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WEIHNACHTEN – ALS MANTRA – PACKEN WIR ES NEU AN?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Sa 25.Dezember 2019

Audioversion des Textes. Gesprochen von AH, ‚radically unplugged, direkt gesprochen.

KONTEXT

Na ja, wir haben wieder einmal ‚Weihnachten‘: Feiertage, Erinnerungen, Liturgien, Kauf- und Geschenkorgien, viel Essen, viel Süßes, viel Alkohol, Weihnachtsmusik, Weihnachtslieder, Weihnachtsandachten, Weihnachtsmärkte, Weihnachtsdekorationen, so etwas wie einen Weihnachtslook, Weihnachtsbäume mit entsprechendem Schmuck, Weihnachtsessen — mit einem erhöhten Todesfallaufkommen für bestimmte Tierarten –, Weihnachtsfilme mit besonderem Inhalten (Menschen ändern sich, Wunder werden wahr, …) … Dies, und noch viel mehr geschieht, findet statt, ereignet sich, wenn wir von ‚Weihnachten‘ reden.

MANTRA

Seitdem auch Europa immer mehr weiß von asiatischen — speziell buddhistischen — Traditionen und immer weniger von den jüdisch-christlichen Traditionen, die Europa 2500 Jahre tief geprägt haben, wissen viele irgendwie, was ein Mantra ist: ein Bild, ein Wort, ein kurzer Text, eine Art meditativer Gesang, das alles geeignet sein soll, sich selbst als Mensch eine Art Ruhepunkt zu verschaffen, dem man sich zuwenden kann, um das viele andere, das um einen herum und in einem ‚anklopft‘, ‚um Aufmerksamkeit heischt‘, abzuschwächen, um damit besser zur Ruhe zu kommen. Einige sehen in einem Mantra auch noch mehr: den Lauf der Gedanken quasi zu ‚lähmen‘, indem man das Mandra als gedanklichen Widerspruch konzipiert, oder anders, wenn man das Mantra mit einer Art ‚Bedeutungs-Aura‘ versieht, die auf Gedanken, Bilder, Motive, Erfahrungen hinweist, die uns innerlich ‚positiv beeinflussen‘ sollen.

LITURGIE-RITUALE

In der jüdisch-christlichen Tradition gab — und gibt — es solche Mantra-Praktiken auch. Alle Gottesdienste sind geprägt von bestimmten Formen und Symbolen, die in ihrer regelmäßigen Wiederkehr Haltepunkte für das Erleben schaffen sollten, symbolische Fixpunkte setzen, die Gedanken sammeln, Inhalte anregen, assoziieren, Inhalte, die ‚positiv einstimmen‘ sollen. Gebetsketten — wie im späteren Islam! — waren absoluter Standard, Andachtsbilder, Andachtstexte (Gebete, Psalmen, …), Andachtssymbole, spirituelle Lieder, Chorgesänge, liturgische Kleidung, Ruhezeiten, Einkehrtage, Geistliche Übungen,…. wenn man mit den Augen der vergleichenden Religionswissenschaft schaut, gibt es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen allen großen Religionen, weil der Mensch in allen Religionen der gleiche ist. Statt aber diese Gemeinsamkeit zu sehen, heraus zu arbeiten, daran gemeinsam zu arbeiten, gefallen sich die bekannen Religionen eher darin, die Unterschiede zu betonen, das Besondere …Was zu einem Stillstand führt, zur Erstarrung, zur Unbeweglichekit, zu Denkverboten …

WEIHNACHTEN ALS MANTRA

Das Weihnachtsfest als wiederkehrendes Ereignis hat sich von seinen religiösen Wurzeln stark abgelöst: es findet mittlerweile auch dort statt, wo die ‚angeborene Kultur‘ eigentlich nichts mit Weihnachtern zu tun hatte; es findet in ursprünlich jüdisch-christlichen Kulturräumen statt mit immer weniger Bezug zum eigentlich religiösen Thema. Auch wenn man vielleicht nicht mehr ‚offiziell religiös‘ ist, offiziell keiner Kirche mehr angehört, oder doch formal angehört aber nicht mehr wirklich ‚praktiziert‘: kirchliche Weihnachtsfeiern ‚kommen an‘, rühren an das Gemüt. Während man das Krippenspiel den Kindern überlässt, widmen sich die Erwachsenen dem Thema ‚Menschlichkeit‘ in einem meist sterilen Weltkontext, man hört die Musik gerne, man genießt die Gemeinschaft, die für einen Moment entsteht; ein Hauch von ‚etwas anderem‘, nach dem man sich vielleicht sehnt, von dem man aber nicht so recht weiß, wie man es nennen, wie man es praktizieren soll.

BLICKPUNKTE – WIE MAN SCHAUT

Von der Philosophie und den modernen Wissenschaften können wir lernen, dass ein ‚Phänomen‘ — also etwas, was sich uns darbietet — in seiner ‚Bedeutung für uns‘ entscheidend davon abhängig ist, in welche ‚Beziehung‘, in welchen ‚Kontext‘ wir es einordnen. Ein Phänomen als solches hat keinen Kontext ‚aus sich heraus‘; Kontexte entstehen immer nur in unserer Wahrnehmung, in unserem Denken, aufgrund unserer bisherigen Erfahrung. Jemand, der immer nur in einer Wüste gelebt hat, wird in einem Dschungel lange Zeit ein Problem haben, ebenso auf dem Meer, in der Tundra, im ewigen Eis, und umgekehrt. Ein geborener Landmensch wird mit einer Stadtumgebung zunächst nicht klar kommen, wie umgekehrt ein geborener Städter auf dem Land Probleme haben wird. Ein Deutscher kann an der chinesischen Sprache verzweifeln, ein Chinese am Englischen, Ein US-Amerikaner am Russischen, ein Russe am Arabischen , … Beziehungen, Kontexte, Bedeutungswelten müssen mühsam gelernt werden, und das, was man gelernt hat, das ‚hat man‘, wie so schön gesagt wird; aber — das wird nicht so oft gesagt –, das Gelernte ‚hat auch uns‘! Was immer wir sehen, hören, schmecken …. spontan schlägt das bisher Gelernte zu und bevor wir irgend einen neuen Gedanken fassen können, sagt uns die Erfahrung, wie sie das sieht, was wir gerade sehen. Unsere Erfahrung ‚Legt uns die Biler und Wort in den Mund‘, wie wir etwas sehen sollten. Vielfach ist dies wunderbar, weil wir sonst Handlungsunfähig würden. Manchmal ist dies aber ganz und gar ungut, da wir Abweichungen, Neues aufgrund dieser Automatismen nicht wahrnehmen und — noch schlimmer — zu falschen Einschätzungen kommen können, die uns zu falschem Verhalten anstiften können — was wir aber nicht merken. Wir glauben sogar — meistens — das Richtige zu tun, ganz toll zu sein.

GEWOHNHEITEN ÜBERWINDEN

Wir Menschen haben gelernt — vielleicht noch nicht alle, was sich ändern kann –, dass man einen ‚Blinden Fleck‘ in seiner eigenen Weltsicht am schnellsten erkennen kann, wenn man sich der Meinung anderer Menschen aussetzt, möglichst solchen, die ‚verschieden‘ sind von einem selbst. Dazu reichen bisweilen Besuche bei anderen, Reisen in anderer Gegenden, oder — sehr intensiv — das Arbeiten in einem interdisziplinären Team! Interdisziplinäre Teams bringen Menschen mit garantiert unterschiedlichen Ausbildungen, Erfahrungen, und Vorgehensweisen zusammen. Und da Teams in der Regel ein gemeinsames Problem lösen sollen, können sich die Mitglieder nicht einfach voreinander verstecken, sondern sie müssen ‚ihre Karten auf den Tisch legen‘. Und wenn sich hier Unterschiede zeigen — was normal ist –, dann müssen sie sich mit diesen Unterschieden auseinander setzen. Dies kann schwierig sein, schmerzhaft werden, Unruhe bringen, Emotionen auslösen … das aber ist genau der Stoff, aus dem neue Erkenntnisse erwachsen können, vorausgesetzt, man hat gelernt, dass man sein eigenes Weltbild aufgrund von nachvollziehbaren Gründen, verändern kann (die Tatsache, dass viele Projekte scheitern, weil genau diese Verständigung nicht funktioniert, kann ein Indikator dafür sein, dass wir Menschen genau hierin eine Schwachstelle haben).

JÜDISCH-CHRISTLICHE GEWOHNHEITEN ÜBERWINDEN?

Wissenschaftliche Überzeugungen, kulturelle Muster, religiöse Überzeugungen … sie haben alle gemeinsam, dass man sich ein Geflecht von Verhaltensweisen und Blickweisen angeeignet hat, die einem in seinem Tun leiten.

Während es im Bereich Wissenschaft zumindest grundsätzlich Mechanismen gibt, die dafür sorgen sollen, dass man seine wissenschaftlichen Überzeugungen immer wieder qualifiziert überprüfen lässt und selbst überprüft (auch wenn die Geschichte zeigt, dass die Wissenschaft nicht immun ist gegen falsche Hypothesen und Manipulationen aus nicht-wissenschaftkichen Motiven heraus), ist dies bei kulturellen oder gar religiösen Überzeugungen schwer bis unmöglich. Ein sehr krasser Fall sind sogenannte Offenbarungsreligionen, speziell die christlchen Kirchen, und hier die katholische und orthodoxe Kirche(n).

Obwohl man einerseits einen sehr hohen, ja geradezu absoluten, Wahrheitsanspruch hat, sind alle typischen Mechanismen der Überprüng ausgespart worden. Im Fall der katholischen Kirche hat man den ‚Offenbarungsprozess‘, der an die historische Person Jesu geknüpft war, mit seinem Tod als für ‚beendet‘ erklärt, und dann die ‚Verwaltung dieser Wahrheiten‘ im Laufe der Jahrhunderte ausschliesslich an einen einzelnen Menschen gebunden, und zwar an jenen, der die ‚Rolle des Papstes‘ innehat. Dieser Vorgang widerspricht allen Erkenntnissen, die die Menschheit bislang über Prozesse der Erfahrung, des Wissens usw. sammeln konnte, und die Geschichte der Institution Kaholische Kirche ist eine schier unfassbare Geschichte von Verbrechen, Missbrauch, Ausbeutung, Unterdrückung, und falschen Weltbildern. Und in den letzten Jahrzehnten, in denen die Katholische Kirche auch in sogenannten demokratischen Gesellschaften existiert, und neben der massiven Benachteiligung von Frauen mit zahlreiche Missbrauchsfälle mit vielen tausend vor allem jungen Menschen in vielen Ländern aufgefallen ist (von anderen Ländern sind durch persönliche Berichte ähnliche Missbrauchsfälle in großem Maßstab bekannt; sie werden aber bislang ‚unter der Decke‘ gehalten), hat sich gezeigt, dass dieses absurde Machtmonopol beim Papst und seiner Verwaltungsorganisation, der Kurie in Rom, bisher alles getan hat, um die Dinge zu vertuschen, klein zu halten, statt aufzuklären, zu heilen. Diese Unfähigkeit zur ‚Selbstheilung‘ erstreckt sich auch auf die eigentliche Glaubenslehre. Obwohl seit gut 150 Jahren eine große Zahl von exzellenten Historikern und Bibelwissenschaftlern die Entstehung der Texte des alten und neuen Testaments (volkstümlich: der Bibel) sowohl kulturgeschichtlich, archäologisch, literaturwissenschaftlich und vieles mehr untersucht und die Linien der tatsächlich Entstehung immer mehr heraus gearbeitet haben, ist von all diesen Erkenntnissen kaum etwas in die offizielle Lehre der Kirche eingeflossen.

Klar ist, dass die so bekannte und beliebte Weihnachtsgeschichte eine spätere theologische Deutung der Vergangenheit des historischen Jesus ist, über deren realen Verlauf man tatsächlich so gut wie nichts weiß. Das Gleiche gilt für die Leidensgeschichte Jesu, insbesondere die Teile, die mit der Auferstehung zu tun haben und der Kirchenbildung. Das sind keine Fakten, sondern das ist pure Spekulation. Während man die Geschichte der Offenbarung mit dem Tode Jesu für beendet erklärt hat (im Nachhinein), wird aber die wunderbare Bekehrung des ungläubigen Saulus zum missionierenden Paulus (aufgrund eines persönlichen Erweckungserlebnisses) als offizielles Ereignis in die kirchliche Lehre übernommen. Viele weitere wichtige Fakten — wie z.B. die wichtige Rollen von Frauen in der frühen Gemeindebildung — , werden großzügig ausgeklammert. Die Frage der Interpretation Jesu — wahrer Mensch, und doch auch irgendwie Gott? — hat mehrere Jahrhunderte die Gemüter bewegt, war mit viel realer Gewalt verknüpft, und war tief geprägt von damaligen philosophischen und auch weniger philosophischen Weltbildern, die von heute aus gesehen, kaum noch haltbar sind. Diese geistigen und militärischen Auseinanersetzungen produzierten das offizielle theologische Mantra: Jesus war ganz und gar Mensch und zugleich Sohn Gottes. Wie man sich dies genau vorzustellen hat, konnte man weder damals noch kann man dies bis heute in irgendeinem Sinne rational aufhellen. Daher musste der Glaube herhalten, eingefordert von einer Institution, die sich gegen jegliche Kritik immunisert hatte, dem Papsttum.

Während also sehr viele Argumente gegen diese monopolisierte autoritäre Machtstruktur sprechen, beruft sich dasjenige Argument, das — ich nenne es mal das ‚Mantra der Macht‘ — immer wieder zur Rechtfertigung dieser unsinnigen Struktur bemüht wird, darauf, dass es gerade diese monopolartige Machtstruktur war, die die Kirche über all die Zeiten hin ‚bewahrt‘ hat; und nicht nur das — und das grenzt für mich an Blasphemie — man sieht in dieser Existenz durch alle Zeiten hindurch einen Hinweis auf den ‚göttlichen Charakter‘ dieser Institution.

Es ist eine Aufgabe der wissenschaftlichen Historiker, das Geflecht an Faktoren zu analysieren, die letztlich die bisherige institutionelle Existenz der katholischen Kirche ermöglicht haben (und es gibt nicht wenige Historiker, auch christliche und gar katholische Historiker, die den Gang der Dinge sehr kritisch sehen). Vor allem, sieht man einmal von der reinen Macht ab, widerspricht der theologische Gehalt der offiziellen katholischen Lehre krass ihren eigenen Quellen, widerspricht allen modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen, und sowohl die Lehre, wie auch die Institution verhindert täglich massiv, dass sich neue Erkenntnisse und menschenfreundliche Praktiken ausbilden können.

