MEDITATION UND WISSENSCHAFT. Überlegungen zu einem Lehr- und Forschungsexperiment an einer Deutschen Hochschule

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 16.Okt. 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Das Hauptthema in diesem Blog ist seit Beginn die Suche nach dem neuen Menschenbild innerhalb der Koordinaten ‚Philosophie – Wissenschaft‘ ergänzt um die Themen ‚Gesellschaft – Technologie‘ und ‚Religion‘.

Im Laufe der Jahre haben sich aufgrund dieser Überlegungen immer wieder ‚Unterprojekte‘ außerhalb des Blogs herausgebildet, um die allgemeinen Überlegungen auch konkret zu prüfen bzw. umzusetzen.

Aktuell gibt es drei Unterprojekte: (i) Vorbereitet durch viele Jahre Vorlesungen gibt es ein online-Buchprojekt zum integrierten Engineering, das weit fortgeschritten ist. (ii) Ferner gibt es nun schon im vierten Semester ein Projekt ‚Meditation und Wissenschaft‘ an einer Deutschen Hochschule als reguläre interdisziplinäre Lehrveranstaltung, aus der ein erstes Buch hervorgegangen ist (kurz vor dem Druck), und zu dem es in wenigen Tagen einen ersten wissenschaftlichen Kongress geben wird. (iii) Seit dem Frühjahr 2018 hat sich im Anschluss an einen Kongress zur Städteplanung ein neues interdisziplinäres Projekt gebildet, das eine ziemlich direkte Umsetzung der Theorie des Engineerings ist, die unter (i) erwähnt wird (die aktuelle Webseite https://www.frankfurt-university.de/index.php?id=4664 verrät noch nicht all zu viel, aber eine deutlich erweiterte Fassung ist in Vorbereitung (bis ca. Mitte November) und adressiert alle Kommunen in Deutschland (und letztlich in ganz Europa). Eine weitere Variante adressiert Universitäten und Schulen, auch Firmen.

Hier soll kurz auf das unter (ii) genannte Projekt eingegangen werden.

GESELLSCHAFTICHE AUSGANGSLAGE

Wie in dem im Frühjahr 2019 erscheinenden Buch ausführlich dargelegt wird, erleben wir eine Zeit, in der aktuelle technologische Entwicklungen (sehr dominant: die sogenannte ‚Digitalisierung‘) die gewohnten Abläufe in der Gesellschaft von Grund auf neu formen. Zusätzlich wirbeln alte, bekannte Weltbilder mit neuen wissenschaftlichen Sehweisen, meist sehr fragmentiert, durcheinander und lassen den einzelnen eher verwirrt denn aufgeklärt zurück. Die konkreten Alltagsformate der einzelnen Menschen in den Industrieländern induzieren viele neue Stresssituationen, selbst schon bei Kindern, Jugendlichen und Studierenden, die das aktuelle Bildungssystem zu überfordern scheinen.

VERANTWORTUNG DER HOCHSCHULEN

In einem solchen Kontext müssen sich Hochschulen, auch die Hochschulen für angewandte Wissenschaften, neu orientieren und sortieren.

Traditionellerweise verbindet man mit Hochschulen ‚Wissenschaft‘, ‚wissenschaftliches Denken und Arbeiten‘, und es gibt zahlreiche juristische und organisatorische Abläufe, die diese Wissenschaftlichkeit absichern sollen. Aus Sicht des einzelnen Studierenden erscheint eine Hochschule aber immer mehr wie eine ‚Service-Maschine‘, die eine Vielfalt von Studienprogrammen anbietet, die jeweils kleine Ausschnitte aus dem großen Wissenskosmos vorstellt, die — in der Regel — weder mit dem Rest der Wissenschaft noch mit der Breite der Gesellschaft irgendetwas zu tun haben. Wichtiges Detail: der einzelne Studierende als ‚Person‘, als ‚Mensch‘ mit all seinen Facetten und heutigen Belastungen kommt in diesen Programmen normalerweise nicht vor. Dies ist ‚Privatsache‘. Da muss jeder auf eigene Faust schauen, wie er das ‚regelt‘.

