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FREIHEIT. Was Menschen so denken. Nachhall zu einem Gesprächsnachmittag

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 21.Januar. 2019
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Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Ich bin Mitglied eines Gesprächskreises von ganz unterschiedlichen Menschen. Jeder von Ihnen verkörpert mindestens einen kompletten Roman. Immer wieder treffen wir uns zu einem persönlichen Austausch. An diesem Tag hatte sich jemand das Thema Freiheit vorgenommen, natürlich nicht irgendwie abstrakt, sondern aus seiner sehr persönlichen Wahrnehmung im Lichte seiner Biographie.

Die folgenden Gedanken sind kein Protokoll des Gesprächs, sondern eine Beschreibung des Widerhalls, das dieses Gespräch in mir gefunden hat. Zur Erinnerung – es gab schon viele Blogbeiträge zum Thema Wahrheit –: Wahrheit ist für uns Menschen nicht die ‚Wahrheit an sich‘, sondern zu einem unterschiedlich großen Anteil das, was unser aktuelles Weltbild daraus macht. Deswegen sagt die Äußerung eines Menschen über eine Sache X im ersten Zugriff immer auch etwas über den Menschen, der sich äußert. Im zweiten Zugriff – vielleicht – etwas über die Sache X. Wenn also verschiedene Menschen, die sich nicht kennen, diesen Text lesen, und sie würden im Austausch untereinander ähnliche Dinge von ihrer Lektüre berichten, dann könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass dieser Text Elemente Y enthält, die über die jeweilige individuelle Sicht hinausgehen. Das sagt aber noch lange nicht, dass dann Y mit der Sache X tatsächlich eine Übereinstimmung aufweist.

Diese scheinbare Unlösbarkeit kann manche dazu verleiten, das Reden über die Sache X von vornherein als vergeblich einzustufen. Aber die modernen Wissenschaften haben demonstriert, dass die Menschheit als Ganze über nationale Grenzen, Kulturen und Jahrhunderte hinweg das Wunder vollbracht hat, so viel über die Sache X in ein gemeinsames Reden über die Welt einzubringen, das es erlaubt, belastbare Vorhersagen zu machen und eine Technologie zu entwickeln, die unser Leben auf diesem Planeten ermöglicht. Dass wir diesen Planeten zugleich auch verwüsten können, ist nicht der Wissenschaft als solcher anzulasten. Dazu gibt es andere Kommunikations- und Entscheidungsräume sowie Verhaltensweisen im Alltag, die ihre eigene Wirkung entfalten.

VERHALTENSMUSTER: ERFÜLLEN VON ERWARTUNGEN

Einen großen Raum nahm im Gespräch das Phänomen ein, dass im Alltag jeder Mensch sehr viele Verhaltensmuster, Stereotype, Regelkonformität, ‚political Correctness‘, und Ähnliches zeigt. Sobald man morgens erwacht beginnt man sich zu verhalten und folgt – in der Regel — seinen ‚Gewohnheiten‘, seinen ‚Vorlieben‘, seinen ‚Pflichten‘, seinen ‚Süchten‘, seinen ‚Ängsten‘, und was es alles an Faktoren gibt, die dazu beitragen, dass das Verhalten von uns Menschen im Alltag so ‚erwartbar‘ erscheint; manche mögen es ‚monoton‘ bezeichnen, auf andere wirkt es ‚beruhigend‘, im Rahmen von Institutionen und Firmen ermöglicht es Planung und Produktivität.

Viele erzählten aus ihrem Leben von starken Einwirkungen von Eltern, auch anderen Menschen (Geschwister, Partner, Lehrer, …), deren Verhalten sie stark ‚geprägt‘ hat, sich eingefressen hat in ihre Wahrnehmungen, in ihre Wertungen, damit in das ‚Selbstgefühl‘, in das ‚Bild von sich selbst‘ (Negativbeispiele: das kannst Du nie; Du taugst zu nichts; jetzt hast Du es schon wider vermasselt; du kriegst überhaupt nichts zustande; habe ich Dir doch gleich gesagt usw.), und sie berichteten, dass diese frühen Einwirkungen noch viele Jahrzehnte später ‚aktiv‘ sind, ‚wirken‘, ‚beeinflussen‘, ‚Ängste am Leben erhalten‘, ‚Selbstvertrauen schwächen‘, usw.

BEWUSSTSEIN – UNTERBEWUSSTSEIN

Relativ schnell wurde das Wort vom Unterbewusstsein ins Spiel gebracht (Anmerkung: in den Wissenschaften gibt es keine einheitliche Terminologie zu dem, was ’nicht Bewusst‘ ist; hier wird daher pauschal immer vom ‚Unterbewusstsein‘ gesprochen für all das, was ’nicht Bewusst‘ ist; siehe dazu mehr weiter unten).

Denn jeder macht in seinem Alltag permanent die Erfahrung, dass all das, was er tut, zwar ‚im Ereignis‘ mehr oder weniger bewusst ist (obwohl man auch vieles tut, was einem selbst kaum noch bewusst ist, weil es quasi ‚automatisiert‘ erfolgt), dass aber die ‚Entstehung‘ der eigenen Handlung oft/ meistens/ immer (?) im ‚Dunkel‘ des Nichtbewusstseins liegt. Was sind genau die ‚Kräfte’/ ‚Faktoren‘, die einen dazu bewegen, zu einem bestimmten Zeitpunkt Z zu sagen, zu schreiben, zu malen, zu spielen, zu zeigen, zu tun…. ?

Die Wissenschaft weiß heute, dass das Unterbewusstsein 99 oder mehr Prozent aller Vorgänge im Körper umfasst und sich über das Bewusstsein meistens eher kryptisch mitteilt. Von diesem Wissen hat bislang wenig Eingang in das Alltagswissen gefunden.

ENTSCHEIDEN, WISSEN, FREIER WILLE, MOTIVE

Der Alltag ist voll von Situationen, in denen wir uns zwischen mindestens zwei Alternativen A oder B entscheiden müssen (soll ich jetzt schon aufstehen? trinke ich Kaffee, Tee oder Milch? Esse ich Müsli trotz des unfassbar großen Zuckeranteils? Habe ich noch Zeit für die Zeitung? Rede ich noch mit meinem Mann? Bin ich genügend geschminkt? Welches Kleid ziehe ich heute an? ….. Muss ich heute eine Entlassung aussprechen? Kann ich X eine Finanzzusage über 15 Mio machen? Was sage ich gleich in der Pressekonferenz? Kann ich dem Reporter vertrauen? … Soll ich mehrere Tage für die Lektüre von Buch Y einsetzen, wo ich doch eigentlich keine Zeit habe? ….).

Verhaltensgewohnheiten helfen sehr, um sich entscheidungsmäßig zu entlasten. Statt viel Nachzudenken spult man ein tägliches Programm ab, ohne große Überlegungen.

Wissen über die Welt, d.h. die verschiedenen ‚Bilder‘, die man abrufen kann, wie Dinge aussehen, sich verhalten, warum B passiert, usw. können helfen, mögliche Entscheidungssituationen ‚bewusst‘ zu machen (ohne explizites Wissen kann es allerdings ziemlich ‚düster‘ aussehen; wer nicht weiß, dass es neben A und B auch noch C gibt, wird niemals in die Verlegenheit kommen, C wenigstens zu probieren). Wissen alleine entscheidet aber nicht. Das Entscheiden verorten wir in dem, was – etwas vage – ‚Wille‘ genannt wird. Auch wenn ich weiß, dass A oder B möglich ist, muss ich zu einem ‚willentlichen Entschluss‘ kommen, A oder B tatsächlich ‚zu wollen‘. Solange ich nicht explizit und real A oder B ‚tatsächlich will‘ und es auch ‚tatsächlich tue‘, wird nichts passieren.

Warum aber sollte ich A eher wollen als B? Das reine Wissen um A oder B nützt mir nicht wirklich. Ich brauche auch irgendein ‚Motiv‘, einen ‚Beweggrund‘ eher A zu wählen als B (oder umgekehrt). Und damit geraten wir in den schwierigsten Teil der Überlegungen: Was ist das, ein ‚Motiv‘, ein ‚Beweggrund‘? Wo kommen sie her? Wie entstehen sie? Woher weiß ich um sie? Kann ich sie beeinflussen? Sind sie ‚gelernt‘? Sind sie im Unterbewusstsein ‚fest verdrahtet‘, sodass man von diesen unterbewussten Beweggründen ‚gesteuert‘ wird, deterministisch, und damit letztlich ‚unfrei‘ ist?

Dank des hervorragenden deutschen Bildungssystems hat normalerweise kein deutscher Bürger gelernt, in seinem Bewusstsein-Unterbewusstsein so zu lesen, dass er versteht, was in ihm vorgeht, warum er diese und jene Tendenzen, Gefühle, Emotionen, Triebe usw. hat. Wir geben lieber mehrstellige Milliardenbeträge für ein Gesundheitssystem und ein Justizsystem aus, das ‚reparieren‘ soll, statt dem Bürger von vornherein zu helfen, sich besser zu verstehen und einen Zustand zu finden, in dem er sich im Grund ‚wohl fühlen‘ kann…

AUSBRUCH AUS DER GEGENWART

Auch wenn es ein unfassbar großes Unterbewusstsein gibt, so haben wir erstaunlicherweise doch auch das, was wir ‚Bewusstsein‘ nennen, eine Eigenschaft, die erst ein paar hundert Tausend Jahre verfügbar ist. Und da die biologische Evolution nur Dinge hervor gebracht hat (bisher), die das ‚Leben‘ auf dem Planet ‚Erde‘ begünstigt, muss dieses Bewusstsein neben dem fantastischen Unterbewusstsein etwas ermöglichen, was über die Leistungen des Unterbewusstseins hinaus reicht.

Eine dieser Eigenschaften ist es, dass im Bewusstsein u.a. zwei Wirklichkeitsbereiche aufeinander stoßen: (i) das, was wir aktuell, gerade jetzt, Wahrnehmen, und (ii) das, was unser Gehirn (darin unser Gedächtnis, dieses im Unterbewusstsein) von ‚vorausgehenden Gegenwarten‘ fleißig ‚gespeichert‘ hat. Zwar findet die Begegnung zwischen ‚Gegenwart’/ ‚Jetzt‘ und ‚Vergangenheit‘ primär im Unterbewusstsein statt, aber auch im Bewusstsein. Es ist uns ‚bewusst‘, was wir gerade sehen, hören, riechen usw., und unsere ‚Erinnerung‘, die durch dieses Wahrnehmungen ‚geweckt‘ wird, ‚kommentiert‘ kontinuierlich (automatisch, unbewusst, ohne dass wir dies explizit wollen), die sensorische Gegenwart mit den abstrakten Bildern der Vergangenheit. Von daher erleben wir etwas als ‚bekannt‘, ‚vertraut‘ oder eben als ‚unbekannt‘, ’neu‘. Und wir können grob unterscheiden zwischen ‚jetzt‘ und ‚vorher‘, und damit ansatzweise Abfolgen aufbauen.

Und weil wir Menschen von der Gattung ‚homo sapiens‘ neben dem Bewusstsein auch über die wunderbare Fähigkeit zur ‚Sprache‘ verfügen, können wir das, was wir bewusst (!) wahrnehmen, mit sprachlichen (symbolischen) Ausdrücken assoziieren, die uns in die Lage versetzen, das, was gerade ist, zu ‚protokollieren‘, und dann im Vergleich der vielen Protokolle feststellen, dass sich die Wahrnehmungsinhalte ändern, wie sie sich ändern, wie häufig, usw. Über das Bewusstsein und mit Hilfe der Sprache können wir den sensorischen Augenblick, die sensorische Gegenwart überwinden und Beziehungen zwischen den Phänomenen, Veränderungen sichtbar machen. Im sprachlich vermittelten Bewusstsein kann daher ein Bild von der Welt als Prozess entstehen, der Hinweise liefert, warum heute B stattfindet (weil viele As vorausgingen), und warum morgen vielleicht C stattfinden wird (weil wir gelernt haben, wann dem B ein C nachfolgt).

Auch wenn wir nicht direkt ins Unterbewusstsein schauen können, können wir aufgrund des Bewusstseins und der Sprache anfangen, zu lernen (durch Beobachtungen und Vergleichen), wann welche Phänomene sich zeigen, bei welchem Kontext, in welcher Abfolge, und dann kann man ‚lernen‘, dass unser Unterbewusstsein von einem ganzen ‚Kosmos‘ von Faktoren bevölkert ist, die z.T. große Unterschiede aufweisen (Schwindel, Zahnschmerzen, Hunger, sexuelle Erregung, Träume, Ängste, Wut, Eifersucht, Freundlichkeit, Ruhe, Erregung, …) , wann und warum sie auftreten, ob und wie man sie durch bewusstes Verhalten beeinflussen kann.

BEWUSSTSEIN, UNTERBEWUSSTSEIN, GEHIRN, KÖRPER, LEBEN, PLANET …

Durch die systematische Ausnutzung der Möglichkeit von Bewusstsein und Sprache haben die Wissenschaften mittlerweile auch das ‚Dunkel des Unterbewusstseins‘ schon ein wenig aufhellen können. Moderne Physiologie, speziell auch Neurophysiologie, in enger Kooperation mit Psychologie und Phänomenologie, dazu Biologie mit speziell Evolutionsbiologie, haben erste Erkenntnisse darüber, wie das Gehirn im Körper funktioniert, wie die Interaktion zwischen Gehirn und Körper verläuft, und wie unsere Körper im Laufe von 3.8 Milliarden Jahren sich in Interaktion mit dem Planet Erde geformt haben. Viele interessante Fragen sind noch nicht beantwortet, aber das, was wir bisher erkannt haben, ist so überwältigend, dass es alle Fantasien der vorausgehenden Jahrtausende völlig in den Schatten stellt.

Grundsätzlich gilt, dass das Gehirn als Gehirn in keinster Weise ‚deterministisch‘ ist, dass die biologischen Zellen, aus denen alles besteht (Gehirn, Körper, Tiere, Pflanzen…) als solche in keinster Weise deterministisch sind, und dass auch alles, was die moderne Physik über die Struktur der Materie (und Energie) herausgefunden hat, zeigt, dass der Stoff, aus dem alles ist (Energie-Materie) ebenfalls vollständig in-deterministisch ist. Man muss die Ursachenkette daher umdrehen: weil die Energie-Materie als solche radikal ‚frei‘ ist, können die biologischen Zellen radikal ‚frei‘ sein, und alle Strukturen, die aus Zellen bestehen (Pflanzen, Tiere (und wir als homo sapiens sind ein Teil davon)), können ebenfalls radikal ‚frei‘ sein.

Freiheit ist von daher kein Gegensatz zu konkreten Entscheidungen und Beeinflussungen, sondern ist der Möglichkeitsraum aufgrund dessen überhaupt Entscheidungsmöglichkeiten bestehen. Wie wann was entschieden wird, das ist die eigentlich interessante Frage. Und das ganze moderne Marketinggetöse um sogenannte ‚künstliche Intelligenz‘ hat noch nicht bemerkt, dass Geschwindigkeit und Menge an Informationen ziemlich wenig mit Freiheit, Entscheiden und Entscheidungsmotiven zu tun hat. Warum ich wann was entscheide, das ist die eigentliche Schicksalsfrage des Lebens im Universum. Dazu hört man aber bislang nicht all zu viel.

