Gibt es noch einen zweiten und dritten Elefanten?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 29.September 2022 – 29. September 2022
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Diesem Text ging eine philosophische Reflexion zum Buch von Glaubrecht „Ende der Evolution. …“ voraus, insbesondere Teil 2 der Reflexion.[1]

Der erste Elefant

Dabei wurde sichtbar, dass sich all die großen globalen — und auch vielfach dann regionalen — Probleme auf einen ‚Elefanten im Raum‘ zurückführen lassen: auf die Menschheit selbst. Man hat den Eindruck, dass die Menschheit — zumindest teilweise — zu begreifen beginnt, dass es überhaupt globale Probleme gibt, auch, dass wir als Menschen — so richtig klar ist es den meisten dann doch nicht — irgendwie dafür verantwortlich sind, aber über ‚Wunschvorstellungen‘ hinaus, wie es dann doch vielleicht anders sein sollte, kommen wir kaum hinaus. Die tausenden Seiten der internationalen Klimaforschungs Experten kann ein Nicht-Experte ernsthafterweise nicht wirklich verstehen, nur glauben. Und dann ist die Veränderung des Klimas ja nicht das wirkliche Problem (wenngleich unangenehm in seinen zunehmend verheerenden Auswirkungen), sondern eine Folge von anderen Faktoren, die — so deutet es sich an — wir als Menschen weltweit beeinflusst haben und weiter beeinflussen. Aber wer kennt sich tatsächlich aus mit der Bevölkerungsentwicklung global und regional? Wieso und wie beeinflussen die Menschen ein katastrophales Artensterben weltweit? Was heißt dies genau? Wenn tatsächlich — wie behauptet wird — Gase wie z.B. CO2 die Atmosphäre so beeinflussen, dass sie zu einer deutlichen Erwärmung der Erde beitragen, was vielfältige Veränderungen im Gesamtklima und damit auf der Erdoberfläche, in den Ozeanen, in den Wetterphänomenen hat, was bedeutet dies dann für die Biosphäre als Ganze mit der Teilpopulation des homo sapiens? Energie verbrauchen ohne klimaschädliche Gase? Wie? Was ist überhaupt ‚Energie‘? Wie viel brauchen wir davon? Wo nehmen wir sie her? Wie können alle daran teilnehmen? Und was heißt ‚alle‘? Wer sind die ‚alle‘. Wie verträgt sich die tief sitzende ‚Angst vor Fremden und Neuem‘ in den Menschen mit der Vorstellung, dass ‚alle‘ teilhaben sollen? Wer redet hier mit wem? Wie organisieren sich die Menschen regional, national, global, um zu gemeinsamen Sichten und Vereinbarungen zu kommen? Braucht es dafür nicht ein abgestimmtes, koordiniertes Verhalten von allen? Wo kommen die ‚Leitbilder in den Köpfen‘ der Menschen her, die solch ein koordiniertes gemeinsames Handeln ermöglichen? Nur ein kurzer Seitenblick auf die bekannten ‚Weltbilder‘ in den Köpfen der Menschen offenbart, dass es noch immer in allen Nationen stark abweichende Anschauungen darüber gibt, was wichtig ist, wer ein ‚Freund‘ ist, wer ein ‚Feind‘ ist, wie eine ’nationale Zukunft‘ aussehen soll. Menschen werden verfolgt, unterdrückt, gefoltert, getötet; Kriege sind nicht ausgestorben sondern werden mit Begründungen geführt, die bizarr erscheinen. Es gibt Ungleichheiten, die krasser kaum sein könnten.

Der zweite Elefant …

Diese Skizze von Problemstellungen, denen wir als Menschen ausgesetzt sind, ließe sich nahezu beliebig erweitern. Sie deutet aber auf einen zweiten Elefanten im Raum hin: der erste Elefant ist die Menschheit selbst; der zweite Elefant ist das Medium der sprachlichen Kommunikation, die alle einzelnen Gehirne zu einer gemeinsamen Sicht der Welt und — darauf aufbauend — zu einem gemeinsamen koordinierten Verhalten führen kann, aber nicht muss! Wir empfinden es toll, wenn wir uns mit anderen Menschen ‚verstehen‘; es bereitet uns aber schlechte Gefühle vielfältigster Art, wenn wir den Eindruck gewinnen, dass wir uns ’nicht verstehen‘. Ein Nicht-Verstehen, was stattfindet, was andauert, was den Eindruck erweckt, dass es ‚unlösbar‘ sei, kann — und ist es auch meistens — der Ausgangspunkt für negative Gefühle sein, für aggressives Verhalten, für ‚Feindbilder im Kopf‘ sein. Es kann Menschen temporär oder dauerhaft ‚entzweien‘. Statt sich gegenseitig zu helfen, sich aneinander zu freuen, beginnt man sich das Leben wechselseitig schwer zu machen, leidet aneinander, beginnt sich womöglich konkret zu verfolgen und zu bekriegen.

Gibt es noch einen dritten Elefanten?

