Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014
KONTEXT
Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt jetzt der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet P.Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthät als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’).
Es folgen nun mögliche Einwände gegen diese Deutungshypothese.
KAPITEL 6 (SS.103-118)
1. Paul Tiedemann versucht auf mögliche wichtige Einwände gegen seinen Deutungsansatz einzugehen. Er greift dazu vier wichtige Punkte auf: ‚Bezugspersonen‘, ‚Determinismus‘, das ‚Böse‘ und ‚Nichtpersonale Menschen‘.
(NICHT)ANERKENNUNG VON BEZUGSPESONEN (103f)
2. Die Anerkennung von Menschenwürde in jedem Menschen setzt voraus, dass ich Menschen nicht nur nach seiner ‚Nützlichkeit‘, seiner ‚Brauchbarkeit‘ bewerte, also nach einem möglichen ‚Preis‘, sondern nach seiner grundsätzlichen Fähigkeit der Selbstbestimmung und persönlichen Identitätsausbildung. In dieser Hinsicht haben alle Menschen die gleiche Würde und bilden darin für jeden den Kontext meiner ‚Menschwerdung‘.
DETERMINISMUS – KEINE WILLENSFREIHEIT (105-107)
3. Hier greift Paul Tiedemann neuere Befunde von Neurowissenschaftler auf, nach denen die Messwerte zu ‚bewussten Entscheidungen‘ zeitlich später sind als die Messwerte, die mit den ‚aus den Entscheidungen folgenden Ereignissen korrelieren‘ sollen. Statt diese neurowissenschaftlichen Behauptungen zu hinterfragen (da gäbe es genug Fragepunkte) lenkt Tiedemann den Blick – dabei dem Philosophen Bieri folgend – auf den ganzheitlichen Charakter unseres Entscheidens. Jedes Entscheiden ist ein komplexer Prozess, bei dem viele wechselseitige Abhängigkeiten bestehen und es nicht darum gehen kann, keinerlei Voraussetzungen zu haben, sondern im Feld der unterschiedlichen Voraussetzungen jene zu selektieren, die in diesem Kontext eine Präferenz besitzen.
4. Selbst wenn verfügbares Wissen unvollständig und falsch sein kann, schließt Tiedemann nicht aus, dass wir faktisch Entscheidungen treffen können, da wir grundsätzlich in unserem Entscheidungsraum selektieren und entscheiden können. Zugleich gibt es ‚Schuldgefühle‘ und ‚Schamgefühle‘ und ‚Dankbarkeit‘.
5. Ganz wichtig: diese Phänomene haben nach Tiedemann die höchste Priorität unabhängig davon, ob und wie man sie philosophisch erklären kann. (vgl. S.107)
DAS BÖSE (108-111)
6. Wenn die Willensfreiheit in jedem Menschen einen absoluten Wert darstellt, warum erkennen dann trotzdem Menschen andere Menschen in ihrer Würde nicht an? Zwar setzt Tiedemann voraus, dass Menschen grundsätzlich über ein Wertgefühl verfügen, das sich in Gestalt von ‚Konsonanz-‚ und ‚Dissonanzgefühlen‘ zeigt, aber er konstatiert, dass es dennoch Menschen gibt, die aus vielerlei Faktoren (Dummheit, andere ’niedere‘ Interesse, …) dem absoluten Wert dennoch keinen Vorzug, keine Präferenz geben.
7. Erfolgt solch ein Nichtbefolgen unter ‚bewusster Unterdrückung‘ höherer Werte, dann wir dies entsprechend ‚empfunden‘ (‚Scham‘, ‚Dissonanz‘, ‚Schlechtes Gewissen‘ …) und in diesem Fall ist dieses Handeln ‚böse‘.
8. Liegen solche Gefühle einer ‚Dissonanz mit dem absoluten Wert‘ vor, dann können sich daraus weitere Gefühle wie ‚Scham‘, ‚Wut‘ usw. ergeben.
NICHTPERSONALE MENSCHEN (111-118)
9. Schließlich stellt sich auch die grundlegende Frage, unter welchen Bedingungen man einem (biologischen?) Wesen Willensfreiheit und damit die Voraussetzung für Person sein, Menschenwürde unterstellen muss?
10. Anhand von Grenzfällen (schlafender Mensch, bewusstloser Mensch, Embryo …) führt Tiedemann den Begriff der ‚aktiven Potentialität‘ ein. Damit ist gemeint, dass man bei einem Menschen aufgrund seiner biologischen Verfasstheit davon ausgehen kann, dass er sich – nach der Vereinigung von Sperma und Ei – unter ’normalen Umständen‘ zu einem Wesen entwickeln wird, das das Kriterium der Willensfreiheit und Selbstbestimmung erfüllt. D.h. es ist dieses Wissen um den kommenden Zustand (‚aktives Potential‘), wodurch wir befähigt sind, sowohl die ‚Menschenwürde‘ im anderen zu sehen als auch in uns aktiv zu leben.