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MEDITATION IM ALLTAG. Eine philosophische Betrachtungsweise … erste Skizze

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 26-27.Okt. 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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Letzte Korrekturen: 14.Nov.2018

KONTEXT

Der nachfolgende Text stellt keine direkte Fortsetzung des vorausgehenden Beitrags zu ‚Meditation und Wissenschaft‚ dar, ist aber in diesem Kontext zu sehen. Er versucht das konkrete Geschehen des Meditierens zu adressieren, wie es sich aus einer eher philosophisch-wissenschaftlichen Betrachtungsweise darstellt.

RICHTIGE KÖRPERHALTUNG

Wenn wir meditieren wollen, dann geschieht dies nicht im ‚Irgendwo‘ sondern mit unserem konkreten Körper an einem konkreten Ort. Und es stellt sich unweigerlich die Frage, welche Stellung mein Körper einnehmen soll.

Rein theoretisch kann unser Körper sehr viele unterschiedliche Stellungen einnehmen. Dies nochmals moduliert ob ’statisch‘ (innerhalb der Meditation unveränderlich) oder ‚dynamisch‘ (innerhalb der Meditation ‚veränderlich‘) (siehe z.B. eine Auswahl von verschiedenen Körperstellungen, die der Meditationsforscher Ulrich Ott  auf der Webseite zu seinem Buch ‚Yoga für Dummies‘ anzeigt). Dazu kommt, dass der einzelne mit seinem Körper Besonderheiten aufweisen kann, sodass bestimmte Körperstellungen für ihn/ sie von vornherein ausgeschlossen sind.

Letztlich gilt nur eine Hauptregel: man nehme solch eine Körperstellung ein, die es zulässt, dass man für die geplante Dauer der Meditation vom Körper nicht durch ‚körperliche Schmerzen‘ ‚abgelenkt‘ wird.

Für alle Menschen, die keine besonderen körperlichen Besonderheiten aufweisen und die in einer Kultur groß geworden sind, wo das Sitzen auf Stühlen Bestandteil des Alltags ist, haben sich zwei Körperstellungen als – in der Regel – sehr hilfreich erwiesen: (i) das Sitzen auf einem Stuhl und (ii) das Sitzen auf einem erhöhten Kissen (oder Meditationsbänkchen) auf dem Boden. Bei (ii) sitzt man auf dem erhöhten (und stabilen) Kissen (oder Bänkchen) und kniet mit beiden Knien auf dem Boden (Sitzmatte, Teppich…). Dadurch hat man drei stabile Punkte, die es erlauben, mit dem Oberkörper ohne Beeinträchtigungen gerade zu sitzen, Im Fall von (i) hat man einen normalen Stuhl. Die allgemeine Empfehlung lautet, sich auf den Stuhl zu setzen, ohne sich anzulehnen, und die Beine gerade vor sich aufsetzen. Tatsächlich kann es aber helfen, vorne auf der Kante des Stuhls zu sitzen, die Beine nach unten abzuwinkeln, dass sie wie Hebel den Oberkörper leicht nach oben schieben, und die Beine dabei im unteren Bereich leicht zu verschränken. Dies nimmt zwar etwas Stabilität von den Beinen weg, erhöht aber die Freiheit und Leichtigkeit des Oberkörpers. Wer will, kann sich auch auf den Rücken auf den Boden legen; dies verleitet aber zum Einschlafen. In allen Fällen kann man die Augen offen oder geschlossen haben; nach vielen Jahrzehnten Praxis würde ich die Schließung der Augen befürworten, weil dies sehr oft mehr hilft, sich auf seinen eigenen Körper zu konzentrieren.

KÖRPER ALS UNIVERSUM

Bevor wir uns jetzt auf die Abenteuerreise Meditation einlassen, einige wenige Gedanken vorweg, um zu verstehen, in welche Kontext wir uns bewegen.

Wenn wir hier vom ‚Körper‘ sprechen, von ‚unserem Körper‘, dann haben wir normalerweise die Bilder vor Augen, die wir aus unserer Alltagspraxis wahrnehmen: unsere Körper haben eine bestimmte ‚Form‘, sie können sich ‚bewegen‘, sie haben ‚Bedürfnisse‘, sie können ‚Schmerzen‘ empfinden, aber auch verschiedene Formen von ‚Lust‘, sie reagieren auf unterschiedliche Aspekte der Umgebung, sie können ‚krank‘ werden, sie können ‚wachsen‘, sie können ‚altern‘ bis hin zum ‚Tod‘, und vieles mehr.

Diese Erfahrungen sind unsere primären Erfahrungen und graben sich seit unserer Kindheit tief ein in unseren inneren Erfahrungsraum, in unsere Erinnerungen, in unsere Erwartungen, und in unser ‚Bild von der Welt und uns selbst‘. Je nachdem, welche individuellen Erfahrungen ein einzelner Mensch in seinem Leben gemacht hat, können sich diese Bilder unterscheiden, bis dahin, dass Aspekte des Alltag für den einen ‚positiv‘ besetzt sind, für die andere ’negativ‘. Positive Erinnerungen ermutigen, diese Bilder zu wiederholen, negative lösen ‚Ängste‘ aus und blockieren.

In den letzten 100 Jahren konnte die Wissenschaft über den Körper viele neue Dinge in Erfahrung bringen, die unser Bild vom Körper nachhaltig verändert haben, und in den letzten 10 – 50 Jahren kamen sehr viele weitere Erkenntnisse hinzu, die es uns heute erlauben, das Bild von unserem Körper noch radikaler neu zu zeichnen.

Zu Beginn des 20.Jahrhunderts entdeckte der Naturwissenschaftler Sigmund Freud (1856 – 1939), dass unser Bewusstsein‘ ‚lückenhaft‘, ‚fragmentarisch‘ ist; eine Erfahrung, die jeder in seinem Alltag leicht wiederholen kann. Der Inhalt unseres ‚Gedächtnisses‘ ist uns zu keiner Zeit vollständig bewusst; wir erinnern nur solche Fragmente, die sich aufgrund eines ‚Schlüsselreizes‘ aufrufen, aktivieren lassen. Potentiell erscheint unser ‚Gedächtnis‘ nahezu beliebige groß zu sein (wenn man bedenkt, wie viele Details wir lernen können), faktisch, ‚im Lichte des Bewusstseins‘, wissen wir aber immer nur kleine Fragmente. Freud bildete die Arbeitshypothese, dass es neben dem uns bekannten ‚Bewussten‘ zugleich noch ein ‚Unbewusstes‘ geben muss, das immer da ist, das mit dem ‚Bewussten‘ kooperiert, und dass daher das ‚Psychische‘ sich aus beidem zusammensetzt: aus dem ‚Bewussten‘ und aus dem ‚Unbewussten‘. Während er Zeit seines Lebens viele verschlungene Wege ging, um diese Arbeitshypothese weiter zu verstehen, sie zu erforschen, hat er in seinem letzten Text 1938 vor seinem Tod im September 1939 seinen theoretischen Ansatz auf genau diesen Punkt zugespitzt. Und interessant ist auch seine Bemerkung zur Rolle des Bewusstseins: angesichts der Entdeckung des ‚Unbewussten‘ könnte man der Versuchung verfallen, das ‚Bewusste‘ damit zur Seite zu schieben als bedeutungslos. Das hat Freude nicht getan, er schreibt am Ende seines Textes: „Mit alledem ist aber nicht gesagt, dass die Qualität der Bewusstheit ihre Bedeutung für uns verloren hat. Sie bleibt das einzige Licht, das uns im Dunkel des Seelenlebens leuchtet und leitet.“(Freud (1952), S.147)

Mit der Entdeckung des ‚Unbewussten‘ wird das ‚Bewusste‘ also nicht überflüssig.

Nach Freud, ca. 60 Jahre, kann die Wissenschaft die Arbeitshypothese vom ‚Bewussten‘ und ‚Unbewussten‘ weiter präzisieren. Wir wissen heute ziemlich klar, dass unsere ‚Bewusstheit‘ an die Funktionen des Gehirns gebunden ist, das im Körper sitzt, und dass unser Gehirn nur etwa 0.1% der gesamten Zellen repräsentiert, die unseren Körper bilden (für Details dieser Überlegung siehe meinen Blogbeitrag HIER) Dies bedeutet, dass nur ein kleiner Teil dessen, was im Körper passiert, überhaupt im Gehirn präsentiert ist, und dass von dem, was im Gehirn verfügbar ist, wiederum nur ein kleiner Teil punktuell bewusst ist.

Zusätzlich sind zweierlei Aspekte zu bedenken: einmal (i) dass der Signalfluss vom Körper zum Gehirn Zeit benötigt, ebenso von jenen Gehirnteilen, die ’nicht bewusst‘ sind zu jenen, die für uns ‚Bewusstheit‘ ermöglichen; zum anderen (ii) werden die Signale ‚am Ziel‘ nicht einfach nur 1-zu-1 übernommen sondern in der Regel nach bestimmten Mustern verarbeitet, sowohl in Richtung ‚Strukturbildung‘ (Klassen, Kategorien, Typen, …) wie auch in Richtung ‚funktionale Beziehung‘ (Wenn X dann Y). Diese Signalverarbeitung durch das Ziel kann wiederum in zweifachen Sinne geschehen: (a) genetisch induzierte feste Muster oder (b) ’neu gelernte‘ Muster.

Wenn wir also den Raum aller jener Ereignisse, deren wir uns zu einem bestimmten Zeitintervall ‚bewusst‘ sein können, ‚Bewusstsein‘ (BW) nennen, und alle jene Ereignisse, die diesen Raum des Bewusstseins füllen ‚Phänomene (PH)‘, dann haben wir eine erste wissenschaftlich motivierte Arbeitshypothese zu dem, was wir unter ‚Bewusstsein‘ verstehen können. Folgen wir dem Vorschlag von Freud und nennen die Gesamtheit des Bewussten und des Unbewussten das ‚Psychische‘, dann wird durch diese Begriffsbildung klar zum Ausdruck gebracht, dass beide unauflöslich miteinander verknüpft sind.

TUN – FÜHLEN – DEUTEN

Wenn wir eine bestimmte Körperstellung einnehmen, um zu meditieren, (unser TUN) und wir dabei vorzugsweise unsere Augen schließen, dann bildet für uns unser Bewusstsein eine Art ‚psychisches Teleskop‘ hinein in die unendlichen Weiten unseres Unbewussten. Die Vielzahl der Phänomene, die wir dabei erleben können (unser FÜHLEN), erscheint nahezu unerschöpflich, und bis heute existiert weder eine allgemein akzeptierte ‚Landkarte‘ des Bewusstseins (als Teil des Psychischen) noch haben die Philosophen und Wissenschaftler es bislang geschafft, hier eine wissenschaftlich begründete erschöpfende Theorie zu formulieren (Teil einer DEUTUNG). Wir sind daher eher vergleichbar mit einem Christoph Columbus, der dachte, er folge einem Weg nach Indien, und dann in Amerika landete …. Wenn wir uns mutig in die Meditation begeben, glaubt so mancher, er wisse, was er finde, aber die Wahrheit ist eher eine andere …

ZEIT

Da der Raum der Phänomene aus sich heraus keine ‚Fixpunkte‘ ermöglicht, anhand deren man die Dauer einer Meditation festmachen kann, empfiehlt es sich, vor Beginn der Meditation ein festes Zeitintervall vorzugeben, an dem man sich orientiert (ein Wecker oder heutzutage eine Timer-App auf dem Handy kann hier sehr nützlich sein).

Für alle die anfangen und in anfordernde Tagesabläufe eingebunden sind, empfiehlt es sich, die psychologische Einstiegsschwelle möglichst niedrig zu legen. 10 Minuten + X kann ein guter Start sein, also z.B. mit X=2 hätte man 12 Minuten.

Wichtiger als ab und zu lange zu meditieren ist es, regelmäßig zu meditieren, und dies gelingt zu Beginn nur, wenn die Einstiegsschwelle niedrig genug ist.

Mit ca. 12 Minuten zu Beginn ist die ‚Entdeckungstiefe‘ zwar begrenzt, aber erste interessante Entdeckungen und erste Wirkungen auf das Lebensgefühl können eintreten (natürlich individuell verschieden, und nicht ganz unabhängig vom jeweiligen Kontext). Wichtig ist es, das Meditieren so ’normal wie möglich‘ zu sehen und zu praktizieren. Man tut etwas für sich, so wie man ja auch schläft und isst.

Siehe Anmerkung: ZEIT(1)

LOGBUCH UND REFLEXION

Wer nicht nur ‚Fühlen‘ will (was für sich schon sehr positiv ist!), sondern auch ‚Erkennen‘ will, für den empfiehlt es sich, eine Art ‚Logbuch‘ zu führen, wie die Seeleute auf dem Meer oder die frühen Astronomen bei der Erkundung des Himmels.

Solch ein Logbuch zu führen, ist nicht ganz einfach, da es bislang – im Gegensatz zu den Seeleuten und Astronomen — keine klaren Kriterien gibt, worauf man denn achten soll. Das Bewusstsein als Fenster ins Unbewusste ist mit einer Unendlichkeit konfrontiert, die bislang eher unerforscht ist, und dies wird dadurch weiter erschwert, dass – nach all unserem Wissen – nicht nur das Unbewusste selbst extrem veränderlich sein kann, sondern auch das Bewusstsein ist keine statische Größe. Das Wissen, das wir aus unserem Alltag kennen, ist vergleichsweise einfach, meist sehr statisch, sehr fragmentiert. Es ist eher hinderlich bei dem eigenen Forschungsprojekt in das eigene Selbst, das nicht statisch ist, das nicht endlich abgrenzbar ist. Möglicherweise muss man ganz neue Begriffe und Denkmuster erfinden, um den Phänomenen gerecht zu werden, auf die man bei dem Experiment Meditation trifft.

Von daher gibt es keinen Königsweg, wie man sein Logbuch schreibt. Man muss einfach mal anfangen und schreiben, so gut man kann. Und bei diesem Aufschreiben sollte man versuchen, so wenig wie möglich mit bekannten Mustern zu ‚deuten‘, sondern so viel wie möglich zu ’notieren‘, was ’so passiert‘ ist. Was, wann, wie, zeitliche Anordnung, … das Logbuch dient der ‚Sammlung von ersten Daten‘.

Wenn man eine Zeitlang sein Logbuch geschrieben hat, dann kommen oft schon ‚von selbst‘ gewisse Ideen hoch nach Zusammenhängen, Mustern, Regelhaftigkeiten. Man kann diese dann separat notieren als ‚erste Deutungsversuche‘, die Anlass sein können, um über verschiedene mögliche Zusammenhänge neu nachzudenken. Diese Deutungsversuche sollte man als ‚Arbeitshypothesen‘ auffassen, die man im Alltag überprüfen kann.

INTENSIVIERUNGEN

Wer es schafft, die psychologische Einstiegsschwelle im Alltag zu überwinden und es fertig bringt, tatsächlich regelmäßig zu meditieren, und zwar täglich (!), der wird mit der Zeit vielerlei Effekte an sich spüren können. Einmal kann sich sein gesamtes Fühlen deutlich ändern, zum anderen kann sich sein ‚Verstehen‘ zunehmend ändern, sollte er/ sie auch ein Logbuch führen. Da Menschen erstaunliche Unterschiede aufweisen, können die Details dieser Veränderungen sich deutlich unterscheiden.

