MEMO PHILOSOPHIWERKSTATT 14.Juni 2014 – oder: PHILOSOPHIEREN IM SOMMER

1. Offiziell war es die letzte Philosophiewerkstatt vor der Sommerpause …. aber der Sommer war schneller und stärker als gedacht. Als sich das ‚Kernteam‘ um 19:30h noch immer alleine in die Augen schaute ohne weitere TeilnehmerInnen war klar, der Sommer hatte mit Macht begonnen. An diesem Abend gab es zahllose Sommerfeste und Grillparties, die magisch anzogen; die Fußballweltmeisterschaft war im vollen Gange, und einige der aktiven Besucher war im Urlaub und meldeten sich telefonisch mit Grüßen ….

2. Angesichts dieser Lage beschlossen wir kurzerhand, das Philosophieren auf eine Grillpartie zu verlagern, in diesem Fall das ‚Nussbaumfest‘, das Freunde seit Jahren um einen echten Nussbaum herum veranstalteten.

3. Als wir eintrafen war die Partie natürlich im vollen Gange und wir trafen dort auch u.a. meinen brasilianischen Freund RG, einen Professor, der sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema künstliche Intelligenz beschäftigt, und der gerade zu einem Workshop in Frankfurt da ist. Da er kein Deutsch, sondern nur Portugiesisch und Englisch spricht, sammelte sich eine kleine Gruppe philosophieanfälliger deutscher Englischsprechender um ihn herum und es begannen stundenlange Gespräche mit einem Ausblick auf weite Felder und einer Sonne, die sich langsam hinter einigen Wolken in die Nacht versenkte.

WIE BAUEN WIR EIN KÜNSTLICHES BEWUSSTSEIN?

4. Das erste Thema ergab sich spontan, als jemand RG fragte, welche Themen er denn lehre bzw. erforsche. Sein absolutes Lieblingsthema ist die Frage nach dem ‚Bewusstsein‘ und ob und wie wir ein künstliches Bewusstsein bauen können. Seitdem wir uns kennen – das erste Zusammentreffen war bei einer Konferenz im NIST (1998, Gaithersburg in der Nähe von Washington) – diskutieren wir über dieses Thema und versuchen es schrittweise zu klären. An diesem Abend also entwickelte er an einem Biertisch auf Englisch seine Sicht der Dinge, vermischt mit Fragen der anderen, und vermischt mit meinen Überlegungen, was sich hier jetzt kaum noch richtig trennen lässt, da wir in fast allen Punkten uns überdecken, uns austauschen, uns ergänzen, und uns gegenseitig beständig anregen.

5. Wie auch in diesem Blog (und speziell in der Philosophiewerkstatt) oft beschrieben, sehen wir das Phänomen des ‚Bewusstseins‘ in der vorwissenschaftlichen subjektiven Erfahrung jedes einzelnen verankert. Jeder Mensch (natürlich mit individuellen Unterschieden mit unterschiedlichen Randbedingungen) beginnt seine Welterfahrung mit seinem individuellen Erleben, das man philosophisch grob das ‚phänomenologische Bewusstsein‘ nennen kann. In diesem vorwissenschaftlichen Raum beginnen alle Strukturierungen, alle Lernprozesse und die klassische Philosophie hat hunderte von intelligenten Beschreibungen und Analysen dazu abgeliefert.

6. Wie wir aber heute wissen, ist der ganze Körper – und damit natürlich auch das Gehirn und das vom Gehirn erzeugte Erleben – ein Produkt der Evolution, und die Art und Weise, wie wir Erleben, Denken, Fühlen usw. ist durch diesen Körper, durch die Struktur unseres Gehirns, in den Grundstrukturen vorgegeben. Aufgrund dieser Entwicklung über viele hundert Millionen Jahren gibt es diese – fast magisch erscheinende – ‚Passgenauigkeit‘ zwischen unserem subjektiven Erleben, Fühlen und Denken sowie der ‚Welt um uns herum‘. Dieses Zusammenspiel zwischen Gehirn, Körper und Umwelt ist so gut, dass jeder normalerweise das Gefühl hat, die Welt, die er/sie durch das Gehirn erlebt, ist genau die Welt, in der wir leben (wie wir heute wissen können, ist die Welt, die wir mit unserem Gehirn erleben, nicht die Welt, die um uns herum real existiert).

7. Während die Neurowissenschaften in den Abgründen der neuronalen Maschinerie arbeiten, haben die Psychologen (heute oft auch Neuropsychologen) versucht, das ‚Verhalten‘ von uns Menschen zu erforschen und sind zu der Arbeitshypothese gekommen, dass das, was uns subjektiv (in unserem vorwissenschaftlichen ‚Bewusstsein‘) ‚bewusst‘ ist, nur ein kleiner Bruchteil von dem ist, was jenseits dieses individuellen Bewusstseins ständig passiert. Während das individuelle Bewusstsein zu jedem Zeitpunkt letztlich begrenzt und endlich ist (aber mit einer ‚Offenheit‘ in die wahrnehmende Gegenwart und in die erinnerbare Vergangenheit), ist der Bereich ‚jenseits‘ des individuellen Bewusstsein, der Bereich des ‚Nicht-Bewusstseins‘ scheinbar unendlich groß.

