Christian de Duve, VITAL DUST. Life as a Cosmic Imperative, New York: Basic Books, 1995
Beginn: 14.Okt.2012, 11:10h
Letzte Änderung: 20.Okt.2012, 11:30h
- Ich bin auf das Buch von Christian de Duve aufmerksam geworden durch das Buch von Paul Davies.
- Christian de Duve bekam 1974 zusammen mit Albert Claude und George Palade den Nobelpreis in Physiologie in seiner Eigenschaft als Zytologe und Biochemiker für die Erkenntnisse zur Struktur und Funktion der Zelle (eine Biographie findet sich auf der Seite der Nobelpreisverleihung.
- Man muss sich immer wieder fragen, warum man sich die Zeit nimmt, Bücher zu lesen, deren Inhalt zwangsläufig weniger ‚aktuell‘ ist als die entsprechenden Artikel in den einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschriften (‚journals‘). Meine Erfahrung ist aber die, dass die Zeitschriftenartikel immer sehr punktuell sind, wenig Kontext sichtbar machen, und daher das Verständnis eines größeren Zusammenhangs nur bei Lektüre von vielen hundert Artikeln möglich ist (abgesehen davon, dass der heutige Zwang zur Spezialisierung und der übermäßige Druck zum Publizieren wenig geeignet ist, Qualität zu unterstützen. Dazu kommen immer mehr ‚Zitierkartelle‘, durch die bestimmte Arbeitsgruppen versuchen, sich im ‚Haifischbecken‘ der internationalen Anerkennung ‚Gehör‘ zu verschaffen. Weiterhin gibt es den rein statistischen Impactfacor im Verein mit ‚wissenschaftspolitisch orientierten‘ Redaktionen). Die Bücher von Wissenschaftlern mit Rang (wie Davies, Duve, Heisenberg, Schrödinger usw.) enthalten in der Regel einen ‚Metatext‘, implizite ‚Kontexte‘, die die vielen Details in einen Zusammenhang stellen, der es allererst erlaubt, die vielen Details zu gewichten. Sie ersetzen die Lektüre aktueller Artikel nicht, aber sie bilden nach meinem Verständnis einen notwendigen Interpretationskontext, ohne den alles eher ‚unkoordiniert‘, ‚wirr‘ erscheint.
- Wie so viele andere beginnt Duve sein Buch in der Vorrede mit der bezeichnenden Feststellung, dass er über das Thema nur schreiben kann, indem er seine Fachgrenzen übersteigt. Niemand habe heute mehr das umfassende Wissen das notwendig sei. Dennoch können wir über unsere Stellung im Kosmos nur Klarheit gewinnen, wenn wir den Gesamtzusammenhang in den Blick nehmen. Und das Leben – einschließlich unserer selbst –, das wir verstehen wollen, gehört zum Komplexesten, was das Universum bisher hervorgebracht hat (vgl. S.xiii).
- Er beklagt, dass der normale Wissenschaftsbetrieb für solche umfassenden Betrachtungen nicht ausgelegt ist. Das Alltagsgeschäft und die zunehmende Spezialisierung liegen konträr zur Forderung einer integrativen Gesamtsicht (vgl. S.xiii.f).