Natürlich kann man Teile der Kritik, die ich hier ansatzweise äußere, auch auf andere Religionen anwenden, aber hier geht es mir darum, die Pseudowahrheit des katholischen Monolithen zumindest anzusprechen, denn, die Nicht-Katholiken kümmern sich nicht darum; ihnen ist das egal, und diejenigen, die sich noch Katholiken nennen, haben eine antrainierte Beißhemmung, weil das Mantra der Macht jedem Gläubigen (wie auch in anderen Religionen!) so tief eingeprägt wurde, dass niemand sich traut, wirklich etwas zu sagen oder zu tun, weil man dann glaubt, man würde gegen ‚Gott‘ handeln. Mit ‚Gott‘ hat aber die Institution katholische Kirche nun wirklich nichts zu tun. Für mich verkörpert diese Institution eine Form von praktischem Atheismus. Die einzelnen Gläubigen mögen vielleicht tatsächlich an Gott glauben (darüber zu urteilen steht niemand anderem zu, mir auch nicht), aber die Institution, so wie sie sich offiziell definiert und so, wie sie offiziell agiert, das hat mit Gott nach meinem Verständnis nichts zu tun; diese Institution verhindert eher einen Zugang zu Gott.

AUFKLÄRUNG UND DEMOKRATIE

Die Entstehung der Aufklärung und der Demokratie verlief lange in erbittertem Widerstand zur katholischen Kirche, da die Kircher als gesellschaftsmächtige Institution nicht nur den innerkirchlichen Glauben zu kontrollieren versuchte, sondern alles, auch die weltliche Gesellschaft. Im Gegensatz zum weitverbreiteten Klischee vom christlichen Abendland, das mit Bildung identifiziert wird, war die historische Realität eine deutlich andere: Heilkunst und Medizin waren durch die Kirche geächtet, Bildung gab es nur für Kleriker und nur mit stark selektierten kirchennahen Themen, Wissenschaft war obsolet. Parallel zeigte die damalige islamische Kultur (nicht zu vergleichen mit dem heutigen Islam!) eine massive breite Unterstützung von Schulen für alle, Krankenhäuser für alle, Bejahung von Medizin(kunst), hatte große Bibliotheken mit hundert Tausenden von Büchern zu allen Themen, die es gab (es war eine Ehre, für einen Muslim, Übersetzungen fremden Wissens zu fördern). Nur durch die breite Übersetzung der griechischen Philosophie und Wissenschaft ins Arabische kamen diese Texte später über den Umweg über (das damalige islamische) Spanien wieder nach Europa, wo sie ins Lateinische übersetzt wurden, und dadurch bei den Theologen eine Art Denkrevolution ausgelöst hat.

Aus der Aufklärung entwickelte sich gegen die damaligen autoritären und menschenverachtenden Strukturen (die katholische Kirche gehörte zu diesen autoritären und menschenverachtenden Strukturen!) neue Konzepte von Macht und Menschenrechten. Durch verschiedene Metamorphosen (Frankreich, Nordamerika, Europa, … Vereinte Nationen nach zwei verheerenden Weltkriegen) entstand die Deutsche Demokratie, in der die neuen Grundwerte die Frucht dieser Kämpfe aus vielen Jahrhunderten waren. Dass eine moderne Demokratie den alten menschenverachtenden autoritären religösen Traditionen Religionsfreiheit gewährt, ist nicht unbedingt selbstverständlich, um so weniger, als diese religiösen Institutionen ihr völlig inakzeptables Wahrheits- und Machtverständnis im Schutze der Demoktatie dazu benutzen dürfen, die Grundlagen von Wissenschaft und Demokratie dadurch in Frage zu stellen, dass ein Weltbild vermittelt wird, das verhindert, dass die ‚Offenbarung des Lebens‘ als solche überhaupt zur Kenntnis genommen werden kann.

Religionsfreiheit ist eine großartige Errungenschaft moderner demokratischer Gesellschaften; sie stellt ein sehr hohes Rechtsgut dar. Es wäre aber fatal, aufgrund der Religionsfreiheit den grundlegenden Wahrheitsanspruch einer menschlichen Gesellschaft abzuschwächen oder gar durch Tabuisierungen in Frage zu stellen. Damit würde sich eine Demokratie über die Hintertreppe selbst entsorgen!

Fragt sich nur, wie die Anforderung der Wahrheit unter Wahrung von Religionsfreiheit praktiziert werden kann bzw. muss?

Folgende Erfahrung hat mich vor einigen Jahren geschockt: ausnahmsweise fuhr ich zu einer bundesweiten Veranstaltung einer bekannten politischen Partei in Deutschland (sie fand statt in einem Landtagsgebäude). Es ging um die Frage der Religionsfreiheit. In der Veranstaltung stellte ich fest, dass alle offiziellen Redner irgendwelchen religiösen Vereinigungen angehörten, während die ’nicht-religiösen‘ Vertreter — die sogenannten Säkularen — keine offiziellen Rederechte hatten! Gefragt, warum dies so sei, kam die prompte Antwort von den religiösen Vertretern, die Säkularen hätten sich halt nicht organisiert…. Demokratie geht eigentlich ein bisschen anders … und, wie weit ist unsere säkularisierte Demokratie, wenn die Überwindung des engen religiösen Denkens ‚unmodern‘ ist, sich rechtfertigen muss, während die religiösen Institutionen (obwohl statistisch mittlerweile Minderheiten) mit dem Geld der Bürger ihre privaten Anschauungen finanzieren?

PACKEN WIR ES NEU AN?

Begründete Kritik zu üben ist zwar nicht ganz einfach, aber da viele, sehr viele Menschen ihre grundlegende Hoffnung auf das Leben, in Richtung eines umfassenden, tieferen Sinns noch immer mit diesen gewordenen Strukturen verknüpfen, kann die eben geäußerte Kritik für manche wie ein Angriff auf ihre persönlichen Sinnhorizonte wirken. Das aber ist nicht Sinn dieser Kritik. Im Gegenteil, gerade unter Bejahung der menschlichen Sinnsuche erweist sich die Notwendigkeit einer kritischen Betrachtungsweise, um dem angeborenen Sinnbedürfnis den Raum, und die Gegenstände zugänglich zu machen, die für ein umfassendes Verständnis des Lebens im bekannten Universum notwendig sind. Leider ist das Bild vom Leben im Universum selbst von den Wissenschaften bislang sehr ungenügend entwickelt. Das alte Bild des Menschen wurde zwar wissenschaftlich weitgehend pulverisiert, aber eine neue Synthese lässt noch auf sich warten … in Ermangelung eines solchen Bildes alte, unangemessene Bilder hoch zuhalten, nur weil ein ‚Vakuum‘ so unbeliebt ist, kann und darf nicht die letzte Antwort sein. Bislang hat Verweigerung von Wahrheit in der Geschichte immer zum Scheitern geführt. 2000, 3000 Jahre spielen da keine Rolle. … nun ja, vielleicht ist eine sich wiederholende Kritik die berühmte Glut in der Asche, die jederzeit zu einem neuen Feuer aufflammen kann.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

DIE ZUKUNFT WARTET NICHT – 2117 – GEHEN WIR LOS…

Am 30.Dezember 2016 hatte ich einen Blogeintrag geschrieben, in dem  mich die Frage nach der Zukunft angesicht des einsetzenden Silvestertrubels und der unzähligen sogenannten Jahresrückblicke regelrecht angesprungen hatte. Der Blogeintrag stand unter dem Titel DIE ZUKUNFT WARTET NICHT – 2047 – 2077 – 2107  . Das Thema beschäftigt mich aber offensichtlich weiter. Hier weitere Gedanken:

POPULISTISCHES ALLTAGSRAUSCHEN

  1. In diesen Wochen und Monaten kann man den Eindruck gewinnen, als ob das Gegenteil von Wahrheit, nämlich die Lüge, jetzt sogar in demokratischen Gesellschaften salonfähig wird. Wenn ein neugewählter Präsident mit seinem ganzen Team Fake News und alternative Fakten zum festen Bestandteil seiner Kommunikation werden lässt, dann signalisiert dies eine neue Eskalationsstufe in der öffentlichen Diskussion demokratischer Gesellschaften. Bislang waren Zensur und Propaganda, Gegenaufklärung, Falschinformationen immer ein Kennzeichen von unfreien, diktatorischen Regierungen und demokratische Gesellschaften wie z.B. große Teile des westlichen Europas und Nordamerikas haben sich davon immer abgegrenzt. Aber aktuell scheint der Drang zur Falschheit, zur Lüge, ohne jeden Skrupel, neuen Dimensionen zuzustreben. Die voranschreitende Vernetzung bei gleichzeitiger Anonymisierung der Gesellschaften bietet auch in dieser Dimension offensichtlich neue Möglichkeiten.
  2. Dass zugleich mit der Erosion von Wahrheit nationalistische und fundamentalistische Töne zunehmen, ist kein Zufall. Abgrenzung, Diskriminierung, Dogmatismus, offener Hass sind sowohl Ursachen von Verzerrungen der Wirklichkeit wie auch Folge. Wer im anderen nur Feinde sehen kann, hat ganz offensichtlich seine spezielle Sicht der Welt. Und wem beständig erzählt wird, dass die anderen die Bösen sind, fängt irgend wann an, das auch zu glauben.

DAS LEBEN: ES BEGANN SO GROSSARTIG

  1. Wenn man sieht wie im Jahr 2017 in so vielen Ländern unserer Erde Politiker (und andere) wegen kurzfristiger, sehr persönlicher, Machtinteressen, komplexe gesellschaftliche Systeme ruinieren, ausbluten, an die Wand fahren lassen, Strukturen, die z.T. In hunderten oder mehr Jahren gewachsen sind, dann kann man dies schon in der direkten Betrachtung kaum fassen.
  2. Wenn man aber dann bedenkt, dass wir, die Menschen heute, der homo sapiens, eigentlich ein Erfolgsmodell des Lebens bilden, das etwa 3.5 Mrd Jahre Entwicklungszeit investiert hat, durch schwierigste, aller schwierigste Zeiten hindurch, im Zusammenspiel mit aberwitzig vielen anderen Lebewesen, bislang der einzige Ort im gesamten bekannten Universum, wo dies gelungen ist, dann wirkt das Verhalten der Machtkranken egomanischen Politiker umso absurder.
  3. Die Physiker haben bis heute nicht den leisesten Schimmer, wie sie die Entstehung dieses komplexen Phänomens Leben im Universum erklären können. Das biologische Leben stellt ein einziges großes faszinierendes Dauerexperiment dar, wie man (noch) frei verfügbare Energie, die als solche ein neutrales Nichts ist, in immer wieder neuen Variationen dazu bringt, dass damit materielle Strukturen verändert werden. Biologische Systeme zeigen, wie man an sich ‚tote‘ Materie beständig und immer wieder neu verformen kann, neu anordnen kann, sie buchstäblich ‚zum Leben erwecken‘ kann. Biologisches Leben zeigt im Vollzug, dass die tote Materie implizit dazu in der Lage ist, ein Nicht-Tod zu sein. Das Starre, Tote, Unbelebte ist im Angesicht von biologischem Leben ein Artefakt des Denkens, ein sehr grundlegender Fake: die Existenz des Lebens zeigt, dass das Tote nur scheinbar tot ist; man kann es beleben, zum Leben erwecken, indem man mittels Energie die Atome und Moleküle so in Bewegung setzt, dass Formen entstehen, Bewegungen, Gleichgewichtszustände, biologische Informationen, biologische Erinnerungen, biologische Emotionen, sogar das, was wir Bewusstsein nennen. Das Leben ist Freiheit, Kreativität, Liebe ‚per se‘. Und das hat stattgefunden, findet statt seit 3.5 Mrd Jahren, und hat es erst ‚kürzlich‘ geschafft, sich sprachlich zu artikulieren, sich in komplexen Koordinationen in Megastädten zu verdichten, mit Datenbanken und Computer zu erweitern, mit Gentechnik und Molekularbiologie sich selbst umzubauen.
  4. Und dann laufen egomanische Politiker durch die Welt, die ganze Gesellschaften mit ihrem Schwachsinn an die Wand fahren, Lüge zur neuen Wahrheit erklären. Was läuft da schief?

EUROPA IST MEHR ALS DER EURO

Europa in seiner historischen Dimension: multiethnisch, geistig, wirtschaftlich seit mehr als 7000 Jahren
Europa in seiner historischen Dimension: multiethnisch, geistig, wirtschaftlich seit mehr als 7000 Jahren

 