Der wachsende ‚Veränderungsdruck‘ in der gesamten Gesellschaft, die Zersplitterung der kognitiven Landkarte in viele Fragmente, die nicht mehr zusammen zu passen scheinen, die allseitige Zunahme an körperlichen und psychischen Erkrankungen, kann man, wenn man will, als Anregung, als Herausforderung verstehen, den Ort ‚Hochschule‘ neu zu formen, um diesen greifbaren Defiziten mehr gerecht zu werden.

ERSTER ANTWORTVERSUCH

Eine umfassende Antwort würde möglicherweise in eine sehr grundlegende Reform der Hochschulen münden. Ob, wann und wie dies geschieht, weiß momentan sicher niemand. Aufgrund einer besonderen Situation an der Frankfurt University of Applied Sciences kam es im Frühjahr 2017 zu einer Initiative (Dievernich, Frey, Doeben-Henisch), die zum Start eines offiziellen Lehrmoduls ‚Meditation als kulturelle Praxis‘ führte, das sich seitdem inhaltlich immer mehr zur Thematik ‚Meditation und Wissenschaft‘ hin entwickelt hat.

Es soll hier einführend beschrieben werden, wie das Projekt so zwei unterschiedlich erscheinende Themen wie ‚Meditation‘ einerseits und ‚Wissenschaft und Technologie‘ andererseits miteinander zu einer Lehrveranstaltung mit forschendem Charakter verbinden kann. Zudem sollte es einen Beitrag zur personalen, menschlichen Situation der Studierenden leisten.

INTERDISZIPLINÄRES FELD STUDIUM GENERALE

Vorweg zu den Details der nachfolgenden Erläuterungen muss festgestellt werden, dass der Start zu dem neuen, innovativen, Projekt ‚Meditation als kulturelle Praxis‘ (oder dann künftig eher ‚Meditation und Wissenschaft‘) nur möglich war, weil es in der Hochschule schon seit 2005 die alle Fachbereiche und Studienprogramme übergreifende Einrichtung eines ‚interdisziplinären Studium Generale (ISG)‘ gibt. In diesem Rahmen können nahezu beliebige Themen von Dozenteams aus mindestens 2 – eher 3 — verschiedenen Fachbereichen angeboten werden, und die Studierenden aus allen Bachelorstudiengängen können sich dafür anmelden. Dieser kreative Raum innerhalb der ansonsten ziemlich ‚hart verdrahteten‘ Lehre war schon vielfach ein Ort für neue, innovative, und vor allem teamorientierte Lernerfahrungen. Doch auch hier gilt: was nützen die besten Optionen, wenn es zu wenig kreative und mutige Dozenten und Studierende gibt. Freiräume sind ‚Einladungen zu‘ aber keine ‚Garantien für‘ eine kreative Nutzung.

PHÄNOMEN MEDITATION

Das Thema ‚Meditation‘ blickt zurück auf eine Tradition von mehr als 2000 Jahren, mit vielen unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen, und erlebt seit Jahren eine starke Wiederbelebung in von Technologie geprägten Gesellschaften, deren Vielfalt kaum noch zu überschauen ist. Im Kern wird das Thema Meditation aber begleitet von einer Art Versprechen, dass jemand, der meditiert, daraus sowohl für seinen Körper als auch für seine Psyche ‚positive Wirkungen‘ ziehen kann.

Meditieren heißt, dass man mit seinem Körper etwas konkretes ‚tut‘, dass man konkrete Zustände seines Körpers konkret ‚erlebt‘, und dass man dieses Tun und Erleben ‚interpretieren‘ kann, aber nicht muss. Sowohl zu den konkreten praktischen Formen des Meditierens wie auch zu den möglichen Interpretationen gibt es ein breites Spektrum an Vorgehensweisen und Deutungen.

Was kann ein einzelner Mensch tun, wenn er sich mit Meditieren beschäftigen will? Was kann er tun, wenn er in einer von Wissenschaft und Technik geprägten Welt mit dem Phänomen Meditation konfrontiert wird? Welche Rolle spielen die ‚Deutungsmodelle‘? Warum gibt es überhaupt so viele unterschiedliche Deutungsmodelle? Was bedeutet es, dass diese Deutungsmodelle in so vielen verschiedenen Sprachen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten vorliegen?