- Am Ende seines Buches ‚Blueprint for a Cell‘ (1991) war er schon zu der Einsicht gekommen, dass das Leben sich ‚obligatorisch‘ aus den Eigenschaften der Materie ergeben haben muss, eine Einsicht, die weitere Fragen mit sich bringt. (vgl. S.xiv)
- In all seinen Untersuchungen geht er davon aus, dass die Phänomene des Lebens sich als ‚rein natürlicher Prozess‘ erklären lassen, durch Bezug auf jene empirischen Gesetze, die auch in den anderen naturwissenschaftlichen Gebieten gelten.(vgl. S.xiv)
- Ausgestattet mit diesen Prämissen meint Duve in dem Prozess des Kosmos eine Zunahme von ‚Komplexität‘ zu erkennen, die er in sieben Stufen anordnet: Beginnend mit deterministischen chemischen Prozessen (vor ca. 4 Mrd. Jahren), sieht er in den Wechselwirkungen der chemischen Bestandteil ‚Informationen‚ am Werke, die steuernd wirken; es bilden sich komplexe Protozellen als Vorläufer von Zellen; dann Einzelzellen, die sich unterschiedliche Protozellen als Bestandteile einverleiben. In diesen Zusammenhang gehört auch die ‚Erfindung‘ der Photosynthese, die es erlaubt, Sauerstoff abzuspalten und damit zur Bildung einer Sauerstoffatmosphäre führte. Multizelluläre Organismen besiedeln das Land; erst Pflanzen, dann auch Tiere. Die Fortpflanzungstechniken (Sexualität) passen sich den neuen Verhältnissen an. Bei den Pflanzen von Sporen zu Samen zu Blüten zu Früchten. Bei den Tieren von einer Entwicklung im Wasser zu Kopulation, zu Eiern im Wasser, dann auf dem Land, dann im Bauch. Schließlich bilden sich immer komplexere Netzwerke von neuronalen Zellen, die als Gehirn (‚brain‘), die Grundlage für ein neues Phänomen, den Geist (‚mind‘) bilden. Dies führt zu einer extremen Beschleunigung bei der Entwicklung des Menschen. (vgl. S.xvi-xvii)
- Für Duve ist es wichtig, festzustellen, dass das Phänomen des Geistes eine natürliche Manifestation der Materie ist, kein ‚Witz‘ (‚joke‘).(vgl.S.xviii)
- [ANMERKUNG: Es ist nicht üblich, in einem Vorwort mehodologische Aspekte zu diskutieren. Da wir hier die Thematik aber aus philosophischer Sicht behandeln, soll hier angemerkt werden, dass die primäre Untersuchungsperspektive die der Naturwissenschaften sein soll. Nimmt man dies an, dann fallen zwei Begriffe auf ‚Komplexität‘ und ‚Geist‘.
- ‚Komplexität‘ ist ein theoretischer Begriff, der nicht nur einen bestimmten ‚Theorierahmen‘ voraussetzt, sondern dessen Bedeutungsbereich selbst schon theoretische Begriffe sein müssen, die bestimmten theoretischen Anforderungen entsprechen. Es ist im weiteren Verlauf darauf zu achten, wie Duve mit diesem Begriff umgeht.
- ‚Geist‘ ist – nach normalem Sprachgebrauch – kein Begriff aus dem Bereich der Naturwissenschaften. Der Begriff ‚Geist‘ hat eine vielschichte ‚Begriffsgeschichte‘. In den meisten Fällen verbindet man den Begriff ‚Geist‘ mit Eigenschaften von ‚Menschen‘, deren ‚Verhalten‘ man ‚Eigenschaften‘ zuschreibt, die man mit ‚Geist‘ verknüpft. Die Verwendungsweise dieses Begriffs ist aber alles andere als klar. Selbst in der modernen Philosophie gibt es hier keine einheitliche Position. Man darf also gespannt sein, wie Duve diesen Begriff in seinem Buch verwenden wird.
- Ferner fällt auf, dass Duve die ‚kosmologische Vorgeschichte‘ in seiner Komplexitätshierarchie ausklammert. Diese wird heute in der neueren Astrobiologie sehr intensiv behandelt. Aus diesen Untersuchungen wissen wir, dass die Vorgeschichte ‚wesentlich‘ ist für die Rahmenbedingungen, unter denen Leben auf der Erde entstehen konnte. Man wird also prüfen müssen, inwieweit sich diese Ausklammerung auf die Ausführungen Duves merklich auswirken.]