  1. Wenn wir heute von Europa hören, vom politischen Europa, dann denken wir an die aktuell 28 (dann bald 27) Mitglieder der EU, die man gerne zurückführt auf die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Montanunion genannt, die 1951 mit 7 Staaten begann. Vielleicht sollte man nicht vergessen, dass dies nur möglich wurde, weil die Welt und die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, davor zwei wahnwitzige Kriege erlebt hatten; den letzten noch glutnah bis 1945. Und dass es die Gründung der vereinten Nationen mit der Charta der Menschenrechte im Jahr 1945 war, die im Angesicht eines infernalischen Krieges für einen Moment der Weltgeschichte ein Bild von Menschenwürde und menschlicher Staatlichkeit aufblitzen lies, das zum Leitbild des politisch neuen Deutschlands nach 1945 wurde, nicht freiwillig, sondern aufgezwungen, aber dann doch wirksam. Das versammelte Weltgewissen erzwang quasi in Deutschland einen Neustart.
  2. Nach dem Krieg gewann das Ideal der Menschenrechte und der freien demokratischen Gesellschaft immer mehr Momentum: rassistische, nationale Töne waren viele Jahre verpönt. Und selbst der unwandelbar erscheinende damalige Ostblock zeigte Aufweichungstendenzen und führte Ende der 80iger/ Anfange der 90iger Jahre zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Ausweitung des Ideals demokratischer europäischer Staaten bis an die Grenzen der Ukraine und gefühlt bis an die Grenzen Russlands und des nahen Afrikas und Asiens. Es war eine bestimmte Sicht des Lebens gewesen, die über die Köpfe der Menschen die Hände erreichte, zu Taten führte, und damit neue Verhältnisse schaffte. Was nützen Panzer, wenn die, die sie fahren, nicht mehr kämpfen wollen?
  3. Was dann aber geschah, war bislang wenig überzeugend. Aus dem großen Schwung des Anfangs, aus den großen Visionen einer neuen Gesellschaft, entstanden riesige, undemokratische Bürokratien; der Euro, als Währung ein technisches Instrument im Dienste des Wirtschaftslebens, wurde zu einem ideologischen Element, das die unterschiedlichen regionalen Wirtschaftsräume auf unterschiedliche Weise behinderte; nationale Stimmungen werden mittlerweile stärker als die gemeinsame europäische Vision, und die Nachbarn Europas empfinden sich schon lange weniger als Nachbarn sondern eher als Gegner.
  4. Hier die Schuldfrage zu stellen ist wenig produktiv. Fakt ist, dass die begeisternde Vision eines Verbundes von vielen freien demokratischen Gesellschaften aktuell an Atemnot zu leiden scheint. Dies hat viele Ursachen.
  5. Eine der Ursachen ist sicher, dass sich das aktuelle politische Europa der 28 Staaten in seinem kulturellen Selbstverständnis zu früh und zu stark auf Teilaspekte der Geschichte Europas zurückgezogen hat. Das Europa der Geschichte begann nicht dort, wo sich Europa heute sieht. Das Europa der Geschichte begann in Griechenland, in Vorderasien, bis hin zu Indien, begann in Nordafrika, und hatte Russland immer dabei. Vieles (das Meiste?) , was die sogenannte europäische Kultur als Grundlagen zu bieten hat, kam aus den Bereichen, die heute noch nicht zum politischen Europa der Eu-28 gehört. Die Reduzierung auf das Christentum ist historisch falsch und stellt eine Idealisierung des Christentums dar, die den historischen Fakten Hohn spricht. Dass heute der Islam für viele von niedrigem Bildungsstand erscheint, sich in einer Unzahl von menschenverachtenden Terrorgruppen manifestiert, sich meist in solchen Ländern befindet, die große soziale Ungleichheiten auszeichnet und politische autoritäre bis diktatorische Regime vorweisen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Islam über 1000 Jahre eine in Europa vorherrschende und hochstehende Kultur war, während das Christentum ebenfalls mehr als 1000 Jahre wissenschaftsfeindlich war, Menschen- und Gesellschaftsverachtend, mit großer Primitivität. In diesen Zeiten waren die großen Bibliotheken dieser Welt samt eines hochstehenden Bildungs- und Gesundheitssystem nicht christliche Institutionen sondern islamische.
  6. Dies alles sei hier nicht gesagt, um irgendwelche Ressentiments zu schüren oder spezielle Hervorhebungen zu treffen: es soll uns nur vor Augen führen, dass eine Plakette wie ‚christlich‘ oder ‚islamisch‘ an sich nichts sagt. Es ist immer eine Frage, wie es real gelebt wird. Sowohl im Christentum als auch im Islam gab es immer wieder hochgebildete Menschen mit einer ebenso großen Ethik. Es gab aber auch auf beiden Seiten Dumpfheit, Fanatismus, Krieg und Folter. Dies sollte uns lehren, dass jemand nicht schon deshalb ein Gläubiger ist, weil der das Wort für ‚Gott‘ im Munde führt.
  7. Weitet man also den Blick auf das Europa in seinen ganzen zeitlichen kulturellen Ausdehnungen, dann ist eines ganz klar: Europa war in allen Zeiten trans-national und multi-ethnisch. Von Afrika kam der Neandertaler wie auch später der homo sapiens, die beide nicht nur Asien sondern auch Europa bevölkert haben. Während der Neandertaler als eigene Gruppe ausstarb aber genetisch im homo sapiens weiter lebte, war es dann letztlich der homo sapiens, der für alle Bewohner Europas und Asiens die Ursprungsbevölkerung bildete. Im Großraum Europa (mit Russland, Nordafrika und Vorderasien bis Indien) bildete sich viele Kulturen aus, unterschiedlichste regionale Strukturen, gab es beständig ein Hin- und Her von Menschen; sei es durch Handel, sei es aus wirtschaftlicher Not, sei es durch Kriegszüge. Der Großraum Europa war in ständiger Bewegung. Wer hier versucht, eine bestimmte geographische Region mit den heute dort zufällig wohnenden Menschen zu einer besonderen ‚Rasse‘, zu einer besonderen ‚Nation‘ hoch zu stilisieren, die sich eindeutig von anderen abgrenzen lässt, der weiß schlicht und einfach nicht, was er tut. Großeuropa war und ist ein Schmelztiegel von Genen, Praktiken, Erfahrungen, Erfindungen, Politiken, das war seine Stärke und deshalb hat dieser Großraum Dinge hervorgebracht, die früher vielfach hinter dem Großraum Indien oder China weit hinterher hinkte, dann aber auch wieder ein Stück voraus war. Letztlich ist die Synchronie stärker als der Unterschied.

AUFKLÄRUNG: RELIGIONEN UND MACHT

  1. Auffällig ist nur, dass im westlichen Teil Großeuropas in den letzten Jahrhunderten die Befreiung des Denkens von falschen religiösen Vorstellungen stärker stattgefunden hat als in den östlichen Teilen und in den Gebieten Nordafrikas. Der Islam hat bislang nicht die Feuertaufe des Geistes so stark durchlaufen müssen, dass Menschen sich vorstellen können, Gläubige zu sein, an Gott zu glauben, ohne Muslime zu sein, jenseits des scheinbaren Wortlauts der sogenannten heiligen Texte (das Gleiche gilt auch für große Teile des traditionellen Judentums). Dieser naiv-unkritische Umgang mit den Texten erlaubt es radikalen Gruppen (und autokratischen Herrschern), den Islam für ihre Machtinteressen zu instrumentalisieren. In aufgeklärten Gesellschaften muss sich politische Macht vor allen Bürgern rechtfertigen; in nicht aufgeklärten Gesellschaften beansprucht ein Machthaber ‚aus sich heraus‘ Macht (es gibt auch noch Restbestände westlicher Monarchien, aber stark abgeschwächt), die er nicht vor seinem Volk rechtfertigen will. Dass aufgeklärte Gesellschaften grundsätzlich nicht an Gott glauben, ist ein Trugschluss. Menschenrechte, freie soziale demokratische Gesellschaften realisieren jeden Tag mehr Werte, als jeder sogenannter heiliger Text dieser Welt überhaupt zur Sprache bringt. Dass auch in demokratischen Gesellschaften Missbrauch möglich ist, Verrat, liegt in der Natur der Sache. Wahre Freiheit kann eben missbraucht werden. Wahre Freiheit wird aber auch niemals ohne Not töten, da sie um die Begrenztheit des menschlichen Wissens weiß. Nur zusammen kann man kleine Fortschritte in der Erkenntnis des Lebens machen.
  2. Im Großraum Europa finden wir alle Zutaten für eine bessere menschliche Gesellschaft in Würde, in Freiheit, bei demokratischer Kontrolle von Macht, mit einer demokratischen Öffentlichkeit ohne Zensur, ohne Fake News…
  3. Die wahre Quelle für alle Taten der Jahrhunderte, für alle Greueltaten wie auch Erfolge, die liegt im Denken der Menschen, in ihrer Weltsicht. Wer nur schwarz sieht kann nicht weiß handeln. Zeitgleich mit Indien und China entstand in Europa in den Jahrhunderten vor dem technischen Jahr 0 ein philosophisches Denken, das alles Vertraute in Frage stellte, die Grenzen der Erkenntnis auslotete, und schließlich in den empirischen Wissenschaften ein Erkenntniswerkzeug gefunden und entwickelt hat, das dermaßen in die Tiefen der Zeiten, in die Tiefe der Materie, schauen konnte, wie es alles übertraf, was das Leben bis dahin auf dieser Erde geschafft hatte. Daraus entstanden nicht nur neue Bilder von der Welt und dem Menschen, neue Formen der Wirtschaft und der Politik, daraus entstand auch ein Denkunfall, der das aufgeklärte Europa bis in die Gegenwart genauso schwächt, wie es auf der anderen Seite dadurch gestärkt wird.

SELBSTISOLIERUNG DER WISSENSCHAFTEN

  1. Der Denkunfall besteht darin, dass das aufgeklärte Denken mit dem empirischen Denken sich zwar ein Erkenntniswerkzeug kaum zu überschätzender Bedeutung geschaffen hatte, dass es aber die gedankliche Kontrolle über dieses Werkzeug verloren hat. Das Ergebnis ist, dass man jetzt zwar aus einem engen Bereich der Wirklichkeitswahrnehmung heraus immer mehr weiß, dass aber der Mensch selbst in seiner Besonderheiten durch diese Methoden im Ansatz ausgeklammert ist. Die empirische Wissenschaft hat sich quasi selbst verboten, über den Menschen in menschlicher Weise nach zu denken. Das Bild vom verbotenen Apfel in einem der beiden sogenannten Schöpfungsberichten des Alten Testaments der Juden und Christen (und letztlich auch der Muslime) wurde ja gerne dahingehend instrumentalisiert, dass man daraus Wissen und Erkennen generell verteufelt hat. Pikanterweise ist es jetzt gerade die empirische Wissenschaft, die Unglaubliches geleistet hat und immer noch leistet, die sich selbst verbietet, über sich selbst nach zu denken.
  2. Mit dieser Selbstauschließung des Menschen von sich selbst – was historisch zunächst verständlich ist – nimmt sich der aufgeklärte Mensch allerdings die Möglichkeit, nach seiner – oft berechtigten – Kritik an traditionellen Glaubensbildern, nun seine eigene Gotteserfahrungen zu machen. Da Gott – sofern es ihn gibt – vom Grunde her niemandem gehört, sondern allen gleich nah ist, kann auch jeder Mensch jederzeit und überall mit Gott kommunizieren. Es ist gleichsam ein Teil dieses Lebens.Diese neue Nähe bleibt aber unerkannt und ungenutzt, weil die empirischen Wissenschaften sich – methodisch nachvollziehbar und für die Wissenschaft partiell berechtigt – von vornherein nur auf Teilbereiche der Wirklichkeitserfahrung beschränken. Hier scheint eine Art zweite Aufklärung notwendig zu sein, die die erste Aufklärung nicht abschafft, sondern die empirischen Wissenschaften wieder in den Erkenntnisrahmen einbaut, den sie braucht, um sich nicht zu verlieren.

MENSCH ALS AKTEUR: ALLES GEHT

  1. Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, als ob die Menschen, wir Menschen, auf das Zeitgeschehen schauen wie das berühmte Kaninchen auf die Schlange: man nimmt wahr, was geschieht, und man könnte den Eindruck gewinnen, als ob alles eine Art Folgerichtigkeit hat, eine scheinbare Unabwendbarkeit, die ihren Gang nimmt und es nur im Chaos – oder was auch immer – enden könnte. Aus vielen Beispielen der Geschichte wissen wir, dass dies nicht so sein muss, und es liegt auch in der Natur des Menschen, dass der Mensch das erste Lebewesen auf dieser Erde ist – soweit wir wissen –, das gerade nicht zwanghaft, dumpf handeln muss (aber kann).
  2. Allgemein akzeptiert ist, dass Menschen letztlich das tun, was gerade in ihrem Kopf ist: ihre Weltsicht, ihre Emotionen, …
  3. Wir wissen aber auch, dass das, was im Kopf ist, nicht von Anfang an da war, sondern sich entwickelt hat: Kinder spielen, man erlebt sich mit anderen Menschen, man macht seine Erfahrungen, man lernt, liest, hört … das Bild im Kopf entsteht, es wird, es ist nicht fest. Es kann sich jederzeit ändern. Genau das zeigt uns die Geschichte immer wieder: der Mensch kann (muss nicht!) lernen.
  4. Was wir seit einigen Jahrzehnten dazu lernen konnten, ist die Tatsache, dass all unser Lernen und Verstehen nur möglich ist, weil wir ein Gehirn haben, einen Körper, der so geworden ist, dass wir das können, und zwar genau so, wie wir es zur Zeit können. Und da alle Menschen – weitgehend – die gleichen Strukturen im Gehirn und Körper haben (und nur deshalb), können verschiedene Menschen Ähnliches wahrnehmen, Erleben, Fühlen, können sie überhaupt miteinander reden.
  5. Auf der Basis dieses Körpers, dieses Gehirns und des darauf basierenden Bewusstseins können wir zusammen mit anderen Sprachen lernen und praktizieren, können wir unsere Welterfahrung mit der Sprache verzahnen und unsere Sprache als Vehikel benutzen, um andere (sprachlich) auf das zu stoßen, was wir gerne ansprechen wollen. Das ist unsere Stärke, aber auch unsere Schwäche. Wenn jemand bestimmte Erlebnisse, Erfahrungen, ein bestimmtes Wissen nicht hat, dann kann man noch so viele Worte benutzen, der andere wird es nicht verstehen; entweder gar nicht oder zumindest anders.
  6. Hier wird deutlich, dass Ausbildung, Bildungsprozesse für eine aufgeklärte Gesellschaft entscheidend sind. Wenn Menschen nicht das Wissen bekommen, nicht die Erfahrungen, die Erlebnisse, die sie brauchen, um die Welt in einer ‚aufgeklärten‘ (menschenfreundlichen…) Weise zu sehen, dann fehlt in ihrem Kopf etwas, dann gibt es eine Lücke, ein Nichts, und mit Nichts im Kopf kann man schwer das ‚Richtige‘ tun.
  7. Dabei darf man das Wissen nie nur abstrakt sehen. Dem Wissen müssen reale Bedingungen entsprechen: reale Freiheiten, reale Handlungsräume, reale Lebensprozesse, reale Rechte, reale Arbeit, reale Gerechtigkeit … ein Kind, das in Armut und in Unterdrückung aufwächst kann nicht der Wissenschaftler, die Künstlerin, die Politikerin … werden, der/die das Kind möglicherweise werden könnte, wenn man ihm den realen Lebensraum geben würde.
  8. Soziale Räume entstehen immer in Wechselwirkungen zwischen Menschen. Wenn man Menschen nicht erlaubt, solche soziale Räume zu leben, dann fehlt ein Stück Welt, die wichtig ist.

MORGEN IST HEUTE

  1. Was wir heute erleben ist das Erbe des Gestern. Was heute geschieht haben Menschen vor uns getan, vorher entschieden, oder nichts entschieden, und nur wiederholt, was sie immer getan haben. Wenn in den letzten Jahren die Erwachsenen von morgen nicht ausreichend ausgebildet und motiviert wurden, haben wir heute viele unzufriedene, unglückliche, und auch aggressive Menschen. Wer in den letzten Jahren keine Vision eines realen besseren Lebens kennen lernen konnte, kann sie heute auch nicht leben. Wenn wir gestern die Meere überfischt haben, mit Plastik zugemüllt, den Weltraum mit Schrott gefährlich gemacht haben, dann haben wir heute ein Problem. Wenn Menschen in den letzten Jahren Wasserreserven im großen Stil verbraucht haben, die sich nicht erneuern, dann gehen jetzt ganze Regionen zugrunde….
  2. Wir sind heute das Gestern von Morgen. Welche unserer Taten und Visionen geben unseren Kindern heute eine Chance für Morgen? Wo haben wir heute das Wissen, das uns für morgen hilft? Wie lernen wir heute kreativ zu sein, dass wir morgen das finden, was wir zum Leben brauchen?
  3. Und selbst wenn wir kreativ sind, tolle Ideen entwickeln: selbst dann braucht es Jahrzehnte, um ein eingefahrenes System zu verändern (Schulen, Sprachen, Energieversorgung, Transport, Müllverwertung….). Setzen wir eine Generation mit 30 Jahren an, dann dauert es 1-2 Generationen von einer Idee bis zu ihren vollen Nutzung.
  4. Und es sind nicht nur die natürlichen Hindernisse, die zu überwinden sind (neue Materialien finden, neue Produktionstechniken, neue Märkte aufbauen, entsprechende Mitarbeiter finden, schulen…). Es gibt immer auch beharrende Kräfte, Menschen, die sich Neues nicht vorstellen können, die Ängste entwickeln. Und in Zeiten von globaler Vernetzung und staatlich gesteuerten Fake News kann es möglicherweise noch viele Jahre mehr dauern, weil im allgemeinen Rauschen der medialen Lügen die paar Körnchen Wahrheit vielleicht nicht mehr wahrgenommen werden.
  5. Und dennoch: der Mensch ist jenes faszinierende Wesen, das dazu geschaffen ist, dass morgen alles anders sein kann … ganz im Einklang mit den Naturprozessen, die sich auch ständig weiter verändern…

DIE ZUKUNFT SPIELEN?

