WECHSELSPIEL PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT – ZUKUNFT DER RELIGIONEN – Nachtrag zu Stace’s ‚Mysticism and Philosophy‘

  1. In der Lektüre und dann Diskussion von Stace’s Buch ‚Mysticism and Philosophy‘  wird man unweigerlich auf die Grundlagen unserer Wirklichkeitswahrnehmung und unseres Denkens zurückgeworfen. Nun ist dieser Blog voll von solchen Überlegungen und Untersuchungen. Dennoch haben Bücher wie das von Stace den großen Wert, dass sie deutlich machen, eine bestimmte Form der Wirklichkeitswahrnehmung ist nicht individuelle Willkür, sondern scheint sich auf sehr viele Menschen über verschiedene Kulturen, Religionen und Jahrtausende zu erstrecken. Dies gibt immerhin Anlass, darüber weiter nachzudenken.
  2. Das Thema der mystischen Erfahrung führt zu den Grundlagen unseres Erkennens, zu dem Ort, wo sich Wahrnehmen und Interpretation die Hand reichen.
  3. Es ist ein Dauerthema vieler Philosophen seit mindestens 2500 Jahren, wie man das Zusammenspiel von Wahrnehmen ‚wie es ist‘ und Interpretieren ‚wie man meint, wie es ist‘ näher bestimmen kann.
  4. In diesen Chor haben sich bei Zeiten auch die Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, …) eingemischt, um eine besondere religiöse Interpretation der wahrnehmbaren Wirklichkeit überzustülpen.
  5. Schließlich entwickelte sich eine empirische Wissenschaft, die den Raum der Wahrnehmung drastisch einschränkte auf nur solche Wahrnehmungen, denen ein messbares Ereignis in der Welt außerhalb der menschlichen Körper entspricht. Ihre Interpretationen hatten den großen Vorteil, dass der Bedeutungsbezug vergleichsweise einfach zu klären war.
  6. Obwohl das Thema Wahrnehmen und Interpretieren also nicht neu ist und in so vielen Spielarten auftritt, hat man nicht den Eindruck, dass es im Hier und Jetzt des Jahres 2017 dazu unter den Menschen eine einheitliche Meinung gibt. Selbst unter jenen Menschen, die eine akademische Ausbildung haben finden sich mehrheitlich geradezu abstruse Auffassungen dazu, was und wie wir wahrnehmen und interpretieren. Esoterisches Fake-Wissen und Ablehnung der Evolutionslehre sind nur einige Bruchstücke aus dem Kaleidoskop der heute öffentlich vertretenen Meinungen.
  7. In diesem Blog hat sich über die Jahre eine Position ‚ergeben‘, die folgende Grundannahmen macht (der Beginn dieser Position reicht in etwa zurück zu dem öffentlichen Vortrag in der philosophischen Gesellschaft Bremerhaven im Januar 2012)
  8. Primärer Zugang zur Welt und zu uns selbst ist unser bewusstes Erleben. In ihm haben wir Wahrnehmungen von konkreten Dingen, die sich in unterschiedliche Sinneswahrnehmungen aufgliedern lassen. Zugleich haben wir aber auch ein abstraktes Wissen parallel zu diesen konkreten Dingen, das sich darin ausdrückt dass wir von einem konkreten Ding sagen können, es sei eine ‚Tasse‘ oder ein ‚Hund‘ oder dergleichen. ‚Tasse‘ und ‚Hund‘ sind keine konkreten Dinge sondern abstrakte Größen (Konzepte, Begriffe, Klassen, Cluster, …) und die sinnlich wahrgenommenen konkreten Größen sind dann Beispiele/ Instanzen solcher abstrakten Größen, z.B. ‚Dieses konkrete Etwas ist ein Beispiel für ein abstraktes Ding genannt Tasse‘.
  9. Das parallele abstrakte Wissen bietet aber noch weitere Aspekte wie Beziehungen zwischen abstrakten Größen, Einbettungen von abstrakten Größen in andere, Veränderungen von abstrakten Größen, Zuordnung von Zeichensystemen, ein ‚Wissen, dass es so ist‘, komplexe Modellbildungen, und vieles mehr.
  10. Der Begriff des ‚bewussten Erlebens‘ ist von daher verwirrend: er meint einerseits tatsächlich ein konkretes sinnliches Erleben, zugleich meint er aber auch die abstrakten Wissenselemente, die sich mit dem konkreten Erleben quasi automatisch verbinden.
  11. Es sind diese automatischen abstrakten Wissensanteile, die das konkrete Erleben kontinuierlich ‚kommentieren‘, indem sie die konkreten Dinge in abstrakte Wissensbeziehungen einordnen.
