Archiv für den Tag: 28. Mai 2019

MARC ELSBERG – GIER. Wirtschaftstheorie verkappt als Thriller. Kurzbesprechung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 27.Mai 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Marc Elsberg (2019), Gier. Wie weit würdest Du gehen? Blanvalet Verlag (gehört zu Random House), München. Rezipiert in der leicht gekürzten Hörbuchfassung, hg. von Random-House Audio, München

GESPALTENES PUBLIKUM

Wie die bisherigen Rezensionen bei amazon.de deutlich machen, hinterlässt der Versuch, schwer erzählbare Theorien – in diesem Fall Wirtschaftstheorien – spannend zu verpacken, ein gespaltenes Publikum. Nach den vorliegenden Rezensionen bei Amazon (25.Mai 2016, insgesamt 114) äußern sich mehr als 50% stark bis weitgehend kritisch. Dies ist nichts Neues. Wer vorwiegend Unterhaltung und Spannung sucht ohne zu viel ‚Wissenschaft‘, dem wird normalerweise kein Buch gefallen, das als Thriller daherkommt und dann im Text, eingeschmuggelt, theoretische Gedanken zu gesellschaftlichen, speziell wirtschaftlichen, Themen vorfindet.

ROMAN IM KOORDINATENSYTEM DER GESELLSCHAFT

So gesehen ist ein Buch (in meinem Fall die Hörfassung) kein isoliertes Ereignis sondern immer auch zu sehen als Teil eines Publikums, einer Gesellschaft, in der bestimmte Weltbilder in den Köpfen der Leser bereitliegen, um auf die stimulierenden Worte eines Textes zu reagieren.

Soweit ersichtlich leben wir in einer fast schizophrenen Gegenwart: einerseits sind wir Teil einer komplexen Gesellschaft, durch und durch getragen und getrieben von hochkomplexen Technologien, ohne die nahezu nichts mehr möglich wäre; andererseits sind die Ausbildungssysteme dieser Gesellschaften weitgehend unzureichend, veraltet, werden an Leitbildern ausgerichtet, die mit der realen Welt immer weniger zu tun haben. Neben vielen wichtigen Themen ist das mathematische Denken so ein Beispiel. Nahezu jede Technologie, die heute unser Leben bestimmt, ist ohne die Entwicklung der modernen Mathematik undenkbar, doch ist gerade die mathematische Bildung des normalen Bürgers unterirdisch schlecht. Und da die heutigen Politiker weitgehend Kinder dieses schwächelnden Bildungssystems sind, wundert es nicht, dass im politischen Leben mathematisch-gestärktes Denken Mangelware ist.

SITUATION DES AUTORS

Was will ein engagierter Autor in solch einer gesellschaftlichen Situation machen? Will er einen maximalen Publikumserfolg landen, dann wird er alles vermeiden müssen, was das Denken zu sehr ‚belastet‘; damit wird er aber kaum tiefgreifende Probleme behandeln können, die unsere aktuelle Situation und die daraus erwachsenden möglichen Zukünfte ernsthaft betreffen. Ist er aber intelligent, hat er sich über den alltäglichen Mainstream hinweg in einige der realen Problemstellungen hineingelesen, hineingeredet, hineingedacht, alles sehr mühevoll, da der Mainstream Abweichungen wenig unterstützt, und er fühlt sich als Mensch herausgefordert, sich den neuen Erkenntnissen zu stellen, dann hat dieser Mensch ein Problem, insbesondere dann, wenn er sich als Autor versteht, als ernsthafter Autor.

POSITION DES ROMANS

Den vorliegenden Roman ‚Gier‘ von Elsberg deute ich so: er versteht sich als Autor, der nicht nur aus Gefälligkeit schreibt, nicht nur dem Mainstream gedankenlos folgen will, sondern der sich mit wichtigen, grundlegenden Fragen unseres globalen Wirtschaftssystems ernsthaft auseinandersetzen will. Ein Wirtschaftssystem, das uns seit Jahrzehnten demonstriert, dass es zunehmend von elitären geld- und machthungrigen Gruppierungen gesteuert wird, denen der große Zusammenhang egal ist, und die mittlerweile so mächtig geworden sind, dass fast alle bekannten nationalen Regierungen diesen kaum noch eine eigene, begründete Sicht entgegen setzen können (bzw. wollen). Die nächsten Katastrophen sind vorprogrammiert; das Leiden vieler wird billigend in Kauf genommen. Obwohl es in den Wissenschaften hier und da schwache Ansätze gibt, diesem scheinbaren Automatismus der globalen Abläufe etwas entgegen zu setzen, haben diese Ansätze kaum eine Wirkung. Die herrschenden Kräfte von Markt und Politik sind für solche Meinungen weitgehend unempfindlich. Dies ist die Realität.

Vor diesem Hintergrund verstehe ich den Roman ‚Gier‘ von Elsberg als einen ernsthaften – und angesichts dieser Rezeptionssituation – sehr gewagten Versuch, das ‚Unsagbare‘ doch irgendwie zu sagen.