  1. Klar ist nur, dass das Meiste, was uns heute vertraut ist und als Gut erscheint, der Schrott von morgen sein wird.
  2. Ebenso ist klar, dass die wirklich innovativen Ideen jene sind, die die meisten heute blöd finden, oder nicht einmal das, sie nehmen sie gar nicht war, weil sie sie gar nicht verstehen.
  3. Ein starkes Kennzeichen des biologischen Lebens ist, dass es neben seinem konservierenden Trend mit dem genetischen Gedächtnis immer einen beachtlichen Teil Zufallsexperiment hatte, ein Probieren buchstäblich ‚ins Blaue‘. Und das, was zum Überleben bis heute geführt hat, waren entscheidend diese Anteile des radikalen Experimentierens mit dem Nichtwissen. Gewiss, im Rahmen der Evolution waren diese radikalen Experimente mit dem Nicht-Wissen weitgehend ‚unfreiwillig‘; die Selbstreproduktion war eben ’so‘, aber sie war auch so, weil nur auf diese Weise auf Dauer Überleben möglich war.
  4. Die Fähigkeit mit dem Unbekannten, mit dem Nicht-Wissen zu experimentieren, zu spielen, ist von daher immer ein Gradmesser für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Erstarrte Gesellschaften sind schon tot, obgleich sie noch leben. Es ist nur eine Frage der Zeit (und ein paar hundert Jahre bedeuten hier nichts), bis sie an sich selber zugrunde gehen werden (oder weil andere einfach leistungsfähiger sein).
  5. Vielleicht müssen wir alle neu darüber nachdenken, was Leben wirklich ist.

Eine Fortsetzung gibt es HIER (vermutlich anders, als sich die meisten denken)

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SÄKULARES GLAUBENBEKENNTNIS? Ein Telefonat und ein Soundtrack vom April 2014

1. Seit dem Besuch des ersten religionspolitischen Kongresses der GRÜNEN gab es sehr viele anregende Impulse. Einer berührt das Thema ‚Säkularisierung‘. Im letzten sehr langen Telefonat mit einem Mitglied der säkularen GRÜNEN skizzierte dieser das Spektrum der verschiedenen Bewegungen und Initiativen, die sich in Deutschland irgendwie der Wortmarke ’säkular‘ zuordnen lassen. Nach einem beeindruckenden Überblick entstand unter dem Strich der Eindruck, dass alle diese verschiedenartigen Bewegungen irgendwie mit der Kritik an den bekannten Religionen auch gleich ‚Gott selbst‘ eliminiert hatten und haben. Am radikalsten vielleicht die ‚Naturalisten im engeren Sinne‘ mit einer ‚Geist- und Gottfreien Materie‘.

2. Im Hin und Her des Gesprächs deutete sich an, dass wir der Überzeugung sind, dass eine Kirchen- und Religionskritik nicht automatisch auch eine ‚Abschaffung Gottes‘ impliziert, da ‚Religiosität‘ etwas so Fundamentales in Empfinden der Menschen ist, dass diese Empfindsamkeitsstruktur nicht schon durch Kritik an institutionellen Fehlformen von Religion betroffen sein muss (was im übrigen die Frage, ob und wie ‚Gott‘ sei, noch weitgehend im Hintergrund lässt).

3. Auch bieten die neuen Entwicklungen in der Wissenschaft sowie der Wissenschaftsphilosophie neue Ansatzpunkte, um die schroffe Gegenüberstellung von naturwissenschaftlichem Wissen hier und religiösem Weltverständnis dort zumindest in Frage zu stellen (ein Thema in diesem Blog seit langem).

4. Dazu kommt, dass – zumindest im Bereich der christlichen Kirchen, und hier besonders im Bereich der römischen Papstkirche – das Verhältnis zwischen ‚kirchlichem Amt‘ und ‚Spiritualität‘ – also eigener religiöser Erfahrung – seit Anbeginn problematisch war. Spätestens ab dem 5. Jahrhundert befand sich das religiöse Empfinden des einzelnen unter der vollständigen Kontrolle des Amtes. Was immer ein einzelner erleben mochte, es spielte künftig keine Rolle mehr. Es galt nur noch das, was dem Amt ‚genehm‘ war. Abweichungen wurden mit Bestrafung oder direktem Ausschluss bzw. mit dem Tod bestraft.

5. Ein prominentes Opfer dieser Verhältnisse ist der Jesuitenorden. Lange Zeit und für Viele galten die Jesuiten als besonders papsttreu und ’nah an der Macht‘. Die Wahrheit ist aber komplexer.

6. Es stimmt, dass die Jesuiten aufgrund ihrer Ordenssatzung sich dem Papst direkt ‚unterworfen‘ hatten, und es stimmt, dass diese ‚Unterwerfung‘ von ihrer Spiritualität weitgehend gedeckt wurde.

7. Was man aber nicht übersehen sollte, ist, dass das Spiritualitätsmodell der Jesuiten – soweit man es an der Autobiographie des Ordensgründers Ignatius von Loyola und seinem konkreten Wirken (und dem seiner Ordensmitglieder) ablesen kann – vom Ansatz her hochmodern ist, ganz und gar erfahrungsbasiert, und ein Modell darstellt, wie es jeder Mensch – auch heute – praktizieren könnte. Dieses Modell war so leistungsfähig, dass die Jesuiten im 16. und 17.Jahrhundert in der Lage waren, in allen Kontinenten Sprachen zu lernen, sich neue Kulturen anzueignen, sich anderen Lebensformen anzupassen, neue Gesellschaftsformen zu erfinden, also auf breiter Front Dinge zu tun, die mit dem damaligen engen Kirchen- und Religionsverständnis eigentlich nicht vereinbar waren. Diese Kreativität und Dynamik wurde ihnen dann schließlich zum Verhängnis, als die Differenz zu anderen ‚konkurrierenden‘ Orden und zu verschiedenen staatlichen Machtpositionen zu groß wurde. Es kam zum ersten weltweiten Verbot des Ordens ohne einen wirklichen Prozess, für viele völlig überraschend, verbunden mit Einkerkerungen und Tod.

8. Man kann natürlich die Frage aufwerfen, warum die Jesuiten, wenn sie doch so eine großartige Spiritualität hatten, dann nicht die Problematik der römischen Papstkirche erkannt und daraus ihre Konsequenzen gezogen haben? Eine Antwort auf diese Frage würde es erfordern, tiefer in dieses Spiritualitätsmodell einzusteigen, was an dieser Stelle jetzt nicht geschehen soll. Fakt ist nur, dass auch das jesuitische Spiritualitätsmodell von jedem einzelnen mehrjährige ‚Lernphasen‘ abverlangt in Wechselwirkung mit kognitiver Verarbeitung. Die Erfahrung der ‚Nähe Gottes‘ ersetzt keine analytische Erkenntnis! (Dies erklärt auch, warum Mohammed als Prophet sehr wohl unmittelbare Gotteserfahrungen gehabt haben kann ohne deswegen zugleich auch die volle Weite der möglichen analytischen Erkenntnisse besessen zu haben. Schon die großen islamischen Theologen des 11. Jahrhunderts gingen weit über Mohammed hinaus. Aber auch hier gilt: die mögliche berechtigte Kritik an Aussagen eines Menschen ändert nichts an der Tatsache, dass dieser Mensch genuine, authentische Erfahrungen gemacht haben kann, die für diesen Menschen sehr wichtig waren).

9. Außerdem sollte man bedenken, dass das allgemeine ‚religionsunabhängige‘ wissenschaftliche Weltwissen sich ja auch erst – nimmt man das Wirken von Galilei als einen Bezugspunkt – über ca. 350 Jahre mühsam im direkten Kampf gegen die römische Papstkirche entwickeln musste, d.h. selbst wenn es eine ’spirituelle Richtung‘ gegeben haben mag, ein ‚passendes Wissen‘ war schwer verfügbar.

10. Das, was man exemplarisch an der Geschichte des Jesuitenordens beobachten kann, kann man weitgehend auf alle Menschen in der römischen Papstkirche übertragen, die versucht haben, eine eigene, authentische Spiritualität zu leben: entweder mussten sie die Kirche verlassen oder die eigene Spiritualität so weitgehend verleugnen, dass von der Sprengkraft, die einer authentischen Spiritualität innewohnt, nicht mehr viel übrig blieb. Verständlicherweise ist diese destruktive Wirkung einer Amtskirche auf die Spiritualität ihrer Mitglieder in der offiziellen Theologie nie untersucht worden.

11. Im übrigen steht im Raum, dass dieses negative, menschenverachtende Verhalten gegenüber der individuellen Erfahrung – wie wir mittlerweile wissen können – ein durchgehender Zug vieler (aller?) organisierter (Offenbarungs-)Religionen ist, und sich auch in politischem Kontext in allen Staaten wiederfindet, die versuchen ohne demokratische Strukturen mit purer Macht die Bürger zu befehligen und zu bevormunden. Pluralität, Pressefreiheit, Toleranz usw. sind äußere Kennzeichen einer Gesellschaft, in der die subjektive Erfahrung des einzelnen – zumindest im Ansatz und grundsätzlich – akzeptiert und geachtet wird. Die formale Trennung von Staat und Religion in demokratischen Staaten ist daher nicht ein ‚weniger an Religion‘, sondern die einzige Voraussetzung für eine ‚wahre Religion‘, die in der Subjektivität des einzelnen wurzelt.

12. Allerdings kann man den Eindruck haben, dass die Bürger demokratischer Staaten, die sich von erfahrungsfeindlichen Religionen gelöst haben, deswegen nicht automatisch zu ihrer eigenen, authentischen Religiosität finden. Die negativen Beispiele der organisierten Religionen können – trotz Ablehnung – so blockierend wirken, dass trotz der Ablehnung von etwas Menschenfeindlichem deswegen noch nicht der Blick, das Gefühl, der Verstand frei ist für die konstruktive Alternative (in diesem Sinne kann/ muss man fragen, ob nicht die offiziellen Religionen selbst das größte Hindernis sind, um zur eigenen, wahren Religiosität zu finden? Natürlich haben die bekannten Religionen auch Großartiges hervorgebracht; das macht die Sache nicht einfach).

13. Hier wäre viel zu tun. Die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, ob und wie wir alle in diesen Fragen weiterkommen werden. Aktuell kann man den Eindruck gewinnen, dass die ‚Regression‘ auf die alten, menschenverachtende Religionsmuster mehr Attraktivität besitzen als der Aufbruch in eine neue Religiosität, die dort beginnt, wo die Aufklärung, die Wissenschaft, die demokratischen Staatsformen uns hingebracht haben, in einen Raum, in dem individuelle, subjektive Erfahrung geduldet, gefördert und offiziell geschützt wird, begleitet von einem großartigen empirischen Wissen über die Welt im Universum, eingebettet in neue globale Kommunikationsformen.
14. Angeregt durch diese Gedanken fiel mir ein Soundtrack auf, den ich im April 2014 aufgezeichnet hatte und der im Kontext dieser Gedanken eine Anregung für ein ’säkulares Glaubensbekenntnis‘ sein könnte. Hier der Soundtrack (Warnung: Laufzeit 18 Minuten! Eine entspannte, ruhige Situation wird empfohlen):

15. Soundtrack vom April 2014: Säkulares Glaubensbekenntnis?.

16. ANMERKUNG: Der Soundtrack wurde nach der Methode ‚radically unplugged‘ generiert. Diese Methode hat einen direkten Bezug zum Thema dieses Blogeintrags, da die radically unplugged Methode hier einen Musikbegriff repräsentiert, der sich gegen die etablierten Dogmen von Musik stellt und den einzelnen mit seiner Subjektivität zur primären authentischen Quelle von Musik erklärt. Radically unplugged Aufnahmetechnik bedeutet, dass jeder jederzeit jede Art von Klang erzeugen und aufzeichnen kann, Manipulationen vornehmen kann, und der entstehende Klang ist immer ‚richtig‘. Natürlich kann man solche Radically Unplugged Musik (= RUM) dann nach beliebigen Kriterien diskutieren, und natürlich wird es immer Menschen geben, die aufgrund von spezieller Begabung und langjährigem Training bestimmte Klänge hervorbringen, die ohne diese Begabung und Motorik von keinem anderen live so hervorgebracht werden können. Dennoch erscheint es mir falsch, solche – irgendwo bewunderungswürdigen – Leistungen zum einzigen Maßstab zu erklären. Ziel sollte es sein, dass jeder angeregt wird, seine individuelle Klangfähigkeit zu entwickeln, da sie, wie Lesen und Schreiben, zu Grundfähigkeiten des individuellen Selbsterfahrens und Kommunizierens gehören.

17. Im übrigen leben wir in einer Zeit, in der die moderne Technik es möglich macht, dass jeder einzelne auch ohne reale Orchester und teuerste Instrumente heute Klangräume durchwandern kann, die weit über das hinaus gehen, was klassische Musikinstrumente ermöglicht haben. Die junge Generation hat dies vielfach schon erkannt und geht hier unbekümmert neue Wege, abseits der ‚Feuilletonpäpste‘ und ‚Radiooberlehrer’…

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ERSTER RELIGIONSPOLITISCHER KONGRESS VON BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN – Sehr subjektive Betrachtungen eines Teilnehmers

KONTEXT DES BLOGS

1. Aufmerksame Leser dieses Blogs dürften bemerkt haben, dass das Thema Religion in diesem Blog seit wenigen Wochen eine neue Intensität gewonnen hat. Dies hat nichts – wie man im ersten Moment meinen könnte – mit den aktuellen Ereignissen in und um Paris zu tun, sondern damit, dass der ‚Denkweg‘ in diesem Blog nach Klärungen im Bereich ‚Philosophie und Wissenschaft‘, ‚Philosophie, Wissenschaft und Kunst‘ sowie immer wieder vereinzelt die Frage der Offenbarungsreligionen durch die Lektüre des Buches von Bergmeier Teil 1 und Teil 2 sowie meinen Reflexionen im Anschluß an die letzte philosophieWerkstatt v2.0 mit dem bisherigen Höhepunkt einer Verabschiedung der bisherigen Offenbarungsreligionen und Aufruf, jetzt, innerhalb der modernen Staatsformen jene Religiosität zu finden und zu kultivieren, die keine ‚Kirchen‘ mehr braucht, weil der Staat selbst den Rahmen liefert, in dem jeder einzeln und doch zusammen mit allen anderen eine authentische Religiosität leben kann.

2. Sensibilisiert durch all diese aktuellen Überlegungen wirkte auf mich die Nachricht von dem religionspolitischen Kongress der Grünen in Düsseldorf am 17.Januar 2015 sehr stimulierend und dank einer starken Neugierde habe ich mich dort kurzfristig angemeldet und bin hingefahren.

ZIEL DES KONGRESSES

3. Den verschiedenen Verlautbarungen und Statements im Umfeld des Kongresses entnahm ich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre es notwendig erscheinen lassen, das Verhältnis zwischen Staat, Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften neu zu überdenken und in entsprechende Gesetzesinitiativen einfließen zu lassen. Eingeladen hatte die Landtagsfraktion der GRÜNEN sowie die Kommission ‚Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat‘ des GRÜNEN Bundesvorstandes. Diese Kommission hatte mehrere Themenfelder identifiziert, die dann die Plenarsitzungen wie auch die verschiedenen Arbeitskreise thematisch bestimmten.