8. Viele Ergebnisse heute legen aktuell die Hypothese nahe, dass das Bewusstsein psychologisch einerseits mit dem korreliert, was die Psychologen ‚Arbeitsgedächtnis‘ (Kurzzeitgedächtnis, ’short term memory‘, STM) nennen, andererseits meinen einige Neurowissenschaftler Strukturen im Gehirn identifiziert zu haben, die mit der Funktion des Arbeitsgedächtnisses korrelieren und die wiederum mit ganz vielen anderen Teilstrukturen im Gehirn in Beziehung stehen. Aufgrund der Komplexität der neuronalen Schaltkreise, ihren unendlichen Vernetzungen und Überlagerungen einerseits, sowie der Komplexität und Dynamik menschlichen Verhaltens andererseits dürfte es aber noch sehr lange dauern – wenn überhaupt – bis sich hier belastbare Zusammenhänge ergeben.

9. Bislang am belastbarsten sind hier interessanterweise die psychologischen Verhaltensmodelle (obwohl forschungspolitisch Psychologie eher abgebaut und die Neurowissenschaften gefördert werden).
10. Bei der Frage nach der Funktion des ‚Bewusstseins‘ bewegt man sich angesichts dieses Erkenntnisstandes natürlich mehr im Bereich der Spekulation als der harten Fakten, dennoch gibt es einige ‚Eckwerte‘, für die viele Umstände sprechen. So ist aus der Sicht des Sprache Lernens und Sprechens klar, dass das Bewusstsein eine notwendige Voraussetzung für einen gemeinsamen Sprachgebrauch ist. Denn das ‚Sprachmaterial‘ (Laute, Schriftzeichen, Gesten..) einerseits wie auch diejenigen ‚Objekte‘ andererseits, auf die Sprachmaterial im Rahmen des Sprachgebrauchs ‚hinweist‘, haben keine ’natürliche‘ Verbindung. Ob ich ein bestimmtes Objekt ‚Tisch‘, table‘, ‚tabula‘, ‚mesa‘ usw. ’nenne‘, ergibt sich nicht aus dem Objekt, sondern aus dem ‚Zeichenbenutzer‘, der sich – je nach Kontext – für die eine oder andere Bezeichnung entscheidet. Wenn zwei verschiedene Zeichenbenutzer A und B dies tun wollen, dann kann dies nur gehen, wenn das ‚Außenweltobjekt‘ X beiden Zeichenbenutzern A und B in einer ‚hinreichend ähnlichen Form‘ vorliegt, und zwar im Bereich ihres subjektiven Erlebens, also in dem unterstellten vorwissenschaftlichen Bewusstsein von A und von B; nennen wir das vorwissenschaftlich unterstellte individuelle Bewusstsein einer Person A Consc(A), dann bedeutet dies, dass das unterstellte Außenweltobjekt X in beiden individuellen Bewusstseinen A und B ‚hinreichend ähnlich‘ vorkommen muss, also X $latex \in $ Consc(A) als X_A und X $latex \in $ Consc(B) als X_B mit der Forderung einer zu definierenden ‚hinreichenden Ähnlichkeit [=X]‘ als ‚A =X B‘. Was immer genau in den beiden Körpern und Gehirnen von A und B genau geschieht, man kann sagen, dass die Repräsentation des Außenweltobjektes ‚X‘ im Bewusstsein der beiden A und B ‚hinreichend ähnlich‘ sein muss, damit die Zuordnung eines Zeichenmaterials wie z.B. ‚Tisch‘, die A und B vornehmen können, ein ‚gemeinsames Objekt‘ meint, das auch zu späteren Zeitpunkten immer wieder als ‚dieses eine‘ identifiziert werden kann. Alles deutet darauf hin, dass das vorwissenschaftliche individuelle Bewusstsein jener Bereich ist, durch den solche korrelierten Beziehungserzeugungen vorgenommen werden können und vorgenommen werden.

11. Sollte diese Arbeitshypothese zutreffen, dann wäre das Bewusstsein mindestens hinsichtlich des ‚bewussten‘ Zeichengebrauchs (und Sprache ist ein spezieller Fall von Zeichengebrauch) eine funktionelle Voraussetzung und damit ein entscheidender evolutionärer Fortschritt.

12. RG und ich, wir arbeiten seit Jahren an Experimenten, um dies zu demonstrieren; da wir aber über keine Forschungsetats zu diesen Themen verfügen (und wir durch viele andere Aufgaben gebunden sind), kommen wir nur sehr langsam vorwärts … aber wir haben ein Ziel 🙂

DER GEIST AUS DER FLASCHE?