DEUTUNGSMODELLE UND WISSENSCHAFT

Die modernen empirischen Wissenschaften sind im Laufe der Jahrhunderte (mit langen Vorlaufzeiten von bis zu 2000 Jahren!) entstanden als eine neue Art von ‚Wahrheitsbewegung‘: wie kann man in der Vielfalt der Erfahrungen und des Wissens jene ‚Bestandteile‘ herausfinden, die ‚wirklich Geltung‘ haben im Unterschied zu jenen Bestandteilen, die sprachlich zwar beschrieben und behauptet werden, aber nur schwer bis gar nicht als ‚gültig‘ erwiesen werden können? In einem mühsamen Prozess, der in den ca. letzten 400 Jahren zu seiner heutigen Form fand, zeigte sich, dass das Festhalten an intersubjektiv überprüfbaren ‚Standards‘ intersubjektiv nachvollziehbare und reproduzierbare ‚Messoperationen‘ mit ‚Messwerten‘ ermöglichte, was wiederum ganz neue explizite ‚Arbeitshypothesen‘, ‚Modelle‘ und dann ‚Theorien‘ ermöglicht.

KEIN GEGENSATZ ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND ‚GEIST‘

Während das Projekt ‚empirische Wissenschaft‘ lange Zeit als Gegensatz zur klassischen Philosophie und den sogenannten Geisteswissenschaften erschien, führten die Ergebnisse der ca. letzten 150 Jahre mehr und mehr dazu, dass man die Position des ‚Geistes‘, der ‚Geisteswissenschaften‘ im Rahmen der modernen empirischen Theorien schrittweise so ‚einordnen‘ kann, dass die Geisteswissenschaften einerseits im Rahmen der empirischen Wissenschaften integriert werden können, andererseits aber die Besonderheit des Menschen (als Teil des gesamten biologischen Lebens) nicht verschwindet. Statt dass die Besonderheit des Geistigen und des Lebens verschwindet, scheint es eher so zu sein, dass die Besonderheit des Geistigen als Teil des Biologischen eine noch viel größere Wucht erhält als je zuvor. Diese neue mögliche Fusion von empirischen Wissenschaften und ‚Theorie des Geistigen‘ wird bislang noch kaum genutzt. Zu tief haben sich traditionelle Begrifflichkeiten als kulturelle Muster in die Gehirne ‚eingegraben‘; solches zu ändern dauert erfahrungsgemäß viele Generationen.

KANT 2.0

Während der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) eingesperrt in sein Bewusstsein, ohne Sprachkritik und ohne Evolutionstheorie, die Antworten auf seine Fragen nur als abstrakte Postulate formulieren konnte, nach denen u.a. Raum und Zeit ‚konstitutiv‘ für menschliches Erkennen sind, ohne dass er dies weiter erklären konnte, hat die moderne Wissenschaft nicht nur ein Stück mehr erklären können, wie überhaupt Sprache funktioniert, sondern zusätzlich wie die Strukturen unserer Wahrnehmung, unseres Gedächtnisses, unseres Denkens und vieles mehr von den Strukturen unseres Gehirns in einem bestimmten Körper geprägt sind, die sich wiederum in einer Entwicklungsgeschichte von vielen Milliarden Jahren herausgebildet haben. Wir wissen heute, dass das ‚Bewusstsein‘ nur einen quantitativ verschwindend kleinen Teil des Gesamtkörpers repräsentiert; das meiste ist ‚unbewusst‘ (die Gehirnzellen haben am ganzen Körper einen Anteil von ca. 0.15%, das ‚Bewusstsein‘ wiederum ist nur mit einem Teil der Gehirnzellen assoziiert…). Zusätzlich hat die Wissenschaft ansatzweise aufgedeckt, wie das Gehirn die aufgenommenen Sinnesreize und Körperreize im Kontext von Wahrnehmung, Gedächtnis und Lernen ‚induktiv‘ zu nahezu beliebig komplexen Mustern verrechnen kann, die für uns dann die Konzepte/ Kategorien bilden, mit denen wir die Welt und und uns selbst anschauen. Da diese komplexen Strukturbildungsprozesse durch kommunikative Interaktionen (speziell auch sprachlichen) beeinflusst werde können, können sich Gehirn-induzierte und Kultur-induzierte Muster mischen, vermischen, und so komplexe Deutungsmuster entstehen lassen, deren ‚Gültigkeitsgehalt‘ stark variieren.