Die Erfahrung legt den Rat nahe, dass alle, die regelmäßig meditieren, sich einen Kreis Gleichgesinnter suchen (soziale Netze können hierzu u.U. helfen), in dem sie sich über ihre Erfahrungen austauschen können. Dies könnte vielfache positive Effekte haben. Ein ganz wichtiger Aspekt ist, dass man im Austausch mit anderen eher die Chance hat, zu entdecken, was man mit anderen gemeinsam hat, und was speziell ist. Das gemeinsame kann stark verbinden. Das Spezielle kann sowohl Hinweise liefern, wo persönliche Stärken und Begabungen liegen, als auch Hinweise, dass es Individuelles gibt, was einen stört, hindert, traurig macht, Schmerzen bereitet usw. und wo man den Dingen ‚auf den Grund‘ gehen sollte. Möglicherweise benötigt man hier dann zusätzliche Unterstützung durch ExpertenInnen, die sich mit solchen Belastungen auskennen und konkret helfen können, sich davon zu befreien.

Ein häufiger Effekt nach einer längeren Zeit des regelmäßigen Meditierens ist, dass man dann auch mal ‚länger‘ meditieren oder gar eine Art ‚Meditations-Urlaub‘ verbringen möchte, in dem man 10 Tage oder länger in einer ruhigen Umgebung verbringt, mit anderen Meditierern, wo man auch mal länger meditiert (20, 40 … Minuten, vielleicht mehrmals am Tag). Dies kann das ‚Fühlen‘ erheblich intensivieren.

Letztlich ist die Bandbreite dessen, was man fühlen kann, auch wie intensiv, wie sich dies auf ein Leben auswirken kann, sehr groß. Berichte dazu könnten Bibliotheken füllen. Entsprechend haben sich im Lauf der Jahrtausende auch viele Deutungsversuche angesammelt. Was davon allgemeingültig ist, was letztlich diese Deutungen ‚wirklich‘ bedeuten, ist aufgrund der Besonderheit des Gegenstandes und der Schwierigkeit, darüber zu kommunizieren, bis heute offen. Viele lieben solche Deutungen, weil sie eine Deutung in der Unendlichkeit unseres Daseins haben möchten, die  ihnen ein ‚Gefühl von Ordnung und Sicherheit‘ vermittelt. Aber diese persönlichen Vorlieben und das ‚Gefühl von Sicherheit‘ ersetzen nicht die Wahrheit…

Die volle Wahrheit erschließt sich zwar für uns nur über Deutungen, aber sie erschöpft sich nicht in ihnen. Es geht nicht um ‚festhalten‘, sondern um ‚Leben‘ …

Siehe Anmerkung INTENSIVIERUNG (1).

QUELLEN

Sigmund Freud (1952), Gesammelte Werke. Imago Publishing Company, Ltd., London, 1952, Band 17, mit dem Abschnitt ‚Schriften aus dem Jahr 1938‘; darin ein deutscher Text mit englischer Überschrift: ‚Some Elementary Lessons from Psychanalysis‘, Online: http://freud- online.de/

 

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PSYCHOANALYSE ALS PROTOTYP EINER REFLEKTIERTEN EMPIRISCHEN WISSENSCHAFT. Bericht zur Sitzung vom 9.September 2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 10.Sept. 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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KONTEXT

Die Sitzung am 9.September 2018 hatte eine Vorgeschichte.

ROBOTER VERLANGEN BESCHREIBUNG

In einer Sitzung im Januar 2018 hatte sich die bunt gemischte Gesprächsrunde die Frage gestellt, ob man einen Psychoanalytiker durch einen Roboter ersetzen könne. Die Analyse kam zur Erkenntnis, dass der Bau eines geeigneten Roboters voraussetzt, dass es eine hinreichend angemessene Beschreibung dessen gibt, was genau ein Psychoanalytiker im Rahmen eines therapeutischen Prozesses tut, wie die Interaktionen mit dem Analysanden sind, und welche speziellen ‚inneren Zustände‘ beim Analytiker gegeben sein müssen, damit er so handeln kann. Damit verschob sich die Aufgabenstellung hin zu einer solchen angemessenen Beschreibung des Psychoanalytikers/ der Psychoanalytikerin in einem Therapieprozess.

PSYCHOANALYSE ALS EMPIRISCHE THEORIE

In der nachfolgenden Sitzung im März 2018 wurde daher das Selbstverständnis der Psychoanalyse im Rahmen des Begriffs einer empirischen Theorie abgefragt. Das erstaunliche Ergebnis war, dass die Psychoanalyse grundsätzlich alle Anforderungen an eine empirische Wissenschaft erfüllt. Sie hat allerdings zwei Besonderheiten: (i) Der Beobachter und der Theoriemacher sind selbst Bestandteil der Theorie; (ii) die Messvorgänge laufen unter Laborbedingungen ab, die neben schon klassifizierten Phänomenen kontinuierlich auch ’neue‘ Phänomene zulässt, die für die Theoriebildung wichtig sein können (für Details siehe den Beitrag).

VON DEN DATEN ZUM MODELL

In der nachfolgenden Sitzung im April 2018 fokussierte sich das Gespräch auf das Wechselspiel zwischen ‚Daten‘ und erklärendem ‚Modell‘ (‚Theorie‘) und wie es zum Modell kommt. Speziell im Fall des Psychoanalytikers ergibt sich eine Doppelrolle: (i) als Teil des Prozesses agiert er/sie im Prozess als Mensch mit ‚Un-Bewusstem‘ und und seinen ‚Erfahrungen‘ und seinem bisherigen ‚Modell‘, andererseits (ii) ist er/sie reflektierter Profi, der seine Wahrnehmungen des Analysanden, der Umgebung und seiner selbst mit seinem ‚professionellen Modell‘ abgleichen muss. Der hier offensichtlich werdende ‚dynamische Charakter der Modellbildung‘ ist charakteristisch für jede Modellbildung, wird aber in den meisten empirischen Wissenschaften eher verdeckt. (Für Details siehe den Beitrag).

EINE PSYCHOANALYTISCHE FALLSTUDIE

In der Sitzung vom Mai 2018 wurde nach so viel vorausgehender Theorie ein konkretes Fallbeispiel betrachtet, das eine der teilnehmenden Psychoanalytikerinnen  vorstellte. Dieses Beispiel demonstrierte sehr klar, wie die Psychoanalytikerin als aktives Moment im Therapieprozess im Bereich des Un-Bewussten mit dem Analysand interagiert und dadurch diesen in die Lage versetzt, einen Zugriff auf jene Faktoren zu bekommen, die im Un-Bewussten das Verhalten über Jahrzehnte massiv beeinflusst hatten. Dadurch lies sich dann schnell und wirkungsvoll eine qualitative Verbesserung der Situation des Analysanden herstellen.

WISSENSCHAFTSPHILOSOPHISCHE AKTUALITÄT DER PSYCHOANALYSE

GEISTESWISSENSCHAFTEN VERSUS NATURWISSENSCHAFTEN

Die Gegensatzbildung zwischen ‚Geisteswissenschaften‘ einerseits und ‚Harten Wissenschaften‘ andererseits ist nicht neu und bei vielen so eine Art Stereotyp, das man gar nicht mehr hinterfragt. In den ‚harten Wissenschaften‘ selbst gibt es aber immer wieder von einzelnen selbst-kritische Überlegungen zur Problematik des ‚Beobachters‘ und des ‚Theoriemachers‘, die aus der eigentlichen Theorie ausgeklammert werden, was wissenschaftsphilosophisch zu erheblichen Problemen führt (Ein prominentes Beispiel, was ich auch gerade im Blog analysiere und diskutiere ist Edelman, ein exzellenter Erforscher des Immunsystems und des Gehirns).

INGENIEURWISSENSCHAFTEN

In den Ingenieurwissenschaften, die den empirischen Wissenschaften in Sachen Formalisierung in Nichts nachstehen, eher noch ausführlicher und in vielen Fällen erheblich detaillierter sind, gibt es dagegen schon seit vielen Jahren die wachsende Erkenntnis, dass 60 – 80% der Projekte nicht daran scheitern, dass die beteiligten Experten zu wenig wissen, sondern daran, dass die beteiligten ExpertenInnen ihre eigenen psychologischen Zustände zu wenig kennen, mit ihnen nicht umgehen können, diese in die Planung von Projekten und den zugehörigen komplexen Formalisierungen nicht einbeziehen. Statt von ‚Beobachter‘ und ‚Theoriemacher‘ spreche ich hier vom ‚Akteur‘ als jenem Moment eines Theorieprozesses, das sowohl die Theorie entwickelt als auch anwendet. Eine moderne und zukunftsfähige Theorie des Engineerings wird nicht umhin kommen, irgendwann den Akteur selbst in die Theoriebildung einzubeziehen (einen Theorieansatz in diese Richtung findet sich in dem Online-Buchprojekt ‚Actor-Actor-Interaction Anaysis‘).

PSYCHOANALYSE ALS PROTOTYP

Interessant ist, dass die Psychoanalyse eigentlich ein Prototyp einer solchen ‚Beobachter-Integrierten empirischen Theorie‘ ist, und zwar schon von Anfang an. Wie Jürgen Hardt, einer der teilnehmenden Psychoanalytiker, in Erinnerung rief, hatte der Begründer der Psychoanalyse, Freud, von Anfang an die Forderungen aufgestellt, (i) dass die Psychoanalyse eine Naturwissenschaft sein muss, allerdings (ii) mit dem methodischen Hinweis, dass man das ‚Seelische‘ nicht mit den unleugbar somatischen Parallelvorgängen (im Gehirn, im Körper) verwechseln dürfe. Aus Sicht eines verkürzten Empirieverständnisses wurde dies oft als ‚un-empirisch‘ oder gar als ‚dualistisch‘ charakterisiert. Dies ist jedoch unangemessen. Freud ging es primär darum, zunächst mal jene ‚Phänomene zu retten‘, die sich bei dem damaligen Zustand der empirischen Wissenschaften noch nicht in die aktuellen theoretischen Modelle (sofern es denn überhaupt echte empirische Modelle waren) einordnen liesen. Es zeichnet ‚wahre empirische Wissenschaft‘ schon immer aus, dass sie ‚Phänomene‘ akzeptiert, auch und gerade dann, wenn die aktuelle Theoriebildung sie noch nicht einordnen kann.

KEIN DUALISMUS

Dazu kommt, dass man die Charakterisierung von ‚Dualismus‘ selbst sehr kritisch hinterfragen muss. In der modernen Mathematik und damit auch in allen empirischen Theorien, die Mathematik benutzen (was letztlich alle empirischen Disziplinen sind, die den Anforderungen einer ‚wissenschaftlichen‘ Theorie gerecht werden wollen) gibt es nur zwei Grundbegriffe:’Menge‘ und ‚Relation (Funktion)‘. Während man für das abstrakte Konzept ‚Menge‘ in der empirischen Wirklichkeit nahezu beliebig viele konkrete ‚Objekte‘ finden kann, die als ‚Instanzen/ Beispiele‘ für Mengen dienen können, sozusagen die Prototypen für ‚Reales‘, lassen sich für ‚Relationen/ Funktionen‘ so leicht keine direkte Entsprechungen finden. ‚Relationen‘ bestehen nur ‚zwischen‘ Objekten, ‚Funktionen‘ dagegen lassen sich ‚Veränderungen‘ zuschreiben. Beides ‚Beziehungen zwischen‘ und ‚Veränderungen‘ sind keine realen Objekte; sie existieren quasi nur in unserer Wahrnehmung als ‚virtuelle‘ Objekte. Das Verhältnis zwischen ‚realen Objekten‘ und ‚virtuellen Relationen/ Funktionen‘ würde man daher nicht als ‚Dualismus‘ bezeichnen, da der Begriff des Dualismus spätestens seit Descartes  eher für die Forderung nach zwei unterschiedliche ‚Substanzen‘ (‚res extensa‘, ‚res cogitans) reserviert hat. Objekte kann man vielleicht als Substnzen (‚res extensa‘) bezeichnen, nicht aber ‚virtuelle Relationen/ Funktionen‘.

Angewendet auf die Psychoanalyse wäre die Freudsche Unterscheidung von ’somatischen Prozessen‘ (Gehirn/ Körper als ‚res extensa‘, denen zugleich aber auch ‚dynamische‘ Eigenschaften zukommen (= Funktionen)) und dem ‚Seelischen‘, das sich qualitativ im ‚Bewusstsein‘ zeigt (= Phänomene als ‚virtuelle Objekte‘ (mit virtuellen Beziehungen) in einer spezifischen Dynamik (mit virtuellen Funktionen)) dann kein klassischer Dualismus sondern eine Unterscheidung unterschiedlicher Phänomenklassen, denen unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten zukommen.

SYSTEMISCHES KONZEPT

Was viele gern übersehen, das ist die ‚Gesamtsicht‘, die der Psychoanalyse zu eigen ist. Freud selbst tendierte in seiner Spätphase (Hinweis Jürgen Hardt) zu einem ‚organismischen‘ Denken, wie er es nannte; heute würde man es vielleicht ’systemisch‘ nennen. Durch die Anerkennung der Tatsache, dass das ‚Bewusstsein‘ nur einen Teil – heute müsste man vielleicht sagen: einen sehr kleinen Teil! – der Vorgänge im menschlichen Körper abbildet, wobei das ‚Un-Bewusste‘ letztlich den ganzen Restkörper beinhaltet, muss die Psychoanalyse jede Reaktion eines Akteurs als eine ‚Antwort des ganzen Systems‘ betrachten, die in den meisten Fällen von Prozessen und Faktoren verursacht werden, die eben un-bewusst sind. Insofern es weder aktuell eine vollständige Theorie aller Körperprozesse gibt noch man davon ausgehen kann, dass die Menge der möglichen Körperprozesse endlich und konstant ist, nicht einmal im Fall eines einzelnen Akteurs, ist die psychoanalytische Theoriebildung kontinuierlich in einer Situation, wo es eine Modellvorstellung M bis zum Zeitpunkt t gibt, die ab dem Zeitpunkt t mit einer offenen Menge von Phänomenen Ph_t+ konfrontiert werden kann, die vielfach bzw. überwiegend noch nicht Teil des bisherigen Modells M sind. Sofern das Modell M Anhaltspunkte für Interpretationen oder Verhaltensprognosen gibt, kann der Therapeut danach handeln; sofern das Modell ’schweigt‘, muss er das tun, was die Evolution seit 3.8 Milliarden Jahren tut: mangels Wissen über die Zukunft lassen biologische Populationen die Bildung von ‚Varianten‘ zu, von denen vielleicht einige dann in der Zukunft ‚passen‘, wenn alle anderen aufgrund von Veränderungen der Umgebung ’nicht mehr passen‘. Dieses ‚Handeln bei mangelndem Wissen ist der wichtigste Überlebensakt aller biologischer Systeme. Die ‚Quelle‘ für psychotherapeutische Verhaltensvarianten ist das eigene System, der Körper des Psychoanalytikers, schwerpunktmäßig sein Un-Bewusstes, das ‚aus sich heraus‘ wahrnimmt und reagiert.

Von den Psychoanalytikern wurde zahllose Beispiel angeführt, deren Phänomenologie die Arbeitshypothese nahelegt, dass es zwischen dem ‚Un-Bewussten‘ des Therapeuten und dem Un-Bewussten des Patienten offensichtlich eine Kommunikation im Nicht-Bewussten-Bereich geben muss, da unbewusste Zustände des Patienten, von denen der Therapeut bis dahin nichts wusste, sehr charakteristische Körperzustände beim Therapeut hervorriefen, die dann zum ‚Katalysator‘ dafür wurden, dass der Therapeut und der Patient dadurch einen entscheidenden Hinweis auf die zugrunde liegenden un-bewussten Faktoren im Patient gewinnen konnten.