WIE ERZÄHLEN

Wie in den Ingenieurwissenschaften seit Jahrzehnten bekannt ist, kann man komplexe Sachverhalte nur schlecht bis gar nicht einfach nur durch einen Text oder ein paar tote Formeln verständlich machen. Ingenieure benutzen daher schon immer das Mittel der Simulation, um komplexe Sachverhalte in ihrer Dynamik und in ihren Auswirkungen sichtbar zu machen. Selbst die Intelligentesten müssen sich dieses Instruments bedienen, da unser Gehirn nicht so gebaut ist, dass es komplexe Sachverhalte ‚einfach so‘ denken kann.

Eine uralte Form der Simulation ist die Erzählung, oder dann modern der Roman, später das Hörspiel oder der Film. Hier entwickelt man, ausgehend von einer Startsituation mittels des Verhaltens der Akteure (auch unter Einbeziehung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten) einen Ablauf von Situationen, eine Geschichte, die mit ihrem Verlauf allen Lesern und Hörern in ihren inneren Vorstellungen augenscheinlich macht, was alles passieren kann, wenn man sich in dieser oder jener Situation befindet und so oder so handelt.

Elsberg unternimmt also den wagemutigen Versuch, eine der schwierigsten Problemstellungen – den möglichen Gang unserer menschlichen Gesellschaft – in Form seiner Roman-Simulation an einigen ausgewählten Punkten deutlich zu machen.

Für mich als Philosoph und Wissenschaftler war die Wahl der Darstellungsmittel (globale Konferenz, Massendemonstrationen, Bessere Welt Aktivisten, der Sicherheitsapparat zwischen allen Fronten usw.) nicht unpassend gewählt. Ist es doch so, dass wir seit Jahren das öffentliche Auftreten des Politikapparates und vieler Finanzgrößen so oder ähnlich erleben. Auch die angedeuteten Verhaltensmuster, offiziellen Normen, Klischees in den Köpfen, entsprechend weitgehend dem, was wir real erleben. Die Zusammensetzung der Hauptpersonen war vielfältig, könnte so sein, wenngleich die Personen im Detail vielleicht nicht immer ganz überzeugend waren. Aber, ins Reale gedreht: wie weit sind Personen, die wir kennen ‚überzeugend‘? Wieweit sind wir selbst für andere überzeugend?

Dennoch war ich fasziniert davon, wie Elsberg versuchte, bei diesem gewählten Rahmen seine eigentliche Kernbotschaft von der besseren Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie zusammen mit einer Fundamentalkritik am aktuellen Prozess rüber zubringen.

Lange war nicht ganz klar, was eigentlich seine Botschaft sein sollte, und die abgefahrene Story mit dem getöteten Redner für den Weltwirtschaftsgipfel und seinem Begleiter wirkte etwas bizarr. Aber so langsam, häppchenweise, rückte er mit seiner Idee heraus eingebettet in einen Plot, der ebenfalls ziemlich abgefahren –wenngleich nicht völlig unrealistisch – war, so dass die Neugierde auf mehr Aufklärung seiner Botschaft einerseits und diese bizarre Story von den agierenden Profikillern als verlängerter Arm einen globalen Finanzakteurs kontinuierlich stieg (bei mir; bei anderen offensichtlich nicht :-)).

Da ich die zitierten Theorien ein wenig kenne, ich Mathematik eher spannend als langweilig empfinde, und ich an ähnlichen Theorien arbeite, blieb bei mir unterm Strich hängen, wie man einen komplexen Sachverhalt menschlichen Zusammenlebens auf globaler Ebene letztlich mit einfachen, spielerischen Modellen verdeutlichen kann.

BEDEUTUNG DES ROMANS

Trotz der z.T. enttäuschenden oder gar ablehnenden Rezeption des Romans halte ich den Roman für sehr gut, mutig und sehr wichtig. Ich bin davon überzeugt, dass der Roman wichtige Kommunikationsprozesse auslösen kann. Vor allem sehe ich in dem Ansatz der Erschließung dieser komplexen Thematik in Form von mehr kritisch-realistischen Gesellschaftsspielen – als Brettspiele, als Planspiele, als Computerspiele, als Lernumgebungen … – eine große Chance ergänzend zu einer reinen Textfassung.

BEZUG ZU DIESEM BLOG

Wie schon im vorausgehenden Blogeintrag zum Thema Computerspiele deutlich werden kann, vertrete ich die Auffassung, dass unser kulturelles Denken mehr gemeinsame, leistungsfähige Denk- und Kommunikationsformen benötigt, um die aktuelle gesellschaftliche Komplexität noch gemeinsam meistern zu können. An der zugehörigen Theorie (und Praxis) arbeite ich vielen seit Jahren. In dem zu diesem Blog parallelen eJournal kann man unter dem etwas kryptischen Titel AAI V3 Frontpage dazu einiges nachlesen.

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