REFORMBEDARF DER WISSENSCHAFTEN

Während die empirischen Wissenschaften (und darauf aufbauen die Ingenieurskunst), in den letzten Jahrhunderten viele Pluspunkte sammeln konnten, zeigen sich im bisherigen Konzept und der Praxis von Wissenschaft dennoch gewisse Schwachpunkte: im Rahmen des empirischen Paradigmas können zwar erfolgreiche empirische Experimente und partielle Modelle entwickelt werden, aber die bisherigen empirischen Konzepte reichen nicht aus, um (i) die vielen einzelnen Theorien zu ‚integrieren‘, und (ii) die bisherigen Konzepte sind nicht in der Lage, den ‚Theoriemacher‘ und ‚Theoriebenutzer‘ in der Theorie mit zu repräsentieren. Gerade in den Ingenieurwissenschaften mit ihren immer komplexeren Projekten führt dies zu grotesken Verzerrungen und vielfachen Projektabstürzen. In den empirischen Wissenschaften ist dies nicht wirklich besser, nur fällt es dort nicht so direkt auf. Allerdings kann man zwischen einer rein physikalischen Betrachtungsweise und einer biologischen immer größere Probleme entdecken.

RÜCKKEHR DER PHILOSOPHIE

An dieser Stelle wird klar, dass das historisch ‚ältere‘ Projekt einer umfassenden Philosophie noch nicht ganz ausgedient hat. Während die Philosophie in der oftmals selbst gewählten Abstinenz von Wissenschaft (seit ca. 1500 Jahren) mehr und mehr den Kontakt zur Welt verlor, kann Philosophie in enger Kooperation mit Wissenschaft dieser helfen, ihre fehlende ‚Einheit‘ zurück zu gewinnen. Das neue Paradigma lautet daher ‚Philosophie und Wissenschaft‘ als grundlegendem Denkmuster, erweitert, konkretisiert in der ‚Ingenieurskunst‘. Diese liefern den Rahmen, in dem sich die Freiheit und Kreativität des Lebens entfalten und gestalten kann.

MEDITATION UND WISSENSCHAFT

Schematisches Modell für eine philosophisch begründete empirische Weltsicht am Beispiel des Meditierens
Schematisches Modell für eine philosophisch begründete empirische Weltsicht am Beispiel des Meditierens

Diese neuen, spannenden Entwicklungen in Philosophie und Wissenschaft eröffnen auch neue, interessante Zugangsweisen im Umgang mit dem empirischen (und historisch überlieferten) Phänomen der Meditation. Im folgenden Text (siehe auch die Schaubilder) wird versucht, aufzuzeigen, wie ein modernes Philosophie-Wissenschafts-Paradigma eine aktive Auseinandersetzung mit dem Phänomen leisten könnte.

Für diese aktive Beschäftigung mit dem Phänomen Meditation wird angenommen, dass sich grob vier Perspektiven unterscheiden lassen:

  1. REALE PRAXIS: Meditation wird in einer bestimmten Umgebung praktiziert von einem Menschen, der dabei mit seinem Körper etwas tut. Dies kann zu Veränderungen an seinem Körper führen wie auch in seinem Erleben.

  2. BEOBACHTEN: Vor der Praxis kann man in Form von Fragen festlegen, auf welche Art von Phänomenen man vor, während und nach der Meditation achten will. Dazu kann man festlegen, in welcher Form die Beobachtung ausgeführt werden soll und wie man die Beobachtungswerte/ -daten protokollieren will. Sie sollten unter festgelegten Bedingungen für jeden potentiellen Beobachter reproduzierbar sein. Ort, Zeit, Umstände usw. sollten aus den Protokollen entnehmbar sein.

