Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 16.Dez. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de
KURZFASSUNG
Am 14.Dez.2018 gab es einen kleinen Workshop zum obigen Thema. Die TeilnehmerInnen repräsentierten unterschiedliche institutionelle Funktionen und Lebensphasen (Studierende, Lehrende, Verwaltung). Ein Teil des Workshops bestand darin, das in den einzelnen Gehirnen verborgene ‚Schwarm-Wissen‘ ‚hervor zu locken, es sichtbar zu machen, und es gemeinsam in mögliche Zusammenhänge einzuordnen, die sich von den Wissensfragmenten her anzudeuten schienen. Das Ergebnis war ein ziemlich anspruchsvolles Bild von Wissenschaft, WissenschaftlerInnen, Gesellschaft, Entstehung, Vorwissen und Metawissen. Auf dieser Basis könnte es sich lohnen, systematisch weiter zu denken. Der nachfolgende Text war nicht Teil des Workshops, wie auch umgekehrt nicht alle Themen und Gedanken des Workshops in den nachfolgenden Text eingeflossen sind. Der Autor dieses Textes war der Moderator des Workshops.
WISSENSCHAFTSBEGRIFF
In der Ankündigung des Workshops konnte man lesen, dass man im Jahr 2018 vielleicht glauben könne, dass wir in einer von Wissenschaft geprägten Welt leben und eigentlich jeder – zumindest jeder ‚Akademiker‘ – weiß, was man unter ‚Wissenschaft‘ versteht bzw. normativ verstehen sollte. Wer sich aufmerksam umschaut in seinem Alltag, kann allerdings sehr schnell viele Beispiele finden, die eher den Eindruck erwecken, dass dem nicht so ist. Selbst von Akademikern kann man z.T. höchst verwunderliche Aussagen hören, was sie unter Wissenschaft verstehen. Und nicht nur in wissenschaftlichen Büchern, sondern sogar in ‚Handbüchern‘ zur Philosophie der Einzelwissenschaften, sucht man Erläuterungen, Erklärungen, Definitionen von dem, was man unter ‚Wissenschaft‘ versteht, verstehen sollte, oft vergeblich.
Aufgrund dieser alltäglichen Sachlage kann es Sinn machen, sich ab und zu zusammen zu finden und mal zu versuchen, sein eigenes Wissen mit dem der anderen auszutauschen und darüber nach zu denken, was man denn so tut, wenn man ‚Wissenschaft‘ ‚macht‘.
THE BIG PICTURE – DAS GROSSE BILD
In den beiden Bildern kann man grob zwei Phasen im Verstehensprozess des Workshops erkennen: (i) in der Ideen-Anregungsphase gab es viele einzelne Gedanken, die als solche kaum größere Zusammenhänge erkennen liesen. Aber durch die Nähe zu anderen einzelnen Gedanken deuteten sich zunehmend mögliche übergeordnete Zusammenhänge an, die dann dazu führten, dass die Gruppe gemeinsam (ii) ‚Strukturierungen‘ vornehmen konnte, tastend, versuchsweise, hypothetisch, die sich im weiteren Verlauf sowohl ‚verfestigen‘ wie auch ‚differenzieren‘ konnten.
Die ’schwarzen‘ Umrandungen deuten thematisch zusammenhängende Sachverhalte an, die ‚roten‘ Pfeile deuten auf Wechselwirkungen zwischen diesen hervorgehobenen Bereiche hin.
Im zweiten Bild sind dann nur die abstrahierten Strukturen dargestellt. Diese repräsentieren folgende induktiv (‚bottom-up‘, Schwarmwissen) gewonnene Sachverhalte:
VORWISSEN
1. Wissenschaft fängt nicht im ‚Nichts‘ an sondern hat immer schon ein VORWISSEN, aus dem heraus sie sich ‚orientiert‘. Dieses Vorwissen ist nicht statisch, sondern verändert sich in Abhängigkeit von Ort und Zeit und kulturellem Kontext kontinuierlich. Auch das, was der Wissenschaftsbetrieb dann an WISSENSCHAFTLICHEM WISSEN aus sich heraus setzt, das kann auf dieses Vorwissen zurückwirken. Wie die Geschichte zeigt, ist die Rückwirkung von wissenschaftlichem Wissen auf das Vorwissen nicht einfach, nicht direkt, nicht vollständig. Die Rückwirkung wird von vielen individuellen, kulturellen, politischen und anderen Faktoren beeinflusst. Nicht zuletzt auch von dem wissenschaftlichen Wissen selbst, das heute z.B. als Massenphänomen (wer soll das noch alles lesen?), in einer schwer bis kaum verständlichen Verpackung (Sprachen, Verfahren, Geräte…)) daherkommt, dazu – wie schon immer – institutionell verknüpft mit wirtschaftlichen, politischen und Machtinteressen.
