KOLLEKTIVES WISSEN : Generative KI im Chatbot-Format als Helfer

Dieser Text ist Teil des Textes „Neustart der Menschlichkeit (Rebooting humanity)“

(Die Englische Version findet sich HIER)

Autor Nr. 1 (Gerd Doeben-Henisch)Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

(Start: 10.Juli 2024, Letzte Änderung: 10.Juli  2024)

Ausgangspunkt

Wie die Texte des Buches nach und nach zeigen werden, repräsentiert der Ausdruck ‚Kollektives Wissen‘ einen entscheidenden Schlüsselbegriff für eine Eigenschaft, welche den Menschen — die Lebensform des ‚homo sapiens‘ — sehr tief charakterisiert. Für einen einzelnen Menschen ist das ‚kollektive Wissen‘ direkt kaum wahrnehmbar, aber ohne dieses kollektive Wissen hätte kein einziger Mensch überhaupt ein Wissen. Ja, dies klingt nicht nur wie ein Paradox, es ist ein Paradox. Während ein ‚Widerspruch‘ zwischen zwei verschiedenen Aussagen eine sachliche Unvereinbarkeit repräsentiert, vermittelt ein ‚Paradox‘ zwar auch den Eindruck eines ‚Widerspruchs‘, aber tatsächlich, von der Sache her, ist es dann doch keine ‚Unvereinbarkeit‘. Das ‚Wissen von uns einzelnen‘ ist ein reales Wissen, aber aufgrund der Endlichkeit unseres Körpers, unseres Wahrnehmungssystems, unseres Gedächtnisses können wir rein sachlich nur einen sehr kleinen Umfang an Wissen ‚in uns‘ versammeln. Je mehr Menschen es aber gibt, je mehr ‚Wissen‘ jeder Mensch täglich ‚produziert‘ — nur analog, oder dann auch digital –, um so größer wächst die Menge des Wissens, das wir Menschen in unserer Welt ‚ablagern‘. Zeitungen, Bücher, Bibliotheken, Datenbanken können diese Wissens begrenzt sammeln und sortieren. Ein einzelnen Mensch kann aber von diesem ‚gesammelten Wissen‘ nur kleine Bruchteile finden und ‚verarbeiten‘. Der Abstand zwischen dem ‚verfügbaren gesammelten Wissen‘ und dem ‚individuell verarbeitbaren Wissen‘ wächst beständig. In einer solchen Situation ist die Verfügbarkeit von generativer Künstlicher Intelligenz im Format von Chatbots ein geradezu ‚evolutionäres Ereignis‘! Diese neue Technologie löst nicht alle Fragen, aber sie kann dazu beitragen, dass der einzelne Menschen ‚prinzipiell‘ einen neuartigen direkten Zugriff auf das bekommen kann, was wir ‚kollektives Wissen der Menschheit‘ nennen sollten.

Vor der Digitalisierung der Welt …

war es tatsächlich mühsam, Gedanken, Wissen, so zu übermitteln, dass es andere davon Kenntnis nehmen konnten: zunächst nur mündliche Überlieferungen, dann Pergament und Papyrus, Steine und Ton, Inschriften in Felsen. Mit der Verfügbarkeit von Papier vereinfachte sich das Aufschreiben (es gab aber das Problem der Haltbarkeit); es kam zu Sammlung von Texten, zu Büchern und ersten Bibliotheken mit Büchern (Bibliotheken hab es aber auch schon für Keilschrift- und Tontafeln). Große Bibliotheken wie die ‚Bibliothek von Alexandria‘ wurden zu kostbaren ‚Sammelpunkten von Wissen‘, die aber auch während ihres Bestehens vielfältigen zerstörerischen Ereignissen ausgesetzt waren, was zu großen Verlusten an aufgezeichneten Wissen führen konnte.

Eine ‚mechanisierte Erstellung von Büchern‘ gab es seit ca. dem 8.Jahrhundert und der moderne Buchdruck begann im 15.Jahrhundert. Die Entwicklung von Bibliotheken verlief dennoch lange Zeit ’schleppend‘, vielfach nur auf privater Basis. Erst ab dem 19.Jahrhundert kam es zu einer stärkeren Entwicklung des Bibliothekswesens, hier jetzt auch von öffentlichen Bibliotheken.

Trotz dieser Entwicklung blieb es für einen einzelnen Menschen schwierig, sich Zugang zu Wissen über eine Bibliothek zu verschaffen, und selbst wenn es diesen (meist privilegierten) Zugang gab, war die Verfügbarkeit bestimmter Texte, ihre Einsichtnahme, das Erstellen von Notizen — oder später von Kopien — umständlich und zeitraubend. Der Zugriff des individuellen Lesers ähnelten kleinen ‚Stichproben‘, die selbst im Rahmen von wissenschaftlichen Arbeiten über Jahre sehr überschaubar blieben. Nicht zu vernachlässigen ist auch das Sprachproblem: der Anteil von ‚fremdsprachlichen Büchern‘ in der Bibliothek eines Landes A war überwiegend auf Texte mit der Sprache des Landes A beschränkt.