  3. DEUTUNG: Einzelne Beobachtungswerte repräsentieren isolierte Ereignisse, die als solche noch keine weiterreichenden Deutungen zulassen. Die einfachste Form von Deutungen sind einfache Beziehungen zwischen verschiedenen Beobachtungswerten (räumliche, zeitliche, …). Sobald mehr als eine Beziehung auftritt, ein Beziehungsbündel, kann man Beziehungsnetzwerke formulieren, Modelle, in denen Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Faktoren sichtbar werden. Wahrheitsfähig werden Deutungen aber erst, wenn sie als Theorie formuliert werden (Strukturen, Beziehungen, Dynamiken, Folgerungsbegriff, …), erst dann können sie wahr oder falsch sein, können sie möglicherweise falsifiziert werden, weil man Voraussagen ableiten kann. Generell kann man für Deutungen noch folgende Eigenschaften festhalten:

    1. Die einfachste und historisch häufigste Form von Deutungen sind Texte in ‚Normalsprache‚, eventuell angereichert mit Bildern oder anderen Artefakten.

    2. In modernen Versionen von Deutungen finden sich zusätzlich mehr und mehr voll definierte Diagramm-Sprachen bis hin zu animierten Bildfolgen

    3. Für die eigentliche, harte Modell- und Theoriebildung haben sich aber formale Sprachen durchgesetzt bzw. eine konsequent mathematische Darstellungsweise, ergänzt um eine explizite Logik, die beschreibt, wie man korrekte Folgerungen aus einer gegebenen Theorie gewinnen kann.

    4. Quer zu den Darstellungsweisen Text, Bild und Formel gibt es die zusätzliche Dimension einer dynamischen Repräsentation in Form von Ablaufschilderungen, Bildfolgen, Computer-Simulationen, oft noch erweitert um Interaktionen, die dem Ganzen einen spielerischen Charakter verleihen.

    5. ÜBERLIEFERUNG: Zu vielen (den meisten…) Phänomenen finden sich Überlieferungen aus früheren Zeiten. Die Überlieferungsgeschichte ist unterschiedlich gut, bisweilen sehr schlecht. Die Kontexte und die verwendeten sprachlichen sowie bildhaften Mittel setzen Interpretationsbeziehungen voraus, die heute gar nicht oder nur partiell bekannt sind. Die konkreten Umstände der Überlieferung, die beteiligten Personen, deren Innenleben, sind oft nur wenig bis gar nicht bekannt. Die Einbeziehung von Überlieferungen ist daher mit großer Vorsicht zu sehen. Dennoch können sie wertvolle Hinweise liefern, die man neu überprüfen kann.

  4. REFLEXION: Die bislang genannten Themen ‚Reale Praxis – Beobachtung – Deutung‘ kann man als solche ‚definieren‘, ‚beschreiben‘ und anwenden. Allerdings setzen alle diese Themen einen übergreifenden/ vorausgehenden Standpunkt voraus, in dem entschieden wird, ob man sich überhaupt einer Realität zuwenden will, welcher Realität, wie, wie oft usw. Ebenso muss vor der Beobachtung geklärt werden, ob man überhaupt beobachten will, wie, wann, wie oft, was man mit den Beobachtungswerten dann tun will, usw. Und entsprechend muss man vor Deutungsaktionen entscheiden, ob man überhaupt deuten will, wie, was, usw. Diese Dimension der vorbereitenden, begleitenden, und nachsinnenden Überlegungen zum gesamten Prozess wird hier Reflexion genannt. Als Menschen verfügen wir über diese Fähigkeit. Sie wird in all unserem Tun, speziell dann auch in einem wissenschaftlichen Verhalten, nicht direkt sichtbar, sondern nur indirekt durch die Art und Weise, wie wir mit der Welt und uns selbst umgehen. Es ist irgendwie die gesamte Vorgehensweise, in der sich ein ‚Plan‘, verschiedene ‚Überlegungen‘, verschiedene ‚Entscheidungen‘ auswirken und damit ausdrücken können. Und ein wissenschaftlicher Umgang mit der Welt und sich selbst setzt insofern bestimmte Verhaltensformate voraus. Wissenschaft im üblichen Sinne ist die geordnete Umsetzung eines solchen Planes. Die Analyse und das Design eines solchen wissenschaftlichen Handlungsformates leistet idealerweise die Wissenschaftsphilosophie. Den kompletten Rahmen für jedwede Art von Vorgehen, das Nachsinnen ob und wie überhaupt, die Klärung von Motiven und Voraussetzungen, die Methode einer Wissenschaftsphilosophie, und vieles mehr, das ist die originäre Aufgabe der Philosophie. Insofern ist die Domäne der vor- und übergreifenden Reflexion die Domäne der Philosophie, die darin in einer methodisch engen Weise mit jedweder Form von Wissenschaft verknüpft ist.

