1) In einem Gespräch im Freundeskreis am So, 25.August, wurde an einer Stelle von einem mehr ‚Betroffenheit‘ eingefordert. Nicht über ‚irgendwelche Themen‘ reden, sondern über das, was ‚uns persönlich betrifft‘. Alles andere — so der Redner — ginge ihm ‚am Ar.. vorbei‘. Diese Bemerkung wurde zum Anlass, darüber nachzudenken, was es heißt, ‚Betroffen zu sein‘. Wann sind wir betroffen, wovon hängt das ab?
2) Es zeigt sich sehr schnell, dass ‚Betroffenheit‘ nicht los lösbar ist von Erfahrung, von Wissen: das scharfe Messer am Boden in der Nähe eines spielenden Kindes löst nur einen ‚Alarm‘ aus, wenn man weiß, dass das Kind sich damit schwer verletzten kann. In ein Auto mit einem angetrunkenen Fahrer wird man normalerweise nicht einsteigen, wenn man weiß, dass dieser einen schweren Unfall produzieren kann. Wer die Gefahren von radioaktiven Abfällen kennt, der wird nicht ruhig zusehen wollen, dass diese in der Nachbarschaft gelagert werden. Wer die gesundheitlichen Schäden bestimmter Lebensmittelzusätze kennt, der wird beunruhigt sein, dass diese nicht klar deklariert werden. usw.
3) Wir wissen heute auch, dass viele ’spontane‘, ’natürliche‘ Reaktionen entweder geleitet sind von ‚angeborenen Reflexen‘ oder ‚frühen Erfahrungen‘, die sich ‚emotional festgesetzt‘ haben in unserem Gedächtnis verbunden mit den motorischen Reaktionen. Und diese ‚angeborenen Reflexe‘ sind auch nichts anderes als eine Form von ‚Erfahrung‘, von ‚Wissen‘ in Form von stabilisierten neuronalen ‚Schaltungen‘, die so nicht sein müssen, aber vom Gehirn ‚eingerichtet‘ wurden.
4) Die persönliche ‚Betroffenheit‘ eines Menschen, die wir gerne als eine Form von persönlicher ‚Authentizität‘ interpretieren, bleibt zwar insoweit ‚authentisch‘, als die Betroffenheit ein ‚direkter‘ Ausdruck (= ‚Form‘) dessen sein kann, was eine andere Person gerade bestimmt, aber der mit der Betroffenheit zum Vorschein tretende ‚Inhalt‘ der Betroffenheit ist weitgehend abhängig von der ‚Erfahrung‘, von dem ‚Wissen‘, über das der ‚Betroffenheit zeigende‘ Mensch verfügt. Wer seinen Erfahrungsraum und/ oder seinen Wissensraum auf bestimmte Bereiche ‚einschränkt‘, der wird in der Regel keine Betroffenheit zeigen, wenn etwas passiert, was dieser Mensch ’nicht kennt‘ (So haben z.B. die Berichte über die nahezu unbegrenzten Ausspähaktionen von Geheimdiensten die einen ‚betroffen‘ gemacht, da für sie die betroffenen Umstände lebensrelevant sind, anderen ist es bis heute egal; diese haben in der Regel die Berichte nicht einmal gelesen (wer liest noch Zeitungen? Wo gibt es noch gut recherchierte Artikel?)).
5) In dem Maße, wie einem dies klar wird, beginnt man zu ahnen, dass die so oft beschworene ‚Individualität‘, die ‚Besonderheit‘ eines Menschen, ein zweischneidiges Schwert ist. Wir brauchen ‚Individualitäten‘, um uns nicht in einem gemeinschaftlichen ‚Rauschen‘ von ‚Gleichheiten‘ zu versenken, aber wenn die Individualitäten nicht ‚eingebettet‘ sind in eine hinreichend große und differenzierte ‚Erfahrung‘ erscheint eine solche Individualität sehr ‚hohl‘, ‚leer‘; eine ‚Hülle‘ ohne Inhalt. Abgesehen davon ist der Begriff der ‚Individualität‘ prinzipiell schwierig, da das ‚Leben‘ als biologisches Phänomen immer nur als ‚Population‘ existieren kann; ein ‚einzelnes‘ Individuum ohne funktionellen Zusammenhang mit einer Population erscheint ‚biologisch‘ ‚ohne Bedeutung‘.