BEEINDRUCKENDE MENSCHEN

4. Geht man von der Besetzung des Plenarsaales aus, dann waren mehr als 200 TeilnehmerInnen zu diesem Kongress gekommen. Die Vielfalt der vertretenen Auffassungen gepaart mit einer Offenheit, Fairness und Herzlichkeit im Umgang miteinander war beeindruckend. Denkt man an die Bilder von parteiischen Menschengruppen, die sich gegenseitig verdächtigen, beschimpfen oder sogar bekämpfen, die von den Medien vorzugsweise in die deutschen Wohnzimmer transportiert werden, dann erschien das hier fast wie eine Botschaft aus einer anderen Welt: Evangelische und katholische Christen, Juden, verschiedene islamische Bekenntnisse, Aleviten, Buddhisten, Humanistischer Verband – um nur einige zu nennen – diskutierten miteinander friedlich; die meisten kannten sich von Jahren gemeinsamer Arbeit vor Ort. In den Gesprächen zwischendurch und in Diskussionen während der Arbeitssitzungen begegnete einem viel Erfahrung, viel Engagement und sehr viel Fachkompetenz. Das war ermutigend.

STARKE EIGEN-INTERESSEN

5. Allerdings zeigte sich auch sehr schnell, dass es natürlich auch um handfeste Interessen ging. Immerhin ging es um Überlegungen, die Auswirkungen auf konkrete Anerkennung als Religionsgemeinschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft mit all den damit verbundenen ‚Privilegien‘ (wie z.B. Steuervergünstigungen, Sonderrechte, Religionsunterricht, Arbeitsrecht, und Feiertage) zu diskutieren.

6. So trat der Humanistische Verband unter seinem Präsidenten Dr. Wolf (zusammen mit weiteren Mitgliedern) im Rahmen des Erlaubten ziemlich massiv auf, um den Weg zur Anerkennung des Humanistischen Verbandes als Weltanschauungsgemeinschaft weiter zu ebnen um auf Dauer mit den etablierten Kirchen gleich zu ziehen. Nicht weniger selbstbewusst vertrat Herr Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland die legitimen Interessen verschiedener muslimischer Verbände. Dem standen die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche natürlich nicht nach; allerdings konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie natürlich aus einer historischen ‚Position der Stärke‘ heraus argumentierten und sich ‚offen‘ für mögliche Änderungen zeigten, ohne diese Offenheit aber weiter zu konkretisieren.

EUROPAS ERBE AUF DER HINTERBANK?

7. So positiv dies alles im ersten Moment erscheint (friedliches, freundliches Miteinander, …), so problematisch wird dies aber, sobald man es in einen historischen und systematischen Kontext einbettet.

8. Der Key-Note Vortrag (gemeint ist ‚Einführungsvortrag‘ … :-)) von Prof. Brumlik war kenntnisreich und anregend, konnte aber die jüdische Grundüberzeugung seines Autors nicht ganz verhehlen: so versuchte er eine religiöse Grundüberzeugung schon in die Gründungsformulierung der Grünen hinein zu interpretieren (‚ökologisch‘ als ‚Erhaltung der Schöpfung‘) und unterstellte allen Menschen eine Sehnsucht nach ‚Erlösung‘ (und das mit einem Adorno-Zitat…). Entsprechend fiel seine Analyse der wichtigsten Vertragsmodelle zwischen Staat und Kirche (USA, Frankfreich, Deutschland) besonders positiv für das deutsche ‚Kooperationsmodell‘ aus, in dem der Staat den religiösen Gemeinschaften eine Reihe von Sonderrechten (Privilegien!) einräumt und sich dafür das Recht vorbehält – hier vereinfachend –, bei dem Religionsunterricht und der Ausbildung der Lehrer und Theologen eine gewisse staatliche Aufsicht zu führen. Diese Form der Kooperation wirke sich – so Brumlik – ‚moderierend‘ aus gegen zu starke Fundamentalisierungen, wie man sie z.B. in den USA beobachten könne. Eine wirkliche historische Dimension lies der Vortrag allerdings vermissen und die speziellen historischen Entstehungsbedingungen der modernen Demokratien kamen nicht zur Sprache. Dies ist bedauerlich, da damit genau jene Momente verschwiegen wurden, die wichtig wären für eine Einschätzung des aktuellen Verhältnisses von Staat und Kirche.

9. Bettina Jarasch, die Leiterin der GRÜNEN Kommission ‚Weltanschauung, Religionsgemeinschaften und Staat‘ fand – nach Wahrnehmung dieses Autors – etwas klarere Worte als Prof.Brumlik, alle zum Punkt, leider war ihr Beitrag sehr kurz und sie nahm im weiteren Verlauf nicht aktiv an den Vorträgen und Diskussionen teil.

10. Die anwesenden starken religiösen und weltanschaulichen Interessengruppen sowie die ‚religionsgeschwängerten‘ generellen Überlegungen von Prof.Brumlik deuten an, dass die gegenwärtigen religiösen Verbände und Kirchen keinen wirklichen Blick für die Menschen und die Verfassungsinteressen jenseits ihrer religiösen Bekenntnisse haben. Dies erstaunt nicht, muss aber bedenklich stimmen angesichts der Tatsache, dass die ’statistische Mehrheit der Konfessionslosen‘, die ’normalen‘ Bürger, als solche nicht organisiert sind, da sie ja in einem modernen Staat leben, der ihnen eigentliche alle Rahmenbedingungen bietet für die es keine speziellen Kirchen mehr bräuchte. Und ein Interessenvertreter der evangelischen Kirche, Prof. Jähnichen hatte keine Probleme damit, im Panel 4 festzustellen, dass es in einer modernen Demokratie üblich sei, dass sich Interessengruppen öffentlich organisieren – was die Religionen tun –, und wenn die Nichtkonfessionellen dies nicht tun, dann sei das deren Problem.

11. Nun gab es auch die ‚Nichtkonfessionellen‘ im Publikum, und zwar nicht wenige, sehr Engagierte aus vielen Bereichen, die dem Geist eines demokratischen Staates wie der Bundesrepublik ’näher schienen‘ als die verschiedenen religiösen Interessenvertreter. Diese meldeten sich auch zu Wort (in meiner Zählung waren es insgesamt die meisten Diskussionsbeiträge), aber sie waren in den Leitungen der Panels deutlich unterrepräsentiert. Besonders beeindruckt hat mich die Gruppe der Säkularen GRÜNE aus NRW. Ihre Stellungnahme zum Positionspapier des Bundeskommission enthält alle wichtigen kritischen Punkte. Dass diese grundsätzliche Position, die im Einklang mit Geschichte, Menschenrechten und dem spezifischen Staatsinteresse steht, nach meiner Wahrnehmung im Programm und in den Dokumenten keinen erkennbar ‚offiziellen Status‘ bekommen hat, halte ich für bedenklich. Auf welcher geistigen und politischen Basis operiert hier die Bundeskommission?

12. Von den 6 Vertretern im Schlusspanel war nur einer (!), der explizit eine kritische Position gegenüber den religiösen Verbänden im Verhältnis zum Staat verdeutlichte, Joachim Frank, Chefkorrespondent der Mediengruppe M. DuMont (Schauberg, Köln, Frankfurt, Berlin), Deutschland. Aber wie schon zuvor, wenn Diskussionsteilnehmer kritische Positionen ins Gespräch einbrachten, wurden diese zwar gehört, aber von den Vertretern der religiösen und weltanschaulichen Interessengruppen letztlich ‚immunisiert‘, d.h. zur Kenntnis genommen aber nicht wirklich beantwortet. Für einen ernsthaften Dialog war allerdings auch die Zeit zu kurz. Immerhin konnte man einen guten Eindruck von der Vielfal bekommen und den – trotz aller Freundlichkeit – noch bestehenden Kommunikationsdefiziten.

WIE KANN ES WEITERGEHEN?

13. Wenn man bedenkt, dass Europa ca. 4000 Jahre gebraucht hat,neben der Erfindung von drei Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum und Islam), und neben der Erfindung des modernen Staatsgedankens (Griechen, Römer mit griechischer Kultur, arabisch-islamische Kultur 700 – 1400 teilweise, die Zivilgesellschaften in den westlichen europäischen Ländern in einem zähen Kampf gegen die römische Papstkirche und die vorherrschenden elitären Feudalstrukturen über ca. 1000 Jahre …), dann den ‚modernen‘ wissenschaftsgeleiteten, auf Menschenrechten und demokratischer Partiziption basierenden Staat – wenn auch z.T. unfreiwillig – zu realisieren, dann darf man nicht erwarten, dass die Eingliederung spezieller religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse in einen ‚gemeinsamen‘ Staat schnell und ‚leicht‘ geht. Wie schon in den zurückliegenden Jahrhunderten ist Mangel an Wissen das Haupthindernis für eine Verständigung. Will man keine Gewalt anwenden, bleibt nur die kontinuierliche ‚Aufklärung‘; diese allerdings braucht leistungsfähige Bildungsinstitutionen und eine funktionierende Öffentlichkeit. Letztere, obgleich für eine Demokratie ein unverzichtbarer Lebensnerv, gerät durch eine fortschreitende Ökonomisierung in immer mehr finanzielle Abhängigkeiten von partikulären Geschäftsinteressen, die von der eigenen politischen Geschichte eines umfassenden Europas immer weniger wissen und auch – so der Eindruck – scheinbar immer weniger wissen wollen. Solange jemand noch öffentlich sagt, dass das moderne Europa, der moderne deutsche Staat, auf dem Erbe des christlichen Abendlandes beruhe, solange kann man gewiss sein, dass dieser Jemand nicht versteht, was er sagt; das historische christliche Abendland war der größte Feind der modernen Gesellschaften. Diesen überwunden zu haben, ist eine der größten kulturellen Leistungen. Die aktuelle Diskussion um einen neuen religionspolitischen Staatsvertrag erweckt bislang nicht den Eindruck, dass die aktuelle Politik sich der historischen Dimension bewusst ist.

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CHRISTLICHES ABENDLAND EINE LEGENDE? Nachbetrachtungen zum Buch von R.Bergmeier – Teil 2

Rolf Bergmeier, „Christlich-abendländische Kultur – eine Legende: Über die antiken Wurzeln, den verkannten arabischen Beitrag und die Verklärung der Klosterkultur Broschiert“, 238 Seiten, Aschaffenburg: Alibri Verlag, Dezember 2013

FORTSETZUNG

Diesem Teil 2 geht ein Teil 1 voraus, in dem die Hauptaussagen des Buches von Bergmeier skizziert werden.

In diesem zweiten Teil geht es um eine erste Diskussion dieser Thesen, sowohl um mögliche Kritik wie auch um mögliche Konsequenzen.

DISKUSSION

1. Wenn jemand Kritikpunkte an dem Buch sucht, kann er sie schnell finden: das zur Untersuchung anstehende Sachgebiet ist zeitlich und inhaltlich so riesig, dass ein Buch mit 215 Textseiten zwangsläufig weitgehend nur ‚Überschriften‘ liefern kann. Kein Gebiet kann wirklich detailliert in epischer Breite behandelt werden. Das Ganze wirkt wie ein ‚historisches Telegramm‘, bei dem jeder, der will, Punkte finden könnte, die zu grob sind, zu ungenau, oder einfach erklärungsbedürftig.

2. Auf der anderen Seite kann man aber gerade diese Kompaktheit, diese Thesenhaftigkeit als die große Stärke des Buches begreifen: angesichts eines so großen und schwierigen Thema würde mindestens jeder normale Mensch – und wie es scheint, auch die meisten Historiker – einfach kapitulieren und damit angesichts dieser großartigen Vergangenheit Europas im Nichtwissen verharren. Die Kompaktheit des Buches von Bergmeier aber eröffnet auch einem Nichthistoriker, einem Laien, einem ’normalen Menschen‘ die Möglichkeit, mal ein – wenn auch holzschnittartig verkürztes — Gesamtbild von einer Zeit zu bekommen, die für Europa fundamental war und eigentlich immer noch ist.

3. Wenn wir heute, im Jahr 2015, erleben, wie die aktuelle EU sich fast ausschließlich aus Ländern mit christlicher Vergangenheit – eben aus dem Abendland — zusammensetzt, dann ist dies kein Zufall. Und wenn wir in diesen Jahren erleben, wie schwer sich die Menschen in der EU tun – auch die sogenannten ‚Gebildeten‘ –, mit dem Islam umzugehen (der muslimische Arbeitskollege ist OK, aber der Islam …), dann erleben wir hautnah und konkret, wie real die unaufgearbeitete Geschichte des ganzen Europa – Morgenland und Abendland – sich heute, im Hier und Jetzt, noch auswirkt.

4. Betrachtet man das, was das ganze Europa in der Vergangenheit (-500 bis 1400) und dann danach in der Renaissance, in der Aufklärung, in der Moderne, stark gemacht hat, dann war dies immer ein Staatsgebilde, in der die Macht dafür gesorgt hat, dass die Rahmenbedingungen für möglichst alle optimal waren, wo die Infrastrukturen ein gemeinsames Leben, gemeinsame Bildung, gemeinsame Technologie, gemeinsames Handeln und Wirtschaften nach akzeptierten Regeln möglich war, und wo religiöse Toleranz herrschte. Immer dann, wenn diese Rahmenbedingungen gegeben waren, gab es lebendige dynamische Städte und Regionen, gab es blühenden Handel, gab es aufregende Entdeckungen und Erfindungen, die allen nützten, gab es Wohlstand und kunstvolle Durchdringungen des gemeinsamen Lebens; immer dann und auch NUR dann! Das fundamentale Prinzip lautet: Die Macht schafft einen Lebensraum für möglichst alle zu möglichst guten Konditionen

5. Was man auch erkennen kann, ist, dass eine zentrale – vielleicht die wichtigste überhaupt — Bedingung für all dies die Verfügbarkeit von WISSEN war (und ist). Ohne geeignetes Wissen, das IN den Köpfen der Menschen AKTIV verfügbar ist, ist kein Mensch in der Lage, weder individuell noch gemeinschaftlich, irgend etwas Sinnvolles zu tun. Ohne Wissen gibt es kein Bauwerke, keine Straßen, keine Infrastrukturen, keine Maschinen, keine Landkarten, keine Verständigung, keinen Handel, keine medizinische Versorgung, keine Erfindungen, keinen Fortschritt.
6. Die Verfügbarkeit von Wissen für möglichst alle setzt voraus, dass jeder Mensch grundsätzlich wertgeschätzt, geachtet wird, dass man jedem Menschen so viel ‚Würde‘ zusteht, dass man ihm einen ‚Anspruch‘, ein ‚Recht‘ auf Wissen einräumt und auch dafür sorgt, dass es die reale Möglichkeit für Wissen gibt. Und schaut man mit diesen Augen in die Vergangenheit ganz Europas (Indien und China sind auch zu empfehlen …), dann wird man u.a. folgendes feststellen können:

7. In der griechischen Kultur im Zeitraum -500 bis ca. 500 finden wir hochstehende bis maximale Leistungen auf allen Gebieten, obgleich diese Kultur weder jüdisch, noch christlich noch islamisch war. Das Gleiche gilt für die römische Kultur bis zum ‚Sündenfall‘ des Religionserlasses von Kaiser Theodosius 380.