Die hier aufgelisteten Punkte bilden eine minimale Skizze, die weitere Kommentare benötigt.

BEOBACHTUNG: SUBJEKTIVITÄT – OBJEKTIVITÄT

Die Verschränkung des 'Objektiven' mit dem 'Subjektiven' aufgrund des heutigen Kenntnisstands
Die Verschränkung des ‚Objektiven‘ mit dem ‚Subjektiven‘ aufgrund des heutigen Kenntnisstands

Setzt man obigen Rahmen voraus, dann scheint es hilfreich, einen Punkt daraus hier speziell aufzugreifen: das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität, das sich nahezu durch die gesamte Geschichte der Philosophie und der Auseinandersetzung zwischen Philosophie und empirischer Wissenschaft zieht. Und gerade im Fall des Meditierens gewinnt diese Unterscheidung eine besondere Bedeutung, da neben jenen Wirkungen des Meditierens, die sich äußerlich und in Körperfunktionen direkt (empirisch, objektiv) beobachten (messen) lassen, es viele (die meisten) Wirkungen gibt, die sich nur ‚im Innern‘ (subjektiv) des Meditierenden erfassen lassen. Wie geht man damit um?

Aufgrund der Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften können wir heute relativ klar sagen, dass das persönliche Erleben an das jeweilige, individuelle Bewusstsein (‚consciousness‘) geknüpft ist, das wiederum – in einer noch nicht genau rekonstruierten Weise – eine Funktion des individuellen Gehirns ist. Das Gehirn wiederum sitzt in einem Körper und wird von diesem neben der notwendigen Energie mit allerlei Erregungsmustern (neuronale Signale) versorgt. Einige stammen von Sinnesorganen, die verschiedene energetische Ereignisse er Außenwelt (Licht, Schall, Geruch, …) in neuronale Signale übersetzen, andere vom Körperinnern, andere vom Gehirn selbst. Das Gehirn weiß also von der Außenwelt ‚direkt‘ nichts, sondern nur in dem Maße, als ihm diverse neuronale Signale übermittelt werden, die in sich schon eine erste Übersetzung darstellen. Aus all diesen Signalen errechnet das Gehirn kontinuierlich ein Netzwerk von repräsentierenden Ereignisstrukturen, die zusammen ein ‚komplexes (dynamisches) Bild‘ des aktuellen Zustands ergeben. Dieses Zustandsbild ist beeinflusst von ‚vergangenen Bildern‘ (Gedächtnis), von unterschiedlichen ‚Abstraktionsprozessen‘, von unterschiedlichen ‚Erwartungswerten‘ und ‚Bewertungen‘, um as Mindeste zu sagen. Wie viel von den kontinuierlichen Berechnungen des Gehirns tatsächlich ins ‚Bewusstsein‘ gelangt, also ‚bewusst‘ ist, lässt sich nicht klar sagen. Sicher ist nur, dass das, was uns bewusst ist, in jedem Fall eine Auswahl darstellt und es insofern – aus Sicht des Bewussten – ein Unbewusstes gibt, das nach groben Schätzungen erheblich größer ist als das Bewusste.