13. Im Zusammenhang mit dem Bewusstsein wurde an diesem Abend im Freien natürlich auch die Frage nach dem ‚Geist‘ (‚Seele‘?) gestellt. Was ist ‚Geist‘? Kann es einen künstlichen Geist geben?
14. Wenn man die Biologie, die Psychologie und die Neurowissenschaften im ‚Normaltext‘ liest, könnte man den Eindruck bekommen, das Biologische ist letztlich auch nur eine ‚Maschine‘, die sich ohne Probleme in anderen Formen von ‚Maschinen‘ (Robotern, Softwareagenten, …) übersetzen lässt.

15. Dieser Eindruck ist aber sehr trügerisch (was in diesem Blog auch schon mehrmals diskutiert worden ist).

16. An diesem Abend diskutierten wir dies am Beispiel der Molekularbiologie. Jeder kann heute wissen, dass es Moleküle gibt (DNA, RNA, …) die so ‚interpretiert‘ werden können, dass sie ‚mehr‘ sind als nur irgendwelche Atome; sie können so ‚interpretiert‘ werden, dass man daraus andere Moleküle (z.B. Proteinstrukturen) baut, die irgendwelche ‚Aufgaben‘ lösen (z.B. als pflanzen, als Tiere, als Menschen …). Nah heutigem Kenntnisstand wird diese ‚Interpretation‘ von anderen Molekülen geleistet, die dazu wiederum andere Moleküle benutzen. Also: Moleküle A ‚interpretieren‘ Moleküle B und bauen mit Hilfe von Molekülen C neue Moleküle D. Diese neuen Moleküle sind z.B. ‚Zellen‘, die als solche schon eine extreme Komplexität besitzen, und diese Zellen wiederum können sich millionenfach, billionenfach ‚zusammentun‘ um größere komplexere Gebilde zu erzeugen, die erkennbar komplexe Verhaltensleistungen zustande bringen.

17. Jeder, der auch nur ein bisschen Verstand hat, wird sich natürlich fragen, woher die verschiedenen Moleküle, die aus Atomen bestehen, das ‚Wissen‘ haben, diese ungeheuerlich komplexen Strukturen zu bilden, wo doch eine unvorstellbare große Menge von anderen Atomen nicht solche komplexen Strukturen ausbilden und eine rein ‚zufällige‘ Konstruktion dieser Komplexitäten in jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung als nicht machbar im bekannten Universum erscheint.

18. Innerhalb der Chemie ist bekannt, dass Atome bestimmte Reaktionen (= Verhalten!) zeigen, weil man den verschiedenen Atomen individuell unterschiedliche ‚Eigenschaften‘ zuschreibt, aufgrund deren sie unter ‚geeigneten Konstellationen‘ genau die bekannten ‚Reaktionen‘ (Verhaltensweisen) ‚zeigen‘. Ein einzelnes Atom tut dies nicht, aber viele Atomen in geeigneter ‚Konstellation‘ zeigen ein ‚Verhalten‘, das ’neu‘ ist; die einen sprechen davon, dass das Verhalten von vielen Atomen mehr ist als die Summe ihrer Teile, oder das dieses Verhalten ‚emergent‘ sei. Was diese Redeweisen verdecken ist der fundamentale Sachverhalt, dass chemische Reaktionen als ‚Verhalten‘ letztlich letztlich eine ‚Funktion‘ realisieren‘, die in den ‚Teilen‘ potentiell ‚angelegt‘ ist und angesichts des ‚Zusammenführens‘ ’sichtbar‘ wird. Das Verhalten wird als ‚real‘ empfunden, stellt ein ‚wahrnehmbares Ereignis‘ dar, ist aber dennoch als Funktion kein ‚Objekt‘ wie die ermöglichenden Teile. Reaktionen als Verhalten, die eine Funktion sichtbar machen, repräsentieren eine andere Art von ‚Realität‘ als die Komponenten, anhand deren sie sich ‚zeigen‘ können.

19. Man könnte also versucht sein, zu sagen, dass ‚emergentes Verhalten‘ Funktionen sichtbar macht, die in den reagierenden Teilen implizit angelegt sind. Ohne diese Annahme ist es schwer verständlich, warum es zu solchen Reaktionen (Verhalten) kommen kann.

20. Diese Struktur von impliziten Funktionen findet sich auf allen Ebenen der bekannten materiellen Struktur unseres Universums. Damit wird aber klar, dass die Ausbildung der wahnwitzig komplexen Strukturen biologischen Lebens – wenngleich dennoch nicht einfach und automatisch – stattfinden konnte.

21. Das Ganze wird dann noch getoppt durch das neue Phänomen, dass mit dem Auftreten von biologischen Systemen, die Gehirne haben (Tiere und Menschen) nicht nur ‚implizite Strukturen‘ am Werke sind, die gewisses Verhalten zwangsläufig erzeugen, wenn die Konstellation stimmt, sondern dass – am Beispiel des Zeichengebrauchs – Gehirne auch Funktionen erzeugen können, die nicht implizit vorgegeben sind. Indem Gehirne explizit Funktionen ‚frei‘ setzen können, können sie z.B. die impliziten Funktionen ihrer ‚Umgebung‘ – also des ganzen Universums – ’nachbilden‘. Darin können sie zum ‚Ko-Schöpfer‘ werden ….

22. usw….

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