6) Denkt man in diese Richtung weiter wird es aber trotzdem schnell schwierig, wissen wir doch aus der Geschichte, dass die ‚großen Einzelgänger‘ oft genau die neuen Werkzeuge, Verfahren, Ideen usw. hervorgebracht haben, die dann vielen anderen über Generationen geholfen haben, das Leben ‚besser‘ zu gestalten. Dennoch, schaut man genau hin, diese ‚großen‘ Individuen waren ‚Individuen mit Bezug‘ (… Aristoteles, Jesus von Nazareth, Galileo, Kopernikus, Descartes, Leibniz, Newton, Ignatius von Loyola, Bach, Beethoven, oder der ‚Vater Europas‘, Robert Schuhman, der ‚Vater Indiens‘, Mahatma Ghandi, …..), sie waren anderes als alle anderen und doch waren sie im Kern intensiv eingebettet in die Erfahrungen und das Wissen der aktuellen Zeit; sie hatten jeweils die Zeit intensivst in sich aufgesogen, aber dann auf ihre Weise ‚moduliert‘, haben auf ihre Weise die ‚aufgesogene Zeit‘ ‚verdaut‘, verändert, gestaltet, dass etwas entstanden ist, was alle verändert und ‚betroffen‘ hat, was zu einem gemeinschaftlich ‚anderen‘ Verhalten geführt hatte, das dann die ‚Zeit‘ verändert hat.
7) Trotz aller Klagen heute meine ich, feststellen zu können, dass die Zahl von Menschen, die ‚offen‘ sind, ‚interessiert‘, größer ist als man oft meint; die Bereitschaft, sich ‚Betroffen machen zu lassen‘ durch Gewinn neuer Erfahrungen, von neuem Wissen, ist da. Die Bereitschaft sein Leben einzusetzen, um anderen zu helfen, ist auch da (man denke nur an die überwältigenden Einsätze, die Menschen gezeigt haben, wenn es zu den großen Flutkatastrophen kam, die vielen freiwilligen Helfer im sozialen Bereich, bei der Feuerwehr, usw.).
8) Dennoch, macht man sich die Abhängigkeit des einzelnen Handelns und der eigenen Betroffenheit von verfügbarer Erfahrung und Wissen bewusst, dann sieht man, wie fragil unsere heutigen demokratischen Gesellschaften sind: demokratischen Gesellschaften setzen voraus, dass die große Mehrheit der ‚Bürger‘ hinreichend informiert ist über das, was die gewählten Vertreter im Rahmen der Politik tun (siehe Prinzip Öffentlichkeit). Dies wiederum setzt voraus, dass (i) überhaupt dokumentiert wird, was getan wird, (ii) dass das Dokumentierte zugänglich ist,und (iii) es eine Öffentlichkeit gibt, in der sich die Bürger konkret und wirksam ‚austauschen‘, ‚verständigen‘ können, über das, was vorgeht, das was ‚wichtig‘ sein kann, über das, was ‚zu tun wäre‘.
9) Die Nachrichten aus allen Ländern, die sich demokratisch nennen, über die Art und Weise, wie die jeweiligen Regierungen handeln, wie sie Gesetze missachten, wie sie eher nicht informieren als informieren, dies wirkt beunruhigend. Betrachtet man dann noch die Entwicklung der Medienlandschaft, wird die Beunruhigung nicht geringer: die Anzahl der Einrichtungen, die kontinuierlich und ‚unabhängig‘ recherchieren können und es auch tun, ist sehr begrenzt und beständig gefährdet. Medien mit reißerischen Titeln, politisch meist irrelevant, oberflächlich recherchiert (oder immer mehr nur noch ‚übernommen‘), kurzatmig, ohne Kontext und Nacharbeit, überwiegt die Informationskanäle. Der Einfluss von Milliardären, die sich Medien als ihr privates Sprachrohr leisten können, nimmt zu.
10) Vor diesem Hintergrund nimmt die USA als bisheriger Grundpfeiler einer demokratischen Kultur gepaart mit großer wirtschaftlicher und militärischer Macht eine Sonderstellung ein. Die Art und Weise wie die offiziellen Stellen in den USA die Öffentlichkeit von Regierungshandeln mehr und mehr ‚abschotten‘ durch Einstufung als ‚Geheim‘, wie Kontrollorgane nahezu zu Null reduziert worden sind, wie gleichzeitig Regierungsinstitutionen die Privatheit und Öffentlichkeit der Bürger — entgegen dem Geist der Verfassung — nahezu zu Nichts pulverisiert haben, wie die wenigen noch vorhandenen ‚kritischen Zeitungen‘ von privaten Investoren aufgekauft werden, das kann den Eindruck erwecken, dass sich hier eine große demokratische Gesellschaft durch ein kontinuierliches Schwächen der Öffentlichkeit Schritt für Schritt ‚abschafft‘; es braucht keine Revolution mit Waffen, es reicht ‚Verbot‘, ‚Einschüchterung‘ durch staatliche Stellen (auch durch ‚Kriminalisierung von Whistleblowern‘), Informationsentzug, mangelnde Berichterstattung. Wenn niemand mehr weiß, was die ‚Mächtigen‘ tun und zugleich die Mächtigen sich der demokratischen Kontrolle entziehen in Verbindung mit Geheimdienst, Militär und den kollaborierenden Firmen, dann haben wir eine Art Diktatur, auch in einem Land, das sich ‚demokratisch‘ nennt.
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