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WARUM ES IMMER MEHR ALS EINE MEINUNG GIBT… Eine Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.April 2021
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Es ist schon immer eine Alltagserfahrung, dass es viele Sichtweisen zu ein und derselben Sache gibt. Dort, wo es ‚um nichts zu gehen scheint‘, da kann man mit einem Achselzucken, einem Lächeln, mit einer humorvollen Bemerkung den Unterschied kommentieren, überspielen, auf sich beruhen lassen.

Wenn es aber um etwas geht, gar um ‚Leben und Tod‘, ist das Lächeln und Wegschauen nicht mehr ganz so einfach. Dann werden viele Mitbürger aufgeregter, wütend, intoleranter, aggressiv, bis dahin, dass sie sich zu Gewaltakten hinreißen lassen.

CORONA TIMES

In Corona-Times ist dies nicht anders und die Gegensätze tendieren dazu, schroffer zu werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Vielzahl der Meinungen auf allen Ebenen gegenwärtig zu sein scheint: Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik erwecken nicht den Eindruck einer erleuchteten Gemeinschaft , die an einem Strang zieht; Medien liefern nur das ab, was die Gesellschaft selbst ist: ein vielfarbiges Bild an Meinungen, und die Wissenschaft, die in diesen Zeiten in einer Wiese zusammenarbeitet wie noch nie zuvor, bietet ‚per se‘ ein facettenreiches Bild, weil Wissenschaft ja gerade davon lebt, ungeklärte Fragen durch viele Experimente und Versuche schrittweise aufzuhellen; wäre alles von vornherein klar, dann bräuchte es keine Wissenschaft.

WISSENSCHAFT UND ALLTAG

Doch, hier gibt es einen qualitativen Unterschied, den die meisten, die mit Wissenschaft nicht vertraut sind, leicht übersehen: während die Wissenschaft methodisch geleitet versucht, in vielen kleinen Schritten und durch Vernetzung untereinander die vielen Puzzlesteine zusammen zu tragen, um zu einem zusammenhängenden Bild zu kommen, das immer wieder an einzelnen Stellen korrigiert wird, missverstehen viele Menschen diesen organisierten Such-, Kommunikations- und Korrekturprozess als ‚Nichtwissen‘, als ‚Beliebig‘. Und sie ziehen daraus den Schluss, dass es sowieso keine allgemeine Wahrheit gibt, also können sie ihre — meist sehr zufälligen — privaten Meinung als die neue Wahrheit in die Welt tragen.

WIR SIND DIE EINGEBORENEN

Diese heute sehr verbreitete Denkweise, fällt aber nicht irgendwie ‚vom Himmel‘. Sie ist vielmehr in jedem Menschen, in der Verstehensstruktur eines jeden Menschen angelegt, dort, wo unser Gehirn sitzt, das — ohne uns zu fragen, unbewusst, vollautomatisch — die Eindrücke der Welt (und des eigenen Körpers) ‚verarbeitet‘.

Eine Grundeigenschaft unseres Gehirns ist es, dass es aus der Vielzahl unserer Wahrnehmungen eine Struktur heraus lösen muss, die für das Verhalten im Alltag ‚brauchbar‘ ist, letztlich unser Überleben sichert. Und da das, was ein Gehirn wahrnimmt, durchgängig niemals ‚eindeutig‘ sondern ‚vieldeutig‘ ist, muss es ständig Entscheidungen fällen, was es denn gerade wahrnimmt. Bei diesen Entscheidungen spielt das ‚Vorwissen‘, die aktuellen ‚Bedürfnisse, Emotionen‘ usw. eine sehr große Rolle. Wer mit Sehschwächen ohne Brillen umher geht, vielleicht jogged, kann dies leicht testen: alles, was man nicht sofort klar erkennen kann, wird vom Gehirn automatisch ‚gedeutet‘. Fast nie erkennt das Gehirn das, was sich vor einem als undefiniertes Etwas zeigt, als das, was es wirklich ist. Im Alltag fällt einem das kaum auf. Einem möglichen Beobachter, der zuschaut, was wir tun, sehr wohl. Wir sind in der ‚Schleife unserer Voreinstellungen‘ gefangen.

WIR — UNSICHTBAR — VIELE

Wenn also verschiedene Personen in einer Situation aufeinander treffen, sieht erst einmal jeder, was ‚er/sie/x‘ gerade sieht, und das ist ’normal‘. Solange man sich dieser Sachverhalte nicht bewusst wird, kann dies aber sehr schnell zu Missverständnisse, Verdächtigungen, Beschimpfungen usw. führen: jeder glaubt halt an das, was in seinem Kopf ist, ohne sich klar zu machen, dass genau das, was in seinem Kopf ist, normalerweise weniger mit der Welt zu tun hat, die außerhalb des Kopfes ist, sondern mit der Welt, die das eigene Gehirn in großer Fleißarbeit in jeder Sekunde, ja Millisekunde, für uns ausrechnet.

UMGANG MIT VIELDEUTIGKEIT

Die große Errungenschaft der modernen Wissenschaft — nachdem es schon ca. 300.000 Jahre unsere Lebensform, den homo sapiens gegeben hat — besteht darin, diesen fundamentalen Sachverhalt auf pragmatischem Wege erkannt zu haben und seitdem versucht, durch systematisches Vorgehen, den eigenen — letztlich unentrinnbaren — Vorurteilen stückweise zu entkommen. Es zählt halt nur, was auch andere so wahrnehmen können wie ich; dass es nach bestimmten Verfahren reproduzierbar sein muss; dass die allgemeinen Aussagen, die man aufgrund von Einzelbeobachtungen als Arbeitshypothesen formuliert, sich dann auch im Einsatz nachprüfbar bewähren. Ein sehr mühsames Geschäft, aber doch seit gut 200 Jahren mit beeindruckenden Erfolgen.

WISSENSCHAFTSUNFÄHIG

Dass heute immer mehr Menschen — auch nicht wenige sogenannte ‚Akademiker‘ — dies nicht mehr verstehen, Wissenschaft gering schätzen, und lieber ihren ad-hoc Einbildungen vertrauen, ist ein gefährliches Verhaltensprogramm. Ein solches aus Dummheit geborenes Verhaltensprogramm kann alles an lebenswerten Strukturen zerstören, die mühsam im Laufe der letzten Jahrhunderte aufgebaut wurde. Es zeigt, wie fragil menschliche Kultur ist…

Wahrheit ist kein Selbstläufer. Eine eigene Meinung als solche ist weder wahr noch falsch. Qualität erfordert viel Wissen, viel Disziplin, ein geordnetes, koordiniertes Vorgehen von vielen Experten gleichzeitig über einen längeren Zeitraum. So etwas muss mühsam gelernt und eingeübt werden. Dafür braucht man ein sehr leistungsfähiges und lebensbejahendes Bildungssystem, das von allen geschätzt und mitgetragen wird …

EPILOG

Leben war noch nie einfach … bislang gibt es uns trotzdem …

DER AUTOR

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VERANTWORTUNGSBEWUSSTE DIGITALISIERUNG: Fortsezung 1

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

So 16.Februar 2020

KONTEXT DEMOKRATIE

In einem vorausgehenden Beitrag hatte ich am Beispiel der Demokratie aufgezeigt, welche zentrale Rolle eine gemeinsame funktionierende Öffentlichkeit spielt. Ohne eine solche ist Demokratie nicht möglich. Entspechend der Komplexität einer Gesellschaft muss die große Mehrheit der Bürger daher über ein hinreichendes Wissen verfügen, um sich qualifiziert am Diskurs beteiligen und auf dieser Basis am Geschehen verantwortungsvoll partizipieren zu können. Eine solche Öffentlichkeit samt notwendigem Bildungsstand scheint in den noch existierenden Demokratien stark gefährdet zu sein. Nicht ausdrücklich erwähnt wurde in diesem Beitrag die Notwendigkeit von solchen Emotionen und Motivationen, die für das Erkennen, Kommunizieren und Handeln gebraucht werden; ohne diese nützt das beste Wissen nichts.

KONTEXT DIGITALISIERUNG

In einem Folgebeitrag hatte ich das Phänomen der Digitalisierung aus der Sicht des Benutzers skizziert, wie eine neue Technologie immer mehr eine Symbiose mit dem Leben der Gesellschaft eingeht, einer Symbiose, der man sich kaum oder gar nicht mehr entziehen kann. Wo wird dies hinführen? Löst sich unsere demokratische Gesellschaft als Demokratie schleichend auf? Haben wir überhaupt noch eine funktionierende Demokratie?

PARTIZIPATION OHNE DEMOKRATIE?

Mitten in den Diskussionen zu diesen Fragen erreichte mich das neue Buch von Manfred Faßler Partizipation ohne Demokratie (2020), Fink Verlag, Paderborn (DE). Bislang konnte ich Kap.1 lesen. In großer Intensität, mit einem in Jahrzehnten erarbeiteten Verständnis des Phänomens Digitalisierung und Demokratie, entwirft Manfred Faßler in diesem Kapitel eine packende Analyse der Auswirkungen des Phänomens Digitalisierung auf die Gesellschaft, speziell auch auf eine demokratische Gesellschaft. Als Grundidee entnehme ich diesem Kapitel, dass der Benutzer (User) in Interaktion mit den neuen digitalen Räumen subjektiv zwar viele Aspekte seiner realweltlichen sozialen Interaktionen wiederfindet, aber tatsächlich ist dies eine gefährliche Illusion: während jeder User im realweltlichen Leben als Bürger in einer realen demokratischen Gesellschaft lebt, wo es der Intention der Verfassung nach klare Rechte gibt, Verantwortlichkeiten, Transparenz, Kontrolle von Macht, ist der Bürger in den aktuellen digitalen Räumen kein Bürger, sondern ein User, der nahezu keine Rechte hat. Als User glaubt man zwar, dass man weiter ein Bürger ist, aber die individuellen Interaktionen mit dem digitalen Raum bewegen sich in einem weitgehend rechtlosen und demokratiefreiem Raum. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen kaschieren diesen Zustand durch unendliche lange Texte, die kaum einer versteht; sprechen dem User nahezu alle Rechte ab, und lassen sich kaum bis gar nicht einklagen, jedenfalls nicht in einem Format, das der User praktisch einlösen könnte. Dazu kommt, dass der digitale Raum des Users ein geliehener Raum ist; die realen Maschinen und Verfügungsgewalten liegen bei Eignern, die jenseits der gewohnten politischen Strukturen angesiedelt sind, die sich eher keiner demokratischen Ordnung verpflichtet fühlen, und die diese Verfügungsgewalt — so zeigt es die jüngste Geschichte — skrupellos an jeden verkaufen, der dafür Geld bezahlt, egal, was er damit macht.

Das bisherige politische System scheint die Urgewalt dieser Prozesse noch kaum realisiert zu haben. Es denkt noch immer in den klassischen Kategorien von Gesellschaft und Demokratie und merkt nicht, wie Grundpfeiler der Demokratie täglich immer mehr erodieren. Kapitel 1 von Faßlers Buch ist hier schonungslos konkret und klar.