8. Die arabisch-islamische Kultur der zeit 700 – 1400 zeigt ebenfalls Höchstleistungen, weil sie aufgrund ihres Glaubens die erfolgreichen Prinzipien und das Wissen der griechisch-römischen Kultur in allen Bereichen aufgegriffen und substantiell in vielen Bereichen sogar weiter entwickelt haben. Dazu gehörte eine überwiegende Toleranz anderen weltanschaulichen und religiösen Bekenntnissen gegenüber, ein Leistungsprinzip bei der Auswahl der Kandidaten für wichtige Ämter, und eine kaum zu überbietende Wertschätzung gegenüber WISSEN! Nicht nur gab es überall Schulen für alle (speziell sogar für sozial Schwache und Benachteiligte), sondern dazu weiterführende, forschende Lehranstalten, riesige öffentliche Bibliotheken, umfangreiche Übersetzungstätigkeiten aus ganz vielen anderen Sprachen nach Methoden, die auch heute noch wissenschaftlich gültig sind.

9. Jahrhunderte nach 1400, bis heute, können wir beobachten, dass es islamische Kulturen gibt, die diese Offenheit für Wissen und diese Toleranz nicht praktizieren mit den entsprechenden Folgen für die Lebenssituation der Menschen. Unter anderem kann man daraus ersehen, dass die Berufung auf den Islam nicht automatisch einhergeht mit Toleranz, Bildung, und Fortschritt.

10. Ähnliches beobachten wir bei den christlichen Bekenntnissen. Die ersten vier Jahrhunderte des Christentums waren geprägt von schweren, auch blutigen, Auseinandersetzungen zwischen mehr als 80 verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen. Dass dann ein römischer Kaiser – gegen alle vorausgehenden Traditionen – plötzlich das Toleranzprinzip aufgibt, quasi über Nacht eine der mehr als 80 christlichen Richtungen, nämlich die ‚Trinitarier‘ – zur Staatsreligion erhebt, diese mit absoluten Machtansprüchen ausstattet, führte dann in den kommenden ca. 1000 Jahren zu einer der größten Verfinsterungen in den westlichen (abendländischen) Ländern, sofern sie dem Einfluss der römischen Papstkirche unterlagen. Die römische Paptskirche verachtete die Welt (allerdings nicht, wenn es um ihre Besitztümer ging); sie verachtete Wissen; sie verachtete alle Menschen, die nicht Kleriker, Bischöfe oder Fürsten waren; sie verachtete den Staat und alle öffentlichen Einrichtungen; sie verachtete Andersdenkende und verfolgte sie mit dem Tode.

11. Erst als sich die westlichen Länder von dem absolutistischen menschen- und wissensverachtenden Zugriff der Papstkirche schrittweise befreien konnten, erst als Wissen, Technik, Handel wieder zu blühen begannen, erst dann entwickelten sich norditalienische Städte, westliche Universitäten, Handelsverbünde im Norden, neue Industrien und neue Gesellschaftsformen. Wohlgemerkt: erst als sich die Gesellschaft aus der menschenverachtenden tödlichen Umarmung der römischen Papstkirche löste! Vor diesem Hintergrund zu sagen, dass die politische EU wesentlich auf den christlichen Werten des christlichen Abendlandes beruhe, ist in einer Weise falsch, die nicht mehr zu überbieten ist. Ja, faktisch existiert die aktuelle (kleine) politische EU fast nur in den Ländern, die nach dem römischen Reich westlich-christlich geworden sind, aber sie existieren in der heutigen politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Verfassung nicht wegen der christlichen Vergangenheit, sondern TROTZ der christlichen Vergangenheit. Nur weil die heutigen westlich-christlichen Ländern mit Hilfe der griechisch-römischen Kultur, übermittelt durch die arabisch-islamische Kultur, aus der 1000 Jahre andauernden tödlichen Umarmung der römischen Papstkirche gelöst hatte, gibt es das neue, moderne, aufgeschlossene, menschenbejahende, wissensdurstige Europa.

12. Für viele wirken die heutigen Christen – auch das römische Papsttum – ‚zahm‘, ‚kompatibel‘ mit einer modernen demokratischen Gesellschaft. Betrachtet man das römische Papsttum aber näher, dann muss man feststellen, dass es sich nicht wirklich geändert hat. Es hat bis heute keinerlei Lehren aus der unrühmlichen Vergangenheit gezogen. Und ob die anderen christlichen Bekenntnisse wirklich viel ‚besser‘ sind, das ist eine letztlich offene Frage. Leider wird über Religion, über die Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit von Religionen öffentlich nicht mehr ernsthaft diskutiert. Für die einen sind die alten Religionen passé und für die anderen werden diese Institutionen weitgehend unwissend und unkritisch-naiv einfach übernommen; der normale Gläubige weiß in der Regel nichts von der wahren Geschichte Europas und seiner Religion. Er ist halt Christ der Richtung X oder Muslim oder Jude oder …, weil es halt immer so war, seine Eltern, seine Freunde, die Umgebung … Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, aber gedankliche Gleichgültigkeit für die Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit ist schlecht bis tödlich. Wenn Konflikte aufflammen wie heute wieder zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, bei die einen Religion X angehören, die anderen Religion Y, ist man schnell mit Verallgemeinerungen und Verteufelungen zur Hand, ohne die andere Position wirklich zu kennen. Alle diese Aufregungen wirken weitgehend scheinheilig, da sie in der Regel nicht dazu führen, dass man ernsthaft MITEINANDER redet, sondern immer nur GEGENEINANDER und ÜBEREINANDER.

13. Unterm Strich kann man sagen, dass es – schaut man in der Geschichte zurück und nimmt auch die Gegenwart war –für ein blühendes florierendes Gemeinwesen nicht notwendig ist, dass man zu einer bestimmten Religion gehört. Religionen können kompatibel sein mit einem blühenden Gemeinwesen (der Islam in der Zeit 700 – 1400, oder das Christentum der Neuzeit), aber diese kompatiblen Religionen sind nicht wirklich wichtig.

14. Schaut man die wichtigsten Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, Islam) an, dann muss man feststellen, dass sich die umgebenden Gesellschaften in einigen Teilen unserer Erde zwar trotz und gegen diese Religionen positiv weiter entwickelt haben, dass sie mehr und höhere Werte ausgebildet haben, als jede der drei Religionen jemals hatte, dass aber die Religionen selbst trotz dieser menschenfreundlichen und zukunftsbejahenden Gesellschaften in einer Geisteshaltung verharren, die rückwärtsgewandt ist, weitgehend menschen- und wissensverachtend. So gesehen sind die modernen Gesellschaften, die sich vom Einfluss der institutionalisierten Religionen freigekämpft haben, in ihrer Substanz ‚religiöser‘ als die, die sich religiös nennen. Schon einem Jesus von Nazareth werden die Worte in den Mund gelegt, dass man die wahren Propheten nicht an ihren Worten erkennt, sondern an ihren Taten. Und er hat durch unmissverständliche Beispiele deutlich gemacht, dass nicht die ‚fromm‘ sind, die ihre Rituale äußerlich verrichten, sondern jene, die den Menschen helfen, die real Hilfe brauchen, egal wer das ist. Man braucht auch keinen speziellen heiligen Ort, um zu beten, sondern man kann überall beten. Man braucht keine besonderen ‚Vermittler‘ (irgendwelche Kleriker, Priester und dergleichen mehr), sondern jeder kann jederzeit überall beten, alleine und zusammen. Gott ist dort, wo ein Mensch sein Herz öffnet und das tut, was jedem hilft, egal wer es ist. Wer in diesem Sinne lebensbejahend, aufrecht, lebt, besitzt deswegen keine besonderen Privilegien, heisst es doch das der ‚Größte‘ der ist, der allen am meisten ‚dient‘. Auch wird man deswegen nicht automatisch befreit von Leiden oder vom Sterben. Jesus von Nazareth ist gestorben wie alle anderen auch, wie jeder von uns sterben wird. Die modernen Gesellschaften haben mit ihren modernen Verfassungen und ihrer Lebensweise weit mehr von dieser fundamentalen Religiosität und den Grundwerten als alle die bekannten historischen Offenbarungsreligionen zusammen. Die wenigstens sind sich dessen allerdings bewusst. Die Wertschätzung für die ‚alten‘ Religionen ist sachlich gesehen sehr unangebracht.
15. [Anmerkung: Nach den obigen Kriterien für ‚rechten Glauben‘ ist der Islam mit Abstand ‚christlicher‘ als es die römische Papstkirche jemals war (was nicht heisst, dass es auch Menschen gibt, die den Begriff ‚Islam‘ missbrauchen können) ]

16. Würde heute ein Abraham, ein Jesus und ein Mohammed gleichzeitig leben, ich bin ziemlich sicher, dass sie den Kopf schütteln würden über das, was aus ihren Deutungsansätzen gemacht wurden, und ich bin sicher, sie würden die modernen demokratischen Lebensformen höher bewerten als alles andere, was da im Namen von Religionen bislang ausgedacht worden ist. Dies heißt nicht, dass die aktuellen demokratischen Lebensformen optimal sind, nein, auch hier beobachten wir, dass die verfügbare Macht heute Menschen genauso korrumpiert, wie sie dies schon in der Vergangenheit getan hat; dass heutige Regierungen und Großkonzerne genauso kontinuierlich gefährdet sind, nur ihre partiellen Interessen zu sehen statt das Gemeinwohl. Aber die demokratische Gesellschaftsform bietet transparenten Ansatzpunkte, mit diesen korrumpierenden Tendenzen offen und menschlich umzugehen, wenn sich alle ihrer Verantwortung als Menschen und für das Leben bewusst sind. Mehr denn je ist heute die Stunde von GANZ Europa, Morgenland und Abendland, und ein demokratisches Europa ist offen für eine wahrheits- und zukunftsfähige Weltgesellschaft.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

Philosophiewerkstatt Serie 2.0 – Ab 12.Okt.2014 – DENKBAR Frankfurt

(Letzte Änderung: 26.Sept.2014, 09:02h)

philosophieWerkstatt v2.0
philosophieWerkstatt v2.0

Ja, es geht weiter. Die

philosophieWerkstatt

geht mit Version v2.0 in eine neue Runde, ab So 12.Oktober 2014,

jeden 2.Sonntag im Monat,
16:00 – 19:00h
in der
DENKBAR Frankfurt
Spohrstrasse 46a

Unkostenbeitrag: 5€

Essen und Trinken wird angeboten von Michas Essen & Trinken. Parken ist im Umfeld schwierig; evtl. in der Rat-Beil-Strasse (entlang der Friedhofsmauer). (Achtung: die Webseite der DENKBAR ist momentan nicht ganz aktuell; eine Aktualisierung soll demnächst folgen).

Anliegen der Philosophiewerkstatt ist es, ein philosophisches Gespräch zu ermöglichen, in dem die Fragen der TeilnehmerInnen versuchsweise zu Begriffsnetzen verknüpft werden, die in Beziehung gesetzt werden zum allgemeinen Denkraum der Philosophie, der Wissenschaften, der Kunst und Religion. Im Hintergrund stehen die Reflexionen aus dem Blog cognitiveagent.org, das Ringen um das neue Menschen- und Weltbild.

12.Okt.14

Bei einer offenen Veranstaltung mit einem neuen Publikum weiß man natürlich nie genau, wie der Verlauf ist, wenn man sich wechselseitig im Gespräch ernst nimmt, ich kann aber sagen, was meine Intention an diesem ersten Nachmittag sein wird:

  • Es wird eine kleine ‚Aufwärmphase‘ geben durch Vorstellungen und Austausch von Erwartungen; dies wird beiläufig für alle sichtbar ‚mitprotokolliert‘.
  • Es folgt dann das ‚Gespräch über das Gespräch‘: Was tun wir, wenn wir reden? Was heisst ‚Verstehen‘? Wie kommen die Wörter zu ihrer ‚Bedeutung‘? Wie entsteht in uns ‚Bedeutung‘? … etwa in diese Richtung.
  • Wir lesen also keine schlauen Bücher über philosophische Themen (das kann jeder zu Hause in seinem stillen Kämmerlein tun…), sondern wir ‚lesen in uns selbst‘, versuchsweise, experimentell. Philosophie am lebenden Objekt.
  • Klassisch könnte man sagen, beschäftigen wir uns anfangshaft mit Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie.
  • Alles, was wir diskutieren, wird live in ‚Denkbildern‘ (nein, keine ‚mindmaps‘) festgehalten, indem wir unser Denken ‚aufmalen’… (wir folgen dabei keiner DIN Norm…).
  • Ich habe auch tonnenweise experimentelle Musik dabei; damit kann man gelegentlich ein paar ‚Störgeräusche‘ vor dem Hintergrund langjähriger verfestigter Klanggewohnheiten erzeugen (ein Presslufthammer kann nerven, aber er kann auch verfestigte Strukturen aufbrechen … :-)).
  • Essen und Trinken werden als angenehme Begleitumstände betrachtet, solange dadurch das Denken angeregt wird.
  • Wenn uns das philosophische Denken vom akademischen Betrieb ‚genommen‘ wurde, müssen wir es uns selbst zurückholen, indem wir es einfach tun: philosophisch denken, zusammen, live, ‚unplugged‘ ….

Einen kurzen Bericht zu dieser philosophieWerkstatt v.20 findet sich HIER

WIEDER TRITT FINDEN – Nach einer längeren Pause – WAHRHEIT DEMOKRATIE RELIGIONen

SCHREIBSTILLSTAND

1. Bedingt durch Urlaub und einer vorausgehenden absoluten Stresszeit kam mein Schreiben zum Erliegen – auch gewollt. Ab und zu braucht man Pausen, reale Pausen. Dies bedeutet nicht, dass das Denken aufhört, aber doch zumindest so viel, dass man sich nicht bei jedem Gedanken die Frage stellen muss, ob und wie man dies in einen beschreibbaren Zusammenhang einordnen kann/ sollte.
2. Natürlich rührt dies auch an Grundsätzliches – wie immer – ‚Warum überhaupt schreiben’… das Thema vom allerersten Blogeintrag.