Angesichts dieser Systemsicht und ihrer komplexen Dynamik stellt sich die Frage nach der Funktion des ‚Bewusstseins‘ ganz anders. Irgendwie erscheint das Bewusstsein wichtig (mindestens für alle sprachliche Kommunikation und explizite Planung), aber irgendwie ist das Bewusstsein nur ein kleiner Teil eines viel größeren dynamischen Systems, dessen Ausmaß und genaue Beschaffenheit weitgehend im Dunkeln liegt. Die moderne Gehirnforschung (wie auch die gesamte moderne Physiologie) könnte hier sicher viele wertvolle Erkenntnisse beisteuern, wären sie nicht bislang wissenschaftsphilosophisch so limitiert aufgestellt. Viele der möglichen interessanten Erkenntnisse ‚verpuffen‘ daher im Raum möglicher Theorien, da diese Theorien nicht ausformuliert werden.

ERFOLGSKRITERIEN

Natürlich kann und muss man die Frage stellen, inwieweit ein psychoanalytisches Modell – oder gar eine ausgebaute Theorie – ‚verifizierbar‘ bzw. ‚falsifizierbar‘ ist. Berücksichtigt man die methodischen Probleme mit dem Begriff der ‚Falsifikation‘ (siehe dazu die kurze Bemerkung Nr.18 im Blogbeitrag vom 5.September 2018) beschränken wir uns hier auf den Aspekt der ‚Verifikation‘.

Eine Verifikation wäre im allgemeinen die ‚Bestätigung‘ einer ‚Prognose‘, die man aus dem ‚bestehenden Modell‘ ‚abgeleitet‘ hatte. Da das ‚bestehende Modell‘ im Fall der Psychoanalyse im allgemeinen nicht als ‚formalisiertes Modell‘ vorliegt, kann es sich bei den möglichen ‚Prognosen‘ daher nur um ‚intuitive Schlüsse‘ des Therapeuten aus seinem ‚bewusst-unbewussten‘ Modell handeln. Im praktischen Fall bedeutet dies, dass (i) es einen ‚therapeutischen Prozess‘ gab, der alle offiziellen Anforderungen an einen psychoanalytischen Prozess erfüllt, dass (ii) ein Zustand erreicht wird, in dem der Patient einen höheren Grad an ‚Selbststeuerung‘ erreicht hat. Dies kann sich an vielerlei Phänomenen fest machen, z.B. der Patient hat weniger ‚Angst‘, sein ‚körperlicher Gesundheitszustand‘ ist besser geworden, er kann seine ‚Alltagsaufgaben besser lösen‘, er ist generell ‚weniger krank‘, er besitzt mehr ‚Selbstvertrauen‘ im Umgang mit zuvor gefürchteten Situationen, und dergleichen mehr. All diese Phänomene kann man objektivieren. Die sehr verbreiteten Auswertungen nur per Fragebogen sind eher unbrauchbar und nutzlos.

WEITERES VORGEHEN

Zum ersten Mal tauchte die Idee auf, die bisherigen Gespräche zur Psychoanalyse in einem kleinen Büchlein zusammen zu fassen und zu publizieren.

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SEMIOTIK UND KÜNSTLICHE INTELLIGENZ. EIN VIELVERSPRECHENDES TEAM. Nachschrift eines Vortrags an der Universität Passau am 22.Okt.2015

KONTEXT

  1. Im Rahmen der interdisziplinären Ringvorlesung Grenzen (Wintersemester 2015/16) an der Universität Passau (organisiert von der Deutsche Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V. in Kooperation mit der Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Mediensemiotik (Prof. Dr. Jan-Oliver Decker und Dr. Stefan Halft) hatte ich einen Vortrag angenommen mit dem Titel Semiotik und künstliche Intelligenz. Ein vielversprechendes Team. Wie immer halte ich Vorträge immer zu Fragen, die ich bis dahin noch nicht ausgearbeitet hatte und nutze diese Herausforderung, es dann endlich mal zu tun.
  2. Die Atmosphäre beim Vortrag war sehr gut und die anschließenden Gespräche brachte viele interessanten Aspekte zutage, was wir im Rahmen der DGS noch tun sollten/ könnten, um das Thema weiter zu vertiefen.

MOTIV – WARUM DIESES THEMA

  1. Angesichts der vielfältigen Geschichte der Semiotik könnte man natürlich ganze Abende nur mit Geschichten über die Semiotik füllen. Desgleichen im Fall der künstlichen Intelligenz [KI]. Der Auslöser für das Thema war dann auch der spezielle Umstand, dass im Bereich der KI seit etwa den 80iger Jahren des 20.Jahrhunderts in einigen Forschungsprojekten das Thema Semiotik ganz neu auftaucht, und nicht als Randthema sondern verantwortlich für die zentralen Begriffe dieser Forschungen. Gemeint sind die berühmten Roboterexperimente von Luc Steels (ähnlich auch aufgegriffen von anderen, z.B. Paul Vogt) (siehe Quellen unten).
  2. Unter dem Eindruck großer Probleme in der klassischen KI, die aus einem mangelnden direkten Weltbezug resultierten (das sogenannte grounding Problem) versuchte Steels, Probleme des Zeichen- und Sprachlernens mit Hilfe von Robotern zu lösen, die mit ihren Sensoren direkten Kontakt zur empirischen Welt haben und die mit ihren Aktoren auch direkt auf die Welt zurück wirken können. Ihre internen Verarbeitungsprozesse können auf diese Weise abhängig gemacht werden (eine Form von grounding) von der realen Welt (man spricht hier auch von embodied intelligence).
  3. Obwohl Steels (wie auch Vogt) auf ungewöhnliche Weise grundlegende Begriffe der Semiotik einführen, wird dieser semiotische Ansatz aber nicht weiter reflektiert. Auch findet nicht wirklich eine Diskussion des Gesamtansatzes statt, der aus dieser Kombination von Semiotik und Robotik/ KI entsteht bzw. entstehen könnte. Dies ist schade. Der Vortrag Semiotik und künstliche Intelligenz. Ein vielversprechendes Team stellt einen Versuch dar, heraus zu arbeiten, warum die Kombination Semiotik und KI nicht nur Sinn macht, sondern eigentlich das Zeug hätte, zu einem zentralen Forschungsparadigma für die Zukunft zu werden. Tatsächlich liegt dem Emerging Mind Projekt, das hier im Blog schon öfters erwähnt wurde und am 10.November 2015 offiziell eröffnet werden wird, genau dieses Semiotik-KI-Paradigma zugrunde.

WELCHE SEMIOTIK?

  1. Wer Wörterbücher zur Semiotik aufschlägt (z.B. das von Noeth 2000), wird schnell bemerken, dass es eine große Vielfalt von Semiotikern, semiotischen Blickweisen, Methoden und Theorieansätze gibt, aber eben nicht die eine große Theorie. Dies muss nicht unbedingt negativ sein, zumal dann nicht, wenn wir ein reiches Phänomen vor uns haben, das sich eben einer einfachen Theoriebildung widersetzt. Für die Praxis allerdings, wenn man Semiotik in einer realen Theoriebildung einsetzen möchte, benötigt man verbindliche Anknüpfungspunkte, auf die man sich bezieht. Wie kann man solch eine Entscheidung motivieren?
  2. Aus der Sicht der Wissenschaftsphilosophie biete es sich an, die unterschiedlichen Zugangsweisen zur Erfahrung und und Beschreibung von Wirklichkeit als quasi Koordinatensystem zu wählen, diesem einige der bekanntesten semiotischen Ansätze zu zuordnen und dann zu schaue, welche dieser semiotischen Positionen der Aufgabenstellung am nächsten kommen. Von einer Gesamttheorie her betrachtet sind natürlich alle Ansätze wichtig. Eine Auswahl bzw. Gewichtung kann nur pragmatische Gründe haben.

ZUGÄNGE ZUR WIRKLICHKEIT

  1. Grundsätzlich gibt es aus heutiger Sicht zwei Zugangsweisen: über den intersubjektiven (empirischen) Bereich und über das subjektive Erleben.
  2. Innerhalb des empirischen Bereichs gab es lange Zeit nur den Bereich des beobachtbaren Verhaltens [SR] (in der Psychologie) ohne die inneren Zustände des Systems; seit ca. 50-60 Jahren eröffnen die Neurowissenschaften auch einen Zugriff auf die Vorgänge im Gehirn. Will man beide Datenbereiche korrelieren, dann gerät man in das Gebiet der Neuropsychologie [NNSR].
  3. Der Zugang zur Wirklichkeit über den subjektiven Bereich – innerhalb der Philosophie auch als phänomenologischer Zugang bekannt – hat den Vorteil einer Direktheit und Unmittelbarkeit und eines großen Reichtums an Phänomenen.
  4. Was den meisten Menschen nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass die empirischen Phänomene nicht wirklich außerhalb des Bewusstseins liegen. Die Gegenstände in der Zwischenkörperzone (der empirische Bereich) sind als Gegenstände zwar (was wir alle unterstellen) außerhalb des Bewusstseins, aber die Phänomene, die sie im Bewusstsein erzeugen, sind nicht außerhalb, sondern im Bewusstsein. Das, was die empirischen Phänomene [PH_em] von den Phänomenen, unterscheidet, die nicht empirisch [PH_nem] sind, ist die Eigenschaft, dass sie mit etwas in der Zwischenkörperwelt korrespondieren, was auch von anderen Menschen wahrgenommen werden kann. Dadurch lässt sich im Falle von empirischen Phänomenen relativ leicht Einigkeit zwischen verschiedenen Kommunikationsteilnehmern über die jeweils korrespondierenden Gegenstände/ Ereignisse erzielen.
  5. Bei nicht-empirischen Phänomenen ist unklar, ob und wie man eine Einigkeit erzielen kann, da man nicht in den Kopf der anderen Person hineinschauen kann und von daher nie genau weiß, was die andere Person meint, wenn sie etwas Bestimmtes sagt.
  6. Die Beziehung zwischen Phänomenen des Bewusstseins [PH] und Eigenschaften des Gehirns – hier global als NN abgekürzt – ist von anderer Art. Nach heutigem Wissensstand müssen wir davon ausgehen, dass alle Phänomene des Bewusstseins mit Eigenschaften des Gehirns korrelieren. Aus dieser Sicht wirkt das Bewusstsein wie eine Schnittstelle zum Gehirn. Eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Tatsachen des Bewusstseins [PH] und Eigenschaften des Gehirns [NN] würde in eine Disziplin fallen, die es so noch nicht wirklich gibt, die Neurophänomenologie [NNPH] (analog zur Neuropsychologie).
  7. Der Stärke des Bewusstseins in Sachen Direktheit korrespondiert eine deutliche Schwäche: im Bewusstsein hat man zwar Phänomene, aber man hat keinen Zugang zu ihrer Entstehung! Wenn man ein Objekt sieht, das wie eine Flasche aussieht, und man die deutsche Sprache gelernt hat, dann wird man sich erinnern, dass es dafür das Wort Flasche gibt. Man konstatiert, dass man sich an dieses Wort in diesem Kontext erinnert, man kann aber in diesem Augenblick weder verstehen, wie es zu dieser Erinnerung kommt, noch weiß man vorher, ob man sich erinnern wird. Man könnte in einem Bild sagen: das Bewusstsein verhält sich hier wie eine Kinoleinwand, es konstatiert, wenn etwas auf der Leinwand ist, aber es weiß vorher nicht, ob etwas auf die Leinwand kommen wird, wie es kommt, und nicht was kommen wird. So gesehen umfasst das Bewusstsein nur einen verschwindend kleinen Teil dessen, was wir potentiell wissen (können).

AUSGEWÄHLTE SEMIOTIKER

  1. Nach diesem kurzen Ausflug in die Wissenschaftsphilosophie und bevor hier einzelne Semiotiker herausgegriffen werden, sei eine minimale Charakterisierung dessen gegeben, was ein Zeichen sein soll. Minimal deshalb, weil alle semiotischen Richtungen, diese minimalen Elemente, diese Grundstruktur eines Zeichens, gemeinsam haben.
  2. Diese Grundstruktur enthält drei Komponenten: (i) etwas, was als Zeichenmaterial [ZM] dienen kann, (ii) etwas, das als Nichtzeichenmaterial [NZM] fungieren kann, und (iii) etwas, das eine Beziehung/ Relation/ Abbildung Z zwischen Zeichen- und Nicht-Zeichen-Material in der Art repräsentiert, dass die Abbildung Z dem Zeichenmaterial ZM nicht-Zeichen-Material NZM zuordnet. Je nachdem, in welchen Kontext man diese Grundstruktur eines Zeichens einbettet, bekommen die einzelnen Elemente eine unterschiedliche Bedeutung.
  3. Dies soll am Beispiel von drei Semiotikern illustriert werden, die mit dem zuvor charakterisierten Zugängen zur Wirklichkeit korrespondieren: Charles William Morris (1901 – 1979), Ferdinand de Saussure (1857-1913) und Charles Santiago Sanders Peirce (1839 – 1914) .
  4. Morris, der jüngste von den Dreien, ist im Bereich eines empirischen Verhaltensansatzes zu positionieren, der dem verhaltensorientierten Ansatz der modernen empirischen Psychologie nahe kommt. In diesem verhaltensbasierten Ansatz kann man die Zeichengrundstruktur so interpretieren, dass dem Zeichenmaterial ZM etwas in der empirischen Zwischenwelt korrespondiert (z.B. ein Laut), dem Nicht-Zeichen-Material NZM etwas anderes in der empirischen Außenwelt (ein Objekt, ein Ereignis, …), und die Zeichenbeziehung Z kommt nicht in der empirischen Welt direkt vor, sondern ist im Zeichenbenutzer zu verorten. Wie diese Zeichenbeziehung Z im Benutzer tatsächlich realisiert ist, war zu seiner Zeit empirische noch nicht zugänglich und spielt für den Zeichenbegriff auch weiter keine Rolle. Auf der Basis von empirischen Verhaltensdaten kann die Psychologie beliebige Modellannahmen über die inneren Zustände des handelnden Systems machen. Sie müssen nur die Anforderung erfüllen, mit den empirischen Verhaltensdaten kompatibel zu sein. Ein halbes Jahrhundert nach Morris kann man anfangen, die psychologischen Modellannahmen über die Systemzustände mit neurowissenschaftlichen Daten abzugleichen, sozusagen in einem integrierten interdisziplinären neuropsychologischen Theorieansatz.
  5. Saussure, der zweit Jüngste von den Dreien hat als Sprachwissenschaftler mit den Sprachen primär ein empirisches Objekt, er spricht aber in seinen allgemeinen Überlegungen über das Zeichen in einer bewusstseinsorientierten Weise. Beim Zeichenmaterial ZM spricht er z.B. von einem Lautbild als einem Phänomen des Bewusstseins, entsprechend von dem Nicht-Zeichenmaterial auch von einer Vorstellung im Bewusstsein. Bezüglich der Zeichenbeziehung M stellt er fest, dass diese außerhalb des Bewusstseins liegt; sie wird vom Gehirn bereit gestellt. Aus Sicht des Bewusstseins tritt diese Beziehung nur indirekt in Erscheinung.
  6. Peirce, der älteste von den Dreien, ist noch ganz in der introspektiven, phänomenologischen Sicht verankert. Er verortet alle drei Komponenten der Zeichen-Grundstruktur im Bewusstsein. So genial und anregend seine Schriften im einzelnen sind, so führt diese Zugangsweise über das Bewusstsein zu großen Problemen in der Interpretation seiner Schriften (was sich in der großen Bandbreite der Interpretationen ausdrückt wie auch in den nicht selten geradezu widersprüchlichen Positionen).
  7. Für das weitere Vorgehen wird in diesem Vortrag der empirische Standpunkt (Verhalten + Gehirn) gewählt und dieser wird mit der Position der künstlichen Intelligenz ins Gespräch gebracht. Damit wird der direkte Zugang über das Bewusstsein nicht vollständig ausgeschlossen, sondern nur zurück gestellt. In einer vollständigen Theorie müsste man auch die nicht-empirischen Bewusstseinsdaten integrieren.