11. Dass es Menschen gibt, die aufgrund von Krankheit oder einer belastendenden Biographie in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, ihre Selbstbestimmung samt Anerkennung der anderen ‚in vollem Umfang‘ zu leben, darf nach Tiedemann kein Grund dafür sein, diesen Menschen die Menschenwürde abzusprechen. Solange diese teilweise ihre Selbstbestimmung noch wahrnehmen können oder potentiell ihre volle Selbstbestimmung wiedergewinnen könnten, gehören sie in den Bereich der Anerkennung von Menschenwürde.
12. Grenzfälle liegen vor, wenn alle verfügbaren Kriterien keinen Ansatzpunkt für eine aktuelle oder potentiale Selbstbestimmung mehr erkennen lassen (z.B. ‚klinisch tote Menschen‘). In diesem Fall verlieren sie den Anspruch auf Menschenwürde.
KRITISCHE DISKUSSION
13. An dieser Stelle eröffnen sich viele Fragen. Zunächst mal ein sehr genereller Eindruck: wenn man die vorausgehenden, z.T. sehr grundsätzlichen Überlegungen erinnert, in denen um die ‚Absolutheit‘ des Anspruchs gerungen wurde, dann wirken die Klärungen zu den vier Einwänden allesamt eher ‚pragmatisch‘, ad hoc, und nicht sehr ‚philosophisch‘.
14. Allen vier Einwänden gemeinsam ist die Dimension der ‚realen Welt‘ als Ort, von dem wir wissen, dass wir hier allenthalben nur über begrenzte Einsichten verfügen, über endlichen Ressourcen, nur über fehlbares Wissen, und wo fehlbare Entscheidungen getroffen werden.
15. Was nützt es uns da überhaupt, die Existenz eines ‚absoluten Wertes‘ zu postulieren, wenn er weder erkennbar noch lebbar ist?
16. Natürlich wissen wir im nächsten Atemzug, dass wir ohne solch ein Postulat in einer scheinbaren ‚Beliebigkeit‘ versinken, in ein ‚anything goes‘, alles geht.
17. Und von daher versucht Paul Tiedemann gegen mögliche Einwände die Menschenwürde als ‚absoluten Bezugspunkt‘ zu bewahren.
Zu: EMPIRIE DER AKTIVEN POTENTIALITÄT
18. Zunächst einmal versucht Paul Tiedemann den Gegenstandsbereich mit dem Begriff der ‚aktiven Potentialität‘ zu bestimmen. Damit nimmt er aber in Kauf, dass er sich hier nicht auf reine philosophische Prinzipien gründen kann, sondern dass er auf ‚Erfahrung‘ rekurrieren muss, auf empirische Erfahrung. Denn ohne diese gibt es kein Wissen um ‚potentielle Entwicklung von biologischen Systemen‘.
19. Damit wird klar, dass die Anerkennung des Anderen als einer mit Menschenwürde ausgestatteten Person in direkte Abhängigkeit von einem komplexen empirisch-theoretischen Wissensnetz gerät, ohne das Entscheidungen gar nicht möglich sind (und in der Vergangenheit auch unterschiedlich ausfielen, je nach Wissensstand).
Zu: ANERKENNUNG DES ANDEREN
20. Neben der zuvor festgestellten stark empirisch beeinflussten Einschätzung der ‚absoluten‘ Fähigkeiten eines Menschen gibt es aber auch auf Seiten des jeweiligen Akteurs, der jemanden anerkennen soll, das Phänomen eines begrenzten Wissens, eingebettet in soziale-kulturelle Muster, biographische Belastungen, bedürfnis- und trieb-beeinflussten Bewusstseinszuständen, die eine ‚optimale‘ an ‚absoluten Werten orientierte Entscheidung kaum erlauben. Die absolute Idee einer absoluten Menschenwürde zu postulieren bei gleichzeitiger Anerkennung der empirisch-praktischen Unmöglichkeit, diese immer und überall einlösen zu können, wirft Fragen auf.
Zu: DAS BÖSE
21. Die Annahme, dass Menschen kognitive ‚Konsonanz‘ oder ‚Dissonanz‘ verspüren, dazu weitere orientierende Empfindungen wie ‚Scham‘, ‚Wut‘, Schuld‘ usw. basiert letztlich auf empirischen Annahmen. Die Vielzahl der berichteten Gefühle, ihr wesentlich ’subjektive‘ Charakter, der klare Aussagen nicht zulässt, war bislang immer Quelle vieler Hypothesen und Widersprüchlichkeiten; eine klare empirisch-wissenschaftliche Forschungslage kann ich nicht erkennen.
