DER AUFRUF VON SCHULZ: AN ALLE
In meinem Blogeintrag vom 8.Februar 2014 mit dem Titel ‚Die Demokratie hat mal grade keine Saison‘ hatte ich u.a. auch den Artikel von Martin Schulz, dem Präsidenten des Europäischen Parlamentes, zitiert, da er jenseits der Technologieentwicklung und in Gestalt der vielen Übergrifflichkeiten mittels dieser Technologien eine ernsthafte Bedrohung erkennt, eine Bedrohung der Grundwerte und damit einhergehend eine Bedrohung unserer demokratischen Lebensformen. Wörtlich schreibt er im letzten Abschnitt seines Beitrages in der FAZ vom 6.2.2014 (S.25) „Wie am Ende des 19.Jahrhunderts, wird eine Bewegung gebraucht, die die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde ins Zentrum ihrer Überlegungen stell und die nicht zulässt, dass der Mensch zum bloßen Objekt reagiert. Diese Bewegung muss ein liberales, ein demokratisches und ein soziales Staatsverständnis haben.“ Diese Formulierung zielen nicht auf eine bestimmte politische Partei, sondern auf ALLE Menschen, die sich den grundlegenden Werten des Menschen und demokratischer Lebensformen verpflichtet fühlen. Hier dürfen sich US-amerikanische Demokraten und Republikaner genauso angesprochen fühlen wie in Deutschland eine CDU/ CSU, die FDP, Bündnis 90/die Grünen, die Linke, die Gewerkschaften, aber auch alle bekannten religiösen Vereinigungen, sofern ihnen der wirklich Mensch wichtig ist (bislang hört man von religiösen Vertretern erstaunlich wenig zur Entmenschlichung des Menschen durch die moderne Technik und Demokratieentartung).
MOROZOVS VERWIRRENDE KLASSIFIZIERUNG ALS ‚LINKS‘
Liest man den Beitrag von Morozov (bzw. Morozov privat) (was nicht leicht ist, da er viele ad-hoc Begrifflichkeiten kreiert, mit diesen wie mit artistischen Bällen spielt, es aber in der Regel vermeidet, diese Kreationen mit realen Personen oder allgemein Gegebenheiten dieser Welt in Verbindung zu bringen), dann wird der Aufruf von Schulz, der sich an ALLE richtet, kanalisiert und umgelenkt auf eine imaginäre ‚Linke Bewegung‘. Für US-Amerikaner ist ‚Links‘ eher etwas Negatives, und ‚Links‘ in Verbindung mit ‚EU‘ kommt nicht gut an (man erinnere sich nur an an die abgehörten Äußerungen von Victoria Nuland, verantwortliche Diplomatin für Europa und Asien, deren Geringschätzung gegenüber Europa kaum noch zu überbieten sind (vgl. FAZ 8.2.2014, S.5 und S.8)). Was tut Morozov hier? Warum schiebt er den Präsidenten des Europäischen Parlamentes in eine Ecke, wo er weder hingehört noch sich selber hinstellen würde?
PESSIMISTEN, RADIKALE AGNOSTIZISTEN, ASSYMETRIE DER MACHT
Eine Analyse der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit wird – wie immer man sie auch angehen will – sehr schnell sehr komplex. Dieses Problem hat auch Morozov zu lösen. Er wählt einen klassisch-philosophischen individualistischen Ansatz: Die ‚Optimisten‘ und ‚Pessimisten‘, deren Verhalten letztlich unabhängig vom Problem beschreibbar ist (man kann es auch tautologisch nennen), und die ’naiven‘ und die ‚radikalen Agnostizisten‘ (eine Spezies die eigentlich so vage ist, dass keiner wissen kann, was damit wirklich gemeint ist). Für Morozov ist aber klar (eine Begründung liefert er nicht), dass die naiven Agnostizisten jene sind, für die eine positive oder negative Nutzung der Technologie gleich wahrscheinlich ist. Das ‚Naive‘ an dieser Haltung scheint Morozov in der Nichtberücksichtigung der Asymmetrie der Interessen und der Macht zu sehen: zwar ist alles möglich, aber die Mächtigen haben eher die Chancen, die Dinge in ihrem Sinne zu gestalten als die Nicht-Mächtigen. Glücklicherweise gibt es für Morozov aber auch die ‚kritischen Agnostizisten‘, zu denen er den Präsidenten des Europäischen Parlaments und die ‚Linke‘ rechnet. Diese haben die Asymmetrie der Macht immer schon erkannt, haben dazu Konzepte entwickelt, und haben es auch immer wieder geschafft, diese Konzepte real umzusetzen, um so die Asymmetrie abzumildern. Er ruft dann gegen Ende seines Beitrags die Linke auf, ihre kritische agnostische Kompetenz in der aktuellen Situation so einzusetzen, dass auch in Zukunft die neue Technologie für die Kommunikation eben dieser Linke verfügbar ist.
WAS IST DAS ERKENNTNISINTERESSE VON MOROZOV?
Es ist interessant, zu hören, dass Morozov der Linke das sagt, was sie seit mehr als 100 Jahren selbst sehr genau weiß. Dass er den allgemeinen Aufruf des Präsidenten des Europäischen Parlaments in die ‚linke Ecke‘ stellt statt ihn zu nehmen, wie er gemeint ist, nämlich als ein Aufruf an uns alle, ist irritierend. Auffällig ist auch, dass Morozov zwar die ‚Asymmetrie der Interessen und der Macht‘ zitiert, es aber tunlichst unterlässt, diesen abstrakten Begriff am Beispiel der US-amerikanischen Gesellschaft zu verorten und zu verdeutlichen. Seit mindestens 8 Monaten diskutiert die halbe Welt die Erosion von grundlegenden Menschenrechten und der Demokratie selbst, hervorgerufen durch das Verhalten US-amerikanischer Dienste und Regierungsstellen (aber eben nicht nur durch diese, sondern, wie wir annehmen müssen, von fast allen Regierungen dieser Welt). Seit Monaten wird uns klar, dass es hier nicht mehr nur um akademische Diskussionen geht,sondern um die Grundlagen unserer Demokratie, allen voran den Grundlagen der US-amerikanischen Demokratie, und Morozov erwähnt diese sehr realen Asymmetrien der Macht mit keiner Silbe. Sehr befremdlich. Was ist sein Erkenntnisinteresse?
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