SPRACHSPIEL

  1. Ergänzend zu dem bisher Gesagten müssen jetzt noch drei weitere Begriffe eingeführt werden, um alle Zutaten für das neue Paradigma Semiotik & KI zur Verfügung zu haben. Dies sind die Begriffe Sprachspiel, Intelligenz sowie Lernen.
  2. Der Begriff Sprachspiel wird auch von Luc Steels bei seinen Roboterexperimenten benutzt. Über den Begriff des Zeichens hinaus erlaubt der Begriff des Sprachspiels den dynamischen Kontext des Zeichengebrauchs besser zu erfassen.
  3. Steels verweist als Quelle für den Begriff des Sprachspiels auf Ludwig Josef Johann Wittgenstein (1889-1951), der in seiner Frühphase zunächst die Ideen der modernen formalen Logik und Mathematik aufgriff und mit seinem tractatus logico philosophicus das Ideal einer am logischen Paradigma orientierten Sprache skizzierte. Viele Jahre später begann er neu über die normale Sprache nachzudenken und wurde sich selbst zum schärfsten Kritiker. In jahrelangen Analysen von alltäglichen Sprachsituationen entwickelte er ein facettenreiches Bild der Alltagssprache als ein Spiel, in dem Teilnehmer nach Regeln Zeichenmaterial ZM und Nicht-Zeichen-Material NZM miteinander verknüpfen. Dabei spielt die jeweilige Situation als Kontext eine Rolle. Dies bedeutet, das gleiche Zeichenmaterial kann je nach Kontext unterschiedlich wirken. Auf jeden Fall bietet das Konzept des Sprachspiels die Möglichkeit, den ansonsten statischen Zeichenbegriff in einen Prozess einzubetten.
  4. Aber auch im Fall des Sprachspielkonzepts benutzt Steels zwar den Begriff Sprachspiel, reflektiert ihn aber nicht soweit, dass daraus ein explizites übergreifendes theoretisches Paradigma sichtbar wird.
  5. Für die Vision eines neuen Forschungsparadigmas Semiotik & KI soll also in der ersten Phase die Grundstruktur des Zeichenbegriffs im Kontext der empirischen Wissenschaften mit dem Sprachspielkonzept von Wittgenstein (1953) verknüpft werden.

INTELLIGENZ

  1. Im Vorfeld eines Workshops der Intelligent Systems Division des NIST 2000 gab es eine lange Diskussion zwischen vielen Beteiligten, wie man denn die Intelligenz von Maschinen messen sollte. In meiner Wahrnehmung verhedderte sich die Diskussion darin, dass damals nach immer neuen Klassifikationen und Typologien für die Architektur der technischen Systeme gesucht wurde, anstatt das zu tun, was die Psychologie schon seit fast 100 Jahren getan hatte, nämlich auf das Verhalten und dessen Eigenschaften zu schauen. Ich habe mich in den folgenden Jahren immer wieder mit der Frage des geeigneten Standpunkts auseinandergesetzt. In einem Konferenzbeitrag von 2010 (zusammen mit anderen, insbesondere mit Louwrence Erasmus) habe ich dann dafür argumentiert, das Problem durch Übernahme des Ansatzes der Psychologie zu lösen.
  2. Die Psychologie hatte mit Binet (1905), Stern (1912 sowie Wechsler (1939) eine grundsätzliche Methode gefunden hatte, die Intelligenz, die man nicht sehen konnte, indirekt durch Rückgriff auf Eigenschaften des beobachtbaren Verhaltens zu messen (bekannt duch den Begriff des Intelligenz-Quotienten, IQ). Die Grundidee bestand darin, dass zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur bestimmte Eigenschaften als charakteristisch für ein Verhalten angesehen werden, das man allgemein als intelligent bezeichnen würde. Dies impliziert zwar grundsätzlich eine gewisse Relativierung des Begriffs Intelligenz (was eine Öffnung dahingehend impliziert, dass zu anderen Zeiten unter anderen Umständen noch ganz neue Eigenschaftskomplexe bedeutsam werden können!), aber macht Intelligenz grundsätzlich katalogisierbar und damit messbar.
  3. Ein Nebeneffekt der Bezugnahme auf Verhaltenseigenschaften findet sich in der damit möglichen Nivellierung der zu messenden potentiellen Strukturen in jenen Systemen, denen wir Intelligenz zusprechen wollen. D.h. aus Sicht der Intelligenzmessung ist es egal ob das zu messende System eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch oder eine Maschine ist. Damit wird – zumindest im Rahmen des vorausgesetzten Intelligenzbegriffs – entscheidbar, ob und in welchem Ausmaß eine Maschine möglicherweise intelligent ist.
  4. Damit eignet sich dieses Vorgehen auch, um mögliche Vergleiche zwischen menschlichem und maschinellem Verhalten in diesem Bereich zu ermöglichen. Für das Projekt des Semiotk & KI-Paradigmas ist dies sehr hilfreich.

LERNEN

  1. An dieser Stelle ist es wichtig, deutlich zu machen, dass Intelligenz nicht notwendigerweise ein Lernen impliziert und Lernen nicht notwendigerweise eine Intelligenz! Eine Maschine (z.B. ein schachspielender Computer) kann sehr viele Eigenschaften eines intelligenten Schachspielers zeigen (bis dahin, dass der Computer Großmeister oder gar Weltmeister besiegen kann), aber sie muss deswegen nicht notwendigerweise auch lernfähig sein. Dies ist möglich, wenn erfahrene Experten hinreichend viel Wissen in Form eines geeigneten Programms in den Computer eingeschrieben haben, so dass die Maschine aufgrund dieses Programms auf alle Anforderungen sehr gut reagieren kann. Von sich aus könnte der Computer dann nicht dazu lernen.
  2. Bei Tieren und Menschen (und Pflanzen?) gehen wir von einer grundlegenden Lernfähigkeit aus. Bezogen auf das beobachtbare Verhalten können wir die Fähigkeit zu Lernen dadurch charakterisieren, dass ein System bis zu einem Zeitpunkt t bei einem bestimmten Reiz s nicht mit einem Verhalten r antwortet, nach dem Zeitpunkt t aber dann plötzlich doch, und dieses neue Verhalten über längere Zeit beibehält. Zeigt ein System eine solche Verhaltensdynamik, dann darf man unterstellen, dass das System in der Lage ist, seine inneren Zustände IS auf geeignete Weise zu verändern (geschrieben: phi: I x IS —> IS x O (mit der Bedeutung I := Input (Reize, Stimulus s), O := Output (Verhaltensantworten, Reaktion r), IS := interne Zustände, phi := Name für die beobachtbare Dynamik).
  3. Verfügt ein System über solch eine grundlegende Lernfähigkeit (die eine unterschiedlich reiche Ausprägung haben kann), dann kann es sich im Prinzip alle möglichen Verhaltenseigenschaften aneignen/ erwerben/ erlernen und damit im oben beschriebenen Sinne intelligent werden. Allerdings gibt es keine Garantie, dass eine Lernfähigkeit notwendigerweise zu einer bestimmten Intelligenz führen muss. Viele Menschen, die die grundsätzliche Fähigkeit besitzen, Schachspielen oder Musizieren oder Sprachen zu lernen,  nutzen diese ihre Fähigkeiten niemals aus; sie verzichten damit auf Formen intelligenten Verhaltens, die ihnen aber grundsätzlich offen stehen.
  4. Wir fordern also, dass die Lernfähigkeit Teil des Semiotik & KI-Paradigmas sein soll.

LERNENDE MASCHINEN

  1. Während die meisten Menschen heute Computern ein gewisses intelligentes Verhalten nicht absprechen würden, sind sie sich mit der grundlegenden Lernfähigkeit unsicher. Sind Computer im echten Sinne (so wie junge Tiere oder menschliche Kinder) lernfähig?
  2. Um diese Frage grundsätzlich beantworten zu können, müsste man ein allgemeines Konzept von einem Computer haben, eines, das alle heute und in der Zukunft existierende und möglicherweise in Existenz kommende Computer in den charakteristischen Eigenschaften erschöpfend beschreibt. Dies führt zur Vor-Frage nach dem allgemeinsten Kriterium für Computer.
  3. Historisch führt die Frage eigentlich direkt zu einer Arbeit von Turing (1936/7), in der er den Unentscheidbarkeitsbeweis von Kurt Gödel (1931) mit anderen Mitteln nochmals nachvollzogen hatte. Dazu muss man wissen, dass es für einen formal-logischen Beweis wichtig ist, dass die beim Beweis zur Anwendung kommenden Mittel, vollständig transparent sein müssen, sie müssen konstruktiv sein, was bedeutet, sie müssen endlich sein oder effektiv berechenbar. Zum Ende des 19.Jh und am Anfang des 20.Jh gab es zu dieser Fragestellung eine intensive Diskussion.
  4. Turing wählte im Kontrast zu Gödel keine Elemente der Zahlentheorie für seinen Beweis, sondern nahm sich das Verhalten eines Büroangestellten zum Vorbild: jemand schreibt mit einem Stift einzelne Zeichen auf ein Blatt Papier. Diese kann man einzeln lesen oder überschreiben. Diese Vorgabe übersetze er in die Beschreibung einer möglichst einfachen Maschine, die ihm zu Ehren später Turingmaschine genannt wurde (für eine Beschreibung der Elemente einer Turingmaschine siehe HIER). Eine solche Turingmaschine lässt sich dann zu einer universellen Turingmaschine [UTM] erweitern, indem man das Programm einer anderen (sekundären) Turingmaschine auf das Band einer primären Turingmaschine schreibt. Die primäre Turingmaschine kann dann nicht nur das Programm der sekundären Maschine ausführen, sondern kann es auch beliebig abändern.
  5. In diesem Zusammenhang interessant ist, dass der intuitive Begriff der Berechenbarkeit Anfang der 30ige Jahre des 20.Jh gleich dreimal unabhängig voneinander formal präzisiert worden ist (1933 Gödel und Herbrand definierten die allgemein rekursiven Funktionen; 1936 Church den Lambda-Kalkül; 1936 Turing die a-Maschine für ‚automatische Maschine‘, später Turing-Maschine). Alle drei Formalisierungen konnten formal als äquivalent bewiesen werden. Dies führte zur sogenannten Church-Turing These, dass alles, was effektiv berechnet werden kann, mit einem dieser drei Formalismen (also auch mit der Turingmaschine) berechnet werden kann. Andererseits lässt sich diese Church-Turing These selbst nicht beweisen. Nach nunmehr fast 80 Jahren nimmt aber jeder Experte im Feld an, dass die Church-Turing These stimmt, da bis heute keine Gegenbeispiele gefunden werden konnten.
  6. Mit diesem Wissen um ein allgemeines formales Konzept von Computern kann man die Frage nach der generellen Lernfähigkeit von Computern dahingehend beantworten, dass Computer, die Turing-maschinen-kompatibel sind, ihre inneren Zustände (im Falle einer universellen Turingmaschine) beliebig abändern können und damit die Grundforderung nach Lernfähigkeit erfüllen.

LERNFÄHIGE UND INTELLIGENTE MASCHINEN?

  1. Die Preisfrage stellt sich, wie eine universelle Turingmaschine, die grundsätzlich lernfähig ist, herausfinden kann, welche der möglichen Zustände interessant genug sind, um damit zu einem intelligenten Verhalten zu kommen?
  2. Diese Frage nach der möglichen Intelligenz führt zur Frage der verfügbaren Kriterien für Intelligenz: woher soll eine lernfähige Maschine wissen, was sie lernen soll?
  3. Im Fall biologischer Systeme wissen wir mittlerweile, dass die lernfähigen Strukturen als solche dumm sind, dass aber durch die schiere Menge an Zufallsexperimenten ein Teil dieser Experimente zu Strukturen geführt hat, die bzgl. bestimmter Erfolgskriterien besser waren als andere. Durch die Fähigkeit, die jeweils erfolgreichen Strukturen in Form von Informationseinheiten zu speichern, die dann bei der nächsten Reproduktion erinnert werden konnten, konnten sich die relativen Erfolge behaupten.
  4. Turing-kompatible Computer können speichern und kodieren, sie brauchen allerdings noch Erfolgskriterien, um zu einem zielgerichtete Lernen zu kommen.

LERNENDE SEMIOTISCHE MASCHINEN

  1. Mit all diesen Zutaten kann man jetzt lernende semiotische Maschinen konstruieren, d.h. Maschinen, die in der Lage sind, den Gebrauch von Zeichen im Kontext eines Prozesses, zu erlernen. Das dazu notwendige Verhalten gilt als ein Beispiel für intelligentes Verhaltens.
  2. Es ist hier nicht der Ort, jetzt die Details solcher Sprach-Lern-Spiele auszubreiten. Es sei nur soviel gesagt, dass man – abschwächend zum Paradigma von Steels – hier voraussetzt, dass es schon mindestens eine Sprache L und einen kundigen Sprachteilnehmer gibt (der Lehrer), von dem andere Systeme (die Schüler), die diese Sprache L noch nicht kennen, die Sprache L lernen können. Diese Schüler können dann begrenzt neue Lehrer werden.
  3. Zum Erlernen (Training) einer Sprache L benötigt man einen definierten Kontext (eine Welt), in dem Lehrer und Schüler auftreten und durch Interaktionen ihr Wissen teilen.
  4. In einer Evaluationsphase (Testphase), kann dann jeweils überprüft werden, ob die Schüler etwas gelernt haben, und wieviel.
  5. Den Lernerfolge einer ganzen Serie von Lernexperimenten (ein Experiment besteht aus einem Training – Test Paar) kann man dann in Form einer Lernkurve darstellen. Diese zeigt entlang der Zeitachse, ob die Intelligenzleistung sich verändert hat, und wie.
  6. Gestaltet man die Lernwelt als eine interaktive Softwarewelt, bei der Computerprogramme genauso wie Roboter oder Menschen mitwirken können, dann kann man sowohl Menschen als Lehrer benutzen wie auch Menschen im Wettbewerb mit intelligenten Maschinen antreten lassen oder intelligente Maschinen als Lehrer oder man kann auch hybride Teams formen.
  7. Die Erfahrungen zeigen, dass die Konstruktion von intelligenten Maschinen, die menschenähnliche Verhaltensweisen lernen sollen, die konstruierenden Menschen dazu anregen, ihr eigenes Verhalten sehr gründlich zu reflektieren, nicht nur technisch, sondern sogar philosophisch.

EMERGING MIND PROJEKT

  1. Die zuvor geschilderten Überlegungen haben dazu geführt, dass ab 10.November 2015 im INM Frankfurt ein öffentliches Forschungsprojekt gestartet werden soll, das Emerging Mind Projekt heißt, und das zum Ziel hat, eine solche Umgebung für lernende semiotische Maschinen bereit zu stellen, mit der man solche semiotischen Prozesse zwischen Menschen und lernfähigen intelligenten Maschinen erforschen kann.