  12. Jeder einzelne ist diesem Mechanismus ausgeliefert.
  13. Da die abstrakten Wissenselemente offensichtlich aus Erfahrungs- und Lernprozessen stammen, können die interpretierenden abstrakten Wissenselemente individuell sehr unterschiedlich ausfallen und faktisch fallen sie unterschiedlich aus, z.B. sehr extrem unterschiedlich.
  14. Solange jeder einzelne darum weiß, besteht die Möglichkeit, dass zwei Menschen mit unterschiedlichen ‚Meinungen‘ aufgrund ihres ‚Wissens um das eigene Wissen‚ solche Unterschiede zum Anlass nehmen, um die Ursachen der unterschiedlichen Meinungen zu klären.
  15. Die Alltagserfahrung lehrt uns, dass die allerwenigsten Menschen sich dessen bewusst sind, dass ihre automatisiertes Erfahrungswissen beständig am Werk ist und dass eine aktuelle Meinung möglicherweise durch viele Zufälle und Besonderheiten eine Form gefunden hat, die – bei näherer Analyse – sich als ‚falsch‘ erweisen würde. Menschen, die sich dessen nicht bewusst sind, nehmen ihre zufällig-falsche aktuelle Interpretation der Welt, die im Bewusstsein automatisch erzeugt wird, als eine ‚wahr Meinung‘, d.h. als die ‚wahre Beschreibung der Welt‘ und damit als das Bild davon, ‚wie die Welt ist‘. Und wenn sie diese Meinung haben (die Zahl der Fanatiker in unserer Welt ist ja nachweislich größer als ca. 20% aller Menschen), dann sind sie u.U. bereit, dafür zu streiten, zu kämpfen, zu terrorisieren, zu foltern und zu töten.
  16. Als Philosoph kann man durch bewusste Analyse des Erlebensraumes (man nennt dies häufig ‚phänomenologisches Denken‘ angereichert mit geeigneten Reflexionen darauf) viele Eigenschaften unseres alltäglichen Wissens erfassen und klären. Dennoch, der Raum des bewussten Erlebens ist ein abgeschlossener Raum und bietet aus sich heraus keine Hinweise darauf, warum er die Struktur hat, die er nun mal hat.
  17. Hier bieten die modernen empirischen Wissenschaften vom Leben (Biologie, Psychologie, Physiologie,…) viele interessante Erkenntnisse. Obgleich sich diese empirischen Wissenschaften nur auf einen Teilbereich der bewussten Erlebnisse (= Phänomene) beschränken, nämlich auf die empirischen Erlebnisse – also jenen, denen Gegebenheiten in der körperexternen Wirklichkeit entsprechen, die sich empirisch messen lassen –, konnten diese Wissenschaften  Zeitreihen von Veränderungen analysieren, aufgrund deren wir nicht nur die Entstehung der menschlichen Körper in der Zeit neu verstehen können, sondern auch das grundsätzliche Funktionieren des aktuellen Körpers.
  18. Auch wenn empirische Wissenschaften die subjektiven Erlebnisdaten bis heute nicht direkt verwenden können, so können wir als Menschen und insbesondere als Philosophen die empirischen Wahrnehmungen als Teil des ganzen Erlebnisraumes einordnen und in Beziehung setzen.
  19. Durch die Einbeziehung von Erkenntnissen aus empirischer Forschung in philosophisches Denken können wir quasi hybride Modelle bauen, in denen die empirische Erkenntnisse es möglich machen, den subjektiven Erlebnisraum samt seinen abstrakten Elementen ‚einzubetten‘ in ein empirisches Modell von Wahrnehmung, Gedächtnis und Denken. Dieses empirische Modell kann dann ansatzweise kommentieren, warum wir sinnliche Wahrnehmungen haben, wie wir sie erleben, warum wir abstrakte Elemente im Wissen verfügbar haben und warum ausgerechnet diese abstrakten Elemente (Anmerkung: ein historisches Beispiel ist die empirische Kommentierung von Kant durch Konrad Lorenz (wenn der Autor dieser Zeilen auch nicht alles teilt, was Lorenz da schreibt))
  20. Die philosophisch kontrollierte Einbeziehung von empirischem Wissen in ein philosophisches Denken ist kein Stilbruch, sondern letztlich philosophisch konsequent: da die empirischen Phänomene ja weiterhin zu den primären Wahrnehmungen auch eines philosophierenden Menschen gehören. Ein Philosoph kann also alle empirischen Erkenntnisse als Momente am philosophischen Denken benutzen und damit, in der Tat, viele Jahrtausend alte Probleme des philosophischen Denkens auflösen; allerdings nicht vollständig. Es bleiben genügend spannende Reste.