Philosophen nennen die unterschiedlichen Inhalte des Bewusstseins ‚Phänomene [PH]‘ (zumindest in jener Richtung, die sich phänomenologische Philosophie‘ nennt). Innerhalb dieser Menge der Phänomene kann man anhand von Eigenschaften unterschiedliche Teilmengen der Phänomene unterscheiden. Eine sehr wichtige ist die Teilmenge der ‚Phänomene von den externen Sensoren (PH_W_EXT)‘. Durch ihren Bezug zu unterstellten Objekten der Außenwelt und zusätzlich unterstützt durch Phänomene einer realen Kommunikation lässt sich eine Art ‚Korrelation‘ dieser Phänomene mit unterstellten Objekten der Außenwelt in einer Weise herstellen, die sich mit anderen ‚Beobachtern‘ ’synchronisieren‘ lässt. Sofern dies gelingt (z.B. durch vereinbarte Formen des Messens mit vereinbarten Standards) bekommen diese Phänomene PH_W_EXT einen besonderen Status. Wir nennen sie empirische Phänomene weil sie – obgleich sie weiterhin Phänomene bleiben und damit subjektiv sind – sich in einer Weise mit externen Ereignissen koppeln lassen, die sich in der Reaktion anderer Beobachter auch reproduzieren lässt. Durch diese ‚Rückkopplung‘ gelingt es einem Gehirn, seine ‚locked-in‘ Situation partiell zu überwinden. Daher kommt den als empirisch qualifizierbaren subjektiven Phänomene eine ganz besondere Rolle zu.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die modernen empirischen Wissenschaften durch ihren methodischen Bezug auf die empirischen subjektiven Phänomene sich eine Beobachtungsbasis geschaffen haben, der ein maximaler Erfolgt deswegen vergönnt war, weil tatsächlich nur jene Phänomene Berücksichtigung fanden, die im Prinzip allen Beobachtern in gleicher Weise zugänglich sind.

Eine unkritische – was hier heißt: eine un-philosophische – Handhabung des empirischen Auswahlprinzips kann aber zu unerwünschten Ergebnissen führen. Einer der größten Fehler der Wissenschaftsgeschichte ist wohl (und da hat die Philosophie simultan auch versagt), aus der methodisch sinnvollen Einschränkung auf die subjektiven empirischen Phänomene zu schließen, dass alle anderen (subjektiven) Phänomene grundsätzlich unwichtig oder gar irreführend seien. Diese Folgerung war und ist sachlich völlig haltlos und in ihrer Wirkung verheerend.

Es ist ja nicht nur so (siehe den vorausgehenden Text), dass die empirisch genannten Phänomene weiterhin rein subjektive Phänomene bleiben, sondern das Bewusstsein als Ganzes ist die primäre Quelle für jede Form von Erkenntnis, deren der homo sapiens fähig ist! Die neueren Erkenntnisse zur gleichzeitigen Existenz eines sehr großen Unbewussten setzen das Phänomen des Bewusstseins ja nicht ‚außer Kraft‘, sondern, ganz im Gegenteil, es stellt sich verschärft die Frage, warum es in der Evolution zur Ausprägung des Bewusstseins unter Voraussetzung des Unbewussten kam? Was ist der ‚Vorteil‘ für ein biologisches System zusätzlich zum gewaltigen Komplex der ‚unbewussten Maschinerie‘ des Körpers und des Gehirns noch die Form des ‚Bewusstseins‘ zu besitzen? Bei einem sehr groben Vergleich der Zeiträume von Lebewesen ‚mit‘ und ‚ohne‘ Bewusstsein ist unübersehbar, dass es erst mit der Verfügbarkeit eines hinreichend differenzierten Bewusstseins zu den überaus komplexen und beständig weiter anwachsenden komplexen Verhaltensleistungen ganzer Populationen gekommen ist. Und aus der Tatsache, dass sich nur ein kleiner Teil der Phänomene des Bewusstseins direkt über die Außenwelt mit anderen Beobachtern korrelieren lässt, zu folgern, dass alle anderen Phänomene ‚irrelevant‘ seien, ist weder sachlich noch logisch irgendwie begründbar. Mit dem heutigen Wissensstand müssten wir eher das Gegenteil folgern: eine neue bewusste und herzhafte Hinwendung zu jener reichen Phänomenwelt, die ein biologisches System hervorbringen kann, die sich aber (bislang) einem direkten empirischen Zugriff entziehen.

