BRAUCHT VIRTUALITÄT REALITÄT? Selbstvernichtung kennt viele Gesichter … Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

So 15.Dezember 2019

Änderung: 15.12.2019, 14:30h im Text.

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KONTEXT

Das Thema in diesem Beitrag kam in der einen oder anderen Weise auch in vorausgehenden Beiträgen schon mehrfach zur Sprache. In diesem Beitrag versucht der Autor dieses Textes eine thematische Zuspitzung am Beispiel der empirischen Wissenschaften, die in dieser Weise in diesem Blog so noch nicht vorkam. Zwischen den heutigen Extremen von allgemeinem Wissenschafts-Bashing auf der einen, und einer eher kritiklose Überhöhung der Wissenschaften auf der anderen Seite möchte dieser Beitrag verdeutlichen, dass der modernen empirischen Wissenschaft eine evolutionäre Schlüsselrolle zukommt. Aus dieser postulierten Notwendigkeit folgt aber kein Automatismus für eine gesellschaftlich angemessene Umsetzung von empirischer Wissenschaft.

VIRTUELLE WELTEN ALS INNOVATION

Mit der Verbreitung der Computertechnologie seit den 1950iger Jahren wurde es zunehmend möglich, mit Computern erzeugte Bilder und Sounds so gut zu berechnen, dass es für das sinnliche Wahrnehmungsvermögen des Menschen immer schwerer wird, die so künstlich erzeugten computerbasierten Ereignisse von der realen Körperwelt zu unterscheiden. Nach einem 3/4 Jahrhundert Entwicklung muss man feststellen, dass die junge Generation diese computergestützten virtuellen Ereignisse schon so ’normal‘ ansieht wie die reale Welt ihrer Körper. Es entsteht der Eindruck, dass die reale Welt der Körper und die Interaktion dieser Körper mit der ‚realen‘ Welt im heutigen Weltbild immer weniger Bedeutung einnimmt bis dahin, dass die reale Welt eher als ‚das Fremde‘ erscheint und die computergestützte ‚virtuelle Welt‘ als das primär Vertraute, und damit scheinbar zur ’neuen Realität‘ wird.

VERKEHRTE WELT

Macht man sich bewusst, dass es seit der Existenz erster biologischer Zellen vor ca. 3.5 Mrd. Jahren mindestens 2.9 Mrd. Jahre gebraucht hat, bis vielzellige Tiere aufgetreten sind, und von da ab hat es bis ca. vor 600.000 Jahren gebraucht, bis die Lebensform des homo sapiens ins Geschehen eingriff. Der homo sapiens — der moderne Mensch, wir — zeigt erstmals nicht nur Bewusstsein, sondern im weiteren Verlauf auch ein symbolisches Sprachvermögen.

Innerhalb der Entwicklung des homo sapiens ist es erst innerhalb der letzten 100 Jahre gelungen, durch moderne Evolutionsbiologie, Psychologie und Physiologie herauszufinden, dass es das Gehirn des Menschen ist, das alle Signale von den Sinnesorganen — sowohl der äußeren wie der inneren — einsammelt und daraus in Zeitintervallen von ca. 50 – 500 Millisekunden jeweils ein aktuelles Lagebild zu errechnen, das uns Menschen dann über unser Bewusstsein als ein virtuelles Bild der uns umgebenden realen Körperwelt zur Verfügung steht. Der Clou an dieser Konstruktion ist, dass wir dieses virtuelle Bild der realen Welt als ‚reales Bild‘ nehmen. Außer einige Philosophen in den letzten ca. 3000 Jahren kommt kein Mensch — nicht einmal in der Gegenwart — auf die Idee, sein vermeintlich reales Bild der Welt als ein virtuelles Bild der realen Welt anzusehen.

WISSENSCHAFT ALS EVOLUTIONÄRES EREIGNIS

Wer sich auf eine Reise in die Geschichte der Ideen begibt kann feststellen, dass die Menschen in der Vergangenheit sehr wohl einen Sinn für Realität ausprägen konnten. In allen Bereichen, in denen es ums Überleben geht (Reisen in unbekanntem Gelände, Landwirtschaft, Kriege, technische Konstruktionen, …) bildeten sich Verhaltensweisen und Anschauungen heraus, in denen der Bezug zu bestimmten Eigenschaften der realen Körperwelt charakteristisch waren: Sternbilder für die Reise, Jahreszeiten für die Planung in der Landwirtschaft, Materialeigenschaften für Waffen im Krieg und für Bauten, …

Aber erst vor ca. 400 Jahren begann mit Galileo Galilei und einigen seiner Zeitgenossen das, was wir heute moderne empirische Wissenschaft nennen. Es dauerte mehr als ca. 200 Jahre bis sich das Paradigma ‚moderne empirische Wissenschaft‘ sowohl in den Bildungseinrichtungen wie auch in der ganzen Gesellschaft einigermaßen verankern konnte. Doch ist die Verbreitung von empirischer Wissenschaft bis heute nicht umfassend und vollständig, ja, es gibt Anzeichen, die den Eindruck erwecken, als ob die moderne empirische Wissenschaft in vielen Bereichen wieder zurück gedrängt wird. Der Ausdruck ‚fake news‘ ist in der digitalisierten Welt zu einem Massenphänomen geworden, das sich immer weiter ausbreitet; eine Art mentaler Virus, der immer weiter um sich greift.