  21. Für die Probleme des Alltags folgt aus alledem, dass Menschen unbedingt mehr lernen müssten (Bildung! Aufklärung!…), dass ihre aktuellen Weltsichten grundsätzlich und immer automatisierte Konstrukte ihres Gedächtnisses sind, die die konkreten Wahrnehmungen kommentieren und die meistens ein wenig bis sehr viel nicht stimmen. Das Auftreten von Unterschieden zwischen den Weltsichten verschiedener Menschen sollte von daher – im positiven Fall – ein willkommener Anlass sein, zu überprüfen, wie es denn zu diesen Unterschieden kommen konnte. Möglicherweise gehört dies zu einer ‚Kultur des Dialogs‘, in der es nicht darum geht, die Meinung eines anderen und dazu noch den anderen selbst einfach zu diskreditieren, sondern die unterschiedlichen Interpretationen auf ihre Voraussetzungen und ihre Entstehung hin zu klären. Dies kann nur bei  gegenseitigem Respekt, einvernehmlich und mit Geduld und Empathie gelingen, wenn überhaupt. Oft fehlt Menschen schlicht die geeignete Sprache, um das, was sie fühlen, denken, meinen angemessen auszudrücken.
  22. Die Vielfalt der sogenannten Religionen, ihr heute noch immer eher abgrenzendes Auftreten, ihre begrenzte Dialogfähigkeit, kann bzw. muss man vor diesem Hintergrund deuten als ein Verhalten, das aufgrund eines mangelnden Wissens um das menschliche Wahrnehmen und Erkennen entstanden ist und immer noch besteht.
  23. Gerade wenn eine religiöse Überzeugung auf einen ‚lebendigen Gott‘ (was oder wer dies immer ist) gründet, würde man doch erwarten, dass alle diese Religionen ein großes Interesse daran haben sollten, die Wirklichkeit dieses Gottes und seine Wechselwirkung mit der Welt und den Menschen besser zu verstehen. Speziell sollte jeder Religion ein Interesse daran haben, mit den anderen Religionen in einen Austausch zu treten, um zu klären, warum es solche Unterschiede gibt, weildoch angeblich alle an den gleichen Gott glauben.
  24. Wenn es um Gott als das höchste Wesen geht, dann kann es – jetzt logisch gedacht – nur ein einziges höchstes Wesen geben, und dass es mehr als eine Religion gibt, die sich auf das höchste Wesen beruft, kann eigentlich nicht sein. Statt aber weltweit den Dialog miteinander zu suchen, versuchen sich die großen Religionen bislang eher voneinander abzugrenzen, und tendieren dazu, die anderen zu verteufeln, gar zu verfolgen. Dies ist bizarr, unlogisch, und lässt alle diese Religionen als eher fragwürdig erscheinen. Sich gegenseitig mit viel Pomp zu besuchen ersetzt keinen wahrhaftigen Dialog.
  25. Die Lektüre von Stace’s exzellentem Buch bestärkt eher die Hypothese, dass der harte Kern religiöser Erfahrungen, wie er sich in den mystischen Erfahrungen zu allen Zeiten und in allen Kulturen manifestiert, gerade diese Einheitshypothese bestärkt: trotz aller Unterschiede meint Stace in den Berichten zu mystischen Erfahrungen einen harten Kern erkennen zu können, der überall gleich erscheint. Es sind dann die zeit- und kulturgebundenen Interpretationen, die Unterschiede hineintragen. Und dies geht nur, weil die Menschen, die interpretieren, sich der Eigenart des menschlichen Wissensapparates nicht bewusst sind. Sie verstehen nicht, dass jede Form von Wissen, die sich in einem Menschen ereignet, virtuell ist, konstruiert, tendenziell eher falsch, und es erwachsene, gebildete Menschen braucht, die solche Falschheiten erkennen (wenn überhaupt).
  26. Wenn die Hypothese von Stace stimmt (und der Autor dieser Zeilen sieht dies so), dann haben wir heute keine Krise von Gott oder einer echten Gottesbeziehung, sondern eine Krise der historisch gewordenen institutionalisierten Religionen.
  27. Anmerkung: Es ist sehr seltsam, dass man zum Jubiläum der Reformation immer nur die alten Muster neu aufgießt anstatt über eine ‚Reformation der Reformation‘ nachzudenken. Eine solche Reformation der Reformation wäre nicht nur aufgrund des verbesserten Wissens möglich, sondern sehr notwendig. So aber hängen alle in einer historischen Interpretationsschleife, die wie ein Mandra funktioniert.

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