‚Gewinnung von Wissen‘ war für einen einzelnen Menschen daher mühsam, zeitaufwendig, sehr fragmentiert.

Eine immer wichtigere Alternative zu diesem schwer verfügbaren Feld des Bibliotheks-Wissens waren moderne Zeitschriften, Journale, in vielen Sprachen, mit immer kürzeren ‚Wissenszyklen‘. Je mehr solcher Zeitschriften es aber gibt, umso mehr treten die natürlichen individuellen Begrenzungen in Kraft, die angesichts des Anschwellens des Zeitschriften-Wissens schmerzhaft erfahrbar sind. Aktuell (2024) ist es kaum noch möglich, die genaue Zahl allein von wissenschaftlichen Zeitschriften zu schätzen. Allein im Bereich der Informatik schätzt man ca. 2000 Zeitschriften mit im Schnitt ca. 25.000 (oder mehr) Artikeln pro Jahr. Und wissenschaftliche Zeitschriften nur in chinesischer Sprache werden mit über 10.000 angegeben.[1]

[1] Soehe: https://www.eastview.com/resources/journals/caj

Mit der Digitalisierung

Seit der Verfügbarkeit des World Wide Web (WWW) ab den 1990-iger Jahren entstand ein einheitlicher Informationsraum, der sich seitdem immer mehr weltweit ausgebreitet hat. Zwar erleben wir in der Gegenwart in immer mehr Ländern eine ‚Abschottung‘ des WWW untereinander, aber die Entwicklung eines gemeinsamen Informationsraumes ist nicht mehr wirklich aufzuhalten.

Parallel zum Informationsraum entwickelten sich auch immer mehr ‚Technologien‘ des ‚Sammelns‘, ‚Aufbewahrens‘, ‚Wiederfindens‘ und ‚Auswertens‘, die es zunehmend möglich machen, auf ‚Fragen‘ ‚Antworten‘ aus immer mehr Quellen zu finden.

Mit der Verfügbarkeit von sogenannter ‚Generativer Künstlicher Intelligenz im Format von Chatbots‘ (GKI-CHaBo) seit 2022 hat diese ‚Technologie der Datennutzung‘ einen Level erreicht, der nicht nur ‚rohe Daten‘ findet, sondern der durch vollständige Indexierung von Wortclustern in Verbindung mit dem Trainieren von ‚Dialogformaten‘ einem einzelnen Nutzer mit seinen real beschränktem Wissen mit einem Mal einen ‚direkten Zugang‘ zum ‚kollektiven Wissen der Menschen‘ ermöglicht, sofern dieses digitalisiert werden konnte.

Für die ‚Evolution des Lebens auf diesem Planeten‘ erscheint diese Verfügbarkeit von kollektivem Wissen für den einzelnen möglicherweise das wichtigste Ereignis zu sein seit dem Auftreten des Homo sapiens selbst vor ca. 300.000 Jahren. Warum?

Der nächste Level?

Die Nachhaltigkeitsdebatte der letzten ca. 50 Jahre hat dazu beigetragen, dass neben der eher individuellen Perspektive des Lebens, neben stark regionalen oder auch nationalen Interessen und Perspektiven des Erfolgs, schrittweise auch Perspektiven ins Bewusstsein — nicht bei allen — getreten sind, die andeuten — und mittlerweile durch vielfältige Daten und Berechnungsmodellen belegen –, dass es Problemstellungen gibt, die den Ereignishorizont einzelner partikulärer Gruppen — und dies können ganze Nationalen sein — deutlich übersteigen. Viele denken hier zunächst an ‚Ressourcen‘ die knapp werden (z.B. Fischbestände), oder die verunreinigt werden (Weltmeere), oder gefährlich reduziert werden (Waldsysteme, Rohstoffe, Lebensformen,…) oder einiges mehr. Was bislang noch kaum Thema ist, obgleich es das eigentliche Thema sein sollte, das ist jener Faktor, der all diese Probleme hervorbringt: der Homo sapiens selbst, der durch sein Verhalten, ja, alleine schon auch durch seine große Zahl, alle die bekannten ‚Probleme‘ hervorruft. Und dies geschieht nicht ‚automatisch‘, sondern weil das Verhalten des Homos sapiens auf diesem Planeten von seinem ‚Inneren‘ in einer Weise ‚gesteuert‘ wird, dass er im großen Stil ‚unfähig‘ erscheint, sein Verhalten zu ändern, weil er sein ‚Inneres‘ nicht ‚im Griff‘ hat.