In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass eine ‚Erklärung‘ von subjektiven Phänomenen durch Rückgriff auf ausschließlich direkt korrelierbare physiologische Eigenschaften methodisch fragwürdig ist und in der Regel genau das nicht erklärt, was erklärt werden sollte.

Diese wenigen ersten Gedanken können vielleicht deutlich machen, dass der Anteil subjektiver Phänomene im Kontext des Phänomens ‚Meditation‘ philosophisch und wissenschaftlich kein unüberwindbares Hindernis darstellt, sondern eher eine Einladung, die Forschungen zu vertiefen und zu verbessern.

WIE PRAKTISCH VORGEHEN?

Was bedeutet dies nun für ein praktisches Vorgehen? Wie kann man dies im Rahmen eines konkreten Lehrmoduls umsetzen? Hier ein erster Entwurf:

  1. Als primärer Referenzpunkt sollen konkrete praktische Meditationsübungen dienen, von denen unterschiedliche Formen vorgestellt und dann unter Anleitung ausprobiert werden können. Dies kann in jeder Sitzung und außerhalb, im privaten und öffentlichen Bereich geschehen.

  2. Damit die Perspektive der Wissenschaft und Philosophie zur Wirkung kommen kann, sollte von Anfang an diese Perspektive vorgestellt und demonstriert werden, wie diese sich auf das konkrete Beispiel Meditation anwenden lässt. Neben einer allgemeinen Einführung müsste konkret erläutert werden, welche Fragen sich stellen lassen, und wie eine Beobachtung aussehen könnte. Jeder für sich und dann auch im Team versucht eine Art ‚Logbuch‘ zu führen, in dem alle für die Beobachtung wichtigen Daten eingetragen werden.

  3. Nachdem erste Beobachtungen vorliegen, kann man gemeinsam überlegen, ob und wie man solche Daten ‚deuten‘ könnte: welche Art von Mustern, Regelmäßigkeiten deuten sich an? Gibt es Unterschiede in den verschiedenen Logbüchern? Welchen Status haben solche Deutungen?

  4. Die Schritte (1) – (3) kann man mehrfach wiederholen. Im Alltagsleben kann dies Jahre dauern, viele Jahre. Im Lehrbetrieb hat man nur ca. 2-3 Monate Zeit, um zumindest den grundlegenden Ansatz zu vermitteln.

  5. Nachdem ein erster Eindruck vermittelt wurde, wie man selber sowohl konkret meditieren wie auch empirisch seine Erfahrungen analysieren kann, kann man den individuellen Prozess in größere Kontexte einbetten wie (i) Beispiele von traditionellen Deutungen anhand von prominenten Texten aus der Überlieferung oder (ii) Beispiele aus der Arbeitsweise der verhaltensbasierten Psychologie und der etwas differenzierteren Psychoanalyse oder (iii) Beispielen aus der Philosophie und der Wissenschaftsphilosophie.

Wie man aus diesem kleinen Aufriss entnehmen kann, stellt ein einzelnes Modul nur ein minimales Kick-Off dar, für eine allererste Idee, wie es gehen könnte. Im Grunde genommen bräuchte man für jeden der genannten Punkte (i) – (iii) ein eigenes Modul, und selbst dies wäre nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hieran kann man erahnen, wie schwierig die Ausbildung einer eigenen konkreten Selbsterfahrungs-Praxis mit einer wissenschaftlichen Begleitung eigentlich ist, und wir dürfen uns nicht wundern, wenn so viele Menschen heute sich im Strom der Ereignisse schnell ‚verloren‘ vorkommen… sogenannte ‚Patentantworten‘ sind nicht notwendigerweise ‚richtige Antworten’…

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