WISSENSCHAFTLER
2. Wissenschaftliches Wissen entsteht nicht ‚automatisch‘, sondern beruht auf der Aktivität von konkreten MENSCHEN, WISSENSCHAFTLERN (männlich, weiblich, andere), die mit ihren Körpern, ihren Gehirnen, ihren individuellen Fähigkeiten versuchen, in KOMMUNIKATION mit anderen, unter den konkreten Bedingungen einer konkreten Gesellschaft, verfügbares Vorwissen aufzunehmen, es durch ihre Denken, ihre Arbeit, ihre Kommunikation zu verstehen, zu sortieren, neu zu interpretieren, neu anzuwenden, neu zu formen, und ihm öffentlich Gehör und Anerkennung zu verschaffen. Dies ist ein sehr mühsames Geschäft, es verlangt 20 und mehr Jahre kontinuierliche individuelle Arbeit, es verlangt einen institutionellen, gesellschaftlichen, kulturellen Kontext, der dies begünstigt.
WISSENSCHAFTLICHES WISSEN – MESSEN
3. WISSENSCHAFTLICHES WISSEN unterscheidet sich nach bisherigem Vorwissen von ‚anderen‘ Wissensformen durch den Anspruch, dass DIE WISSENSCHAFTLICHEN ‚AUSSAGEN ÜBER DIE WELT ‚ VON ‚OBJEKTIVEN BEDINGUNGEN‘ ABHÄNGIG SEIN SOLLEN, die jeder Mensch mit einer ‚entsprechenden sachlichen Ausstattung‘ im Prinzip selbst überprüfen kann. Dies bedeutet, es reicht nicht einfach individuell (subjektiv) irgendeine ‚Wahrnehmung von Welt‘ zu haben, sondern diese individuelle Wahrnehmung muss zugleich verknüpfbar sein mit einem ‚objektiven Messprozess‘, durch den ein ‚objektives Ereignis‘ erzeugt wird, das der individuellen (subjektiven) Wahrnehmung ‚korrespondiert‘. Genauer, zwei verschiedene ‚Beobachter‘ müssen in der Lage sein, sich über dieses ‚objektive‘ Ereignis als einem ‚intersubjektiven Ereignis‘ ‚zufriedenstellend‘ zu ‚einigen‘. Außerdem wird gefordert, dass sich das gemeinsam identifizierte objektive Ereignis genau so bei Wiederholung des objektiven Messverfahrens ‚wieder einstellt‘. Unter ‚Messen‘ versteht man dabei einen Vorgang, bei dem ein ‚zu klassifizierendes Phänomen‘ mit einem ‚zuvor vereinbarten Standardobjekt‘ ‚verglichen‘ wird. In einem vollständigen Vergleich wird informiert, über das benutze Verfahren, über das benutze Standardobjekt (= Messeinheit), über quantitative Verhältnisse, über Ort und Zeit, über spezielle Größen, die das Messverfahren beeinflussen könnten, und über die Beobachter. Ohne diese Angaben ist ein Messergebnis unvollständig.
WISSENSCHAFTLICHES WISSEN – ERKLÄREN
4. Mit der Gewinnung von Messwerten, die wissenschaftliche Ansprüche erfüllen, ist es aber noch nicht getan. Wie auch das Beispiel des oben geschilderten Brainstormings andeutet, beginnt WISSEN eigentlich erst, wenn EINZELNE ASPEKTE sich in mögliche ZUSAMMENHÄNGE einordnen lassen. Und solche Zusammenhänge, auch BEZIEHUNGEN oder RELATIONEN genannt, können sehr unterschiedliche Eigenschaften aufweisen: räumlich, zeitlich, Intensitäten, Häufigkeiten und vieles mehr.
