Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 3.Februar 2021 (Zuletzt: 09:18h)
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)
KONTEXT
In einem kürzlichen Beitrag in diesem Blog mit dem — für die meisten — nichtssagenden Titel REAL-VIRTUELL. Ein Einschub [1] hatte ich speziell jene beiden Sachverhalte herausgearbeitet, die im Kontext der biologischen Evolution die fundamentalen Innovationen beschreibt, die mit dem homo sapiens — also mit uns — auf diesem Planeten stattgefunden haben. Während der heutige Mainstream von publizierten Ideen sich eher dem Gedanken hinzugeben scheint, dass das mit dem Menschen auf dieser Erde wohl doch keine so gute Idee war, dass dieser homo sapiens eher unendliche Probleme statt lebbare Situationen schafft, dass er gegenüber den — laut Marketinggetöse — sagenumwobenen intelligenten Maschinen schon jetzt ausgedient habe, legt eine nüchterne Betrachtung der strukturellen Eigenschaften des homo sapiens im evolutionären Kontext eine Perspektive frei, die sehr wohl nicht nur eine ganz andere Deutung zulässt, sondern sie letztlich erzwingt.
VIEL LICHT – VIEL SCHATTEN
Die beiden grundlegenden Eigenschaft der homo sapiens Lebensform, (i) Realität in Virtualität zu transformieren, und (ii) Virtualität im Innern des einen Organismus mit der Virtualität in einem anderen Organismus koordinieren zu können, diese Eigenschaften sind fudamental anders als alles, was es bis dahin — immerhin mit einer Vorgeschichte von ca. 3.5 Milliarden (10^9) Jahren — gab und bis heute gibt. Durch die Existenz des homo sapiens kann das gesamte biologische Leben auf der Erde sich selbst auf eine neue Stufe katapultieren, in einer Weise, die die bisher erforschten kognitiven Problemräume um Dimensionen übersteigt.
Wie aber jeder leicht feststellen kann, kommen diese neuen fundamentalen Eigenschaften des Lebens nicht zum Nulltarif. Ein Blick zurück in der Geschichte wie auch in unserer globale Gegenwart zeigt unmissverständlich, dass wir als homo sapiens ein großes Problem haben: wir könnten zwar — im Prinzip — gemeinsam unvorstellbar mehr erkennen als je zuvor; wir könnten unvorstellbare weitreichende Taten vollbringen — bis hin zur Umgestaltung selbst des ganzen Universums — als homo sapiens haben wir begleitend zu diesen unfassbar neuen Handlungsmöglichkeiten aber eine strukturelle Schwachstelle: die Virtualität unserer individuellen Weltbilder begünstigt den individuellen Glauben, nur weil man im eigenen Kopf ein Weltbild hat, kontinuierlich befeuert durch das eigene Gehirn, habe man auch schon ein richtiges und ein vollständiges Bild von der Welt.
Zwar könnte jeder leicht überprüfen, dass dies so nicht stimmen kann, aber de facto wachsen Menschen so auf, dass sie eher glauben, dass das Bild in ihrem Kopf auf jeden Fall das richtige und vollständige Bild ist. Und wie wir leicht sehen können, ist die Geschichte der Menschheit voll davon, dass Menschen alleine und gemeinsam die verrücktesten Ideen zu Leitbildern für ein richtiges Leben erhoben haben und immer noch erheben.
Die einzige Möglichkeit, sich gegen diese strukturelle Schwäche zu wappnen, den Irrtum der Massen so klein wie möglich zu halten, geht nur über eine Kultur des minimalen Irrtums. Damit ist der Sachverhalt angesprochen, dass die individuelle Schwäche in der Struktur eines homo sapiens Organismus nur dadurch überwunden werden kann, dass man die neue Stärke des Schwarms, der Population aktiviert, dass man durch spezifische Formen einer gemeinsamen Koordinierung gemeinsame Kommunikations- und Handlungsformen kultiviert, die einen kontinuierlichen gemeinsamen Abgleich der individuellen Virtualität mit der umgebenden Realität und der Realitäten der eigenen Virtualität ermöglicht.
KULTUR DES MINIMALEN IRRTUMS
Ziel müsste es sein, eine Kultur des minimalen Irrtums aufzubauen, zu praktizieren, die den individuellen Schwächen einen konstruktiven Gegenpart bieten kann.