Dieses Innere setzt sich — grob betrachtet — aus Bedürfnissen zusammen, aus unterschiedlichen Emotionen, und aus gesammelten Erfahrungen verknüpft mit Wissen. Das Wissen liefert die ‚Bilder‘ von sich selbst, den anderen und von der Welt, wie ein Homo sapiens sie sieht. Bedürfnisse und Emotionen können Wissen blockieren, ‚fesseln‘ oder verändern. Dasjenige Wissen, was gerade verfügbar ist, hat allerdings eine große Macht: ein Homo sapiens kann letztlich nur das tun, was sein aktuelles Wissen ihm sagt — falls er auf sein Wissen hört und nicht auf ‚andere‘ die ihm aufgrund der Lebenssituation ‚etwas bedeuten‘.

Wenn man sich nun für eine ‚mögliche Zukunft‘ interessiert, oder — noch spezieller — für eine ‚mögliche Zukunft, die für möglichst viele möglichst gut ist‘, und zwar ’nachhaltig, dann ergibt sich die Herausforderung, wie können Menschen in der Situation eines Alltags, einer bestimmten Form von Gegenwart, diese Gegenwart ‚gedanklich‘ so weit ‚übersteigen‘, dass sie trotz aktueller Gegenwart ‚irgendwie‘ ein Stück ‚möglicher Zukunft‘ denken können.

‚Generative Künstliche Intelligenz im Format von Chatbots‘ (GKI-ChaBo) kann zwar helfen, die (angenäherte) Gesamtheit des bisherigen Wissens — wenngleich auch nur punktuell anhand von Fragen — zugänglich zu machen, aber das ‚Wissen der Vergangenheit‘ liefert ‚aus sich heraus‘ nichts ‚Neues‘ und — vor allem –, die Vergangenheit verfügt nicht unbedingt über jene ‚Ziele‘ und ‚Werte‘ die in der aktuellen Gegenwart notwendig sind, um genau ‚jene mögliche Zukunft zu wollen‘, auf die es ankommen wird.

Mit dieser Herausforderung stößt der Homo sapiens mit voller Wucht ‚auf sich selbst‘ und er wird sich nicht ‚hinter GKI-ChaBo verstecken‘ können. Eine GKI-ChaBo liefert sowieso immer nur das, was Menschen zuvor gesagt und getan haben, dies zwar in einer Breite, die ein einzelner Mensch nicht zustande bringen könnte, aber letztlich fungiert ein GKI-ChaBo nur wie eine Art ‚Spiegel des menschlichen Kollektivs‘. Eine GKI-ChaBo kann die Menschheit selbst nicht ersetzen. Eine GKI-ChaBo ist das Produkt kollektiver menschlicher Intelligenz und kann die Gesamtheit dieser kollektiven Intelligenz umrisshaft sichtbar machen (eine unfassbar tolle Leistung), aber mehr auch nicht.

Für den nächsten Level muss der Homo sapiens es irgendwie schaffen ’sich selbst ganz anders ‚in den Griff zu bekommen‘ wie bisher. In der bisherigen Geschichte gibt es kaum brauchbare Vorbilder. Was wird der Homo sapiens tun? GKI-ChaBo ist ein außerordentlicher Erfolg, aber es ist nicht der letzte Level. Wir können gespannt sein….

Über cagent

Bin Philosoph, Theologe, Kognitionswissenschaftler und hatte seit 2001 eine Vertretungsprofessur und ab 2005 eine volle Professur im Fachbereich Informatik & Ingenieurswissenschaften der Frankfurt University of Applied Sciences inne. Meine Schwerpunke ab 2005 waren 'Dynamisches Wissen (KI)', 'Mensch Maschine Interaktion (MMI)' sowie 'Simulation'. In dieser Zeit konnte ich auch an die hundert interdisziplinäre Projekte begleiten. Mich interessieren die Grundstrukturen des Lebens, die Logik der Evolution, die Entstehung von Wissen ('Geist'), die Möglichkeiten computerbasierter Intelligenz, die Wechselwirkungen zwischen Kultur und Technik, und der mögliche 'Sinn' von 'Leben' im 'Universum'. Ab 1.April 2017 bin ich emeritiert (= nicht mehr im aktiven Dienst). Neben ausgewählten Lehrveranstaltungen ('Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung' (früher 'Kommunalplanung und Gamification. Labor für Bürgerbeteiligung')) arbeite ich zunehmend in einem integrierten Projekt mit Theorie, neuem Typ von Software und gesellschaftlicher Umsetzung (Initiative 'Bürger im Gespräch (BiG)). Die einschlägigen Blogs sind weiter cognitiveagent.org, uffmm.org sowie oksimo.org ... ja, ich war auch mal 'Mönch', 22 Jahre lang mit viel Mystik, Theologie und Philosophie; dabei u.a. einige Jahre Jugendsozialarbeiter.