VERSTEHEN WOLLEN

3. Wie auch schon damals entspringt die Antwort nicht aus rein objektiven Gegebenheiten sondern aus der subjektiven Situation, des Verstehen Wollens; die Welt verstehen, sich selbst, die anderen, überhaupt einfach verstehen, und dann vielleicht sogar ein Handeln, das sich davon inspirieren lässt.
4. Und in diesem Prozess des Verstehen Wollens gibt es keinen absoluten Punkt der allerletzten Klarheit, wann etwas vollständig oder wann etwas nur partiell verstanden ist. ‚Verstehen Wollen‘ hat keinen klaren Anfang und kein klares Ende. Es ist ein realer, konkreter Prozess von Lesen, Nachdenken, Reden, Schreiben, Hören, Träumen, Nichtstun, … währenddessen ‚Bilder‘ entstehen, die ‚Zusammenhänge‘ sichtbar machen, von denen man zuvor nichts gewusst hat, die man oft nicht einmal geahnt hat. In gewisser Weise erzeugt erst die ‚gedankliche Bewegung‘ die gedanklichen Zustände des ‚Erkennens‘. Und dies ist das ‚Gefährliche‘ in zweierlei Sinne: ‚gefährlich‘, weil man ‚vor‘ der Bewegung nicht weiß und nicht wissen kann, ob und was man erkennen wird, und gefährlich, weil man sich vorab irgendwelchen Vermutungen, Hoffnungen oder Ängsten hingeben kann, die einen entweder daran hindern, überhaupt das Nachdenken zu beginnen oder einen von vornherein auf eine bestimmte Einschätzung fixieren, die einem im Folgenden mindestens das Nachdenken schwer macht, wenn nicht ganz blockiert.

ERSCHEINT UNÜBERWINDLICH

5. In den letzten Wochen habe ich so viele sehr spannende und provozierenden und anregende Inhalte/ Themen kennen gelernt – ohne dies schreibend zu verarbeiten –, dass dies alles jetzt wie ein riesiger, unüberwindlicher Berg erscheint, der einem jeden Mut nimmt, ihn zu besteigen, sprich: überhaupt wieder zu schreiben; denn, egal wo man anfängt, es hängt da dieses Gefühl im Raum, es ist doch von vornherein vergeblich, sinnlos, unmöglich, diesem Wirrwarr an komplexen Ideen irgendeine Struktur abzugewinnen.

DAS ZUNÄCHST UNWIRKLICH IST DAS EINZIG WIRKLICHE

6. Dies führt zu einem sehr grundsätzlichen Problem, dass mich seit spätestens Frühjahr 2013 immer mehr beschäftigt, und auf das ich noch keine abschließenden Antworten habe: (i) Das, was wir primär als Daten/ Fakten ‚wahrnehmen‘, der Stoff, aus dem unsere ‚Realität‘ gemacht ist, enthält als solches eigentlich nahezu keine Wahrheiten oder Erkenntnisse. Diese (ii) ‚werden erst sichtbar‘, wenn man das sich Ereignende auf der ‚Zeitlinie‘ (mit Hilfe des Gedächtnisses) im zeitlichen (und räumlichen) Kontext sieht, wenn man Häufigkeiten, Wiederholungen, Zusammenhänge ‚bemerken‘ kann, wenn man ‚Einzeldinge‘ als ‚Beispiele‘ (Instanzen) von allgemeinen Mustern (Objekten) erkennen kann, wenn sich aus solchen Zusammenhängen und Mustern weitere allgemeine ‚Strukturen‘ ‚erkennen lassen‘, … kurzum: die einzig ‚wirklichen‘ und ‚wahrheitsfähigen‘ Erkenntnisse finden sich nicht schon in den primären Ereignissen des Alltags, sondern erst und einzig in dem ‚verarbeitenden Denken‘, in den Aktivitäten der individuellen Gehirne, soweit diese in der Lage sind, solche allgemeinen Muster zu erzeugen und damit weiter zu arbeiten.

KLASSISCHE PHILOSOPHIE

7. In der klassischen Philosophie waren dies z.B. Themen der Erkenntnistheorie, der Logik, der Naturbetrachtungen, der Metaphysik/ Ontologie. Hier hat man versucht, das eigene Denken zu ‚belauschen‘ und aus diesen Betrachtungen das ‚Wesentliche‘ vom ‚Unwesentlichen‘ zu unterscheiden. Wirklich ‚große‘ Philosophen wie ein Aristoteles oder ein Avicenna (Ibn Sina) waren sich während ihres Untersuchens der realen Welt immer auch bewusst, dass es in allem Erkennen neben dem sinnlichen Anteil immer auch einen gedanklichen Anteil gibt, und dass es letztlich genau dieser ist, mit dem Erkennen überhaupt beginnt. Unter anderem Kant und Hegel hatten diese Thematik verschärft, aber, anstatt dass wir alle daraus soviel Klarheit ziehen konnten, dass das Denken und das ‚Denken über das Denken‘ immer ‚einfacher‘ würde, ist etwas ganz anderes passiert.

MODERNE LOGIK

8. Mit der Entwicklung der modernen formalen Logik (seit dem Ende des 19.Jahrhunderts) wurde die Logik aus dem allgemeinen Denken herausgelöst und zu einem abstrakten Formalismus weiterentwickelt, dessen Bezug zum konkreten, realen alltäglichen Denken nicht mehr gegeben ist. Zwar führte diese Herauslösung der modernen formalen Logik einerseits zu mehr Freiheiten (z.B. es gibt nicht mehr nur einen Folgerungsbegriff, sondern beliebig viele; es gibt nicht mehr nur ‚wahr’/’falsch‘, sondern unendliche viele Abstufungen von ‚wahr’/’falsch), aber diese Freiheit wurde damit erkauft, dass eine mögliche Beziehung zwischen einem bestimmten Logikkalkül und dem realen Denken in jedem einzelnen Fall erst mühsam hergestellt werden muss und es niemals ganz klar ist, ob und wie dies der Fall ist.

WITTGENSTEIN

9. Leicht zeitversetzt zur Entwicklung der modernen formalen führte Ludwig Wittgenstein im Anschluss an seinen ‚tractatus logico philosophicus‘ mit seinen philosophischen Untersuchungen das gesamte moderne Denken in eine noch größere Freiheit, indem er die scheinbare Unauflöslichkeit von Denken und Sprache als eine quasi kognitive Täuschung entlarvte und mittels zahlloser genialer Beispiele aufzeigte, dass die ‚Bedeutungsinhalte‘, die wir mit unserer Sprache zu transportieren ‚meinen‘, zunächst mal nur die ’subjektiv intendierten‘ Bedeutungsinhalte sind; ob das Gegenüber die ‚gleichen‘ Bedeutungsinhalte aktiviert, wenn wir sprechen, oder ganz andere, das lässt sich immer nur sehr bedingt – wenn überhaupt – feststellen. Auch hier wird die ‚Freiheit‘ damit erkauft, dass der Vollzug eines verstehenden Sprechens an Selbstverständlichkeit – und damit an Leichtigkeit – verliert (was die Feuilletons dieser Welt bislang kaum daran hindert, Wortgewitter über ihre Leser loszulassen, die weniger dem Leser dienen als vielmehr dem Wortruhm des jeweiligen Schreibers).

VEREINSAMTES ALLTAGSDENKEN

10. Diese Neubesinnung auf Logik und die Sprache haben der modernen Wissenschaft zwar entscheidende Voraussetzungen geliefert, um transparent und nachvollziehbar komplexe empirische Theorien zu entwickeln, aber das alltägliche Denken wurde damit quasi sich selbst überlassen. Das Alltagsdenken interessierte plötzlich niemanden mehr …. und wurde damit zum Spielball einer Vielzahl von Interessen, die alle eines gemeinsam haben: Wahrheit spielt nicht nur keine Rolle mehr, sie ist in keiner Weise erwünscht: je weniger klare Regeln umso mehr Freiheit für Manipulation und Verführung.

AUFKLÄRUNG RELIGIONSÜBERGREIFEND

11. In einem sehr bemerkenswerten Leserbrief in der FAZ vom 5.Aug.2014 S.6 macht Heinz Eimer darauf aufmerksam, dass die ‚Aufklärung‘, die zu moderner Wissenschaft und zu demokratischen Staatsbildungen geführt hat, ihre Heimat weder im Christentum noch in irgendeiner anderen Religion hat. Sie ist religionsübergreifend. Angesichts erstarkender fundamentalistischer Tendenzen in den Religionen muss sich ein Staat auf diese seine demokratischen Werte besinnen um sich gegenüber den verschiedenen ‚Vereinnahmungen von Wahrheit‘ konkret und aktiv in Position bringen.
12. Hans Michael Heinig, Professor für öffentliches Recht, Kirchenrecht und Staatskirchenrecht schlägt sich in der FAZ vom 4.Aug.2014 S.6 bei der Frage des Verhältnisses von Aufklärung und Religion zwar nicht auf eine bestimmte Seite, stellt aber fest, dass ‚religiöse Traditionen keinen demokratischen Eigenwert besitzen‘. Nun ja, daraus folgt mindestens, dass die aus der Aufklärung hervorgegangen Demokratien zu ihrer Wesensbestimmung keines Rückgriffs auf eine Religion bedürfen.
13. Und bei Betrachtung der historischen Umstände dürfte die Faktenlage hinreichend stark sein, um zu behaupten, dass Aufklärung und moderne Demokratien nur in schwierigsten Auseinandersetzungen gegen (!) die herrschenden Religionen (organisiert als Kirchen) entstanden sind und sich behaupten konnten. Erst durch sehr klare und massive Abgrenzungen von Religionen gegenüber der allgemeinen Gesellschaft ist Frieden eingekehrt, konnte Wissenschaft sich entfalten, gibt es minimale Menschenrechte.
14. Prof. Heinig diskutiert das Verhältnis von Staat und Religion – im Lichte seiner Profession verständlich – nur aus rechtlicher Sicht und sieht in rechtlicher Sicht in Deutschland die ‚Multikonfessionalität‘ grundsätzlich angelegt. Dass der Islam noch nicht die Gleichbehandlung erfährt wie die traditionellen christlichen Konfessionen führt er im Wesentlichen darauf zurück, dass die islamischen Konfessionen bislang noch nicht so einheitlich organisiert sind wie die christlichen Kirchen. Dies mag stimmen.

JURISTISCHES DENKEN IST ZU WENIG

15. Allerdings zeigt diese rechtliche Betrachtung auch die Grenzen genau solcher rechtlicher Betrachtungen. Juristisch geht es immer nur sehr bedingt um Wahrheit; primär zählt die politisch gesetzte Norm, deren Wirkungskraft zu klären und zu garantieren ist. Ob die politisch gesetzten Normen (Gesetze) ‚wahr‘ sind in einem übergreifenden Sinne, diese Frage kann und will sich das juristische Denken nicht stellen.

RELIGIONEN UND GEWALT

16. Will man aber das ‚Wesen‘ von Religionen und das ‚Wesen‘ moderner demokratischer Gesellschaften verstehen, dann reichen formal-juristische Überlegungen nicht aus; dann muss man sich schon an die ‚Wahrheitsfrage‘ heranwagen. Auf eine sehr spezielle Weise tut dies in einem bemerkenswerten Artikel in der FAZ vom 7.Aug.2014 (S.9) Friedrich Wilhelm Graf unter der Überschrift ‚Mord als Gottesdienst‘. Als emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethik arbeitet er heraus, dass Gewaltbereitschaft und Enthemmung ihren Ursprung genau im Zentrum dessen haben, was die verschiedenen Religionen als ‚Kern ihres Glaubens‘ ansehen.
17. Das Phänomen, dass aus religiösen Gemeinschaften heraus Enthemmungen entstehen können, die zu brutalsten Handlungen führen, ist nach Graf seit den Anfängen der Religionsgeschichte zu beobachten und betrifft alle Religionen ohne Ausnahme: Hinduisten, Buddhisten, Juden, Christen, Muslime, um nur die größten zu nennen.
18. Dort, wo Religionen sich zu Gewalttätigkeiten hinreißen lassen, findet man nach Graf die Aufteilung der Welt in die ’schlechte‘ Gegenwart und die ‚ideale‘ gottgewollte Welt. Aus dieser diagnostizierten Differenz ergibt sich ein religiös motivierter Handlungsdruck, der umso größer ist, als eine solche Differenz von den Gläubigen so behauptet wird. Besteht zusätzlich eine Identifizierung der religiös Handelnden mit der Absolutheit Gottes zustande, wie sie unterschiedlichen Ausmaß immer in Anspruch genommen wurde (bis hin zur Gleichsetzung von menschlichem Akteur und Weisheit und Willen Gottes), dann gewinnt die religiös motivierte Sicht der Welt und das darin gründende Handeln eine Absolutheit, die keinerlei korrigierende Kritik mehr zulässt.
19. Dass religiöse Deutungsmuster, die in Deutschland lange als überwunden galten, in der Gegenwart zu neuer Stärke wiederfinden können (z.B. die vielen sogenannte Glaubenskriege heute) hat – so Graf – auch damit zu tun, dass politische Akteure aller Couleur sich die alten religiösen Symbole, Vorstellungen und Handlungsmuster zu Nutze machen und sie vor ihren eigenen Karren spannen. Direkt zu sagen, dass man persönlich die Macht über Menschen und Regionen in Anspruch nehmen möchte ist weniger erfolgreich, als die Menschen glauben machen, dass es Gottes Wille sei, die anderen zu vertreiben oder zu töten um sich selbst dann in die Position der Macht zu begeben (so diente Religion in der Vergangenheit allerdings immer schon den verschiedenen Herrschern als probates Mittel, um die Loyalität gegenüber der Macht zu fördern).
20. Was allen diesen unterschiedlichen Spielarten religiös motivierter Gewalt gemeinsam ist, das ist nach Graf das völlige Fehlen einer ernsthaften Nachdenklichkeit, von Selbstreflexion, von kritischer Selbstbegrenzung. Stattdessen eine Ganzhingabe unter Inkaufnahme von Tot auf allen Seiten.
21. Abschließend stellt Graf fest, dass wir eigentlich nicht wissen, wie sich solcherart brutalisierte Frömmigkeit zivilisieren lässt.

DIE WAHRHEITSFRAGE BLEIBT NIEMANDEM ERSPART

22. Im Kontext der vorausgehenden Überlegungen legt sich die Frage nahe, inwieweit das neue gesellschaftliche Erstarken von religiösen Bewegungen neben großen sozialen und politischen Spannungen von vielen Regionen unserer Erde nicht auch damit zu tun hat, dass man im Kontext von Religionen (wie Graf auch deutlich feststellt) die ‚Wahrheitsfrage‘ anscheinend ‚tabuisiert‘. Wenn jemand kritische Fragen an eine konkrete Religiosität stellt, wird dies von den religiösen Vertretern überwiegend als Kritik an ‚Gott selbst‘ gedeutet anstatt als Kritik an der Art und Weise, wie bestimmte Menschen mit der Gottesfrage umgehen. Während Aufklärung, moderne Wissenschaft und moderne Demokratien die Möglichkeit eröffnet haben, die Frage nach Gott in ungeahnt neuer Weise, tiefer weitreichender, allgemeiner als je zuvor zu stellen, fürchten die traditionellen Formen von Religion offensichtlich um ihren Einfluss, um ihre Macht und wiegeln jegliche Form von kritischer Reflexion auf die Voraussetzungen von Glauben und Religion einfach ab. Obgleich ‚wahres Denken‘ eine der lautersten Weisen der Annäherung an ‚Gott‘ sein kann, wird ‚wahres Denken‘ im Umfeld von Religionen (ohne Ausnahme!) verbannt, unterbunden, verteufelt. Die europäischen Nationen müssen sich angesichts von islamischen Terrorgruppen zwar an die eigene Nase fassen mit Blick auf die kolonialistischen Greueltaten und konfessionellen Kriegen der Vergangenheit, aber heute, nachdem man mühsam gelernt hat, dass Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Gesellschaft, Gottesglauben auch ganz anders aussehen kann und mit Blick auf eine nachhaltige Zukunft auch ganz anders aussehen muss, heute müssen die aufgeklärten Gesellschaften ihre einseitig zu Materialismus verkümmerte Aufklärung wieder neu beleben, ansonsten werden sie an ihrer eigenen Lüge zugrunde gehen. Jeder Augenblick ist eine Herausforderung für eine mögliche Zukunft; so oder so. Leben ist genau dieses: das ‚Gleichgewicht‘ immer wieder neu herstellen und auf immer höheren ‚Wahrheitsniveaus‘ neu finden; es kann keine dauerhafte Einfachheit geben. Genau das ist die schlimmste Form des Unglaubens.