- In der Einleitung wiederholt Duve die These, dass das Phänomen ‚Leben‘ auf der Erde das außergewöhnlichste Ereignis (‚most extraordinary adventure‘) im bekannten Universum ist und er wiederholt, dass man in dieser Geschichte des Lebens eine Reihe von ‚Innovationen‘ erkennen kann, die sich durch einen jeweiligen Anstieg an ‚Komplexität‘ auszeichnen. Und zur Beschreibung all dieser Phänomene genügen die Gesetze der ‚Physik‘ und ‚Chemie‘. (vgl.S.1)
- [ANMERKUNG: Neben den schon getätigten Anmerkungen oben sollte man sich im Hinterkopf behalten, dass der Physiker Paul Davies bzgl. der ‚Beschreibungskraft‘ der Physik eher kritisch daher kommt. Natürlich bleibt uns kaum eine Alternative zum Ansatz einer experimentellen Naturwissenschaft, aber es kann sein – was Davies ausdrückt – dass eine bestimmte Disziplin zu einem bestimmten Zeitpunkt selbst noch zu wenig Erkenntnisse verfügbar hat, um ein ‚komplexes‘ Phänomen adäquat beschreiben zu können. Dies sind die interessanten Grenzfälle, die die Chance bieten, vorhandene Schwachstellen in der Erkenntnis zu identifizieren und evtl. zu verbessern. Um solche Schwachstellen zu erkennen, muss man die methodischen Voraussetzungen immer sehr klar auf den Tisch legen und sich ihrer allzeit bewusst sein. Ob ein Chemiker sich der Grenzen der Physik allzeit voll bewusst ist, darf man zunächst einmal methodisch anzweifeln. Von daher ist es gut, die Worte von Paul Davies nicht zu vergessen.]
- Duve beginnt mit der weiteren These, dass das Phänomen des Lebens ‚eins‘ sei, da es aus dem gleichen ‚Material‘ bestehe, da es sich nach den gleichen ‚Prinzipien‘ gebildet habe, und da es – nach allen bisherigen Untersuchungen – auf die gleichen gemeinsamen ‚Vorstrukturen‘ zurückverweisen. (vgl. S.1)
- Mit ‚Material‘ meint er ‚Proteine‘ und ‚Nukleinsäuren‘ (’nucleic acids‘). Protein sind Sequenzen von – standardmäßig 20 (in Ausnahmen auch 22) verschiedenen — Aminosäuren, so dass man Proteine auch als ‚Worte‘ über dem Alphabet der Aminosäuren bezeichnet. Die vergleichenden Analysen von Proteinen und Nukleinsäuren haben bislang eine so hohe ‚Ähnlichkeit‘ zwischen allen bekannten Lebewesen gezeigt, dass eine rein ‚zufällige‘ Bildung auszuschließen sei, eine Ähnlichkeit, die zudem jeweils auf gemeinsame Vorstufen verweise. Daraus ergibt sich die weitere Frage, wann und wie es zu den ‚ersten‘ Strukturen kam, die wir als ‚Leben‘ bezeichnen?(vgl. S.1f)
- [ANMERKUNG: Bezeichnet man das Alphabet der Aminosäuren, die zum Einsatz kommen mit ‚A‘ und gibt man die Anzahl der Elemente des Alphabets an mit 20 (22), dann kann man schreiben |A| = 20 (22). Die Menge aller ‚Worte‘ (= Sequenzen) über dem Alphabet bezeichnet man normalerweise mit ‚A*‘. Ein einzelnes Protein p aus der Menge aller Proteine P ist dann ein Element aus dieser Menge, also ‚p in A*‘ bzw. ‚P subset A*‘. Die tatsächlich vorkommende Menge der Proteine sei ‚P+ subset P‘. Für die Menge aller theoretisch möglichen Proteine P gilt |P| = 20^L (bzw. 22^L) mit ‚L‘ als Länge eines Proteins. Also bei L=2 gibt es theoretisch schon 22^2 = 484 verschiedene Proteine. Bei 22^8 = 54.875.873.536, usw. Umso größer die Zahl der theoretischen Möglichkeiten wird, umso geringer wird die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Protein, vorzukommen, nämlich ‚1/20^L‘.
- Auch sollte man beachten, dass das ‚Material‘ der Proteine und Nukleinsäure nur einen kleinen Ausschnitt aus dem darstellt, was die Physik heute als ‚Materie‘ bezeichnen würde. Der heutige Materiebegriff ist grundsätzlich verschieden von dem Materiebegriff der vorausgehenden Jahrhunderte und allemal der vorausgehenden Jahrtausende. Fast alle philosophischen Aussagen, die irgendwie Bezug nehmen auf den Begriff ‚Geist‘ im Unterschied zu ‚Materie‘ sind aus heutiger Sicht von daher stark ‚wertlos‘ geworden, da sie Voraussetzungen implizieren, die so einfach nicht mehr stimmen. In vielen Diskussionen — insbesondere auch theologischen — wird dies kaum bis garnicht beachtet.