QUELLEN

  • Binet, A., Les idees modernes sur les enfants, 1909
  • Doeben-Henisch, G.; Bauer-Wersing, U.; Erasmus, L.; Schrader,U.; Wagner, W. [2008] Interdisciplinary Engineering of Intelligent Systems. Some Methodological Issues. Conference Proceedings of the workshop Modelling Adaptive And Cognitive Systems (ADAPCOG 2008) as part of the Joint Conferences of SBIA’2008 (the 19th Brazilian Symposium on Articial Intelligence); SBRN’2008 (the 10th Brazilian Symposium on Neural Networks); and JRI’2008 (the Intelligent Robotic Journey) at Salvador (Brazil) Oct-26 – Oct-30(PDF HIER)
  • Gödel, K. Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I, In: Monatshefte Math.Phys., vol.38(1931),pp:175-198
  • Charles W. Morris, Foundations of the Theory of Signs (1938)
  • Charles W. Morris (1946). Signs, Language and Behavior. New York: Prentice-Hall, 1946. Reprinted, New York: George Braziller, 1955. Reprinted in Charles Morris, Writings on the General Theory of Signs (The Hague: Mouton, 1971), pp. 73-397. /* Charles William Morris (1901-1979) */
  • Charles W. Morris, Signication and Signicance (1964)
  • NIST: Intelligent Systems Division: http://www.nist.gov/el/isd/
  • Winfried Noth: Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearbeitete Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar 2000
  • Charles Santiago Sanders Peirce (1839-1914) war ein US-amerikanischer Mathematiker, Philosoph und Logiker. Peirce gehort neben William James und John Dewey zu den maßgeblichen Denkern des Pragmatismus; außerdem gilt er als Begründer der modernen Semiotik. Zur ersten Einführung siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Charles Sanders Peirce Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Bände I-VI hrsg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss, 1931{1935; Bände VII-VIII hrsg. von Arthur W. Burks 1958. University Press, Harvard, Cambridge/Mass. 1931{1958
  • Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition. Hrsg. vom Peirce Edition Project. Indiana University Press,Indianapolis, Bloomington 1982. (Bisher Bände 1{6 und 8, geplant 30 Bände)
  • Saussure, F. de. Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 2nd ed., German translation of the original posthumously publication of the Cours de linguistic general from 1916 by H.Lommel, Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1967
  • Saussure, F. de. Course in General Linguistics, English translation of the original posthumously publication of the Cours de linguistic general from 1916, London: Fontana, 1974
  • Saussure, F. de. Cours de linguistique general, Edition Critique Par Rudolf Engler, Tome 1,Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1989 /*This is the critical edition of the dierent sources around the original posthumously publication of the Cours de linguistic general from 1916. */
  • Steels, Luc (1995): A Self-Organizing Spatial Vocabulary. Articial Life, 2(3), S. 319-332
  • Steels, Luc (1997): Synthesising the origins of language and meaning using co-evolution, self-organisation and level formation. In: Hurford, J., C.Knight und M.Studdert-Kennedy (Hrsg.). Edinburgh: Edinburgh Univ. Press.

  • Steels, Luc (2001): Language Games for Autonomous Robots. IEEE Intelligent Systems, 16(5), S. 16-22. Steels, Luc (2003):

  • Evolving grounded Communication for Robots. Trends in Cognitive Science, 7(7), S. 308-312.

  • Steels, Luc (2003): Intelligence with Representation. Philosophical Transactions of the Royal Society A, 1811(361), S. 2381-2395.

  • Steels, Luc (2008): The symbol grounding problem has been solved, so what’s next?. In M. de Vega, Symbols and Embodiment: Debates on Meaning and Cognition. Oxford: Oxford University Press, S. 223-244.
  • Steels, Luc (2012): Grounding Language through Evolutionary Language Games. In: Language Grounding in Robots. Springer US, S. 1-22.

  • Steels, Luc (2015), The Talking Heads experiment: Origins of words and meanings, Series: Computational Models of Language Evolution 1. Berlin: Language Science Press.
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  • Vogt, P.; Coumans, H. Investigating social interaction strategies for bootstrapping lexicon development, Journal of Articial Societies and Social Simulation 6(1), 2003

  • Wechsler, D., The Measurement of Adult Intelligence, Baltimore, 1939, (3. Auage 1944)

  • Wittgenstein, L.; Tractatus Logico-Philosophicus, 1921/1922 /* Während des Ersten Weltkriegs geschrieben, wurde das Werk 1918 vollendet. Es erschien mit Unterstützung von Bertrand Russell zunächst 1921 in Wilhelm Ostwalds Annalen der Naturphilosophie. Diese von Wittgenstein nicht gegengelesene Fassung enthielt grobe Fehler. Eine korrigierte, zweisprachige Ausgabe (deutsch/englisch) erschien 1922 bei Kegan Paul, Trench, Trubner und Co. in London und gilt als die offizielle Fassung. Die englische Übersetzung stammte von C. K. Ogden und Frank Ramsey. Siehe einführend Wikipedia-DE: https://de.wikipedia.org/wiki/Tractatus logicophilosophicus*/

  • Wittgenstein, L.; Philosophische Untersuchungen,1936-1946, publiziert 1953 /* Die Philosophischen Untersuchungen sind Ludwig Wittgensteins spätes, zweites Hauptwerk. Es übten einen außerordentlichen Einfluss auf die Philosophie der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts aus; zu erwähnen ist die Sprechakttheorie von Austin und Searle sowie der Erlanger Konstruktivismus (Paul Lorenzen, Kuno Lorenz). Das Buch richtet sich gegen das Ideal einer logik-orientierten Sprache, die neben Russell und Carnap Wittgenstein selbst in seinem ersten Hauptwerk vertreten hatte. Das Buch ist in den Jahren 1936-1946 entstanden, wurde aber erst 1953, nach dem Tod des Autors, veröffentlicht. Siehe einführend Wikipedia-DE: https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophische Untersuchungen*/

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K.G.DENBIGH: AN INVENTIVE UNIVERSE — Relektüre — Teil 4

K.G.Denbigh (1975), „An Inventive Universe“, London: Hutchinson & Co.

BISHER

Im Teil 1 der Relektüre von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ hatte ich, sehr stark angeregt durch die Lektüre, zunächst eher mein eigenes Verständnis von dem Konzept ‚Zeit‘ zu Papier gebracht und eigentlich kaum die Position Denbighs referiert. Darin habe ich sehr stark darauf abgehoben, dass die Struktur der menschlichen Wahrnehmung und des Gedächtnisses es uns erlaubt, subjektiv Gegenwart als Jetzt zu erleben im Vergleich zum Erinnerbaren als Vergangen. Allerdings kann unsere Erinnerung stark von der auslösenden Realität abweichen. Im Lichte der Relativitätstheorie ist es zudem unmöglich, den Augenblick/ das Jetzt/ die Gegenwart objektiv zu definieren. Das individuelle Jetzt ist unentrinnbar subjektiv. Die Einbeziehung von ‚Uhren-Zeit’/ technischer Zeit kann zwar helfen, verschiedene Menschen relativ zu den Uhren zu koordinieren, das grundsätzliche Problem des nicht-objektiven Jetzt wird damit nicht aufgelöst.

In der Fortsetzung 1b von Teil 1 habe ich dann versucht, die Darlegung der Position von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ nachzuholen. Der interessante Punkt hier ist der Widerspruch innerhalb der Physik selbst: einerseits gibt es physikalische Theorien, die zeitinvariant sind, andere wiederum nicht. Denbigh erklärt diese Situation so, dass er die zeitinvarianten Theorien als idealisierende Theorien darstellt, die von realen Randbedingungen – wie sie tatsächlich überall im Universum herrschen – absehen. Dies kann man daran erkennen, dass es für die Anwendung der einschlägigen Differentialgleichungen notwendig sei, hinreichende Randbedingungen zu definieren, damit die Gleichungen gerechnet werden können. Mit diesen Randbedingungen werden Start- und Zielzustand aber asymmetrisch.

Auch würde ich hier einen Nachtrag zu Teil 1 der Relektüre einfügen: in diesem Beitrag wurde schon auf die zentrale Rolle des Gedächtnisses für die Zeitwahrnehmung hingewiesen. Allerdings könnte man noch präzisieren, dass das Gedächtnis die einzelnen Gedächtnisinhalte nicht als streng aufeinanderfolgend speichert, sondern eben als schon geschehen. Es ist dann eine eigene gedankliche Leistungen, anhand von Eigenschaften der Gedächtnisinhalte eine Ordnung zu konstruieren. Uhren, Kalender, Aufzeichnungen können dabei helfen. Hier sind Irrtümer möglich. Für die generelle Frage, ob die Vorgänge in der Natur gerichtet sind oder nicht hilft das Gedächtnis von daher nur sehr bedingt. Ob A das B verursacht hat oder nicht, bleibt eine Interpretationsfrage, die von zusätzlichem Wissen abhängt.

Im Teil 2 ging es um den Anfang von Kap.2 (Dissipative Prozesse) und den Rest von Kap.3 (Formative Prozesse). Im Kontext der dissipativen (irreversiblen) Prozesse macht Denbigh darauf aufmerksam, dass sich von der Antike her in der modernen Physik eine Denkhaltung gehalten hat, die versucht, die reale Welt zu verdinglichen, sie statisch zu sehen (Zeit ist reversibel). Viele empirische Fakten sprechen aber gegen die Konservierung und Verdinglichung (Zeit ist irreversibel). Um den biologischen Phänomenen gerecht zu werden, führt Denbigh dann das Konzept der ‚Organisation‘ und dem ‚Grad der Organisiertheit‘ ein. Mit Hilfe dieses Konzeptes kann man Komplexitätsstufen unterscheiden, denen man unterschiedliche Makroeigenschaften zuschreiben kann. Tut man dies, dann nimmt mit wachsender Komplexität die ‚Individualität‘ zu, d.h. die allgemeinen physikalischen Gesetze gelten immer weniger. Auch gewinnt der Begriff der Entropie im Kontext von Denbighs Überlegungen eine neue Bedeutung. Im Diskussionsteil halte ich fest: Im Kern gilt, dass maximale Entropie vorliegt, wenn keine Energie-Materie-Mengen verfügbar sind, und minimale Entropie entsprechend, wenn maximal viele Energie-Materie-Mengen verfügbar sind. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das Bild, dass Veränderungsprozesse im Universum abseits biologischer Systeme von minimaler zu maximaler Entropie zu führen scheinen (dissipative Prozesse, irreversible Prozesse, …), während die biologischen Systeme als Entropie-Konverter wirken! Sie kehren die Prozessrichtung einfach um. Hier stellen sich eine Fülle von Fragen. Berücksichtigt man die Idee des Organisationskonzepts von Denbigh, dann kann man faktisch beobachten, dass entlang einer Zeitachse eine letztlich kontinuierliche Zunahme der Komplexität biologischer Systeme stattfindet, sowohl als individuelle Systeme wie aber auch und gerade im Zusammenspiel einer Population mit einer organisatorisch aufbereiteten Umgebung (Landwirtschaft, Städtebau, Technik allgemein, Kultur, …). Für alle diese – mittlerweile mehr als 3.8 Milliarden andauernde – Prozesse haben wir bislang keine befriedigenden theoretischen Modelle

Im Teil 3 geht es um das Thema Determinismus und Emergenz. Ideengeschichtlich gibt es den Hang wieder, sich wiederholende und darin voraussagbare Ereignisse mit einem Deutungsschema zu versehen, das diesen Wiederholungen feste Ursachen zuordnet und darin eine Notwendigkeit sieht, dass dies alles passiert. Newtons Mechanik wird in diesem Kontext als neuzeitliche Inkarnation dieser Überzeugungen verstanden: mit klaren Gesetzen sind alle Bewegungen berechenbar. Denbigh zeigt dann anhand vieler Punkte dass die Annahme eines Determinismus wenig plausibel ist. Betrachtet man den Gang der Entwicklung dann kann man nach Denbigh etwa folgende Komplexitätsstufen unterscheiden: (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143) Aus wissenschaftlicher Sicht müssen sich alle diese ‚Stufen‘ (‚level‘) einheitlich erklären lassen.

KAPITEL 5: GIBT ES IRGENDWELCHE SCHÖPFERISCHEN PROZESSE? (149 – 178)

1. Nachdem Denbigh in den vorausgehenden 4 Kapiteln die Begrenztheit vieler Konzepte in der modernen Physik in den Fokus gerückt hatte (z.B.: dass die Welt nicht deterministisch ist; dass die Naturgesetze Gedankenbilder sind und nicht automatisch eine ontologische Geltung besitzen; dass alle bekannten Prozesse in der Natur irreversibel sind; dass das Konzept einer Symmetrie nicht empirisch gedeckt ist; dass die sogenannten Konservierungsgesetze postuliert wurden bevor sie überhaupt definiert wurden; dass alles darauf hindeutet, dass die Entropie zunimmt ), konzentriert er sich im letzten 5.Kapitel auf die Frage, ob es überhaupt schöpferische/ erfinderische (‚inventive‘) Prozesse gibt.
2. Mit schöpferisch meint er nicht einen Vorgang wie in den religiösen Schöpfungsmythen, in denen quasi aus dem Nichts ein unbekanntes Etwas genannt Gott/ Schöpfer etwas hervorbringt (die Welt), die dann völlig deterministisch abläuft, sondern eher einen abgeschwächten Hervorbringungsprozess, der ohne Notwendigkeit geschieht, nicht voraussagbar ist, etwas wirklich Neues bringt, und der alle Phänomene des bekannten Universums abdeckt. Er geht sogar soweit, zu sagen, dass alle die zuvor genannten Komplexitätsstufen (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143) sich als Momente an diesem generischen Innovationsprozess erweisen lassen müssten.

3. Dieser generische Innovationsprozess ist dann allgemeiner als der übliche Emergenz-Begriff. Emergenz beschreibt üblicherweise das Auftreten spezifischer Komplexitätsstufen bzw. -eigenschaften im engeren Sinne und nicht einen generischen Prozess für alle diese Phänomene.