LAGEPLAN DEMOKRATISCHE DIGITALISIERUNG

Möglicher Lageplan zur Auseinandersetzung zwischen nicht-demokratischer und demokratischer Digitalisierung

Erschreckend ist, wie einfach die Strategie funktioniert, den einzelnen bei seinen individuellen privaten Bedürfnissen abzuholen, ihm vorzugaukeln, er lebe in den aktuellen digitalen Räumen so wie er auch sonst als Bürger lebe, nur schneller, leichter, sogar freier von üblichen analogen Zwängen, obwohl er im Netz vieler wichtiger realer Recht beraubt wird, bis hin zu Sachverhalten und Aktionen, die nicht nur nicht demokratisch sind, sondern sogar in ihrer Wirkung eine reale Demokratie auflösen können; alles ohne Kanonendonner.

Es mag daher hilfreich sein, sich mindestens die folgenden Sachverhalte zu vergegenwärtigen:

  • Verankerung in der realen Welt
  • Zukunft gibt es nicht einfach so
  • Gesellschaft als emergentes Phänomen
  • Freie Kommunikation als Lebensader

REALE KÖRPERWELT

Fasziniert von den neuen digitalen Räumen kann man schnell vergessen, dass diese digitalen Räume als physikalische Zustände von realen Maschinen existieren, die reale Energie verbrauchen, reale Ressourcen, und die darin nicht nur unseren realen Lebensraum beschneiden, sondern auch verändern.

Diese physikalische Dimension interagiert nicht nur mit der übrigen Natur sehr real, sie unterliegt auch den bisherigen alten politischen Strukturen mit den jeweiligen nationalen und internationalen Gesetzen. Wenn die physikalischen Eigentümer nach alter Gesetzgebung in realen Ländern lokalisiert sind, die sich von den Nutzern in demokratischen Gesellschaften unterscheiden, und diese Eigentümer nicht-demokratische Ziele verfolgen, dann sind die neuen digitalen Räume nicht einfach nur neutral, nein sie sind hochpolitisch. Diese Sachverhalte scheinen in der europäischen Politik bislang kaum ernsthaft beachtet zu werden; eher erwecken viele Indizien den Eindruck, dass viele politische Akteure so handeln, als ob sie Angestellte jener Eigner sind, die sich keiner Demokratie verpflichtet fühlen (Ein Beispiel von vielen: die neue Datenschutz-Verordnung DSGVO versucht erste zaghafte Schritte zu unternehmen, um der Rechtlosigkeit der Bürger als User entgegen zu wirken, gleichzeitig wird diese DSGVO von einem Bundesministerium beständig schlecht geredet …).

ZUKUNFT IST KEIN GEGENSTAND

Wie ich in diesem Blog schon mehrfach diskutiert habe, ist Zukunft kein übliches Objekt. Weil wir über ein Gedächtnis verfügen, können wir Aspekte der jeweiligen Gegenwart speichern, wieder erinnern, unsere Wahrnehmung interpretieren, und durch unsere Denkfähigkeit Muster, Regelhaftigkeiten identifizieren, denken, und neue mögliche Kombinationen ausmalen. Diese neuen Möglichkeiten sind aber nicht die Zukunft, sondern Zustände unseres Gehirns, die auf der Basis der Vergangenheit Spekulationen über eine mögliche Zukunft bilden. Die Physik und die Biologie samt den vielen Begleitdisziplinen haben eindrucksvoll gezeigt, was ein systematischer Blick zurück zu den Anfängen des Universums (BigBang) und den Anfängen des Lebens (Entstehung von Zellen aus Molekülen) an Erkenntnissen hervor bringen kann. Sie zeigen aber auch, dass die Erde selbst wie das gesamt biologische Leben ein hochkomplexes System ist, das sich nur sehr begrenzt voraus sagen lässt. Spekulationen über mögliche zukünftige Zustände sind daher nur sehr begrenzt möglich.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass das Denken selbst kein Automatismus ist. Neben den vielen gesellschaftlichen Faktoren und Umweltfaktoren, die auf unser Denken einwirken, hängt unser Denken in seiner Ausrichtung entscheidend auch von unseren Bedürfnissen, Emotionen, Motiven und Zielvorstellungen ab. Wirkliche Innovationen, wirkliche Durchbrüche sind keine Automatismen. Sie brauchen Menschen, die resistent sind gegen jeweilige ‚Mainstreams‘, die mutig sind, sich mit Unbekanntem und Riskantem auseinander zu setzen, und vieles mehr. Solche Menschen sind keine ‚Massenware’…

GESELLSCHAFT ALS EMERGENTES PHÄNOMEN

Das Wort ‚Emergenz‘ hat vielfach eine unscharfe Bedeutung. In einer Diskussion des Buches von Miller und Page (2007) Complex Adaptive Systems. An Introduction to Computational Models of Social Life habe ich für meinen Theoriezusammenhang eine Definition vorgeschlagen, die die Position von Miller und Page berücksichtigt, aber auch die Position von Warren Weaver (1958), A quarter century in then natural sciences. Rockefeller Foundation. Annual Report,1958, pages 7–15, der von Miller und Page zitiert wird.

Die Grundidee ist die, dass ein System, das wiederum aus vielen einzelnen Systemen besteht, dann als ein organisiertes System verstanden wird, wenn das Wegnehmen eines einzelnen Systems das Gesamtverhalten des Systems verändert. Andererseits soll man aber durch die Analyse eines einzelnen Mitgliedssystems auch nicht in der Lage sein, auf das Gesamtverhalten schließen zu können. Unter diesen Voraussetzungen soll das Gesamtverhalten als emergent bezeichnet werden: es existiert nur, wenn alle einzelnen Mitgliedssysteme zusammenwirken und es ist nicht aus dem Verhalten einzelner Systeme alleine ableitbar. Wenn einige der Mitgliedssysteme zudem zufällige oder lernfähige Systeme sind, dann ist das Gesamtverhalten zusätzlich begründbar nicht voraussagbar.

Das Verhalten sozialer Systeme ist nach dieser Definition grundsätzlich emergent und wird noch dadurch verschärft, dass seine Mitgliedssysteme — individuelle Personen wie alle möglichen Arten von Vereinigungen von Personen — grundsätzlich lernende Systeme sind (was nicht impliziert, dass sie ihre Lernfähigkeit ’sinnvoll‘ nutzen). Jeder Versuch, die Zukunft sozialer Systeme voraus zu sagen, ist von daher grundsätzlich unmöglich (auch wenn wir uns alle gerne der Illusion hingeben, wir könnten es). Die einzige Möglichkeit, in einer freien Gesellschaft, Zukunft ansatzweise zu erarbeiten, wären Systeme einer umfassenden Partizipation und Rückkopplung aller Akteure. Diese Systeme gibt es bislang nicht, wären aber mit den neuen digitalen Technologien eher möglich.

FREIE KOMMUNIKATION UND BILDUNG

Die kulturellen Errungenschaften der Menschheit — ich zähle Technologie, Bildungssysteme, Wirtschaft usw. dazu — waren in der Vergangenheit möglich, weil die Menschen gelernt hatten, ihre kognitiven Fähigkeiten zusammen mit ihrer Sprache immer mehr so zu nutzen, dass sie zu Kooperationen zusammen gefunden haben: Die Verbindung von vielen Fähigkeiten und Ressourcen, auch über längere Zeiträume. Alle diese Kooperationen waren entweder möglich durch schiere Gewalt (autoritäre Gesellschaften) oder durch Einsicht in die Sachverhalte, durch Vertrauen, dass man das Ziel zusammen schon irgendwie erreichen würde, und durch konkrete Vorteile für das eigene Leben oder für das Leben der anderen, in der Gegenwart oder in der möglichen Zukunft.

Bei aller Dringlichkeit dieser Prozesse hingen sie zentral von der möglichen Kommunikation ab, vom Austausch von Gedanken und Zielen. Ohne diesen Austausch würde nichts passieren, wäre nichts möglich. Nicht umsonst diagnostizieren viele Historiker und Sozialwissenschaftler den Übergang von der alten zur neuen empirischen Wissenschaft in der Veränderung der Kommunikation, erst Recht im Übergang von vor-demokratischen Gesellschaften zu demokratischen Gesellschaften.

Was aber oft zu kurz kommt, das ist die mangelnde Einsicht in den engen Zusammenhang zwischen einer verantwortlichen Kommunikation in einer funktionierenden Demokratie und dem dazu notwendigen Wissen! Wenn ich eine freie Kommunikation in einer noch funktionierenden Demokratie haben würde, und innerhalb dieser Diskussion würden nur schwachsinnige Inhalte transportiert, dann nützt solch eine Kommunikation natürlich nichts. Eine funktionierende freie Kommunikation ist eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, aber die Verfügbarkeit von angemessenen Weltbildern, qualitativ hochwertigem Wissen bei der Mehrheit der Bürger (nicht nur bei gesellschaftlichen Teilgruppen, die sich selbst als ‚Eliten‘ verstehen) ist genauso wichtig. Beides gehört zusammen. Bei der aktuellen Zersplitterung aller Wissenschaften, der ungeheuren Menge an neuem Wissen, bei den immer schneller werdenden Innovationszyklen und bei der zunehmenden ‚Fragmementierung der Öffentlichkeit‘ verbunden mit einem wachsenden Misstrauen untereinander, ist das bisherige Wissenssystem mehr und mehr nicht nur im Stress, sondern möglicherweise kurz vor einem Kollaps. Ob es mit den neuen digitalen Technologien hierfür eine spürbare Unterstützung geben könnte, ist aktuell völlig unklar, da das Problem als solches — so scheint mir — noch nicht genügend gesellschaftlich erkannt ist und diskutiert wird. Außerdem, ein Problem erkennen ist eines, eine brauchbare Lösung zu finden etwas anderes. In der Regel sind die eingefahrenen Institutionen wenig geeignet, radikal neue Ansätzen zu denken und umzusetzen. Alte Denkgewohnheiten und das berühmte ‚Besitzstanddenken‘ sind wirkungsvolle Faktoren der Verhinderung.

AUSBLICK

Die vorangehenden Gedanken mögen auf manche Leser vielleicht negativ wirken, beunruhigend, oder gar deprimierend. Bis zum gewissen Grad wäre dies eine natürliche Reaktion und vielleicht ist dies auch notwendig, damit wir alle zusammen uns wechselseitig mehr helfen, diese Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Der Verfasser dieses Textes ist trotz all dieser Schwierigkeiten, die sich andeuten, grundlegend optimistisch, dass es Lösungen geben kann, und dass es auch — wie immer in der bisherigen Geschichte des Lebens auf der Erde — genügend Menschen geben wird, die die richtigen Ideen haben werden, und es Menschen gibt, die sie umsetzen. Diese Fähigkeit zum Finden von neuen Lösungen ist eine grundlegende Eigenschaft des biologischen Lebens. Dennoch haben Kulturen immer die starke Tendenzen, Ängste und Kontrollen auszubilden statt Vertrauen und Experimentierfreude zu kultivieren.