Wenn man ansatzweise zu begreifen beginnt, was ‚Kommunikation‘ ist, sprachliche Kommunikation, wie sie funktioniert, dann kann eine Ahnung von einem ‚dritten Elefanten‘ entstehen. Jeder hat dies in seinem Alltag schon erlebt und erlebt es vermutlich täglich immer wieder neu; obwohl es Menschen gibt, die man länger kennt, mit denen man sich ‚meistens‘ zu verstehen scheint, mit denen man schon vieles gemeinsam erlebt hat, kann es Situationen geben, in denen plötzlich ein ‚Widerspruch‘ in der Sache entsteht, scheinbar ‚aus dem Nichts‘: A will das eine, B will etwas anderes. Manchmal findet man zu einer ‚Einigung‘, manchmal nicht. Ein festgestellter Unterschied muss kein Problem sein, aber er kann. Und wenn festgestellte Unterschiede sich nicht leicht wieder auflösen lassen — z.B. durch einfaches Akzeptieren des Unterschieds, durch ein Reden miteinander, welches ein neues Verständnis der Sache ermöglicht –, dann kann dieser eine Unterschied wechselseitig zu Anfeindungen, Trennungen, Gewalttätigkeiten führen. Und damit entsteht ein zwischenmenschliches Problem, das Ursache für eine ganze Kette von Problemen ist, die — in der Geschichte — sogar zu Kriegen geführt haben, zu sinnlosen Kriegen, nur weil zwei Menschen plötzlich ‚den Eindruck‘, ‚das Gefühl‘ hatten, es gäbe einen ‚Gegensatz zu einem anderen Menschen‘.

Dieser ‚dritte Elefant‘ residiert ‚im Menschen selbst‘, in seinem ‚Inneren‘, das — was wir heute wissen können — weitgehend ‚unbewusst‘ ist. Das ‚Innere des Menschen‘ — seine Organe mit den Stoffwechselprozessen, sein Gehirn mit dem Nervensystem — arbeitet 24 Stunden durchgehend, ohne dass wir in dem, was wir unser ‚Bewusstsein‘ nennen, davon irgendetwas mitbekommen. Nur ab und zu, ganz punktuell, lässt das Gehirn uns für einen kurzen Moment in unser eigenes Inneres schauen. Wir nehmen etwas wahr und es tauchen dann plötzlich — wie aus dem Nichts — ‚Erinnerungen‘ auf, ‚Assoziationen‘, was uns das Gefühl vermittelt, dass wir das Wahrgenommene ‚kennen‘. Wir schlafen mit einer Problemstellung im Kopf ein und morgens, beim Aufwachen, sehen wir ganz klar eine mögliche Lösung. Wir versuchen als Kinder Schwimmen und Fahrradfahren zu lernen. Am Anfang funktioniert es überhaupt nicht. Aber, wenn wir nicht sofort aufgeben, dann stellt sich nach einiger Zeit die Erfahrung ein, dass wir ‚es können‘. Warum genau wissen wir nicht; wir können es einfach. Bevor ein Mensch zum ersten Mal so richtig ‚verknallt‘ war in einen anderen Menschen, wusste er nicht, dass er solcher Emotionen fähig war, aber dann weiß er/sie/x es. Dann ist klar, dass unsere ‚Inneres‘ so reagieren kann; das gleiche gilt für viele andere Emotionen: Trauer, Wut, Schwermut, Beschwingt sein, sich ‚toll‘ fühlen, usw. Unser Inneres ist — poetisch formuliert — wie ein ‚tiefer Ozean‘, den wir nie ganz ‚durchschauen‘, den wir nie ganz ‚beherrschen‘ können, der umgekehrt aber, uns sehr wohl beherrschen kann und uns täglich beweist, dass wir in unserem täglichen Verhalten fast vollständig von diesem ‚tiefen Ozean in uns‘ dirigiert werden. Nicht allzu viele Menschen sind sich dessen bewusst; wenige nur können mit diesem ‚inneren Ozean‘ bewusst umgehen. Psychologie und Gehirnwissenschaften haben in den letzten 100 bis 150 Jahren viele wichtige Erkenntnisse zu Teilaspekten dieses inneren Ozeans zu Tage gefördert, aber eine voll befriedigende ‚Theorie‘ dazu gibt es noch nicht. Wir setzen hunderte von Milliarden Euro für alle möglichen Forschungsprojekte ein, aber die Erkundung unseres eigenen inneren Ozeans, der uns voll im Griff hat, steht selten auf der Liste. Wir reden von ‚psychischen Erkrankungen‘, wir konstatieren ein starkes Anwachsen von ‚psychischen Störungen‘, Menschen nehmen Unmengen von ‚Medikamenten‘, um sich von empfundenen ‚Störungen ihre inneren Ozeans‘ zu befreien, aber ‚Verstehen‘ tun wir diesen ‚inneren Ozean‘ noch nicht wirklich. Wenn aber der innere Ozean sowohl unser individuelles Leben wie auch unser Miteinander im Alltag, in der Gesellschaft, global so eindringlich stören kann, bis dahin dass wir uns selbst und unseren Planeten gleich mit zerstören, dann kann man sich fragen, warum wir uns nicht endlich mal diesem dritten Elefanten stellen?

Jemand, der eine Reise machen will, sagen wir 1000 km, und dessen Fahrzeug (Bahn, Auto, Motorrad, Fahrrad, …) kaputte Räder hat, wird bekanntlich nicht weit kommen.

KOMMENTARE

[1] URL: https://www.cognitiveagent.org/2022/09/22/das-ende-der-evolution-von-matthias-glaubrecht2021-2019-lesenotizen-teil-2/

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