5. Während die Ereignisse als solche nach Voraussetzung ‚intersubjektiv‘ und damit ‚objektiv‘ sein sollen, messbar, geschieht eine mögliche DEUTUNG im SUBJEKTIVEN BEREICH der BEOBACHTER. Aufgrund der menschlichen Fähigkeit, Ereignisse der Außenwelt (und auch des Körpers, der Innenwelt) ‚wahrnehmen‘ zu können, automatisch zu ‚kategorisieren‘, zu ‚erinnern‘, ’neu vorzustellen‘, und vieles mehr, können Menschen (Exemplare der biologischen Gattung homo sapiens) an sich ‚isolierte Einzelphänomene‘ ‚probeweise‘ ‚in Zusammenhängen anordnen‘, die mögliche empirisch relevante Beziehungen gedanklich (= oft auch ‚mental‘ (analytische Philosophie) oder ‚kognitiv‘ (Psychologie) oder ‚geistig‘ (klassischer Philosophie) genannt) repräsentieren und damit in der Außenwelt ‚identifizierbar‘ machen. Ohne diese gedanklichen Hervorbringungen von Strukturen wäre ein Beobachter nicht in der Lage, solche Beziehungen im Wahrnehmungsfeld zu ‚identifizieren‘. Ob solche gedankliche Strukturen in einem Beobachter zustande kommen, welche, und wie, entzieht sich bis heute einem wissenschaftlichen Verstehen. Es gehört zu den (vor-wissenschaftlichen) VORAUSSETZUNGEN VON WISSENSCHAFT. Diese ermöglichen wissenschaftliches Wissen, gehören bislang aber nicht zum definierenden Teil von Wissenschaft.
META-EBENE
6. Um ÜBER Wissenschaft, Wissenschaftler und deren Voraussetzungen REDEN zu können, muss man einen STANDPUNKT einnehmen, der üblicherweise als META-EBENE bezeichnet wird: Immer dann, wenn man einen bestimmten GEGENSTANDSBEREICH G ausweisen kann, dann wird das Reden und Nachdenken über den Gegenstandsbereich G von einem Standpunkt aus vorgenommen, der NICHT SELBST TEIL VON G ist. Die Elemente von G sind dann die neuen OBJEKTE und das REDEN über diese Objekte benötigt eine eigene META-SPRACHE, um diesem Sachverhalt gerecht werden zu können. So gesehen nimmt jede einzelwissenschaftliche Disziplin einen SPEZIFISCHEN STANDPUNKT ein, von dem aus sie ÜBER einen SPEZIFISCHEN GEGENSTANDSBEREICH spricht (siehe das Schaubild zu verschiedenen Disziplinen und ihren Gegenstandsbereich im Beitrag ‚Welche Theorie von Was? ). So gesehen entwickelt normalerweise jede Einzeldisziplin ihre eigene Metasprache (‚Fachsprache‘), deren Begriffe nur im Kontext dieser Disziplin voll verständlich sind. Prinzipiell kann jeder ausweisbare Gegenstandsbereich zu solch einem Objektbereich für eine Metaebene und damit Metasprache werden. Im vorliegenden Fall also würden alle wissenschaftliche Disziplinen samt ihren Wissensprodukten und möglichen beeinflussenden Faktoren zu einem Gegenstandsbereich erklärt werden, zu dem eine Metaebene angegeben wird samt Metasprache, und diese spezielle Metadisziplin wird hier WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE genannt. Es wäre also Aufgabe der Wissenschaftsphilosophie, alles was zum Verständnis von empirischer Wissenschaft notwendig ist, in ihren Untersuchungen zu berücksichtigen, metasprachlich zu repräsentieren, und in einer allseitigen Kommunikation abzuklären.
GESELLSCHAFT
7. Im Gespräch wurde die Größe GESELLSCHAFT, die sowohl Wissenschaftler wie Wissenschaft ermöglicht und zugleich verschiedenste (oft sehr diffuse) Erwartungen an Wissenschaft hat, nur mit wenigen – wenngleich weitreichenden – Bemerkungen erwähnt.
ENTSTEHUNG VON WISSENSCHAFT
8. Zur Frage der Entstehung von wissenschaftlichem Wissen gab es direkt keine Äußerungen, da dies nicht direkt gefragt worden war. Es gab aber einen Gedanken, der im Kontext des Themenbereichs Wissenschaftler eingeordnet worden war, um Aspekte jener ‚inneren subjektiven Prozesse‘ zu charakterisieren, die zur Herausbildung von möglichen gedanklichen Beziehungen oder gar komplexeren gedanklichen Strukturen führen können. Dieser Gedanke war/ ist, dass es ‚GEIST‘ sei, der ‚INTUITIV‘ WISSEN schafft. Wie schon oben angedeutet wurde, werden die subjektiven Prozesse, die Wissenschaft ermöglichen, bislang nicht zum Erklärungsteil von Wissenschaft gerechnet. Entsprechend ist auch ein Begriff wie ‚Geist‘, der gern von klassischen Philosophen bemüht wird, um die subjektiven gedanklichen Prozesse zu ‚erklären‘, bislang nicht wirklich ein akzeptierter wissenschaftlicher Begriff. Statt wie die klassische griechische Philosophie den ‚Atem‘, das ‚Pneuma‘, zum allgemeinen Prinzip des Lebens zu machen, das im Geist (Nous) unser Denken ermöglicht, hat die empirische Wissenschaft heute so viel zur Entstehung des biologischen Lebens (und damit auch des homo sapiens) im Paradigma der EVOLUTION herausgefunden, dass man heute eher dazu tendiert, über die Rekonstruktion der Physiologie des Körpers, speziell auch des Nervensystems mit dem Gehirn (samt den vielen ungeheuerlichen Erkenntnissen zur Mikrobiologie des Körpers), nach Ansatzpunkten zu suchen, die inneren subjektiven BEWUSSTEN gedanklichen Prozesse über die zugrunde liegende physiologischen Prozesse zu ‚erklären‘. Diese physiologischen Prozesse sind entweder vollständig UNBEWUSST (oft daher NICHT BEWUSST genannt), oder aber TEMPORÄR BEWUSST UND UNBEWUSST zugleich (Paradebeispiel Gedächtnis).