Wer sich das Geschehen nüchtern betrachtet, der kann auf Anhieb eine Vielzahl von interessanten Optionen erkennen, sich eine Vielzahl von möglichen Prozessen vorstellen, die uns weiter führen könnten. Vielleicht kann dies Gegenstand von weiteren Beiträgen sein.

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Brexit – Computerinterface – Zukunft. Wie hängt dies zusammen?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
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Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de
19.-20.Oktober 2019

Aktualisierung: 3.Nov.2019 auf dieser Seite

LEITGEDANKE

Wenn das, was wir nicht sehen, darüber entscheidet, was wir sehen,
dann lohnt es sich, für einen Moment inne zu halten, und sich darüber klar
zu werden, was wir tun, wenn wir versuchen, die Welt zu verstehen.

INHALT

1 Der Brexit als Lehrstück … 1
2 Das Unsichtbare in Allem 3
3 Computer-Interface als ein Stück Alltag 4
4 Wir als Teil von BIOM I und II 6
5 Homo Sapiens im Blindflug? 9
6 Epilog 11

DOKUMENT (PDF)

KURZKOMMENTAR

Der Text des Dokuments ist das Ergebnis von all den vorausgegangenen Blogeinträgen bis jetzt! Es ist die erste Zusammenschließung von verschiedenen großen Themen, die bislang im Blog getrennt diskutiert wurden. Es ist die große ‚Vereinheitlichung‘ von nahezu allem, was der Autor bislang kennt. Vielleicht gelingt es, dieser Grundintention folgend, diesen Ansatz weiter auszuarbeiten.

KURZKOMMENTAR II

Der Text ist aus philosophischer Perspektive geschrieben, scheut nicht die Politik, nimmt den Alltag ernst, nimmt sich die Digitalisierung vor, bringt die Evolutionbiologie zentral ins Spiel, und diagnostiziert, dass die aktuellen smarten Technologien, insbesondere die neuen Smart City Ansätze, schlicht zu wenig sind. Die ganzen nicht-rationalen Faktoren am Menchen werden nicht als lästiges Beiwerk abgeschüttelt, sondern sie werden als ein zentraler Faktor anerkannt, den wir bislang zu wenig im Griff haben.

ERGÄNZUNG 3.Nov.2019

In dem PDF-Dokument wird erwähnt, dass die Brexit-Entscheidung in England im Vorfeld massiv aus dubiosen Quellen beeinflusst worden ist. Im PDF-Dokument selbst habe ich keine weiteren Quellenangaben gemacht. Dies möcte ich hier nachholen, da es sich um einen explosiven Sachverhalt handelt, der alle noch bestehenden demokratischen Gesellschaft bedroht. Da ds ZDF und Phoenix die Angaben zu immer wieder neuen Terminen machen, sind die zugehörigen Links möglicherweise immer nur zeitlich begrenzt verfügbar.

Der Film „Angriff auf die Demokratie. Wurde der Brexit gekauft?“ von Dirk Laabs wird einmal in einem Text kurz beschrieben, und es wird ein Link auf youtube angegeben, wo man den Film als Video abrufen kann.

Hier aus dem Worlaut der Ankündigung:

„Die britische Wahlkommission ist überzeugt: Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass große Teile der Gelder für eine Kampagne vor dem Brexit-Referendum aus dubiosen Quellen stammen.

„Im Fokus steht der britische Geschäftsmann Arron Banks, Strippenzieher und enger Freund des ehemaligen Ukip-Anführers Nigel Farage. Über seine Offshore-Konten sollen fast neun Millionen Pfund Spenden geflossen sein.“

Die Recherchen des ZDF legen nahe, „dass Wähler verdeckt und so effektiv wie möglich beeinflusst werden sollten.“ Es werden nicht nur die Geldströme vefolgt, sondern der ZDFzoom-Autor Dirk Laabs „redet mit Insidern aus der Kampagne und konfrontiert ihren Kopf, den ehemaligen Chef der Ukip, Nigel Farage. Farage redet im Interview mit dem ZDF auch darüber, welchen Einfluss US-amerikanische Berater für die Kampagne hatten. Steve Bannon, früherer Berater von US-Präsident Trump, war einer der wichtigen Berater in diesem Spiel.“

„Konkret geht es um millionenschwere Kredite, die die Pro-Brexit-Kampagne von Banks erhalten haben soll. Demnach stammte das Geld möglicherweise nicht von ihm selbst, sondern von Firmen mit Sitz auf der Isle of Man und in Gibraltar, die sich damit in den Wahlkampf eingemischt hätten. Mittlerweile ermittelt die National Crime Agency. Sie soll die bislang verschleierte Kampagnen-Finanzierung offenlegen.“

„Nigel Farage spricht im Interview mit dem „ZDFzoom“-Autor Dirk Laabs ganz offen darüber, wie eng die Lager zusammengearbeitet haben und wie wichtig auch der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon für die Kampagne in Großbritannien war“ … Ein Whistleblower, der für die Leave-Kampagne gearbeitet hat, ist überzeugt: „Die verschiedenen Brexit-Kampagnen brachen die Gesetze, griffen dabei auf ein ganzes Netzwerk von Firmen zurück, um mehr Geld ausgeben zu können. Ohne diese Betrügereien wäre das EU-Referendum anders ausgegangen.“

„ZDFzoom“-Autor Dirk Laabs geht in der Dokumentation den Fragen nach: „Mit welchen fragwürdigen Methoden wurde die Mehrheit der Briten vom Brexit überzeugt? Welche Interessen und Profiteure stecken dahinter? Und Laabs fragt bei Akteuren in Brüssel nach, welche Maßnahmen mit Blick auf die Europawahl ergriffen werden sollten und überhaupt könnten, um den Digital-Wahlkampf der Zukunft zu regulieren oder kontrollierbarer zu machen.“

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MARC ELSBERG – GIER. Wirtschaftstheorie verkappt als Thriller. Kurzbesprechung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 27.Mai 2019
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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Marc Elsberg (2019), Gier. Wie weit würdest Du gehen? Blanvalet Verlag (gehört zu Random House), München. Rezipiert in der leicht gekürzten Hörbuchfassung, hg. von Random-House Audio, München

GESPALTENES PUBLIKUM

Wie die bisherigen Rezensionen bei amazon.de deutlich machen, hinterlässt der Versuch, schwer erzählbare Theorien – in diesem Fall Wirtschaftstheorien – spannend zu verpacken, ein gespaltenes Publikum. Nach den vorliegenden Rezensionen bei Amazon (25.Mai 2016, insgesamt 114) äußern sich mehr als 50% stark bis weitgehend kritisch. Dies ist nichts Neues. Wer vorwiegend Unterhaltung und Spannung sucht ohne zu viel ‚Wissenschaft‘, dem wird normalerweise kein Buch gefallen, das als Thriller daherkommt und dann im Text, eingeschmuggelt, theoretische Gedanken zu gesellschaftlichen, speziell wirtschaftlichen, Themen vorfindet.

ROMAN IM KOORDINATENSYTEM DER GESELLSCHAFT

So gesehen ist ein Buch (in meinem Fall die Hörfassung) kein isoliertes Ereignis sondern immer auch zu sehen als Teil eines Publikums, einer Gesellschaft, in der bestimmte Weltbilder in den Köpfen der Leser bereitliegen, um auf die stimulierenden Worte eines Textes zu reagieren.

Soweit ersichtlich leben wir in einer fast schizophrenen Gegenwart: einerseits sind wir Teil einer komplexen Gesellschaft, durch und durch getragen und getrieben von hochkomplexen Technologien, ohne die nahezu nichts mehr möglich wäre; andererseits sind die Ausbildungssysteme dieser Gesellschaften weitgehend unzureichend, veraltet, werden an Leitbildern ausgerichtet, die mit der realen Welt immer weniger zu tun haben. Neben vielen wichtigen Themen ist das mathematische Denken so ein Beispiel. Nahezu jede Technologie, die heute unser Leben bestimmt, ist ohne die Entwicklung der modernen Mathematik undenkbar, doch ist gerade die mathematische Bildung des normalen Bürgers unterirdisch schlecht. Und da die heutigen Politiker weitgehend Kinder dieses schwächelnden Bildungssystems sind, wundert es nicht, dass im politischen Leben mathematisch-gestärktes Denken Mangelware ist.

SITUATION DES AUTORS

Was will ein engagierter Autor in solch einer gesellschaftlichen Situation machen? Will er einen maximalen Publikumserfolg landen, dann wird er alles vermeiden müssen, was das Denken zu sehr ‚belastet‘; damit wird er aber kaum tiefgreifende Probleme behandeln können, die unsere aktuelle Situation und die daraus erwachsenden möglichen Zukünfte ernsthaft betreffen. Ist er aber intelligent, hat er sich über den alltäglichen Mainstream hinweg in einige der realen Problemstellungen hineingelesen, hineingeredet, hineingedacht, alles sehr mühevoll, da der Mainstream Abweichungen wenig unterstützt, und er fühlt sich als Mensch herausgefordert, sich den neuen Erkenntnissen zu stellen, dann hat dieser Mensch ein Problem, insbesondere dann, wenn er sich als Autor versteht, als ernsthafter Autor.

POSITION DES ROMANS

Den vorliegenden Roman ‚Gier‘ von Elsberg deute ich so: er versteht sich als Autor, der nicht nur aus Gefälligkeit schreibt, nicht nur dem Mainstream gedankenlos folgen will, sondern der sich mit wichtigen, grundlegenden Fragen unseres globalen Wirtschaftssystems ernsthaft auseinandersetzen will. Ein Wirtschaftssystem, das uns seit Jahrzehnten demonstriert, dass es zunehmend von elitären geld- und machthungrigen Gruppierungen gesteuert wird, denen der große Zusammenhang egal ist, und die mittlerweile so mächtig geworden sind, dass fast alle bekannten nationalen Regierungen diesen kaum noch eine eigene, begründete Sicht entgegen setzen können (bzw. wollen). Die nächsten Katastrophen sind vorprogrammiert; das Leiden vieler wird billigend in Kauf genommen. Obwohl es in den Wissenschaften hier und da schwache Ansätze gibt, diesem scheinbaren Automatismus der globalen Abläufe etwas entgegen zu setzen, haben diese Ansätze kaum eine Wirkung. Die herrschenden Kräfte von Markt und Politik sind für solche Meinungen weitgehend unempfindlich. Dies ist die Realität.

Vor diesem Hintergrund verstehe ich den Roman ‚Gier‘ von Elsberg als einen ernsthaften – und angesichts dieser Rezeptionssituation – sehr gewagten Versuch, das ‚Unsagbare‘ doch irgendwie zu sagen.

WIE ERZÄHLEN

Wie in den Ingenieurwissenschaften seit Jahrzehnten bekannt ist, kann man komplexe Sachverhalte nur schlecht bis gar nicht einfach nur durch einen Text oder ein paar tote Formeln verständlich machen. Ingenieure benutzen daher schon immer das Mittel der Simulation, um komplexe Sachverhalte in ihrer Dynamik und in ihren Auswirkungen sichtbar zu machen. Selbst die Intelligentesten müssen sich dieses Instruments bedienen, da unser Gehirn nicht so gebaut ist, dass es komplexe Sachverhalte ‚einfach so‘ denken kann.

