Archiv der Kategorie: Christentum

NICK LANE – LIFE ASCENDING – BESPRECHUNG – Teil 1b – Nachtrag zu Teil 1

Nick Lane, „Life Ascending“, London: Profile Books Ltd, 2009 (Paperback 2010)

  1. Hir ein paar weitere Nachbemerkungen zum Teil 1 der Besprechung von Nick Lane’s Buch

GESPALTENE WELT IM KOPF

  1. Viele (die meisten?) Menschen haben in ihrem Kopf ein Bild von der Welt, in der die Welt mindestens zweigeteilt ist: hier sie selbst als Menschen, als Wesen mit Gefühlen, Geist, Seele, Werten usw., dort die restliche, unbelebte, materielle Welt, so anders, ganz anders. Wenn man diese Menschen fragt, warum sie die Welt so sehen, wissen sie oft keine Antwort. Es ist halt so; so wurde es ihnen erzählt, das sagen die Religionen. Sonst wäre ja alles so sinnlos, leer. Selbst Menschen mit Studium, mit Doktortitel, Menschen die selber wissenschaftlich arbeiten, haben solche (naiven?) Anschauungen.

WO SIND DIE HELFER?

  1. Umgekehrt bieten die Naturwissenschaftler oft (sehr oft? meistens?) wenig Hilfestellungen, Verstehensbrücken zu schlagen zwischen naturwissenschaftlichen Konzepten und den alten Bildern vom Menschen als Krone der Schöpfung, mit Gefühlen, Seele und Geist. Eigentlich wäre hier die Philosophie zuständig. Die zerfällt aber in zwei große Lager: jene, die die alten Menschenbilder konservieren und sich selbst den neuen Entwicklungen im Denken verweigern, und jene, die sich voll auf die Seite der neueren Wissenschaften geschlagen haben und die Vermittlung mit den alten Weltbildern gar nicht erst versuchen. Eine sehr missliche Lage. Ein anderer Parteigänger des alten Menschenbildes sind alle großen Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, …). Aber diese sind ihren eigenen sehr speziellen Glaubensgrundlagen und gewachsenen Traditionen so sehr verpflichtet, dass sie sich in ihrem Wahrnehmen und Denken selbst gefesselt haben. Wehe jemand denkt anders als man es bislang gewohnt ist zu denken; ein solcher macht sich verdächtig, fällt aus dem Rahmen, wird möglicherweise zum Ungläubigen, und – wie wir wissen – kann massiv bestraft werden, bis hin zum Tod.
  2. Und dann die empirischen Wissenschaften selbst: schon die Physik hat ihre Probleme mit der Biologie, die Biologie mit der Psychologie und Soziologie und all den anderen komplexen Wissenschaften vom menschlichen Leben.
  3. Auch ein Detail wie die Sprache der Wissenschaften hält viele Überraschungen bereit: es gibt viele Sprachen in der Wissenschaft. Zentral ist eigentlich die Mathematik. Aber auch diese zerfällt in viele Teilgebiete, die sich erst im 20.Jahrhundert im Umfeld der Algebra zu einer allgemeinen Strukturwissenschaft geformt hat, mit einer eigenen Metamathematik, die allerdings auch eher nur ein Randdasein führt, ein Exotenfach. (siehe Corry 1996 (2.Aufl. 2004)).

AUS DER GESCHICHTE LERNEN?

  1. Aus der Geschichte können wir wissen, dass Änderungen im Denken von Menschen weitgehend über die umgebende Gesellschaft gesteuert wurden. Änderungen konnten hunderte von Jahren dauern. Im Falle der Rezeption der griechischen Philosophie und Wissenschaft im westlichen Europa (in dem durch die katholische Kirche Wissen, Bildung, Wissenschaft – entgegen vielfacher Meinung – mehrere Jahrhunderte fast ausgerottet worden ist) hat es fast 1000 Jahre gedauert, bis Teile dieses Wissens dank der (damals) hochstehenden islamischen Kultur über großartige und umfassende Übersetzungstätigkeiten wieder zurückfanden in die Köpfe von Westeuropäern.