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Einschub: Wahrheit vs. Kapital

Letzte Änderung: 23.Jan.2013

Eigentlich bin ich noch bei der Lektüre von Kauffmans Buch ‚Reinventing the Sacred‘. Fortsetzung Nr.3 ist in Vorbereitung. Zwischendurch haben sich aber nachfolgende Gedanken ‚dazwischen gedrängt‘. Sie gehören zum Themenbereich ‚Gesellschaft – Wissenschaft – Religion‘.

FIRMA

Betrachtet man die ‚Logik eines Kapitalunternehmens‘, sprich einer ‚Firma‘, dann ist ganz klar, dass eine Firma mindestens ihre Kosten hereinbekommen muss. Wenn darin alle notwendigen Erhaltungsmaßnahmen und eine hinreichende Entlohnung für alle Beteiligten enthalten ist, ist ein zusätzlicher Gewinn nicht notwendig. Dies bedeutet: eine Firma kann 0 € Gewinn machen und sehr erfolgreich sein oder einen ‚offiziellen‘ Gewinn von X % ausweisen und zugleich kurz vor dem Zusammenbruch stehen (wenn die Qualität der Mitarbeiter ungenügend ist, die Kommunikation und Infrastruktur unzulänglich ist, die Innovationskraft zu schwach ist, usw.).. Andererseits läßt sich an der ausgewiesenen Gewinnmarge meist auch der Grad der ‚Seriosität‘ einer Firma ablesen: wenn eine Firma z.B.  in einem Marktsegement operiert, in dem ein real hoher Konkurrenzdruck mit nur geringen Margen herrscht, dann kann der Abstand zu einem angenommenen Kostensatz normalerweise nur sehr gering sein, es sei denn, es werden Mittel eingesetzt, die ‚von der Norm‘ abweichen. Hier ist der Spielraum sehr groß. Die vielen Finanzskandale der letzten Zeit (und der Vergangenheit ) haben für einen Wirtschaftsbereich gezeigt, wie hohe Gewinne hier z.B. nur durch Missbrauch von Kunden und explizit kriminellen Methoden erreicht wurden. Hier wird erkennbar, dass der Begriff des ‚Gewinns‘ sehr vage ist und sich daher für ‚Instrumentalisierungen‘ aller Art anbietet.

SPIELREGELN FÜR FIRMEN

Aus diesen Voraussetzungen folgt, dass eine Firma nur eine begrenzte Menge von Aktivitäten unterstützen kann, um sich nicht selbst in Frage zu stellen. Ausgaben für ‚Forschung und Entwicklung‘ lassen sich nur soweit rechtfertigen, als Sie im Umfeld des aktuellen oder bestenfalls eines als ‚realistisch‘ eingeschätzten potentiellen Marktauftritts eine Chance haben, innerhalb eines ebenfalls als ‚realistisch‘ eingeschätzten ‚Zeitrahmens‘ so umgesetzt zu werden, dass mindestens die ‚Ausgaben‘ wieder hereinkommen. Würde sich eine Firma diese Einschränkungen nicht auferlegen, würde sie riskieren, Verluste zu machen, die sie nicht mehr ausgleichen könnte; das wäre ihr möglicher Tod (wir lassen hier außer Acht, dass es heute finanztechnische Manöver gibt, solche Verluste zu ‚verschleiern‘, um sie ahnungslosen ‚Kunden‘ unter zu jubeln. Lokal hat dadurch zwar ein Unternehmen evtl. seine Verluste ‚vergesellschaftet‘, aber global betrachtet wurden ‚Schulden‘ weitergereicht, die andernorts ein ‚Verschuldungsloch‘ reißen können. Dies ist dann ein Beispiel für die ‚Moral der Unmoral‘ (siehe dort).)

JENSEITS EINER FIRMA

Geht es also um Fragen, die über die potentiellen Verkäufe einer Firma hinausgehen, muss eine Firma passen (bei einer sehr großen Firma mit einer sehr großen Bandbreite an Produkten und Dienstleistungen kann der mögliche Spielraum vergleichsweise groß sein, so dass die geltenden ‚Begrenzungen‘ nicht so konkret sichtbar sind und sie den ‚Entscheidern‘ ‚Spielräume‘ lassen). Dann stellt sich die Frage, wer sich zuständig fühlt für alle Problemstellungen, die die Grundlagen von Märkten betreffen (technische Infrastrukturen, juristische Rahmenbedingungen, Ordnung und Sicherheit, Finanzmärkte, qualifiziertes Personal, intakte Umwelt, usw.). Nach heutigem Wissensstand bleibt hier nur die ‚Gesamtgesellschaft‘, der ‚Staat‘.

GESAMTGESELLSCHAFT

In gewisser Weise kann man diese Gesamtgesellschaft wieder als eine ‚Art von Firma‘ begreifen: letztlich kann eine Gesamtgesellschaft nur existieren, wenn alle ihre Mitglieder in ‚hinreichender Weise‘ ein ‚individuelles‘ Leben führen können, das ein ‚Zusammenwirken mit anderen‘ auf eine Weise ermöglicht, die eine komplexe Gesellschaft möglich macht. Im Gegensatz zu einer kapitalbasierten Einzelfirma ist der ‚Markt‘, in und an dem sich eine einzelne Gesamtgesellschaft ‚messen‘ muss, nicht so eindeutig. Wie viel ‚benötigt‘ der einzelne, welche ‚Formen des Zusammenwirkens‘ sind notwendig, welche ‚Infrastrukturen‘ sind zu gewährleisten, usw. damit eine Gesamtgesellschaft existieren kann? Inwieweit hängt eine Gesamtgesellschaft ab von dem Funktionieren der Märkte für individuelle kapitalgetriebene Firmen?

KEINE THEORIE DER GESAMTGESELLSCHAFT

Soweit ich sehe, hat bislang niemand hier so klare Antworten, dass wir jederzeit in der Lage wären, einfach zu entscheiden, was zu tun ist. Eine derart konkrete und anwendungsfreundliche ‚Theorie der Gesellschaft‘ gibt es nicht. Es ist nicht einmal klar, wer für solch eine Theorie offiziell ‚zuständig‘ ist. Die immer wieder auftretenden wirtschaftlichen Krisen der Vergangenheit (und Gegenwart), die immer Hand in Hand gehen mit einer Krise von Gesamtgesellschaften, belegen, dass wir weit entfernt sind von einem angemessenen Verständnis dieser Mechanismen. Dies ist schlimm. Noch schlimmer ist, dass offensichtlich ein Bewusstsein dafür fehlt, dass wir uns in einer gemeinsamen Anstrengung solch eine Theorie — oder zumindest Bausteine zu solch einer — erarbeiten müssten.

FRAGE NACH DER WAHRHEIT

Vor diesem Hintergrund komplexer Wirkmechanismen, die den tatsächlichen Handlungsspielraum ganzer Gesellschaften real bestimmen, stellt sich die Frage nach ‚Wahrheit‘, nach einer gesamtgesellschaftlich getragenen ‚Erforschung von Wahrheit‘ natürlich anders, als in einer eher ‚abstrakten philosophischen‘ Überlegung.

GESAMTGESELLSCHAFTLICHE FORSCHUNG

Die ‚Wahrheitsforscher‘ (damit meine ich ALLE Wissenschaftler, Naturwissenschaften wie Geisteswissenschaften, Gesellschaft wie Kultur) sind in der Regel reale Personen, die den realen Lebensbedingungen unterliegen (Körper, die real funktionieren müssen; eine Psyche, die ‚funktionieren‘ muss; ein Wissensstand, der ‚auf der Höhe der Zeit‘ sein muss; Arbeitsbedingungen, die eine hinreichende Reflexion und experimentelle Untersuchung ermöglichen, einschließlich einer zugehörigen ‚Lehre, usw.). Wenn eine Gesellschaft ihre eigenen Mechanismen und potentiellen Zukünfte verstehen können will, muss sie hinreichend vielen Wissenschaftlern die Möglichkeit bieten, alle jene Aspekte der gesellschaftlichen Realität und Existenz zu untersuchen, die ‚relevant‘ sind bzw. ‚werden können‘. Ist schon die Definition der Erforschung ‚potentieller Produkte‘ im Bereich kapitalgetriebener Einzelfirmen schwer bis unmöglich (die Zahl der Firmen, die wegen mangelnder Innovationskraft von den Märkten verschwunden ist, ist Legion), so ist eine klare Definition der potentiellen ‚Forschungsthemen‘ einer gesamtgesellschaftlichen Forschung und Lehre umso schwerer. Das einzige, was man sagen kann, ist, dass die ‚Kreativität‘ dieser Forschung beständig ein ‚Maximum‘ anstreben muss. Tatsache ist aber, dass Gesamtgesellschaften beständig in Gefahr sind, aus ‚Angst‘ heraus, vermischt mit ‚Klientelpolitik‘, die Ziele in recht kurzatmiger Weise ‚vorzugeben‘. Und nicht nur das; in der Sorge, ‚umsonst‘ zu forschen wird die gesamtgesellschaftliche Forschung immer mehr dazu verpflichtet, sich an den begrenzten Zielen von kapitalgetriebenen Einzelfirmen zu orientieren. Dies kommt geradezu der vollständigen Verneinung von gesamtgesellschaftlich verankerter Forschung (und Lehre!) gleich. Im Bereich der Medizin- und Pharmaforschung, wo die Interessengegensätze zwischen Einzelfirmeninteresse und Gesamtgesellschaft größer nicht sein könnten, führt dies z.B. zu absurden Konsequenzen; aber eben nicht nur dort. Aufs Ganze wird genau das Gegenteil von ‚Innovation‘ erreicht.

ZENTRALE FRAGEN DES DASEINS

Bedenkt man ferner, dass viele ‚zentrale Fragen des menschlichen Daseins‘, jene, die uns allen den eigentlichen ‚Sinn‘ unsere ‚irdischen Existenz‘ ‚erschließen‘ sollen, von ihrer ‚Wesen‘ her, nicht direkt ‚verwertbar‘ sind, dann kann man sich schon Sorgen machen, wie die ‚Sache der Wahrheit‘ voran kommen kann, wenn die Gesamtgesellschaften dahin tendieren, Alles ‚unmittelbar verwertbar‘ zu machen (was natürlich immer nur bezogen auf ‚aktuelle‘ Märkte gilt; auf dem Markt der Zukunft gelten neue Regeln und die ‚Kurzsichtigkeit‘ und ‚mangelnde Innovation‘ werden brutal abgestraft (aber dann sind die aktuellen Politiker und Manager nicht mehr im Dienst und verkonsumieren ihre Entlohnungen für die Eigenschaft, private und ‚individuell lokale‘ Interessen durchgesetzt zu haben…).

STAATLICH ‚ZERTIFIZIERTE‘ ‚RELIGIÖSE‘ VEREINIGUNGEN

Diese Situation wird dadurch verschlimmert, dass die meisten Gesellschaften (alle?) das ‚Geschäft mit den letzten Wahrheiten‘ vielfach an die ‚traditionellen religiösen Gemeinschaften‘ abgetreten haben. Nicht nur fehlt diesen in der Regel der notwendige umfassend organisierte Forschungs- und Lehrapparat, sondern diese traditionellen religiösen Gemeinschaften sind innerlich mit so vielen partikulare Interessen verflochten, dass sie weitgehend gar nicht in der Lage sind, offen, rational und zukunftsorientiert zu denken. Nicht wenige traditionelle religiöse Gemeinschaften verbieten ja sogar ihren Mitgliedern, kritisch über ihre eigenen Voraussetzungen nachzudenken, geschweige denn, dass sie ihre Mitglieder ermutigen, aktiv und verbindlich Erfahrungen zu reflektieren. Dies lässt viel Spielraum für machthungrige und ideologisierende Anführer, die vor keinen Instrumentalisierungen zurückschrecken (ein allgemeiner menschlicher Zug, der sich natürlich auch in der Gesamtgesellschaft und ihren Teilbereichen wiederfindet; hier jedoch — hoffentlich — durch eine umfassende offene und kritische Öffentlichkeit abgemildert wird).

RELIGIÖSE TOLERANZ KANN DESTRUKTIV SEIN

Schlimm genug, dass die Gesamtgesellschaft die Reflexionen über den Gesamtzusammenhang nicht selbst betreibt sondern an Teilbereiche delegiert, deren Rationalität und wissenschaftliche Standards sich an einer Zeit orientieren, die weit zurück liegt, bekommen diese als ‚religiös‘ ‚zertifizierten‘ Teilgemeinschaften sogar noch einen rechtlichen Sonderstatus, der ihre Fragwürdigkeit gesellschaftlicht nicht nur schützt, sondern sogar noch in die Gesamtgesellschaft hinein wirken lässt. Dies ist etwas befremdlich: während man die gesamtgesellschaftliche Forschung beständig kompromittiert, indem man sie eindeutig begrenzten Zielen zu unterwerfen versucht, wird die ‚Entgrenzung‘ der Forschung in Richtung auf die gesellschaftlichen Gesamtfragen durch die schiere Existenz wahrheitsmäßig obskurer Vereinigungen nicht gefördert. Damit unterstützt man den unbefriedigenden Status Quo der sogenannten ‚religiösen‘ Vereinigungen dadurch, dass man den gesamtgesellschaftlich notwendigen Diskurs über zentrale Fragen von vornherein austrocknet. Irgendwie sieht es so aus, also ob das Projekt der Aufklärung auf halbem Weg stehen geblieben ist. Die Entwicklung besserer Wissenschafts- und Lehrformen, besserer Technologie, besserer gesellschaftlicher Formen sozialer und politischer Teilhabe, von offener Kunst usw. hat stattgefunden (ohne am Ziel zu sein), aber die Entwicklung einer neuen gesamtgesellschaftlichen ‚Sinn-Theorie‘ blieb aus; man hat sich quasi ein ‚Denkverbot‘ auferlegt und zugleich — völlig ohne jede rationale Begründung — die als weitgehend nicht-rational qualifizierten als ‚religiös‘ sich bezeichnenden Vereinigung, durch ein religiöses Toleranzgebot, das als Diskursverbot praktiziert wird, in einem Zustand altertümlichen ‚Nichtwissens‘ belassen. Dies nützt niemandem, nicht einmal den sogenannten religiösen Vereinigungen selbst.

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