Eine uralte Form der Simulation ist die Erzählung, oder dann modern der Roman, später das Hörspiel oder der Film. Hier entwickelt man, ausgehend von einer Startsituation mittels des Verhaltens der Akteure (auch unter Einbeziehung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten) einen Ablauf von Situationen, eine Geschichte, die mit ihrem Verlauf allen Lesern und Hörern in ihren inneren Vorstellungen augenscheinlich macht, was alles passieren kann, wenn man sich in dieser oder jener Situation befindet und so oder so handelt.

Elsberg unternimmt also den wagemutigen Versuch, eine der schwierigsten Problemstellungen – den möglichen Gang unserer menschlichen Gesellschaft – in Form seiner Roman-Simulation an einigen ausgewählten Punkten deutlich zu machen.

Für mich als Philosoph und Wissenschaftler war die Wahl der Darstellungsmittel (globale Konferenz, Massendemonstrationen, Bessere Welt Aktivisten, der Sicherheitsapparat zwischen allen Fronten usw.) nicht unpassend gewählt. Ist es doch so, dass wir seit Jahren das öffentliche Auftreten des Politikapparates und vieler Finanzgrößen so oder ähnlich erleben. Auch die angedeuteten Verhaltensmuster, offiziellen Normen, Klischees in den Köpfen, entsprechend weitgehend dem, was wir real erleben. Die Zusammensetzung der Hauptpersonen war vielfältig, könnte so sein, wenngleich die Personen im Detail vielleicht nicht immer ganz überzeugend waren. Aber, ins Reale gedreht: wie weit sind Personen, die wir kennen ‚überzeugend‘? Wieweit sind wir selbst für andere überzeugend?

Dennoch war ich fasziniert davon, wie Elsberg versuchte, bei diesem gewählten Rahmen seine eigentliche Kernbotschaft von der besseren Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie zusammen mit einer Fundamentalkritik am aktuellen Prozess rüber zubringen.

Lange war nicht ganz klar, was eigentlich seine Botschaft sein sollte, und die abgefahrene Story mit dem getöteten Redner für den Weltwirtschaftsgipfel und seinem Begleiter wirkte etwas bizarr. Aber so langsam, häppchenweise, rückte er mit seiner Idee heraus eingebettet in einen Plot, der ebenfalls ziemlich abgefahren –wenngleich nicht völlig unrealistisch – war, so dass die Neugierde auf mehr Aufklärung seiner Botschaft einerseits und diese bizarre Story von den agierenden Profikillern als verlängerter Arm einen globalen Finanzakteurs kontinuierlich stieg (bei mir; bei anderen offensichtlich nicht :-)).

Da ich die zitierten Theorien ein wenig kenne, ich Mathematik eher spannend als langweilig empfinde, und ich an ähnlichen Theorien arbeite, blieb bei mir unterm Strich hängen, wie man einen komplexen Sachverhalt menschlichen Zusammenlebens auf globaler Ebene letztlich mit einfachen, spielerischen Modellen verdeutlichen kann.

BEDEUTUNG DES ROMANS

Trotz der z.T. enttäuschenden oder gar ablehnenden Rezeption des Romans halte ich den Roman für sehr gut, mutig und sehr wichtig. Ich bin davon überzeugt, dass der Roman wichtige Kommunikationsprozesse auslösen kann. Vor allem sehe ich in dem Ansatz der Erschließung dieser komplexen Thematik in Form von mehr kritisch-realistischen Gesellschaftsspielen – als Brettspiele, als Planspiele, als Computerspiele, als Lernumgebungen … – eine große Chance ergänzend zu einer reinen Textfassung.

BEZUG ZU DIESEM BLOG

Wie schon im vorausgehenden Blogeintrag zum Thema Computerspiele deutlich werden kann, vertrete ich die Auffassung, dass unser kulturelles Denken mehr gemeinsame, leistungsfähige Denk- und Kommunikationsformen benötigt, um die aktuelle gesellschaftliche Komplexität noch gemeinsam meistern zu können. An der zugehörigen Theorie (und Praxis) arbeite ich vielen seit Jahren. In dem zu diesem Blog parallelen eJournal kann man unter dem etwas kryptischen Titel AAI V3 Frontpage dazu einiges nachlesen.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs findet sich HIER.



Offenbarung – Der blinde Fleck der Menschheit

PDF

Als Nachhall zur Diskussion des Artikels von Fink hier ein paar Überlegungen, dass der durch die Religionen vereinnahmte Begriff der ‚Offenbarung‘ ein Grundbegriff ist, der wesentlich zum Menschen generell gehört, bevor irgendeine Religion darauf einen Anspruch anmelden kann.

I. KONTEXT

Diesen Beitrag könnte man unter ‚Nachwehen‘ einordnen, Nachwehen zu dem letzten Beitrag. In diesem Beitrag hatte ich versucht, deutlich zu machen, dass die üblichen Vorgehensweisen, in die neuen Erkenntnisse zur Entstehung, Struktur und Dynamik des physikalischen Universums, den Glauben an ein sehr bestimmtes, klassisches Gottesbild zu ‚interpolieren‘, heute nicht mehr überzeugen können, ja, abgelehnt werden müssen als eher wegführend vom wahren Sachverhalt.

Zu dieser kritisch-ablehnenden Sicht tragen viele Argumente bei (siehe einige in dem genannten Artikel). Besonders erwähnen möchte ich hier nochmals das Buch ‚Mysticism and Philosophy‘ von Stace (1960) [ siehe Teil 3 einer Besprechung dieses Buches ]. Stace konzentriert sich bei seinen Analysen an der Struktur der menschlichen Erfahrung, wie sie über Jahrtausende in vielen Kulturen dieser Welt berichtet wird. Während diese Analysen darauf hindeuten, dass der Kern der menschlichen Erfahrungen eher gleich erscheint, erklärt sich die Vielfalt aus der Tatsache, dass — nach Stace — jede Erfahrung unausweichlich Elemente einer ‚Interpretation‘ umfasst, die aus den bisherigen Erfahrungen stammen. Selbst wenn Menschen das Gleiche erleben würden, je nach Zeit, Kultur, Sprache können sie das Gleiche unterschiedlich einordnen und benennen, so dass es über den Prozess des Erkennens etwas ‚anderes‘ wird; es erscheint nicht mehr gleich!

In einem sehr kenntnisreichen Artikel The Myth of the Framework von Karl Popper, veröffentlicht im Jahr 1994 als Kapitel 2 des Buches The Myth of the Framework: In Defence of Science and Rationality [Anmerkung: Der Herausgeber M.A.Notturno weist im Epilog zum Buch darauf hin, dass die Beiträge zum Buch schon in den 1970iger Jahren vorlagen!] hatte sich Popper mit diesem Phänomen auch auseinandergesetzt, allerdings nicht von der ‚Entstehung‘ her (wie kommt es zu diesen Weltbildern), sondern vom ‚Ergebnis‘ her, sie sind jetzt da, sie sind verschieden, was machen wir damit? [Siehe eine Diskussion des Artikels von Popper als Teil des Beitrags].

Angeregt von diesen Fragen und vielen weiteren Ideen aus den vorausgehenden Einträgen in diesem Blog ergeben sich die folgenden Notizen.

II. DER ‚BIG BANG‘ HÖRT NIE AUF …

Die Geschichte beginnt im Alltag. Wenn man in die Gegenwart seines Alltags eingetaucht ist, eingelullt wird von einem Strom von scheinbar selbstverständlichen Ereignissen, dann kann man leicht vergessen, dass die Physik uns darüber belehren kann, dass dieser unser Alltag eine Vorgeschichte hat, die viele Milliarden Jahre zurück reicht zur Entstehung unserer Erde und noch viel mehr Milliarden Jahre bis zum physikalischen Beginn unseres heute bekannten Universums. Obgleich dieses gewaltige Ereignis mitsamt seinen gigantischen Nachwirkungen mehr als 13 Milliarden Jahre zurück liegt und damit — auf einer Zeitachse — längst vorbei ist, passé, gone, … haben wir Menschen erst seit ca.50 – 60 Jahren begonnen, zu begreifen, dass das Universum in einer Art ‚Urknall‘ ins physikalische Dasein getreten ist. Was immer also vor mehr als 13 Milliarden Jahren geschehen ist, wir selbst, wir Menschen als Exemplare der Lebensform homo sapiens, haben erst vor wenigen Jahrzehnten ‚gelernt‘, dass unsere aktuelle Gegenwart bis zu solch einem Ereignis zurück reicht. Das reale physikalische Ereignis ‚Big Bang‘ fand also erst viele Milliarden Jahre später in den Gehirnen und damit im Bewusstsein von uns Menschen (zunächst nur wenige Menschen von vielen Milliarden) statt. Erst im schrittweisen Erkennen durch die vielen tausend Jahre menschlicher Kultur entstand im Bewusstsein von uns Menschen ein virtuelles Wissen von etwas vermutet Realem. Das reale Ereignis war vorbei, das virtuelle Erkennen lies es viel später in einem realen Erkenntnisprozess virtuell wieder entstehen. Vorher gab es dieses Ereignis für uns Menschen nicht. So gesehen war das Ereignis indirekt ‚gespeichert‘ im physikalischen Universum, bis diese Erkenntnisprozesse einsetzten. Welch gigantische Verzögerung!

III. OFFENBARUNG

Der Begriff ‚Offenbarung‘ ist durch seine Verwendung in der zurückliegenden Geschichte sehr belastet. Vor allem die großen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam haben durch ihre Verwendung des Begriffs ‚Offenbarung‘ den Eindruck erweckt, dass Offenbarung etwas sehr Besonderes sei, die Eröffnung von einem Wissen, das wir Menschen nicht aus uns selbst gewinnen können, sondern nur direkt von einem etwas, das mit der Wortmarke ‚Gott‘ [die in jeder Sprache anders lautet] gemeint sei. Nur weil sich dieses etwas ‚Gott‘ bestimmten, konkreten Menschen direkt zugewandt habe, konnten diese ein spezielles Wissen erlangen, das diese dann wiederum ‚wortwörtlich‘ in Texten festgehalten haben, die seitdem als ‚heilige‘ Texte gelten.