Die bisherigen Ansätze einer empirische Wissenschaft und von demokratischen Gesellschaftsformen deuten in die richtige Richtung, aber die reale Praxis weltweit zeigt unmissverstänlich gravierende Schwächen auf. Im Alltag wirken diese Mechanismen noch viel zu wenig. Ideale Bilder erzeugen nicht automatisch eine entsprechend reale Praxis. Wenn jeder beliebige Schwachsinn flächendeckend mehr Anerkennung finden kann als mühsam erarbeitete Wahrheiten ist klar, dass wir noch in einem sehr labilen Zustand leben.
FUNDAMENTAL FREI
Für die Gestaltung einer Kultur des minimalen Irrtums ist allerdings zu berücksichtigen, dass wir es — wie in dem Beitrag Gedanken und Realität. Das Nichts konstruieren. Leben Schmecken. Notiz [2] dargelegt — im Falle des biologischen Lebens mit einem fundamentalen Freiheitsprozess zu tun haben. Die politischen und geisteswissenchaftlichen Konzepte von Freiheit sind nur schwache Abbilder dieser grundlegenden Freiheit, die dem Phänomen des Biologischen voraus geht: wie die Quantenmechanik zeigen kann (nicht muss, da Interpretationsabhängig und die wiederumn ruht in der Freiheit…), ist die Grundverfasstheit aller bekannten Realität ihre grundlegende Unbestimmbarkeit durch ihre Potentialität. Dieser grundsätzliche Sachverhalt schlägt auf allen Komplexitätsebenen durch, also auch in allen Formen biologischer Komplexität. Über Atome, Moleküle, Zellen, Zellverbände, Organismen konkretisieren sich zwar die Randbedingungen dieser Freiheit immer mehr, aber die grundlegende Freiheit ist fundamental für alle jemals denkbare Randbedingungen.
Wenn also das biologische Lebens als Ganzes und die Lebensform des homo sapiens als Teil davon grundsätzlich über eine Fundamental-Freiheit verfügen, dann gibt es zu jeder positiven Handlungsmöglichkeit immer auch eine negative Handlugsmöglichkeit. Potentiell können wir Wunder vollbringen, aber auch das schlimmste Grauen verbreiten. Freiheit gibt es nicht zum Nulltarif.
Zur aktuellen Lage könnte man sehr wohl sagen, wir stehen — wie immer — ganz am Anfang von …. man wird sehen.
INTERESSANTE KOINZIDENZ
Das im obigen Text beschrieben generelle Schema einer Kultur des minimalen Irrtums hat nahezu unendliche viele mögliche konkrete Ausformungen. Ein Grundsatzartikel von Prof. Vardi, dem vormaligen Chefradakteur der Communications of the ACM (die ACM ist die größte Vereinigung von Informatikern weltweit) in der aktuellen Ausgabe der Communications [3] scheint mir aber erwähnenswert. Er analysiert in diesem Beitrag die offensichtlichen Unzulänglichkeiten des bisherigen wissenschaftlichen Publikationssystems der Informatik (wobei sich diese Beobachtungen sicher bei vielen anderen Disziplinen in gleicher Weise bestätigen lassen würden) und stellt heraus, dass dieses systemische Versagen sich nicht durch heroisches Verhalten einzelner Individuen beheben lässt — er kritisiert dabei ein verbreitetes kulturelles Muster in der US-Amerikanischen Kultur –, sondern nur durch eine kollektive Anstrengung, wie sie gerade durch die gesamte ACM möglich wäre. Und in der Tat, die Leitung der ACM bereitet eine entsprechende Arbeitsgruppe vor.
QUELLENNACHWEISE
[1] Gerd Doeben-Henisch, 1.Februar 2021, https://www.cognitiveagent.org/2021/02/01/real-virtuell-ein-einschub/
[2] Gerd Doeben-Henisch, 25.Januar 2021, https://www.cognitiveagent.org/2021/01/23/gedanken-und-realitaet-das-nichts-konstruieren-leben-schmecken-notiz/
[3] Moshe Y.Vardi, Reboot the Computing-Research Publication System, Communications of the ACM, Januar 2021, Vol.64, Nr.1, S.7: https://cacm.acm.org/magazines/2021/1/249441-reboot-the-computing-research-publication-systems/fulltext
DER AUTOR
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