zu haben, relativ zu dem der Wandel überhaupt ’bewusst’ sein kann. Dass das ’Unbewusste’ sich ’auswirken’ kann – in seinen Auswirkungen dann sehr wohl bewusst’ –unterscheidet es nicht von jeder beliebigen anderen bewusst wahrnehmbaren Wirkung von irgendwelchen anderen Wirkursachen. Entscheidend ist vielmehr, dass der Mensch über jene Form von Bewusstsein verfügt, die die Andersartigkeit der Phänomene wie auch ihren Wandel ’bemerken’ kann. Diese formale Bewusstheit wird ergänzt um ein –weitgehend unbewusst arbeitendes – Gedächtnis (eine Funktion des Gehirns), das auf ’automatische’ (vom Gehirn vorgegebene) Weise den Strom der Phänomene selektiert, abstrahiert, assoziiert und vieles mehr. In diesem Zusammenspiel von ’Sich-Selbst-Bewusst-Sein-können‘ und der ’ordnenden Funktion’ des Gedächtnisses kann das sich seiner bewusste Subjekt den Strom der Phänomene (wodurch auch immer verursacht) soweit ’sortieren’, dass Muster, Regel erkennbar werden, die Zeitreihen erlauben, mittels denen das punktuelle Bewusstsein sich denkerisch in Räume und Zeiten hinein ausdehnen kann, die es selbst in einem komplexen Geschehen vorkommend erscheinen lassen.

Dass diese Bewusstheit samt Ordnungstätigkeit sich ’täuschen’ kann ist zwar bekannt, aber – wie wir heute wissen können – bis zu einem gewissen Grad ’ausgleichbar’, speziell dann, wenn die einzelnen Gehirne gelernt haben, ’im Verbund’ zu denken.

Auch der berühmte Unentscheidbarkeitsbeweis von Kurt Gödel (1931) [5] scheint hier fehl am Platz zu sein. Gödel bezieht sich nicht auf Phänomene des Bewusstseins sondern auf die Möglichkeit, die Eigenschaften eines formalen Systems (Anmerkung: Er benutzte das System der Arithmetik. ) formal so zu beschreiben, dass alle (=Vollständigkeit) wahren(=speziell ausgezeichnete) Aussagen dieses Systems formal ableitbar sind. Aufgrund der inhärenten Doppelstruktur eines solchen formalen Beweises von Objektsprache (das zu beschreibenden System) und Metasprache (die Sprache des Beweises), die dann die Objektsprache in der Metasprache nachvollziehen muss, kann es grundsätzlich keinen vollständigen Beweis geben. Dies liegt einfach an der Struktur eines solchen Beweises. Dieser beweistheoretische Sachverhalt, auf den Gödel in wunderbarer Weise hingewiesen hat (was später von Turing (1936/7) [6] auf eine andere Weise ebenfalls gezeigt worden ist), berührt die Überlegungen von Descartes in keiner Weise. Vielmehr ist der metalogische Beweis von Gödel (und auch von Turing (und von vielen anderen)) ein wunderbares Beispiel, wie die Struktur des Selbstbewusstseins im Zusammenspiel mit dem (denkenden) Gedächtnis gerade in der Lage ist, die Eigenschaften solcher formaler Systeme und der metalogischen Beweise nicht nur zu vollziehen, sondern sie auf eine Weise zu vollziehen, die dann andere Gehirne mit ihrem Bewusstsein nachvollziehen können.

Diese relative Struktur des Bewusstseins (und des zugehörigen Gehirns) ist genau die Stärke des menschlichen Denkens. Im Prinzip wissen wir im Augenblick nichts, aber in einem kontinuierlichen Prozess können wir immer mehr Strukturen aufbauen, die uns die Möglichkeit verschaffen, ’im Prinzip’ ’Alles’ wissen zu können. In diesem Zusammenhang hat die Menschheit gelernt, dass ihre Gehirne bei anwachsender Komplexität der äußeren Welt – die weitgehend vom Menschen mit verursacht ist – trotz aller Wunderbarkeit des Gehirns an physische, und damit endliche Grenzen, der Verarbeitung stößt. Glücklicherweise hat die Menschheit mittlerweile programmierbare Maschinen erfunden (die Computer), beherrscht ihre Vernetzung, so dass die menschlichen Gehirne ihre physischen Grenzen im Prinzip mittels dieser programmierbaren Maschinen wieder ein Stück überwinden könnten. Aktuell hat man aber den Eindruck, dass die Menschheit sich noch schwer tut, diese neue Technologie in maximal symbiotischer Weise konstruktiv einzusetzen.

4 QUELLEN

[1] T. Goernitz, Quanten Sind Anders: Die verborgene Einheit der Welt, 1st ed. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag,2006.

[2] Spinoza, “Werke. Bd 1+2, lateinisch – deutsch,” Darmstadt, 1967.

[3] F. Decher, Handbuch der Philosophie des Geistes, 1st ed. Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015.

[4] G. Leibniz, Monadologie und andere metaphysische Schriften, Französisch-Deutsch, 1st ed., J. Schneider, Ed. Hamburg:Felix Meiner Verlag, 2002.

[5] K. Goedel, “Über formal unentscheidbare Saetze der principia mathematica und verwandter Systeme, I,” Monatshefte fuer Mathematik und Physik, vol. 38, pp. 173–98, 1931.

[6] A. M. Turing, “On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem,” Proceedings of the London Mathematical Society, vol. 42, no. 2, p. 230–265, 1936-7.

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