Im Fall der sogenannten heiligen Schriften des Judentums und des Christentums hat intensive wissenschaftliche Forschung seit mehr als 100 Jahren gezeigt, dass dies natürlich nicht so einfach ist. Die Schriften sind alle zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, bisweilen Jahrhunderte auseinander, wurden mehrfach überarbeitet, und was auch immer ein bestimmter Mensch irgendwann einmal tatsächlich gesagt hat, das wurde eingewoben in vielfältige Interpretationen und Überarbeitungen. Im Nachhinein — von heute aus gesehen also nach 2000 und mehr Jahren — zu entscheiden, was ein bestimmter Satz in hebräischer oder griechischer Sprache geschrieben, tatsächlich meint, ist nur noch annäherungsweise möglich. Dazu kommt, dass die christliche Kirche über tausend Jahre lang nicht mit den Originaltexten gearbeitet hat, sondern mit lateinischen Übersetzungen der hebräischen und griechischen Texte. Jeder, der mal Übersetzungen vorgenommen hat, weiß, was dies bedeutet. Es wundert daher auch nicht, dass die letzten 2000 Jahre sehr unterschiedliche Interpretationen des christlichen Glaubens hervorgebracht haben.

Im Fall der islamischen Texte ist die Lage bis heute schwierig, da die bisher gefundenen alten Manuskripte offiziell nicht wissenschaftlich untersucht werden dürfen [Anmerkung: Siehe dazu das Buch von Pohlmann (2015) zur Entstehung des Korans; eine Besprechung dazu findet sich  hier: ]. Die bisherigen Forschungen deuten genau in die gleiche Richtung wie die Ergebnisse der Forschung im Fall der jüdisch-christlichen Tradition.

Die Befunde zu den Überlieferungen der sogenannten ‚heiligen‘ Schriften bilden natürlich nicht wirklich eine Überraschung. Dies liegt eben an uns selbst, an uns Menschen, an der Art und Weise, wie wir als Menschen erkennen, wie wir erkennen können. Das Beispiel der empirischen Wissenschaften, und hier die oben erwähnte Physik des Universums, zeigt, dass alles Wissen, über das wir verfügen, im Durchgang durch unseren Körper (Sinnesorgane, Körperzustände, Wechselwirkung des Körpers mit der umgebenden Welt, dann Verarbeitung Gehirn, dann Teile davon im Bewusstsein) zu virtuellen Strukturen in unserem Gehirn werden, die partiell bewusst sind, und die uns Teile der unterstellten realen Welt genau so zeigen, wie sie im bewussten Gehirn gedacht werden, und zwar nur so. Die Tatsache, dass es drei große Offenbarungsreligionen gibt, die sich alle auf das gleiche Etwas ‚Gott‘ berufen, diesem Gott dann aber ganz unterschiedliche Aussagen in den Mund legen [Anmerkung: seit wann schreiben Menschen vor, was Gott sagen soll?], widerspricht entweder dem Glauben an den einen Gott, der direkt spricht, oder diese Vielfalt hat schlicht damit zu tun, dass man übersieht, dass jeder Mensch ‚Gefangener seines Erkenntnisprozesses‘ ist, der nun einmal ist, wie er ist, und der nur ein Erkennen von X möglich macht im Lichte der bislang bekannten Erfahrungen/ Erkenntnisse Y. Wenn jüdische Menschen im Jahr -800 ein X erfahren mit Wissen Y1, christliche Menschen in der Zeit +100 mit Wissen Y2 und muslimische Menschen um +700 mit Wissen Y3, dann ist das Ausgangswissen jeweils völlig verschieden; was immer sie an X erfahren, es ist ein Y1(X), ein Y2(X) und ein Y3(X). Dazu die ganz anderen Sprachen. Akzeptiert man die historische Vielfalt, dann könnte man — bei gutem Willen aller Beteiligten — möglicherweise entdecken, dass man irgendwie das ‚Gleiche X‘ meint; vielleicht. Solange man die Vielfalt aber jeweils isoliert und verabsolutiert, so lange entstehen Bilder, die mit Blick auf den realen Menschen und seine Geschichte im realen Universum kaum bis gar nicht zu verstehen sind.

Schaut man sich den Menschen und sein Erkennen an, dann geschieht im menschlichen Erkennen, bei jedem Menschen, in jedem Augenblick fundamental ‚Offenbarung‘.

Das menschliche Erkennen hat die Besonderheit, dass es sich bis zu einem gewissen Grad aus der Gefangenschaft der Gegenwart befreien kann. Dies gründet in der Fähigkeit, die aktuelle Gegenwart in begrenzter Weise erinnern zu können, das Jetzt und das Vorher zu vergleichen, von Konkretem zu abstrahieren, Beziehungen in das Erkannte ‚hinein zu denken‘ (!), die als solche nicht direkt als Objekte vorkommen, und vieles mehr. Nur durch dieses Denken werden Beziehungen, Strukturen, Dynamiken sichtbar (im virtuellen Denken!), die sich so in der konkreten Gegenwart nicht zeigen; in der Gegenwart ist dies alles unsichtbar.

In dieser grundlegenden Fähigkeit zu erkennen erlebt der Mensch kontinuierlich etwas Anderes, das er weder selbst geschaffen hat noch zu Beginn versteht. Er selbst mit seinem Körper, seinem Erkennen, gehört genauso dazu: wir wurden geboren, ohne dass wir es wollten; wir erleben uns in Körpern, die wir so nicht gemacht haben. Alles, was wir auf diese Weise erleben ist ’neu‘, kommt von ‚außen auf uns zu‘, können wir ‚aus uns selbst heraus‘ nicht ansatzweise denken. Wenn irgendetwas den Namen ‚Offenbarung‘ verdient, dann dieser fundamentale Prozess des Sichtbarwerdens von Etwas (zu dem wir selbst gehören), das wir vollständig nicht gemacht haben, das uns zu Beginn vollständig unbekannt ist.

Die Geschichte des menschlichen Erkennens zeigt, dass die Menschen erst nur sehr langsam, aber dann immer schneller immer mehr von der umgebenden Welt und dann auch seit kurzem über sich selbst erkennen. Nach mehr als 13 Milliarden Jahren erkennen zu können, dass tatsächlich vor mehr als 13 Milliarden Jahren etwas stattgefunden hat, das ist keine Trivialität, das ist beeindruckend. Genauso ist es beeindruckend, dass unsere Gehirne mit dem Bewusstsein überhaupt in der Lage sind, virtuelle Modelle im Kopf zu generieren, die Ereignisse in der umgebenden Welt beschreiben und erklären können. Bis heute hat weder die Philosophie noch haben die empirischen Wissenschaften dieses Phänomen vollständig erklären können (obgleich wir heute viel mehr über unser Erkennen wissen als noch vor 100 Jahren).

Zu den wichtigen Erkenntnissen aus der Geschichte des Erkennens gehört auch, dass das Wissen ‚kumulierend‘ ist, d.h. es gibt tiefere Einsichten, die nur möglich sind, wenn man zuvor andere, einfachere Einsichten gemacht hat. Bei der Erkenntnis des großen Ganzen gibt es keine ‚Abkürzungen‘. In der Geschichte war es immer eine Versuchung, fehlendes Wissen durch vereinfachende Geschichten (Mythen) zu ersetzen. Dies macht zwar oft ein ‚gutes Gefühl‘, aber es geht an der Realität vorbei. Sowohl das kumulierende Wissen selbst wie auch die davon abhängigen alltäglichen Abläufe, die Technologien, die komplexen institutionellen Regelungen, die Bildungsprozesse usw. sie alle sind kumulierend.

Aus diesem kumulierenden Charakter von Wissen entsteht immer auch ein Problem der individuellen Verarbeitung: während dokumentiertes und technisch realisiertes Wissen als Objekt durch die Zeiten existieren kann, sind Menschen biologische Systeme, die bei Geburt nur mit einer — wenngleich sehr komplexen — Grundausstattung ihren Lebensweg beginnen. Was immer die Generationen vorher gedacht und erarbeitet haben, der jeweils neue individuelle Mensch muss schrittweise lernen, was bislang gedacht wurde, um irgendwann in der Lage zu sein, das bisher Erreichte überhaupt verstehen zu können. Menschen, die an solchen Bildungsprozessen nicht teilhaben können, sind ‚Fremde‘ in der Gegenwart; im Kopf leben sie in einer Welt, die anders ist als die umgebende reale Welt. Es sind wissensmäßig Zombies, ‚Unwissende‘ in einem Meer von geronnenem Wissen.

Sollte also das mit der Wortmarke ‚Gott‘ Gemeinte eine Realität besitzen, dann ist der Prozess der natürlichen Offenbarung, die jeden Tag, in jedem Augenblick ein wenig mehr die Erkenntnis Y über das uns vorgegebene Andere ermöglicht, die beste Voraussetzung, sich diesem Etwas ‚X = Gott‘ zu nähern. Jede Zeit hat ihr Y, mit dem sie das Ganze betrachtet. Und so sollte es uns nicht wundern, dass die Geschichte uns viele Y(X) als Deutungen des Etwas ‚X = Gott‘ anbietet.

Empirisches Wissen, Philosophisches Wissen, religiöses Wissen kreisen letztlich um ein und dieselbe Wirklichkeit; sie alle benutzen die gleichen Voraussetzungen, nämlich unsere menschlicher Existenzweise mit den vorgegebenen Erkenntnisstrukturen. Niemand hat hier einen wesentlichen Vorteil. Unterschiede ergeben sich nur dadurch, dass verschiedenen Kulturen unterschiedlich geschickt darin sind, wie sie Wissen kumulieren und wie sie dafür Sorge tragen, dass alle Menschen geeignete Bildungsprozesse durchlaufen.

IV. VEREINIGTE MENSCHHEIT

Schaut man sich an, wie die Menschen sich auch nach den beiden furchtbaren Weltkriegen und der kurzen Blüte der Idee einer Völkergemeinschaft, die Ungerechtigkeit verhindern sollte, immer wieder — und man hat den Eindruck, wieder mehr — in gegenseitige Abgrenzungen und Verteufelungen verfallen, vor grausamen lokalen Kriegen nicht zurück schrecken, die Kultur eines wirklichkeitsbewussten Wissens mutwillig schwächen oder gar zerstören, dann kann man schon mutlos werden oder gar verzweifeln.

Andererseits, schaut man die bisherige Geschichte des Universums an, die Geschichte des Lebens auf der Erde, die Geschichte des homo sapiens, die letzten 10.000 Jahre, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass es eine dynamische Bewegung hin zu mehr Erkenntnis und mehr Komplexität gegeben hat und noch immer gibt. Und wenn man sieht, wie wir alle gleich gestrickt und auf intensive Kooperation angewiesen sind — und vermutlich immer mehr –, dann erscheinen die Menschen eher wie eine Schicksalsgemeinschaft, wie ‚earth children‘, wie eine ‚Gemeinschaft von Heiligen kraft Geburt‘!