9. Allerdings ist fest zu halten, dass der Versuch der ‚Erklärung‘ des Bewussten auf der Basis des Unbewussten bislang methodisch nicht wirklich zufriedenstellend ausgeführt worden ist. Wissenschaftsphilosophisch ist auch anzumerken, dass die unterschiedliche Datenlage ein ‚einfaches Reduktionsmodell‘ aus prinzipiellen (formalen) Gründen ausschließt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Wissenschaft das generelle Problem bislang nicht geklärt hat, wie man das Zusammenwirken von ‚empirischen Einzeldaten‘ und ‚gedanklichen Konstrukten‘ in einer wissenschaftlichen Erklärung wiederum erklären kann/ soll. Der Begriff der ‚wissenschaftlichen Theorie‘ ist bislang nur fragmentarisch erklärt! Alle wichtigen interessanten Aspekte sind NICHT ERKLÄRT!
10. Dem Wissenschaftsbetrieb selbst scheint es – so der Eindruck – sogar ‚egal‘ zu sein, was das genau ist, eine ‚wissenschaftliche Theorie‘. Niemand fühlt sich so richtig zuständig. Die Wissenschaftsphilosophie, die hier zuständig wäre, ist nirgendwo ein regulärer Bestandteil des Wissenschaftsbetriebs. Die Einbeziehung der Perspektive der biologischen Evolution (die ja wiederum nur ein Teilaspekt der je größeren Perspektive der Entwicklung des ganzen Universums ist) hat die Frage nach dem ‚letzten Prinzip von Wirklichkeit‘ auch noch nicht vollständig gelöst. Das grundlegende Phänomen der Transformation von Energie in materielle Strukturen, die immer komplexere Feinstrukturen ausbilden, die wir ‚biologische Systeme‘ nennen mit ihren immer komplexeren Selbstorganisations-, Vernetzungs- und kognitiven Strukturen, ist bislang keinesfalls ‚erklärt‘. Wir haben nicht einmal die leiseste Idee, warum und wie das geschieht. In einer solchen wissenschaftlichen Situation den Mythos von der alles überragenden und alles vereinnahmenden künstlichen Intelligenz zu erzählen ist dann nur ein weiteres Anzeichen eines Verfalls der wissenschaftlichen (und philosophischen!) Rationalität, die sich in irrationale Mythen flüchtet, die leichter Manipulationen und damit der Vernichtung der grundlegenden Freiheit des Universums Vorschub leistet. Popularität hatte schon immer mehr mit DUMMHEIT zu tun als mit AUFGEKLÄRTER VERNUNFT, die sich täglich neu abmüht, zu verstehen, wie es sich denn ‚wirklich verhält‘.
EPILOG
Wer will, kann sehen, dass Wissenschaft und eine begleitende Philosophie alles andere als unmodern sind, alles andere als selbstverständlich, alles andere als ein Selbstgänger. Aktuell droht die Wissenschaft samt der sie ermöglichende Gesellschaft an ihren eigenen Wissensprodukten zu ersticken. Das Auftreten der modernen (nicht zuletzt auch der digitalen) Technologien ist kein Zufall, sondern gehören zur Logik der Evolution dessen, was wir LEBEN nennen. Die ZUKUNFT dieses Lebens wird aber wohl kaum gelingen, wenn man die PRODUKTE des Lebens von diesem selbst abkoppelt; sondern eher, wenn man das, was sich bislang als MÖGLICHES LEBEN andeutet, MIT HILFE DER NEUEN TECHNOLOGIEN weiter entfaltet. Allerdings brauchen wir dazu eine andere Form von künstlicher Intelligenz als das, was bislang marktschreierisch als solche VERKAUFT wird. Das, was bislang als künstliche Intelligenz verkauft wird, ist einfach nur EIN SCHLECHTER WITZ.
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