- Die Angaben zu den konkreten Details der Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen ‚Lebensmaterialien‘ sind an dieser Stelle noch sehr vage. Man sollte dies im Blick behalten.]
- Fragt man sich, wie man über die vorausgehende Geschichte der Lebensformen etwas wissen kann, so verweist Duve auf speziell zwei Quellen: Fossilien, die bis zu 600 Mio Jahren zurückreichen sollen und die genetischen Informationen der lebenden Zellen. (vgl. S.2f) Allerdings gibt es noch spezielle Fossilien von Bakterien und den Zellkörpern von Bakterien, die sich in Ablagerungen bis zu 3.5 Mrd Jahre zurück datieren lassen.(vgl. S.4f)
- Im Falle lebender Zellen herrscht die Annahme, dass sich Unterschiede im Laufe der Zeit aufgrund von Mutationen gebildet haben können. Je mehr sich unterschiedliche Codes unterscheiden, um so weiter liegen sie zeitlich (man muss dafür die Veränderungsgeschwindigkeit nach Anzahl von Generationen pro Zeiteinheit ermitteln) auseinander. Nach dieser Logik kann man auf der Zeitachse ‚zurückschauen‘ und die sich immer ähnlicher werdenden Vorfahren (‚ancestors‘) identifizieren. Bei diesem Verfahren muss man nicht das gesamte Genom vergleichen, sondern es hilft oft schon nur ein bestimmte Protein zu nehmen, das eine wichtige Funktion ausübt. (vgl. S.3f)
- Bei der Frage nach dem Ursprung des Lebens – auf der Erde oder von außerhalb der Erde – sieht Duve momentan keine überzeugenden Argumente für eine eindeutige Entscheidung in Richtung von ‚außerhalb‘ der Erde. Zumal im letzteren Fall die Frage nach der genauen Entstehung weiter im Dunkel verbliebe. Optiert man für den Entstehungsort Erde, dann bleiben ca. 200 Mio Jahre Zeit für solch einen Prozeß auf einer in dieser Phase eher lebensfeindlichen Erde.(vgl. S.6f) [Anmerkung: Eine Klärung der Frage einer möglichen Entstehung auf der Erde ist ja zugleich auch ein Beitrag zur Grundsatzfrage, wie die erste Zelle entstehen konnte (auch wenn bei einer Entstehung auf einem anderen Planeten durch unterschiedliche Randbedingungen Details im Zellaufbau evtl. anders sein würden)].
- Dennoch verbleibt die Frage, ob es wissenschaftlich Sinn macht, die Frage nach der Entstehung des Lebens tatsächlich zu stellen? Was, wenn – wie nicht wenige annehmen – die Entstehung des Lebens auf einer Reihe von absolut zufälligen Ereignissen beruht, die sich als solche nicht reproduzieren lassen? (vgl. S.7f)
- Dem hält Duve entgegen, dass die schon heute bekannten molekular-biologischen chemischen Mechanismen von Zellen und deren Bestandteile dermaßen komplex und hochorganisiert sind, dass rein logisch ein rein zufälliges Geschehen ausscheidet. Vielmehr sprechen alle Tatsachen dafür, dass es die Struktur der Materie selbst ist, die gewissen Entwicklungstendenzen als hochwahrscheinlich erscheinen lässt, also in dem Sinne, dass die Materie ‚von Leben geschwängert‘ ist (‚pregnant with life‘). Mit dieser Voraussetzung kann Leben quasi ‚überall‘ entstanden sein und wird auch entstehen, wenn gewissen Bedingungen gegeben sein. (vgl. S.6-7)
- Dieses ‚Schwanger sein von Leben‘ ist nicht zu verwechseln mit einem ‚Plan‘, oder einem expliziten ‚Design‘. Es realisiert sich vielmehr schrittweise, über viele Zwischenstationen, in denen zu keinem Zeitpunkt der aktuelle Prozess ‚weiß‘, was noch kommen soll. Der aktuelle Prozess lebt im ‚Augenblick‘ und es passiert nur das, was nach den herrschenden Gesetzen zu diesem Zeitpunkt möglich ist. (vgl. S.9f)
Zur Fortsetzung siehe TEIL 2.
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