Das Wort ‚Heilige‘ mag alle irritieren, die mit Religion nichts verbinden, aber die ‚Heiligen‘ sind in den Religionen alle jene Menschen, die sich der Wahrheit des Ganzen stellen und die versuchen, aus dieser Wahrheit heraus — ohne Kompromisse — zu leben. Die Wahrheit des Ganzen ist für uns Menschen primär diese Grundsituation, dass wir alle mit unseren Körpern, mit unserem Erkennen, Teil eines Offenbarungsprozesses sind, der für alle gleich ist, der alle betrifft, und aus dem wir nicht aussteigen können. Wir sind aufeinander angewiesen. Anstatt uns gegenseitig zu bekriegen und abzuschlachten, also die ‚Bösen‘ zu spielen, wäre es näherliegender und konstruktiver, uns als ‚Heilige‘ zu verhalten, die bereit sind zum Erkennen, die bereit sind aus der Erkenntnis heraus zu handeln. Das alles ist — wie wir wissen können — nicht ganz einfach, aber es hat ja auch niemand gesagt, dass es einfach sei. Das Leben auf der Erde gleicht eher einem Expeditionschor, das im Universum an einer bestimmten Stelle gelandet ist, und jetzt den Weg zum Ziel finden muss. Wir brauchen keine TV-Reality-Shows, wir selbst sind die radikalste Reality-Show, die man sich denken kann. Und sie tritt gerade in eine sehr heiße Phase ein [Anmerkung: … nicht nur wegen des Klimas 🙂 ].

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INDUKTIVES SERVICE-LEARNING? Plädoyer für mehr Vertrauen in die Generation der Zukunft. Mehr Selbstvertrauen in die Mission Zukunft der Hochschulen.

ZUFÄLLIGER KONTAKT

  1. Aufgrund einer besonderen Konstellation an unserer Hochschule war ich im März 2015 Teilnehmer an der Gründungsveranstaltung des Vereins Hochschulnetzwerk Bildung durch Verantwortung, ein seit 2009 bestehender Zusammenschluss von zunächst 5 Universitäten. Dadurch erfuhr ich von der Existenz dieses Netzwerkes. Mittlerweile (November 2015) sind es 30 Hochschulen.

MEMORANDUM SERVICE-LEARNING

  1. Im Memorandum von 2013 wird der Gedanke der gesellschaftlichen Verantwortung der Hochschulen feierlich festgehalten. Die Grundidee klingt einfach und schlüssig: auf der einen Seite haben wir die Hochschulen mit ihrer Lehre und Forschung, auf der anderen Seite die Zivilgesellschaft, und gesellschaftliche Verantwortung wird von den Hochschulen wahrgenommen, wenn sie ihre Potentiale in den Dienst dieser Zivilgesellschaft stellen. Dabei wird der Begriff Zivilgesellschaft gerne noch eingegrenzt auf den Teilbereich der gemeinnützigen Einrichtungen.
  2. Dies klingt zunächst ausgesprochen positiv. Wer will nicht die Zivilgesellschaft unterstützen? Und unterschwellig klingt mit, dass die Hochschulen, für die die Gesellschaft viel Geld ausgibt, sich dann doch auch ein wenig Dankbar zeigen können, indem sie ihr Potential einbringen.

HOCHSCHULE ALS ELFENBEINTURM

  1. Wenn man die Texte unvoreingenommen liest, dann klingt hier ein Bild von Hochschulen an, das die Hochschulen eher von außen sieht, ein teures Etwas, von dem man annimmt, dass die Hochschulen ‚für sich alleine betrachtet‘ gesellschaftsfern sind, praxisfern, nicht wirklich Verantwortung für die Gesellschaft wahrnehmen, die sie doch alimentiert. Das Bild des weltfremden Akademikers, des akademischen Elfenbeinturms, ist hier nicht fern.
  2. Die Hochschullandschaft in Deutschland ist aber nicht monolithisch. ca. 150 von 425 Hochschulen haben Promotionsrecht und genügen – wenn überhaupt – dem klassischen Bild der Universität. Die restlichen 275 Hochschulen sind vom Ansatz her eher praxisorientiert und sind schon immer eng und vielfältig verflochten mit der umgebenden Gesellschaft. Hier den Gedanken von mehr sozialer Verantwortung quasi ‚von außen‘ an die Hochschulen heran zu tragen wirkt bizarr, ein bisschen weltfremd: die Lehrenden an diesen praxisorientierten Hochschulen waren alle mindestens 5 Jahre, meistens viel länger, in gesellschaftlichen Institutionen aktiv, bevor sie Hochschullehrer wurden, und in ihrer Lehrtätigkeit behalten sie meistens einen engen Kontakt zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Einrichtungen, auch in ihrer Lehre. Dabei ist diese Lehre in der Regel schon über das Curriculum im Normalfall mit ca. 50% Praxisanteil ausgestattet (nicht zu vergessen die vielen Lehrbeauftragten, die bis 60% und mehr des Lehrpersonals stellen. Diese Lehrbeauftragten kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft!).
  3. Diese Vielfalt der Hochschulen kommt im Selbstverständnis des Hochschulnetzwerk Bildung durch Verantwortung nicht so wirklich zum Ausdruck.

EINENGUNG VON ZIVILGESELLSCHAFT

  1. Auch die Fokussierung auf nur einen Teilbereich der Zivilgesellschaft — nämlich den Bereich der gemeinnützigen Einrichtungen – lässt Fragen offen: wenn der gemeinnützige Bereich so wichtig ist, warum ist dies dann keine Herausforderung an die ganze Gesellschaft? Warum sollen sich hier besonders die Hochschulen angesprochen fühlen? Wenn z.B. eine erfolgreiche Einrichtung zur Unterstützung von Frauen mit Migrationshintergrund von der Politik nicht mehr gefördert wird, gerade in einer Zeit, wo immer mehr Flüchtlinge die Bundesrepublik erreichen, warum soll dann gerade eine Hochschule einspringen? Um es nicht falsch zu verstehen: dieser Einrichtung zu helfen ist grundsätzlich sinnvoll, ich bewundere die, die sich da engagieren, aber warum ist dies dann eine Aufgabe für die Hochschulen speziell?
  2. Und dann wissen wir alle (wissen wir es wirklich?), dass Deutschland seinen Wohlstand einer vielfältigen international leistungsfähigen wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Struktur verdankt, die entsprechend vielfältig bestens ausgebildete MitarbeiterInnen braucht. Diese zu haben ist keinesfalls selbstverständlich. Dies verlangt nicht nur Rahmenbedingungen in der Ausbildung und in der umgebenen Gesellschaft, sondern auch junge Menschen, die für sich Motivation genug besitzen, sich den vielfältigen Herausforderungen zu stellen. Angesichts dieser Breite der Herausforderung kann man – muss man? – sich fragen, ob die Engführung und Zuspitzung auf den Bereich der gemeinnützigen Einrichtungen der gesellschaftlichen Situation gerecht wird? Warum nimmt man nicht z.B. auch den Bereich der Medien in den Blick? Für eine Demokratie ist eine funktionierende Öffentlichkeit lebenswichtig. Zugleich erleben wir heute, wie immer mehr freie Presse- und Medienorgane aus wirtschaftlichen Gründen und aufgrund eines Technologiewandels verschwinden und interessegebundenen Medienerzeugnissen Platz machen. Freier, kritischer Journalismus stirbt aus. Eine entsprechende kritisch-informierende Öffentlichkeit trocknet aus. Dies bedroht unsere Demokratie zentral. Warum darf dies kein Betätigungsfeld für eine junge, nachwachsende Generation sein? Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Die unreflektierte Fokussierung auf einen engen Bereich der Gesellschaft erscheint mir sehr frag-würdig

HOCHSCHULE ALS SOLCHE KEINEN WERT?

  1. Im Memorandum ist von den Hochschulen allgemein die Rede, und sehr abstrakt von deren Verantwortung für die heutigen und zukünftigen Herausforderungen der Gesellschaft. Dazu sei ein Dialog notwendig. Die Studierenden, gleichsam im ‚Besitz‘ der Hochschulen, sollen an ein gesellschaftliches Engagement herangeführt werden.
  2. Was man hier gänzlich vermisst, ist der Gedanke, dass Lehre und Forschung als solche ja auch ein gesellschaftlichen Prozess darstellen könnten, dass die Studierenden und ihre Lehrenden gerade durch Gestaltung der Lern- und Forschungsprozesse für die ganze Gesellschaft einen substanziellen Beitrag für die Zukunft der Gesellschaft leisten, und zwar einen einzigartigen, der von keiner anderen Einrichtung der Gesellschaft in dieser Form erbracht werden kann.
  3. Wer sich überhaupt mal mit Wissen, Lernen, Lernprozessen intensiver beschäftigt hat (mein Hauptthema seit gut 40 Jahren), der kann wissen, dass das Erkennen von möglichen und wichtigen zukünftigen Prozessen und Technologien extrem herausfordernd und schwierig ist, absolut kein Selbstgänger (man betrachte nur die geringe Innovationskraft vieler gesellschaftlicher Bereiche). Dies gilt sowohl auf der theoretisch-praktischen Ebene (wie macht man es), dies gilt aber auch und ganz besonders in der psychologisch-sozialen Dimension: Menschen die offen, motiviert, kreativ, engagiert und wissend mit der Welt umgehen können sollen, fallen nicht so einfach vom Himmel. Sie müssen viele, viele Jahre Lern- und Trainingsprozesse durchlaufen, in denen sie sich nicht nur Erfahrungen und Wissen aneignen können sollen, sondern speziell auch, um die inneren Einstellungen und Motivationen zu finden, die sie im Alltag und Stresssituationen befähigen, ihre jeweilige Aufgabe sachlich, ruhig und doch engagiert wahrnehmen zu können.