4. In Anlehnung an das bekannte Schema der genetischen Algorithmen (hier ein knapper Überblick zur historischen Entwicklung des Konzepts Genetischer Algorithmus (GA) sowie Classifier Systeme) stellt Denbigh letztlich drei charakterisierende Momente für seine Idee eines Innovationsprozesses vor: 1) Die Ereignisse sind zufällig ; sie sind 2) selektiv (bei biologischen Systemen oft noch verstärkt durch sexuell bedingte Vermischung im Erbmaterial (crossover)(s.160)); schließlich 3) verstärkend aufgrund des anschließenden Erfolges.
5. Er illustriert dieses Schema beim Übergang vom BigBang zu den ersten Gaswolken, dann zu den Sternen und Galaxien, dann bei der Molekülbildung, bei der Zellbildung, usw. Wichtig ist ihm auch, dass dieses Ereignismodell nicht an biologische Substrate gebunden ist, sondern eben von nicht-biologischen Systemen allgemein auch befolgt werden kann, speziell auch von modernen programmgesteuerten Maschinen (Computern).
6. Eine noch allgemeinere Charakterisierung ist jene, die diese schöpferischen Prozesse ansiedelt zwischen Ordnung und Unordnung. Ein Beispiel für hohe Ordnung wären die kristallinen Strukturen (sie sind für schöpferische Prozesse zu starr), und ein Beispiel für Unordnung wäre gasförmige Strukturen (sie sind für schöpferische Prozesse zu instabil, zu flüchtig). (Vgl.S.162f) Mit anderen Worten, bei allem Aufbau von Ordnung muss es hinreichend viel Rest-Unordnung geben, ansonsten kommen alle Prozesse zum Stillstand, oder: gefordert ist ein Zustand unterhalb maximaler Entropie.
7. Wie Denbigh auch in den vorausgehenden Kapiteln schon angedeutet hatte, sieht er spirituelle/ geistige Phänomene einschließlich des Bewusstseins als normale Phänomene des Naturprozesses. (Z.B. S.168f)
8. So sieht er die 6 Komplexitätsstufen von oben auch als Ausprägungen eines allgemeineren 3-stufigen Schemas (i) unbelebt , (ii) belebt sowie (iii) belebt mit wachsendem Bewusstsein. (Vgl. S.171)
9. Unter Voraussetzung seines 3-stufigen Innovationsmodells kann er dann das Bewusstsein als einen Prozess interpretieren, der die Fähigkeit zur Selektion für ein biologisches System dramatisch verbessert. (Vgl. S.163-165)
10. Denbigh kommt in diesem Kapitel auch nochmals auf die Problematik der nichtwissenschaftlichen Voraussetzungen der Wissenschaft zu sprechen, die ich in einem vorhergehenden Beitrag schon angesprochen hatte (der Beitrag war angeregt von der Lektüre von Denbigh).
11. Mit Zitaten von einigen berühmten Forschern und Philosophen thematisiert Denbigh nicht nur allgemein die häufig unreflektierte Voraussetzungsbehaftetheit von Wissenschaft, sondern spricht auch speziell die Tendenz des menschlichen Denkens an, die Prozesse der Natur zu verdinglichen. Während Messgeräte und unsere menschliche Wahrnehmung primär nur isolierte Ereignisse registrieren können, setzt unser Denken diese individuellen Ereignisse automatisch (sprich: unbewusst) zu abstrakten Strukturen zusammen, zu sogenannten Objekten, denen wir dann Eigenschaften und Beziehungen zuordnen. (Vgl. S.164f und Anmk.14) Auf einer größeren Zeitskala gibt es diese Objekte aber nicht, sondern da gibt es nur kontinuierliche Zustandsänderungen eines alles umfassenden Prozesses, dem man zwar Eigenschaften zuordnen kann, aber letztlich nicht isolierte Objekte. Berücksichtigt man diese Artefakten unseres Denkens, dann legt sich der Gedanken nahe, die gesamte Physik von diesem veränderten Blickwinkel aus zu betrachten und zu re-analysieren. Hier verweist Denbigh explizit auf die theoretischen Arbeiten des berühmten Physikers David Bohm (später in Kooperation mit Basil J.Hiley), dessen Ergebnisse nach vielen Jahren Arbeit Eingang in das Buch The Undivided Universe: An Ontological Interpretation of Quantum Theory gefunden haben.

12. Denbigh fasst die manifeste Schizophrenie der modernen Wissenschaft in ihrer Haltung zum Menschen in folgendes Bild: „Die moderne Wissenschaft ist ein gedankliches System, das zwar die kreative Kraft der Menschen umfassend dokumentiert, und doch macht sie den Menschen selbst zu einer Sache/ zu einem Ding (‚thing‘) – also zu einem Objekt, von dem die Wissenschaft annimmt, dass es über eine solche schöpferische Kraft gar nicht verfügt.“ (Anmk.22, S.173)

DISKUSSION

  1. Dieses Buch habe ich als extrem anregend empfunden. Es taucht viele bekannte Positionen in ein neues Licht.
  2. Erkenntnistheoretisch liegt es auf der Linie, die bislang im Blog vertreten wurde, nämlich dass man bei der Diskussion der verschiedenen Phänomene und Positionen die jeweiligen Bedingungen des Erkennens beachten sollte, wenn man zu einer Einschätzung kommen möchte. Und dazu reicht keine klassische Erkenntnistheorie, sondern man muss die  modernen Erkenntnisse aus Psychologie und Biologie einbeziehen. Die Warnung vor einer falschen Verdinglichung der Weltereinisse sollte ernst genommen werden.
  3. Ferner ist der bisherige Erklärungsansatz dieses Blogs über einen generellen Evolutionsbegriff in Übereinstimmung mit dem generellen Innovationsansatz von Denbigh. Tatsächlich erscheint Denbighs Ansatz noch radikaler, generischer.  Dies soll im weiteren mehr bedacht werden.
  4. Die klare Subsumierung alles Geistigen unter den allgemeinen Naturprozess entspricht auch der Linie im Blog. Dieses führt aber nicht — wie Denbigh auch klar herausstellt — zu einer Vereinfachung oder Abwertung des Geistigen sondern zu einem vertieften Verständnis  der potentiellen Vielfalt und Komplexität der Energie-Materie. Mit der unterschiedlichen Einordnung geht ja nicht das Phänomen verloren, sondern die begriffliche Einordnung muss neu justiert werden. Dies verlangt nicht nur eine Neupositionierung der bisherigen Geisteswissenschaften, sondern genauso auch eine Neupositionierung der Naturwissenschaften. Diese erweisen sich bislang aber als nicht minder dogmatisch wie die oft gescholtenen Geisteswissenschaften.

QUELLEN

  1. Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinbugh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.
  2. David Joseph Bohm FRS[1] (December 20, 1917 – October 27, 1992) was an American scientist who has been described as one of the most significant theoretical physicists of the 20th century[2] and who contributed innovative and unorthodox ideas to quantum theory, neuropsychology and the philosophy of mind.
  3. Basil J. Hiley (born 1935), is a British quantum physicist and professor emeritus of the University of London. He received the Majorana Prize „Best person in physics“ in 2012.
  4. Review von: „The Undivided Universe: An Ontological Interpretation of Quantum Theory“ von David Bohm and Basil J. Hiley, Routledge, London and New York, 1993. 397 pp. hc, ISBN 0–415–06588–7 durch Sheldon Goldstein, Department of Mathematics, Rutgers University, New Brunswick, NJ 08903, USA(July 28, 1994)

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Buch: Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab? – Kapitel 3-neu

VORBEMERKUNG: Der folgende Text ist ein Vorabdruck zu dem Buch Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab?, das im November 2015 erscheinen soll.

Hinter den Augen …

Das eingesperrte Gehirn

Die Antwort auf die Frage, warum Menschen so unterschiedlich wahrnehmen, warum sie dies tun und anderes lassen, liegt irgendwo da im ‚Inneren‘ des Menschen, dort, hinter seinen Augen, hinter seinem Gesicht, das mal lächelt, mal weint, mal zürnt; dort gibt es ‚geheimnisvolle Kräfte‘, die ihn, uns, Dich und mich, dazu bringen uns so zu verhalten, wie wir es erleben.

Wie die moderne Biologie uns in Gestalt der Gehirnforschung lehrt, ist es vor allem das Gehirn, in dem ca. 100 Milliarden einzelne neuronale Zellen miteinander ein Dauergespräch führen, dessen Nebenwirkungen die eine oder andere Handlung ist, die wir vornehmen.

Wenn wir uns auf die moderne Biologie einlassen, auf die Gehirnwissenschaft, erkennen wir sehr schnell, dass das Gehirn, das unser Verhalten bestimmt, selbst keinen Kontakt mit der Welt hat. Es ist im Körper eingeschlossen, quasi abgeschottet, isoliert von der Welt jenseits des Körpers.

Das Gehirn bezieht sein Wissen über die Welt jenseits der Gehirnzellen von einer Art von ‚Mittelsmännern‘, von speziellen Kontaktpersonen, von Übersetzern; dies sind unsere Sinnesorgane (Augen, Ohren, Haut, Geschmackszellen, Gleichgewichtsorgan, die bestimmte Ereignisse aus der Welt jenseits der Gehirnzellen in die ‚Sprache des Gehirns‘ übersetzen.(Anmerkung: Siehe: Sinnesorgan, Sensory Receptor, Sensory System)

Wenn wir sagen, dass wir Musik hören, wunderschöne Klänge, harmonisch oder dissonant, laut oder leise, hoch oder tief, mit unterschiedlichen Klangfarben, dann sind dies für das Gehirn ’neuronale Signale‘, elektrische Potentialänderungen, die man als ‚Signal‘ oder ‚Nicht-Signal‘ interpretieren kann, als ‚An‘ oder ‚Aus‘, oder einfach als ‚1‘ oder ‚0‘, allerdings zusätzlich eingebettet in eine ‚Zeitstruktur‘; innerhalb eines Zeitintervalls können ‚viele‘ Signale auftreten oder ‚wenige‘. Ferner gibt es eine ‚topologische‘ Struktur: das gleiche Signal kann an einem Ort im Gehirn ein ‚Klang‘ bedeuten, an einem anderen Ort eine ‚Bild‘, wieder an einem anderen Ort ein ‚Geschmack‘ oder ….

Was hier am Beispiel des Hörens gesagt wurde, gilt für alle anderen Sinnesorgane gleichermaßen: bestimmte physikalische Umwelteigenschaften werden von einem Sinnesorgan so weit ‚verarbeitet‘, dass am Ende immer alles in die Sprache des Gehirns, in die neuronalen ‚1en‘ und ‚0en‘ so übersetzt wird, so dass diese Signale zeitlich und topologisch geordnet zwischen den 100 Mrd Gehirnzellen hin und her wandern können, um im Gehirn Pflanzen, Tiere, Räume, Objekte und Handlungen jenseits der Gehirnzellen neuronal-binär repräsentieren zu können.

Alles, was in der Welt jenseits des Gehirns existiert (auch die anderen Körperorgane mit ihren Aktivitäten), es wird einheitlich in die neuronal-binäre Sprache des Gehirns übersetzt. Dies ist eine geniale Leistung der Natur(Anmerkung: Dass wir in unserem subjektiven Erleben keine ‚1en‘ und ‚0en‘ wahrnehmen, sondern Töne, Farben, Formen, Geschmäcker usw., das ist das andere ‚Wunder der Natur‘.) (siehe weiter unten.).

Die Welt wird zerschnitten

Diese Transformation der Welt in ‚1en‘ und ‚0en‘ ist aber nicht die einzige Übersetzungsbesonderheit. Wir wissen heute, dass die Sinnesinformationen für eine kurze Zeitspanne (in der Regel deutlich weniger als eine Sekunde) nach Sinnesarten getrennt in einer Art ‚Puffer‘ zwischen gespeichert werden. (Anmerkung: Siehe Sensory Memory) Von dort können sie für weitere Verarbeitungen übernommen werden. Ist die eingestellte Zeitdauer verstrichen, wird der aktuelle Inhalt von neuen Daten überschrieben. Das voreingestellte Zeitfenster (t1,t2) definiert damit, was ‚gleichzeitig‘ ist.

Faktisch wird die sinnlich wahrnehmbare Welt damit in Zeitscheiben ‚zerlegt‘ bzw. ‚zerschnitten‘. Was immer passiert, für das Gehirn existiert die Welt jenseits seiner Neuronen nur in Form von säuberlich getrennten Zeitscheiben. In Diskussionen, ob und wieweit ein Computer das menschliche Gehirn ’nachahmen‘ könnte, wird oft betont, der Computer sei ja ‚diskret‘, ‚binär‘, zerlege alles in 1en und 0en im Gegensatz zum ‚analogen‘ Gehirn. Die empirischen Fakten legen hingegen nahe, auch das Gehirn als eine ‚diskrete Maschine‘ zu betrachten.

Unterscheiden sich die ‚Inhalte‘ von Zeitscheiben, kann dies als Hinweis auf mögliche ‚Veränderungen‘ gedeutet werden.

Beachte: jede Sinnesart hat ihre eigene Zeitscheibe, die dann vom Gehirn zu ’sinnvollen Kombinationen‘ ‚verrechnet‘ werden müssen.

Die Welt wird vereinfacht

Für die Beurteilung, wie das Gehirn die vielen unterschiedlichen Informationen so zusammenfügt, auswertet und neu formt, dass daraus ein ’sinnvolles Verhalten‘ entsteht, reicht es nicht aus, nur die Gehirnzellen selbst zu betrachten, was zum Gegenstandsbereich der Gehirnwissenschaft (Neurowissenschaft) gehört. Vielmehr muss das Wechselverhältnis von Gehirnaktivitäten und Verhaltenseigenschaften simultan betrachtet werden. Dies verlangt nach einer systematischen Kooperation von wissenschaftlicher Verhaltenswissenschaft (Psychologie) und Gehirnwissenschaft unter der Bezeichnung Neuropsychologie. (Anmerkung: Siehe Neuropsychology)

Ein wichtiges theoretisches Konzept, das wir der Neuropsychologie verdanken, ist das Konzept des Gedächtnisses. (Anmerkung: Memory) Mit Gedächtnis wird die generelle Fähigkeit des Gehirns umschrieben, Ereignisse zu verallgemeinern, zu speichern, zu erinnern, und miteinander zu assoziieren.

Ausgehend von den oben erwähnten zeitlich begrenzten Sinnesspeichern unterteilt man das Gedächtnis z.B. nach der Zeitdauer (kurz, mittel, unbegrenzt), in der Ereignisse im Gedächtnis verfügbar sind, und nach der Art ihrer Nutzung. Im Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis kann eine kleine Zahl von Ereignissen im begrenzten Umfang verarbeitet und mit dem Langzeitgedächtnis in begrenztem Umfang ausgetauscht werden (speichern, erinnern). Die Kapazität von sinnespezifischen Kurzzeitspeicher und multimodalem Arbeitsgedächtnis liegt zwischen ca. 4 (im Kurzzeitgedächtnis) bis 9 (im Arbeitsgedächtnis) Gedächtniseinheiten. Dabei ist zu beachten, dass schon im Übergang vom oben erwähnten Sinnesspeichern zum Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis eine starke Informationsreduktion stattfindet; grob von 100% auf etwa 25%.

Nicht alles, was im Kurz- und Arbeitsgedächtnis vorkommt, gelangt automatisch ins Langzeitgedächtnis. Ein wichtiger Faktor, der zum Speichern führt, ist die ‚Verweildauer‘ im Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, und die ‚Häufigkeit‘ des Auftretens. Ob wir nach einer Speicherung etwas ‚wiederfinden‘ können, hängt ferner davon ab, wie ein Ereignis abgespeichert wurde. Je mehr ein Ereignis sich zu anderen Ereignissen in Beziehung setzen lässt, umso eher wird es erinnert. Völlig neuartige Ereignisse (z.B. die chinesischen Schriftzeichen in der Ordnung eines chinesischen Wörterbuches, wenn man Chinesisch neu lernt) können Wochen oder gar Monate dauern, bis sie so ‚verankert‘ sind, dass sie bei Bedarf ‚mühelos‘ erinnern lassen.

Ein anderer Punkt ist die Abstraktion. Wenn wir über alltägliche Situationen sprechen, dann benutzen wir beständig Allgemeinbegriffe wie ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘, ‚Tisch‘, ‚Mensch‘ usw. um über ‚konkrete individuelle Objekte‘ zu sprechen. So nennen wir ein konkretes rotes Etwas auf dem Tisch eine Tasse, ein anderen blaues konkretes Etwas aber auch, obgleich sie Unterschiede aufweisen. Desgleichen nennen wir ein ‚vertikales durchsichtiges Etwas‘ eine Flasche, ein vertikales grünliches Etwas auch; usw.

Unser Gedächtnis besitzt die wunderbare Eigenschaft, alles, was sinnlich wahrgenommen wird, durch einen unbewussten automatischen Abstraktionsprozess in eine abstrakte Struktur, in einen Allgemeinbegriff, in eine ‚Kategorie‘ zu übersetzen. Dies ist extrem effizient. Auf diese Weise kann das Gedächtnis mit einem einzigen Konzept hunderte, tausende, ja letztlich unendlich viele konkrete Objekte klassifizieren, identifizieren und damit weiter arbeiten.