22. Aus dieser Unvollkommenheit er Erkenntnislage folgt nicht notwendigerweise, dass diese Phänomene unwichtig sind. Letztlich hängt an dieser Art von Phänomenen viel von dem was man ‚Spiritualität‘ hängt, von ‚innerer religiöser Orientierung‘.
23. Allerdings ist schwer zu sehen, wie man bei einer solch unüberschaubaren Phänomenlage daraus die These ableiten kann, dass Menschen, die ’nicht‘ die Absolutheit des Wertes der Menschenwürde im anderen hinreichend erkennen, deswegen unausweichlich etwas ‚Böses‘ tun. Eher würde man daraus die Notwendigkeit ableiten können, sich umfassend für eine ’notwendige Aufklärung‘ einsetzen zu müssen, die die sozialen Voraussetzungen für eine entsprechende Erkenntnis liefern könnte. Dies wiederum würde entsprechende Strukturen von Öffentlichkeit und Bildung implizieren.
Zu: DETERMINIERTHEIT
24. Die Fokussierung der Argumentation auf die – wenngleich eingeschränkte – Fähigkeit zur Entscheidung in einem Feld von phänomenalen Wechselbeziehungen setzt die Argumente der Neurowissenschaftler (sofern sie überhaupt so zutreffen) nicht wirklich außer Kraft. Deren Argumentation stellt ja die Kausalität von Wollen zum Tun grundsätzlich in Frage. Damit würde das Konzept der Willensfreiheit und der Selbstbestimmung grundsätzlich aufgehoben (zumindest im bisherigen Sinne).
25. Aus diesen Gründen scheint mir eine wissenschaftstheoretische Analyse der neurobiologischen Argumentation nicht nur geraten, sondern geradezu unumgänglich.
26. An anderer Stelle in diesem Blog wurden die Methodenprobleme der Neurowissenschaften ja schon mehrfach diskutiert (siehe alle Beiträge zu den Kategorieen, die mit ‚Neuro…‘ beginnen). Die Korrelation von Messwerten aus dem Bereich Gehirn (M_nn) und solchen aus dem Bereich Bewusstsein (M_ph) ist in sich mehrfach problematisch:
27. Das ‚genaue‘ Messen im Bereich Gehirn ist bis heute nur in sehr eng umgrenzten Bereich von wenigen Neuronen möglich. Da wir wissen, dass komplexen kognitiven Prozessen höchst komplexe Prozesse mit vielen Millionen verteilten Neuronen korrespondieren können – wo bis heute nicht in allen Details klar ist, was mit wem wie warum wann interagiert –, nützt die ‚genaue‘ Messung von einzelnen Neuronen nicht all zu viel. Solche Einzelereignisse mit komplexen kognitiven Prozessen zu korrelieren erscheint fragwürdig.
28. Das ‚genaue‘ Messen im Bereich subjektiver Phänomene war noch niemals möglich und ist bis heute nicht möglich; was wir haben sind vage symbolisch vermittelte Beschreibungen von Phänomenen, von denen niemand weiß, was wirklich damit gemeint ist, nicht einmal derjenige, der die Beschreibung liefert. Von ‚Vergleichbarkeit‘ der ‚Bedeutungen‘ kann keine Rede sein.
29. Will man nun eine Korrelation herstellen zwischen vagen subjektiven Sachverhalten mit gemessenen neuronalen Erregungsmustern, so sind mehr Fragen offen als beantwortet. Abgesehen davon, dass man nicht weiß, was denn da überhaupt gemessen wurde bietet die zeitliche Lokalisierung weitere Probleme. Mag man bei neuronalen Prozessen manche Vorgänge im Millisekundenbereich messen können, im Falle komplexer subjektiver Empfindungen, die sprachlich oder instrumentell kodiert werden, wird man wohl kaum zu zeitlich genauen Lokalisierungen kommen können.
30. Demnach müsste man das berichteten neurowissenschaftlichen Experiment erst einmal einer kritischen wissenschaftstheoretischen Überprüfung unterziehen, bevor an seine Argumente übernimmt. Begriffe wie ‚Wille‘, ‚Willensentscheidung‘, ‚Willensfreiheit‘ sind in der wissenschaftlichen Psychologie bis heute nicht wirklich befriedigend definierbar.
VORLÄUFIGES FAZIT
31. Man sieht, die Position von der ‚Identitätstheorie der Menschenwürde‘ wirft genügend Fragen auf, deren Beantwortung nicht ganz so einfach ist.
Eine Fortsetzung findet sich HIER.
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