ANGEWANDT UND NICHT ANGEWANDT

  1. Eigentlich ist es kontraproduktiv für die Selbstfindung der Hochschulen ausgerechnet den Unterschied zwischen angewandter und nicht-angewandter Forschung immer wieder zu betonen (ein deutscher Sonderweg, den es in keinem anderen Land so noch gibt). Aber im Fall des Service Learnings spielt es bislang offensichtlich eine große Rolle.
  2. Betrachten wir ein Beispiel. An der Universität Kassel, die sich führend im Netzwerk Service-Learning engagiert, werden pro Semester 20 Projekte durchgeführt, die dem Service Lerning zugerechnet werden. Diese Projekte verteilen sich auf 2/3 aller Fachbereiche. Für dieses außergewöhnliche Engagement wird die Universität Kassel vielfältig zusätzlich gefördert. Dies ist grundsätzlich gut und positiv. Nimmt man das Beispiel der University of Applied Sciences Frankfurt, dann führen dort die Lehrenden eines einzigen Studiengangs (‚der interdisziplinäre Masterstudiengang ‚Barrierefreie Systeme‘) pro Semester 10-13 vollständig interdisziplinäre Projekte durch, viele einschlägige Masterthesen noch gar nicht mit gerechnet. Darüber hinaus sind fast alle anderen Studiengänge dieser Hochschule für angewandte Wissenschaften in vielen anderen ähnlichen Projekten engagiert, nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall. Diese Projekte werden allerdings nicht speziell gefördert. Sie alle leiden eher an Unterfinanzierung und an Personalmangel.
  3. Die Schlussfolgerung hieraus sollte nicht sein, dass Kassel kein Geld mehr bekommt; das wäre kontraproduktiv. Das Denken sollte aus diesem Tatbestand eher angeregt werden, sich zu fragen, warum eine an sich wunderbare gesellschaftlich breit aufgestellte Lehre und Forschung an den angewandten Hochschulen so wenig gesellschaftliche Achtung und Anerkennung bekommt? Außerdem sollte man sich fragen, warum die offiziellen Theorien zu Hochschullehre und -Forschung diese massive Praxis so wenig reflektieren?
  4. Bei der letzten Tagung des Netzwerkes im November in Frankfurt am Main waren bei den Sektionen mit Vorträgen auf dem Papier 24% Professoren. Von diesen 24% konzentrierten sich 46% auf die Sektion zur Theorie des Service Learnings. Und diese theoretischen Vorträge waren fast ausschließlich affirmativ, d.h. es fand wenig kritische Reflexion auf die Voraussetzungen und die große Ausrichtung statt. Der krasse Gegensatz war die Sektion, wo es um die konkrete Anbahnung von Kooperationen zwischen Hochschulen und Zivilgesellschaft ging. Real teilgenommen hat hier ein Professor (7.6%), der auch tatsächlich selber solche Projekte durchgeführt hatte (mehr als 79 Projekte in 10 Jahren), und der kam von einer Hochschule für angewandte Wissenschaften, der University of Applied Sciences Frankfurt.
  5. Diese Zahlen müssen nichts bedeuten; und doch, kennt man die Verhältnisse an den Hochschulen, dann spiegeln diese Zahlen ein wenig von der Realität an den Hochschulen wieder: die normalen Professoren sind in der Regel durch ihre Lehre und Forschung so überlastet, dass sie sich wenig um institutionelle Prozesse und langfristige Strategien kümmern können. Die großen Hochschulen bilden aufgrund ihrer größeren Ressourcen sehr schnell Verwaltungseinheiten zu politisch relevanten Themen und können dann mit den MitarbeiternInnen dieser Verwaltungseinheiten in diesen Themenfeldern schnell agieren. Daraus erklärt sich auch der überproportionale Anteil von Nichtprofessoren gegenüber Professoren (im Extremfall in der einen Sektion 92% Nichtprofessoren). Auch ist auffällig, dass Professoren aus den angewandten Hochschulen bislang kaum vertreten sind. Ihnen erschließt sich die Thematik Service Learning kombiniert mit der Engführung auf gemeinnützige Einrichtungen kaum, da sie selbst schon immer Service Learning im großen Stil und im Dauerbetrieb betreiben.

STUDIERENDE ALS VERFÜGUNGSMASSE

  1. Ein letzter, vielleicht der wichtigste Punkt. Das Memorandum spricht abstrakt von Hochschulen und deren Verantwortung fokussiert auf gemeinnützige Einrichtungen. Dazu soll ferner das gesellschaftliche Engagement von Studierenden nutzbar gemacht werden, Studierende sollen an das Engagement herangeführt werden. Damit dies geschieht, werden aufwendig Einrichtungen geschaffen, die im Vorfeld gesellschaftliche Einrichtungen ausgucken, diese präparieren und letztlich den Studierenden dann damit konfrontieren, dass hier eine konkrete Aufgabe ausgeführt werden soll. Soll man diese Sicht der Dinge gut finden?
  2. Man kann diese Texte unterschiedlich interpretieren. Die reale Praxis lässt aber wenig Spielraum. Es sind hier nicht die Studierenden selbst, die sich eine Aufgabe suchen; es sind nicht die Studierenden selbst die diese Aufgabe gestalten; es ist nicht die normale Lehre und Forschung, die hier angeregt wird, sondern Ausnahme- und Sondersituationen, die eine spezielle Anstrengung und speziellen Aufwand erfordern.
  3. Betrachtet man die Realität in den gesellschaftlichen Einrichtungen (und auch darüber hinaus in den Firmen), dann finden wir dort überwiegend eingefahrene Abläufe, fixierte Rollen, wenig Bereitschaft für Neues oder Experimente. In Firmen speziell oft beständig hohen Leistungsdruck durch den Markt, die Kunden, die Konkurrenz. Ich habe immer noch die Worte eines Vorstands von einem großen deutschen IT-Konzern im Ohr, der mir bei einem Gespräch über mögliche Forschungskooperationen sagte, dass er immer nur in 3-Monats-Zyklen denken kann, maximal 1 Jahr. Längerfristige Forschung, selbst wenn sie vielversprechend ist, kann er sich nicht leisten. Im Kontrast dazu sehe ich, wie unsere Studierende mit ihren Masterthesen in den letzten zwei Jahren sehr oft Produktionssteigerungen von vielen 100% bewirken konnten, nur weil sie von außerhalb kamen, neue Ideen mitbrachten, und die eingefahrenen Abläufe aufsprengten. Alle wurden sofort übernommen; in anderen Fällen hatten Sie zwar ebenfalls tolle Arbeiten gemacht, aber die Firma selbst (z.B. ein global agierender Energiekonzern) hatte sich durch schlechtes Management selbst so ins Abseits manövriert, dass es überall Stellenstreichungen gab. Wieder andere haben in einem in Deutschland gesellschaftlich vernachlässigten Bereich (autistische Kinder und Jugendliche) Konzepte für neue technische Assistenzsysteme entwickelt, um den Kindern und Jugendlichen in ihren Lernprozessen zu helfen, für die sich sonst nirgends Unterstützung fand. Zwei davon promovieren jetzt um ihre Arbeiten fortsetzen zu können. Und in Behörden, in wichtigen Behörden, in Behörden großer Städte, finden sich – neben bewundernswertem Engagement – nicht wenige Abteilungen, wo Nichtstun Standard ist, wo Kriege zwischen Abteilungen irgendwie normal sind, wo Mitglieder eines Schulamtes Außenstehenden sagen ‚Wir diskutieren nicht‘.
  4. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Was ich damit sagen möchte ist, dass wir uns vor einer unkritischen Heiligsprechung der Zivilgesellschaft hüten sollten. Die umgebende Gesellschaft ist weder besonders schlecht noch besonders gut; sie ist normal. Normal heißt hier, dass menschliche Grenzen, Trägheiten, Ängste, Eitelkeiten usw. normal sind. Und diese Gesellschaft, unsere Gesellschaft, bedarf dringend und immer einer jungen Generation, die mit Schwung, Mut, Kreativität in diese verkrusteten Strukturen einbricht und Neues möglich macht. Ohne eine solche dynamische junge Generation verspielen wir ernsthaft die Zukunft.
  5. Wenn man diese Sicht akzeptiert (was eher nicht selbstverständlich ist), dann darf man die Studierenden nicht wie die Lämmer betrachten, die man zur Schlachtbank der Zivilgesellschaft führt. Auf keinen Fall. Wir müssen ernsthaft anfangen, in der jungen Generation das größte Potential, den größten Schatz zu sehen, den wir als Gesellschaft haben. Wir müssen anfangen, in diese Generation zu vertrauen, ernsthaft und konkret! Wir müssen Wissen nicht als Selbstzweck sehen, sondern als ein Medium, das zu noch besserem Wissen und besserem Handeln hinführen kann. Dies kann letztlich nur so geschehen, dass die Studierenden lernen, die verschiedenen Aufgaben in eigener Regie anzugehen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen, ihre eigenen Entdeckungen zu machen, ihre Neugierde real ausprobieren können, usw.
  6. Der krasse Fall, dass Lehrende stundenlang auf Studierende einreden und später in der Prüfung verlangen, dass sie dies dann 1-zu-1 wiedergeben gespickt mit unterschwelligen Behinderungen, dass sie es ja auf keinen Fall leicht haben, ist leider noch viel zu weit verbreitet, als dass man ihn nicht erwähnen sollte. Studierende, die diesem Format ausgeliefert sind, lernen kaum und keinesfalls nachhaltig. Auf keinen Fall werden sie sich auf diese Weise zu motivierten, verantwortungsvollen, kreativen Problemlösern der Zukunft entwickeln.
  7. Das Gegenteil gibt es, aber noch viel zu wenig. Ich habe in den letzten Jahren (zusammen mit zwei anderen KollegenInnen) u.a. 39 interdisziplinäre Projekte mit Bachelor-Studierenden aus allen Studiengängen der Hochschule erleben dürfen, wo diese in eigener Regie interessante Probleme der Gesellschaft identifiziert haben, diese in eigener Regie auf vielfache Weise analysiert und aufbereitet haben; wo sie in eigener Regie mit unterschiedlichen Einrichtungen, Behörden und Firmen kommuniziert und verhandelt haben, wo sie Experimente außerhalb der Hochschule durchgeführt haben und wo sie dann diese Ergebnisse öffentlich in vielfältigen Formen (Berichte, Filme, Theaterstücke, Talkshows, Spiele usw.) präsentiert haben. Zugleich haben sie gelernt, mit anderen, zunächst fremden Studierenden aus anderen Fachbereichen, zusammen zu arbeiten und Probleme zu lösen. Keiner der beteiligten Professoren hätten ihnen all dies vermitteln können. Die Professoren schufen einen Raum, sie schenkten Vertrauen, sie gaben gelegentlich auf Rückfragen Feedback, und haben selbst jedes mal eine Menge gelernt.
  8. Wo sollen aber Professoren herkommen, die Studierenden Vertrauen schenken, wenn die Gesellschaft schon ihre junge Generation nur als Verfügungsmasse für aktuelle Defizite betrachtet? Wo sollen solche Professoren herkommen, wenn ihnen heute schon bei der Einstellung gesagt wird, sie müssen auf jeden Fall viel Geld einwerben, da sie ansonsten keine gute Professoren sind?
  9. Es gibt hier viele offene Fragen. Ich konnte auch nur einige der vielen Aspekte ansprechen, die hier anzusprechen wären. Es ist bedauerlich, dass die Hochschulen selbst, ja, dass nicht einmal die Professoren selbst, genau über diese Fragen kaum diskutieren. Die Leistungsanforderungen sind im Alltag (entgegen dem Klischee außerhalb der Hochschulen, dass Professoren ja soviel Zeit haben) permanent so hoch, dass selbst ein normales Gespräch zwischen nur zwei Kollegen eine organisatorische Herausforderung darstellt. Böse Zungen und Verschwörungstheoretiker würden jetzt sofort vermuten, dass dies System habe; dass die Politik auf diese Weise kritische Stimmen mundtot machen möchte, um die Hochschulen von kritisch-kreativen Orten in dumpfe Ausführungsorgane der Politik zu verwandeln. Bewusst sicher nicht.

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MEMO PHILOSOPHIE-WERKSTATT 14.Juni 2015 in der DENKBAR FRANKFURT

KONTEXT

Die Philosophiewerkstatt am 14.Juni 2015 – begleitet von einem wunderbaren Sommerwetter und eingebettet in kulinarische Produktionen von Reinhard Graef – folgte dem Programmentwurf der Einladung vom 8.Juni 2015.

Thematischer Ausgangspunkt für den 14.Juni war die Philosophiewerkstatt vom 10.Mai 2015 gewesen. In dieser hatte es unter dem Titel „ENTSCHEIDEN IN EINER MULTIKAUSALEN WELT?“ ein gemeinsames Gespräch gegeben, das sehr viele Zusammenhänge zutage gefördert hatte. Die Rolle der Politik blieb aber relativ unbestimmt; verkürzt: eine Art Lobbyistenverein, der sich nur noch bei den Wahlen um Wähler kümmert.