Welt im Tresor

Ohne die Inhalte unseres Gedächtnisses würden wir nur in Augenblicken existieren, ohne vorher und nachher. Alles wäre genau das, wie es gerade erscheint. Nichts hätte eine Bedeutung.

Durch die Möglichkeit des ‚Speicherns‘ von Ereignisse (auch in den abstrakten Formen von Kategorien), und des ‚Erinnerns‘ können wir ‚vergleichen‘, können somit Veränderungen feststellen, können Abfolgen und mögliche Verursachungen erfassen, Regelmäßigkeiten bis hin zu Gesetzmäßigkeiten; ferner können wir Strukturen erfassen.

Eine Besonderheit sticht aber ins Auge: nur ein winziger Teil unseres potentiellen Wissens ist ‚aktuell verfügbar/ bewusst‘; meist weniger als 9 Einheiten! Alles andere ist nicht aktuell verfügbar, ist ’nicht bewusst‘!

Man kann dies so sehen, dass die schier unendliche Menge der bisher von uns wahrgenommenen Ereignisse im Langzeitgedächtnis weggesperrt ist wie in einem großen Tresor. Und tatsächlich, wie bei einem richtigen Tresor brauchen auch wir selbst ein Codewort, um an den Inhalt zu gelangen, und nicht nur ein Codewort, nein, wir benötigen für jeden Inhalt ein eigenes Codewort. Das Codewort für das abstrakte Konzept ‚Flasche‘ ist ein konkretes ‚Flaschenereignis‘ das — hoffentlich — genügend Merkmale aufweist, die als Code für das abstrakte Konzept ‚Flasche‘ dienen können.

Wenn über solch einen auslösenden Merkmalscode ein abstraktes Konzept ‚Flasche‘ aktiviert wird, werden in der Regel aber auch alle jene Konzepte ‚aktiviert‘, die zusammen mit dem Konzept ‚Flasche‘ bislang aufgetreten sind. Wir erinnern dann nicht nur das Konzept ‚Flasche‘, sondern eben auch all diese anderen Ereignisse.

Finden wir keinen passenden Code, oder wir haben zwar einen Code, aber aus irgendwelchen Emotionen heraus haben wir Angst, uns zu erinnern, passiert nichts. Eine Erinnerung findet nicht statt; Blockade, Ladehemmung, ‚blackout‘.

Bewusstsein im Nichtbewusstsein

Im Alltag denken wir nicht ‚über‘ unser Gehirn nach, sondern wir benutzen es direkt. Im Alltag haben wir subjektiv Eindrücke, Erlebnisse, Empfindungen, Gedanken, Vorstellungen, Fantasien. Wir sind ‚in‘ unserem Erleben, wir selbst ‚haben‘ diese Eindrücke. Es sind ‚unsere‘ Erlebnisse‘.

Die Philosophen haben diese Erlebnis- und Erkenntnisweise den Raum unseres ‚Bewusstseins‘ genannt. Sie sprechen davon, dass wir ‚Bewusstsein haben‘, dass uns die Ding ‚bewusst sind‘; sie nennen die Inhalte unseres Bewusstseins ‚Qualia‘ oder ‚Phänomene‘, und sie bezeichnen diese Erkenntnisperspektive den Standpunkt der ‚ersten Person‘ (‚first person view‘) im Vergleich zur Betrachtung von Gegenständen in der Außenwelt, die mehrere Personen gleichzeitig haben können; das nennen sie den Standpunkt der ‚dritten Person‘ (‚third person view‘) (Anmerkung: Ein Philosoph, der dies beschrieben hat, ist Thomas Nagel. Siehe zur Person: Thomas Nagel. Ein Buch von ihm, das hir einschlägig ist: ‚The view from nowhere‘, 1986, New York, Oxford University Press).

Nach den heutigen Erkenntnissen der Neuropsychologie gibt es zwischen dem, was die Philosophen ‚Bewusstsein‘ nennen und dem, was die Neuropsychologen ‚Arbeitsgedächtnis‘ nennen, eine funktionale Korrespondenz. Wenn man daraus schließen kann, dass unser Bewusstsein sozusagen die erlebte ‚Innenperspektive‘ des ‚Arbeitsgedächtnisses‘ ist, dann können wir erahnen, dass das, was uns gerade ‚bewusst‘ ist, nur ein winziger Bruchteil dessen ist, was uns ’nicht bewusst‘ ist. Nicht nur ist der potentiell erinnerbare Inhalt unseres Langzeitgedächtnisses viel größer als das aktuell gewusste, auch die Milliarden von Prozessen in unserem Körper sind nicht bewusst. Ganz zu schweigen von der Welt jenseits unseres Körpers. Unser Bewusstsein gleicht damit einem winzig kleinen Lichtpunkt in einem unfassbar großen Raum von Nicht-Bewusstsein. Die Welt, in der wir bewusst leben, ist fast ein Nichts gegenüber der Welt, die jenseits unseres Bewusstseins existiert; so scheint es.

Außenwelt in der Innenwelt

Der Begriff ‚Außenwelt‘, den wir eben benutzt haben, ist trügerisch. Er gaukelt vor, als ob es da die Außenwelt als ein reales Etwas gibt, über das wir einfach so reden können neben dem Bewusstsein, in dem wir uns befinden können.

Wenn wir die Erkenntnisse der Neuropsychologie ernst nehmen, dann findet die Erkenntnis der ‚Außenwelt‘ ‚in‘ unserem Gehirn statt, von dem wir wissen, dass es ‚in‘ unserem Körper ist und direkt nichts von der Außenwelt weiß.

Für die Philosophen aller Zeiten war dies ein permanentes Problem. Wie kann ich etwas über die ‚Außenwelt‘ wissen, wenn ich mich im Alltag zunächst im Modus des Bewusstseins vorfinde?

Seit dem Erstarken des empirischen Denkens — spätestens seit der Zeit Galileis (Anmerkung: Galilei) — tut sich die Philosophie noch schwerer. Wie vereinbare ich die ‚empirische Welt‘ der experimentellen Wissenschaften mit der ’subjektiven Welt‘ der Philosophen, die auch die Welt jedes Menschen in seinem Alltag ist? Umgekehrt ist es auch ein Problem der empirischen Wissenschaften; für den ’normalen‘ empirischen Wissenschaftler ist seit dem Erstarken der empirischen Wissenschaften die Philosophie obsolet geworden, eine ’no go area‘, etwas, von dem sich der empirische Wissenschaftler fernhält. Dieser Konflikt — Philosophen kritisieren die empirischen Wissenschaften und die empirischen Wissenschaften lehnen die Philosophie ab — ist in dieser Form ein Artefakt der Neuzeit und eine Denkblokade mit verheerenden Folgen.

Die empirischen Wissenschaften gründen auf der Annahme, dass es eine Außenwelt gibt, die man untersuchen kann. Alle Aussagen über die empirische Welt müssen auf solchen Ereignissen beruhen, sich im Rahmen eines beschriebenen ‚Messvorgangs‘ reproduzieren lassen. Ein Messvorgang ist immer ein ‚Vergleich‘ zwischen einem zuvor vereinbarten ‚Standard‘ und einem ‚zu messenden Phänomen‘. Klassische Standards sind ‚das Meter‘, ‚das Kilogramm‘, ‚die Sekunde‘, usw. (Anmerkung: Siehe dazu: Internationales Einheitensystem) Wenn ein zu messendes Phänomen ein Objekt ist, das z.B. im Vergleich mit dem Standard ‚Meter [m]‘ die Länge 3m aufweist, und jeder, der diese Messung wiederholt, kommt zum gleichen Ergebnis, dann wäre dies eine empirische Aussage über dieses Objekt.

Die Einschränkung auf solche Phänomene, die sich mit einem empirischen Messstandard vergleichen lassen und die von allen Menschen, die einen solchen Messvorgang wiederholen, zum gleichen Messergebnis führen, ist eine frei gewählte Entscheidung, die methodisch motiviert ist. Sie stellt sicher, dass man zu einer Phänomenmenge kommt, die allen Menschen(Anmerkung: die über gleiche Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Denkens verfügen. Blinde Menschen, taube Menschen usw. könnten hier Probleme bekommen!“> … in gleicher Weise zugänglich und für diese nachvollziehbar ist. Erkenntnisse, die allen Menschen in gleicher Weise zugänglich und nachprüfbar sind haben einen unbestreitbaren Vorteil. Sie können eine gemeinsame Basis in einer ansonsten komplexen verwirrenden Wirklichkeit bieten.

Die ‚Unabhängigkeit‘ dieser empirischen Messvorgänge hat im Laufe der Geschichte bei vielen den Eindruck vertieft, als ob es die ‚vermessene Welt‘ außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein als eigenständiges Objekt gibt, und dass die vielen ‚rein subjektiven‘ Empfindungen, Stimmungen, Vorstellungen im Bewusstsein, die sich nicht direkt in der vermessbaren Welt finden, von geringerer Bedeutung sind, unbedeutender ’subjektiver Kram‘, der eine ‚Verunreinigung der Wissenschaft‘ darstellt.

Dies ist ein Trugschluss mit verheerenden Folgen bis in die letzten Winkel unseres Alltags hinein.

Der Trugschluss beginnt dort, wo man übersieht, dass die zu messenden Phänomene auch für den empirischen Wissenschaftler nicht ein Sonderdasein führen, sondern weiterhin nur Phänomene seines Bewusstseins sind, die ihm sein Gehirn aus der Sinneswahrnehmung ‚herausgerechnet‘ hat. Vereinfachend könne man sagen, die Menge aller Phänomene unseres Bewusstseins — nennen wir sie PH — lässt sich aufteilen in die Teilmenge jener Phänomene, auf die sich Messoperationen anwenden lassen, das sind dann die empirischen Phänomene PH_EMP, und jene Phänomene, bei denen dies nicht möglich ist; dies sind dann die nicht-empirischen Phänomene oder ‚rein subjektiven‘ Phänomene PH_NEMP. Die ‚Existenz einer Außenwelt‘ ist dann eine Arbeitshypothese, die zwar schon kleine Kindern lernen, die aber letztlich darauf basiert, dass es Phänomene im Bewusstsein gibt, die andere Eigenschaften haben als die anderen Phänomene.

In diesen Zusammenhang gehört auch das Konzept unseres ‚Körpers‘, der sich mit den empirischen Phänomenen verknüpft.

Der Andere als Reflektor des Selbst

Bislang haben wir im Bereich der Phänomene (zur Erinnerung: dies sind die Inhalte unseres Bewusstseins) unterschieden zwischen den empirischen und den nicht-empirischen Phänomenen. Bei genauerem Hinsehen kann man hier viele weitere Unterscheidungen vornehmen. Uns interessiert hier nur der Unterschied zwischen jenen empirischen Phänomenen, die zu unserem Körper gehören und jenen empirischen Phänomenen, die unserem Körper ähneln, jedoch nicht zu uns, sondern zu jemand ‚anderem‘ gehören.

Die Ähnlichkeit der Körperlichkeit des ‚anderen‘ zu unserer Körperlichkeit bietet einen Ansatzpunkt, eine ‚Vermutung‘ ausbilden zu können, dass ‚in dem Körper des anderen‘ ähnliche innere Ereignisse vorkommen, wie im eigenen Bewusstsein. Wenn wir gegen einen harten Gegenstand stoßen, dabei Schmerz empfinden und eventuell leise aufschreien, dann unterstellen wir, dass ein anderer, wenn er mit seinem Körper gegen einen Gegenstand stößt, ebenfalls Schmerz empfindet. Und so in vielen anderen Ereignissen, in denen der Körper eine Rolle spielt(Anmerkung: Wie wir mittlerweile gelernt haben, gibt es Menschen, die genetisch bedingt keine Schmerzen empfinden, oder die angeboren blind oder taub sind, oder die zu keiner Empathie fähig sind, usw.“> … .

Generalisiert heißt dies, dass wir dazu neigen, beim Auftreten eines Anderen Körpers unser eigenes ‚Innenleben‘ in den Anderen hinein zu deuten, zu projizieren, und auf diese Weise im anderen Körper ‚mehr‘ sehen als nur einen Körper. Würden wir diese Projektionsleistung nicht erbringen, wäre ein menschliches Miteinander nicht möglich. Nur im ‚Übersteigen‘ (‚meta‘) des endlichen Körpers durch eine ‚übergreifende‘ (‚transzendierende‘) Interpretation sind wir in der Lage, den anderen Körper als eine ‚Person‘ zu begreifen, die aus Körper und Seele, aus Physis und Psyche besteht.

Eine solche Interpretation ist nicht logisch zwingend. Würden wir solch eine Interpretation verweigern, dann würden wir im Anderen nur einen leblosen Körper sehen, eine Ansammlung von unstrukturierten Zellen. Was immer der Andere tun würde, nichts von alledem könnte uns zwingen, unsere Interpretation zu verändern. Die ‚personale Wirklichkeit des Anderen‘ lebt wesentlich von unserer Unterstellung, dass er tatsächlich mehr ist als der Körper, den wir sinnlich wahrnehmen können.

Dieses Dilemma zeigt sich sehr schön in dem berühmten ‚Turing Test'(Anmerkung: Turing-Test, den Alan Matthew Turing 1950 vorgeschlagen hatte, um zu testen, wie gut ein Computer einen Menschen imitiere kann. (Anmerkung: Es war in dem Artikel: „Alan Turing: Computing Machinery and Intelligence“, Mind 59, Nr. 236, Oktober 1950, S. 433–460) Da man ja ‚den Geist‘ selbst nicht sehen kann, sondern nur die Auswirkungen des Geistes im Verhalten, kann man in dem Test auch nur das Verhalten eines Menschen neben einem Computer beobachten, eingeschränkt auf schriftliche Fragen und Antworten. (Anmerkung: heute könnte man dies sicher ausdehnen auf gesprochene Fragen und Antworten, eventuell kombiniert mit einem Gesicht oder gar mehr“) Die vielen Versuche mit diesem Test haben deutlich gemacht — was man im Alltag auch ohne diesen Test sehen kann –, dass das beobachtbare Verhalten eines Akteurs niemals ausreicht, um logisch zwingend auf einen ‚echten Geist‘, sprich auf eine ‚echte Person‘ schließen zu können. Daraus folgt nebenbei, dass man — sollte es jemals hinreichend intelligente Maschinen geben — niemals zwingend einen Menschen, nur aufgrund seines Verhaltens, von einer intelligenten Maschine unterscheiden könnte.

Rein praktisch folgt aus alledem, dass wir im Alltag nur dann und solange als Menschen miteinander umgehen können, solange wir uns wechselseitig ‚Menschlichkeit‘ unterstellen, an den ‚Menschen‘ im anderen glauben, und mein Denken und meine Gefühle hinreichend vom Anderen ‚erwidert‘ werden. Passiert dies nicht, dann muss dies noch nicht eine völlige Katastrophe bedeuten, aber auf Dauer benötigen Menschen eine minimale Basis von Gemeinsamkeiten, auf denen sie ihr Verhalten aufbauen können.

Im positiven Fall können Unterschiede zwischen Menschen dazu führen, dass man sich wechselseitig anregt, man durch die Andersartigkeit ‚Neues‘ lernen kann, man sich weiter entwickelt. Im negativen Fall kann es zu Missverständnissen kommen, zu Verletzungen, zu Aggressionen, gar zur wechselseitigen Zerstörung. Zwingend ist keines von beidem.

Fortsetzung mit Kapitel 4 (neu).

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