Diese Entwicklung ist bizarr und gefährlich. Es hat die gesamte bisherige Entwicklungszeit des biologischen Lebens auf der Erde gebraucht hat, bis das Leben auf dieser Erde die Fähigkeit zur empirischen Wissenschaft erreicht hat, um damit den ‚Bann‘ der körperinneren Virtualität zu durchbrechen um das Innere am Äußeren zu orientieren.

Dazu kommt die erst kürzliche Nutzung der Computertechnologie, die strukturell in jeder biologischen Zelle seit 3.5 Mrd. Jahren am Werke ist. Die mögliche Symbiose von Mensch und Computertechnologie markiert das größte und wichtigste Ereignis zum möglichen Überleben des Lebens nicht nur auf der Erde, sondern im ganzen bekannten Universum. Denn die Erde wird spätestens mit der fusionsbedingten Aufblähung der Sonne in ca. 0.9 Mrd. Jahren einen Temperaturanstieg erleben, der Leben auf der Erde schrittweise unmöglich machen wird. Nur im Zusammenwirken aller Lebensformen — und hier mit der besonderen Rolle des homo sapiens — kann das Leben im Universum eventuell überleben.

ALLTAG

Bislang hat man aber nicht den Eindruck, dass sich der homo sapiens seiner wichtigen Rolle für das gesamte Leben bewusst ist. Bislang demonstriert der homo sapiens eine große Verachtung für das Leben, verbraucht planlos wichtige Ressourcen, zerstört immer massiver das gesamte Ökosystem, dessen Funktionieren seine eigene Lebensbasis ist, und bekriegt sich untereinander. Die aktuellen politischen Systeme erwecken bislang nicht den Eindruck, als ob sie den aktuellen Herausforderungen gewachsen sind.

Die noch funktionierende Wissenschaft muss feststellen, dass politische Macht nicht automatisch wissenschaftliche Erkenntnisse übernimmt. Die politischen Systeme denken in kurzfristigen Zeiträumen, gewichten Tagesinteressen höher als langfristige Entwicklungen, und lassen weitgehend ein adäquates Verstehen vermissen. Das adäquate Verstehen ist — so scheint es — kein Automatismus.

WISSENSCHAFTS-ÖKOSYSTEM

Es braucht ein Ökosystem der besonderen Art, um gesellschaftliche Erkenntnisprozess kontinuierlich möglich zu machen. Wie lernt man dies, wenn es dafür keine Ausbilder gibt, weil der Sachverhalt neu ist?

Greifbar ist, dass die Förderung ausschließlich von Einzelwissenschaften nicht ausreichend ist, um das mögliche Zusammenwirken von mehreren Einzelwissenschaften in komplexen Problemstellungen zu fördern. Dazu bedarf es begriffliche und methodische Reflexionen in der Breite, kontinuierlich verankert in jeder Disziplin, und dennoch verknüpft in einem übergreifenden Verbund. In früheren Zeiten hatte dies die Philosophie geleistet. Neuer Ansätze wie die Wissenschaftsphilosophie haben bislang nirgends den Eingang in den alltäglichen Wissenschaftsbetrieb gefunden.

So gesehen vermehrt sich ständig die Anzahl der aufspielenden Einzelwissenschaften, aber für eine notwendige Gesamtschau fehlen die begrifflichen Dramaturgen. Wo sollen diese herkommen? Das moderne Wissenschaftssystem hat diese nicht vorgesehen und treibt damit freiwillig in eine Komplexität, die sie mehr und mehr von der sie ermöglichenden Gesellschaft abkoppelt. Eine wunderbare Zeit für ‚fake news‘, da ihnen keine öffentlich vermittelte Rationalität entgegen wirkt.

ÄUSSERES AM INNEREN MESSEN

Neben der gefährlichen Desintegration der vielen Einzelwissenschaften tragen die modernen empirischen Wissenschaften ein weiteres Defizit mit sich herum, das langfristig mindestens genauso gefährlich ist: die Ausklammerung der Innerlichkeit des Menschen. Die Erschließung der empirischen Realität für den Erkenntnisprozess war ein entscheidender Schritt als Gegengewicht zu der extrem schwer zu verstehenden inneren Erfahrung des Menschen in seinem Bewusstsein sowie deren Interaktion mit dem gesamten Gehirn und Körper. Aus der anfänglichen Schwierigkeit der empirischen Wissenschaften, das Innere des Menschen zu vermessen, folgt aber nicht notwendigerweise, dass das Innere deshalb grundsätzlich unwichtig oder unwissenschaftlich sei. Die mehr als 3000 Jahre feststellbaren spirituellen Traditionen quer in allen menschlichen Kulturen bilden starke Indikatoren, dass die vielfältigen inneren Erfahrungen für das Lebensgefühl und den Zustand eines menschlichen Lebens von großer Bedeutung sein können bzw. sind.

Unterstützt von einer neuen Querschnittwissenschaft zur Reflexion auf Wissenschaft und möglichen Integrationen von bislang getrennten einzelnen Disziplinen sollte entsprechend auch der Gegenstandsbereich der empirischen Wissenschaften in Richtung auf die inneren Zustände des Menschen radikal ausgeweitet werden. Im Rahmen der Bedeutungsfelder von Meditation, Spiritualität und Mystik gibt es viele starke Indikatoren für eine den einzelnen Menschen übersteigende Perspektive, die die Vielheit und Vielfalt des biologischen Lebens in möglicherweise in neuer Weise von innen her erschließen kann. Die bisherige Quantenmechanik erscheint in diesem Kontext nicht als ein Endpunkt sondern eher als ein Startpunkt, das Ganze nochmals von vorne neu zu denken.

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