KURZEINFÜHRUNG

Dies animierte Reinhard Graef – ein ausgebildeter Ökonom (mit starkem Soziologieanteil) – zu einem Input für das Treffen am 14.Juni 2015: Ausgehend von dem Buch ‚Postdemokratie‘ (DE: 2008, EN: 2004) des Politikwissenschaftlers Colin Crouch fasste er die wichtigsten Thesen von Crouch zusammen und ermöglichte uns allen einen neuen Einstieg in das Thema (siehe Bild).

Memo Philosophiewerkstatt vom 14.Juni 2015 - Colin Crouch referiert von Graef - Gruppengespräch
Memo Philosophiewerkstatt vom 14.Juni 2015 – Colin Crouch referiert von Graef – Gruppengespräch

Crouch – in der Sicht von Reinhard Graef – spannt in seinen Thesen die drei Pole auf: (i) die Bevölkerung (als apathische Masse), (ii) die Wirtschaft (heute globalisiert und anonymisiert), und (iii) die Politik (von wirtschaftlichen Interessen dominiert, Demokratie nur noch als vom Marketing gesteuerte Wahlen). Dieses Bild wurde anhand von weiteren Thesen differenziert, gelegentlich auch ergänzt um Parallelen zwischen England und der Deutschen Politik.

Zwar als Monster hingestellt beeindruckten Personen wie Hitler, Mussolini und Stalin die westlichen Politiker (und Firmenchefs) doch darin, wie man ‚die Massen‘ für etwas begeistern kann. Die Steuerung der Medien und die Verflachung der Inhalte sind mittlerweile ‚Standard‘ auch in westlichen Demokratien. Der westlich-demokratische Politikbetrieb (speziell in den USA) tendiert immer mehr zu einer Propagandaschlacht, in der Marketingspezialisten den obersten Ton angeben. Differenzierte politische Diskurse sind ‚unpassend‘.

Dieser marketingorientierte Politikbetrieb beherrscht mittlerweile auch immer mehr den Alltag. Pressekonferenzen leben vom Verschweigen, Abwiegeln, Verweigern, Dementis, Floskeln. Hier manifestiert sich eine Verachtung des Wählerwillens und zugleich ein Verbergen von politischer Unfähigkeit hinter Floskeln.

Durch die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft entziehen sich die großen Firmen einerseits dem Einfluss nationaler Politik, zugleich versuchen sie aber die nationalen Infrastrukturen (Verkehr, Recht, Arbeitskräfte, …) für ihre Marktaktivitäten zu nutzen bei minimalen Steuern. In den letzten Jahren versucht die Politik durch eine vermehrte internationale Kooperation den globalen Ausbeutungen nationaler Ressourcen entgegen zu steuern, aber durch die starken Bindungen einzelner Politiker an große Konzerne fehlt diesen Maßnahmen bislang der richtige ‚Biss‘.

Colin Crouch sieht die Bevölkerung als apathische Masse, die das alles mit sich geschehen lässt. Andererseits deutet sich an, dass mit einem wachsenden Bildungs- und Aufklärungsniveau die Wahrnehmung geschärft werden kann und dass sich partielle Widerstände ausbilden, die sich dann doch über die Wahlen direkt auf die Politik auswirken können.

GESPRÄCH

Im Gespräch wurden alle diese Punkte aufgegriffen und vertieft. Das Gespräch nahm dann aber seine ganz eigene Richtung.

BEVÖLKERUNG

Das Gespräch hakte bei der Bevölkerung ein. Was ist mit dieser apathischen Masse? Haben wir apathische Jugendliche mit einer Sinnkrise? Sind die sozialen Stellungen tatsächlich mittlerweile eher fest, weniger durchlässig? Wachsende Ungleichheit, speziell beim Vermögen ist aktenkundig. Was macht dies mit der Gesellschaft? Haben wir eine ‚Kultur der Abrichtung‘, die im Kindergarten beginnt, sich in der Schule fortpflanzt und bei den Studenten nur noch willenlos-apathische Mehrheiten hinterlässt?

Ein Vertreter der jüngeren Generation (Student) widersprach diesem Bild. Die Jugendlichen sind nicht grundsätzlich apathisch, aber ihnen fehlen kritische Leitbilder, an denen sie ihr Verhalten ausrichten können. Er kritisierte seine Eltern, dass sie ihn eigentlich nicht zu einer Haltung des kritischen Hinterfragens erzogen haben.

Dies führte zu der Arbeitshypothese, dass die Menschen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) heute nicht schlechter sind als zu früheren Zeiten, dass aber die allgemeine Bildung und Ausbildung zu wenig Anreize liefert, sich kritisch und kreativ mit der Gesellschaft, der Politik und der Wirtschaft aktiv auseinander zu setzen.

FAKTOREN

Dies kann viele Gründe haben. Einmal natürlich die Arbeitswelt selbst, die durch ihre Anforderungen wenig Zeit und wenig Kraft übrig lässt, sich daneben noch aktiv mit Fragen des Lebens zu beschäftigen. Zum anderen die Medienwelt, die kritische Informationen, gedankliche anfordernde Inhalte eher meiden (Einschaltquoten).[Anmerkung: bei dem zweitgrößten Radiosender Europas darf keine Sekunde gesendet werden, die nach dem empirisch ermittelten Bild der Hörer des Senders den Eindruck erwecken könnten, das Wohlbefinden des Hörers zu stören. Es werden Millionen Euros nur dafür ausgegeben, zu wissen, wie der Hörer fühlt, denkt, und handelt]. Die Frage der ‚Wahrheit‘ der Quellen stellt sich: Wem kann man noch vertrauen? Ferner die gesamte Kultur samt ihren Bildungseinrichtungen, die eher zur ‚Anpassung‘ erzieht, zum ‚Wohlverhalten‘, zum ‚Nichtfragen‘ (‚Kultur der Abrichtung‘) als zum kritischen Hinterfragen, zum Widerstand, zur jugendlichen Revolte, um sich im Gegensatz neu finden zu können. Schließlich die Politik, die sich über Wählermüdigkeit beklagt, aber selbst ein massive Politikverweigerung täglich demonstriert: Wähler nicht ernst nehmen, statt fachlich-kundige Expertise Schlagworte, Floskeln, Pressekonferenzen als Aussageverweigerung, extremer Lobbyismus ohne offizielle Transparenz, usw.

ALTERNATIVE DURCH AUFKLÄRUNG

Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage nach einer Alternative zu einer ‚Kultur der Abrichtung‘.

Das Wort ‚Aufklärung‘ kam ins Spiel, eine Kultur der Aufklärung. Hier stellten sich viele Fragen: Woher soll die Zeit kommen, die man braucht, sich kritisch verhalten zu können? Das Effizienz- und Leistungsdenken steht dem bislang diametral entgegen. Und wenn aufklärendes Wissen und Handeln zu einer Veränderung führen könnte, wie viel Zeit muss man realistisch veranschlagen, bis Veränderungen greifen? Wichtige Prozesse brauchen Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Wer hat soviel Geduld?

Zu Aufklärung gehören auch Fragen wie die nach dem ‚richtigen Wissen‘, nach den ‚angemessenen Werten‘. Woher soll das kommen? Wer kann es wissen? Muss man sich dazu nicht mit anderen zusammen tun? Woher weiß eine Gruppe, ob sie nicht als Gruppe irrt? In der Geschichte gibt es genügend Beispiele, dass Gruppen sich in eine Idee verrannt hatten und dann scheiterten? Andererseits, wenn etwas wirklich ’neu‘ und ‚innovativ‘ ist, dann ist es fremd, unbekannt, erzeugt Irritation und Ängste, fördert Ablehnung. Kritisch-innovativ sein heißt dann nicht, dass man unbedingt ‚gesellschaftlich erfolgreich‘ ist. Kann oder muss man diese Ablehnung trainieren? Muss man das ‚Anderssein‘ üben? Einige berichteten, dass sie tatsächlich so etwas wie einen gesellschaftlichen Erwartungsdruck spüren, dass man bestimmte Dinge so und so tut. Sich anders ernähren, sich anders bewegen, sich anders kleiden usw. geht nicht ohne eine gewisse Anstrengung und Überwindung. Zusätzlich stellt man fest, dass man zwar A als eigentlich besser erkannt hat, dass man persönlich aber noch an Nicht-A hängt (Bedürfnisse, Gewohnheiten, Leidenschaften, Ängste, …). Dies verhindert eine Änderung.

In diesem Zusammenhang kam auch der Hinweis auf das hohe Potential an Selbsttäuschung, das jeder in sich trägt. Das ‚bewusste Wissen‘ ist ja nur ein winziger Ausschnitt aus dem riesigen Raum des ‚Nicht-Bewussten‘, der angefüllt ist mit einem komplexen Netzwerk an Bedürfnissen, Emotionen, Gefühlen, Ängsten und komplexen Denkprozessen. Wenn man nicht lernt, diese nicht-bewussten Anteile ein wenig einzuschätzen, dann meint man zwar, A zu tun wegen B, aber im nicht-bewussten Teil von einem selbst tut man A wegen C. Und dann wundert man sich, warum die Dinge dann anders laufen, als man wollte oder warum man auf Dauer krank wird.

Schließlich ist auch noch zu erwähnen, dass die besten Ideen nichts nützen, wenn man etwas plant und einfach nicht über die notwendigen Voraussetzungen verfügt. Ein Schuss Realismus bei der Übernahme von Aufgaben – speziell bei der Einschätzung der notwendigen Zeit – ist wichtig.

FORTSETZUNG DER PHILOSOPHIEWERKSTATT IN DER DENKBAR?

Wie beim letzten Treffen angekündigt, sollte bei dem letzten Treffen vor der Sommerpause auch darüber gesprochen werden, ob man das Experiment Philosophiewerkstatt in der DENKBAR fortsetzen soll oder nicht. Falls Ja, wie weiter?

Es gab ein überraschend einhelliges sehr klares Votum aller TeilnehmerInnen, dass diese Form des gemeinsamen Sprechens und Einsichten Findens von allen als sehr positiv, hilfreich, anregend usw. erlebt wird. Alle votierten für eine Fortsetzung im Herbst, wieder jeder 2.Sonntag im Monat, 16:00h, Start So 11.Oktober 2015. Ergänzung oder Verzahnung mit anderen Veranstaltungen ist möglich. Allerdings wurde von allen auch betont, dass diese Gesprächsform keine zu großen Teilnehmerzahlen verträgt.

BUCH ZUM BLOG cognitiveagent.org

Gerd Doeben-Henisch wies daruf hin, dass er bis Ende August versucht, auf 100 Seiten die ca. 1500 Seiten seines Blogs ‚lesbar‘ zusammen zu fassen. Eine Veröffentlichung ist für November 2015 geplant. Bis dahin gibt es einen Vorabdruck für jedes Kapitel im Blog selbst.