ENGSTELLE INDIVIDUELLE LEISTUNGSFÄHIGKEIT

  1. Heute werden wir Dank Computer und Internet (und speziellen Unternehmen) von Wissen überflutet. Aber was nützt dies, wenn wir pro Tag vielleicht nur 10-20 Seiten komplexe Texte verarbeiten können? Was nützen Terabytes von Daten, wenn wir in unserem individuellen Denken zusätzlich zur Kapazitätsbegrenzung Voreinstellungen besitzen, die uns dazu bringen, nur ganz bestimmte Dingen wahrnehmen und denken zu wollen, alles andere aber nicht? Und dazu die Algorithmen vieler Inhaltsanbieter: man bekommt mehr und mehr nur noch die Dinge zu sehen, die man am häufigsten anklickt: genau das Gegenteil wäre hilfreich, auch mal etwas anderes zu sehen, was es auch noch gibt, um sich aus seiner eigenen kleinen Welt zu befreien. Oder, in lichten Momenten, wollen wir vielleicht doch mal etwas anderes wahrnehmen und denken und müssen dann feststellen, dass uns viele Voraussetzungen fehlen, das Andere zu verstehen; wir sinken mutlos in uns zurück und kapitulieren, bevor wir angefangen haben, Neues wahrzunehmen. Das Neue, das Andere ist sehr wohl da, aber wir sind in uns selbst gefangen; die Schwerkraft des eigenen Nichtwissens hält uns quasi fest, bindet uns, lähmt uns, macht uns mutlos.
  2. Wie also können wir uns aus dieser Sackgasse befreien? In Computerspielen haben die Programmierer meistens einen Ausweg eingebaut, für den es Belohnungspunkte gibt. Wie sieht es im realen Leben aus?

GEHEIMNIS DES ERFOLGS BISHER

  1. Schauen wir auf die Entwicklung des biologischen Lebens, dann können wir ein sonderbares Schauspiel beobachten: seit dem Auftreten der ersten Bakterien (ca. zwischen -4 Mrd und -3.4 Mrd Jahren vor unserer Zeit) und dann speziell seit dem ersten Auftreten der ersten komplexen Zellen (vor ca. -1.0 Mrd Jahren) können wir beobachten, wie ein Selbstreproduktionsmechanismus, der als solcher blind war (und ist) für seine Umgebung und für das was kommen wird, so viele geniale neue Lebensformen hervorgebracht hat, dass es irgendwann dann auch Wesen gab wie den homo sapiens sapiens (heute meist nur homo sapiens, weil der postulierte homo sapiens als Bindeglied zum homo sapiens sapiens keine rechte Funktion besitzt), dessen Körper von ca. 34 Billionen (10^12) Zellen gebildet wird, lauter Individuen, die miteinander kooperieren (und noch mehr Bakterien, die wiederum mit den Körperzellen kooperieren). Das Geheimnis des Erfolgs ist, dass trotz lokaler Unwissenheit, lokaler Blindheit, eine Population bei der Selbstreproduktion so viele Varianten erzeugt hat, so viele kreative Abweichungen, dass immer dann, wenn die Umwelt sich geändert hatte und die bisherigen Lebensformen ein Problem bekamen, genügend andere Formen verfügbar waren (glücklicherweise), dass die Geschichte des Lebens bis heute anhält (unter den Problemen der Umgebungen gab es alleine 5 große Eiszeiten von 2×20 Mio, ca. 60 Mio, ca. 100 Mio und sogar ca. 300 Mio Jahren Dauer!!!!! Den homo sapiens – also uns – gibt es gerade mal ca. 200.000 Jahre).

WO DER ERFOLG WOHNEN KANN

  1. In der Kunst lebt die Bereitschaft zum kreativen Denken und Verhalten ansatzweise weiter. Die gesamte Wissenschaft ist eigentlich dem Prinzip der kontrollierten Änderung des aktuellen Wissens verpflichtet; jedes Unternehmen lebt eigentlich von der Innovation seiner Produkte. Jeder einzelne Mensch erlebt heute schmerzhaft, dass die Planung einer Ausbildung oder die Ausübung eines Berufes immer kurzlebiger, immer unsicherer wird. Und doch, wir tun uns mit den Weltbildern in unseren Köpfen schwer. Sie haben ein großes Beharrungsvermögen, können die Festigkeit von Beton besitzen.
  2. Im Kern haben wir also das Problem, dass wir zu jedem Zeitpunkt, an dem wir gerade leben, ein Wissen haben, das als solches zwar begrenzt wertvoll ist, das aber gemessen an dem, was wir noch nicht wissen, nur begrenzt hilfreich ist. Es gänzlich außer Acht zu lassen wäre sicher falsch, da es ja bisherige Erfolgsrezepte (im positiven Fall) beinhaltet; aber es ausschließlich zu benutzen, wäre auch falsch, sehr wahrscheinlich tödlich. Wir brauchen zu jedem Zeitpunkt ein schwer bestimmbares Maß an Neuem, das insoweit neu ist, als es wirklich anders ist als das, was wir bislang kennen. Damit verbindet sich unausweichlich ein Risiko, dass das so gewählte Neue nicht zum Ziel führen muss. Dieses Risiko ist quasi der Preis des möglichen Überlebens. Genauso wenig wie aus dem Nichts irgendetwas entstehen kann, genauso wenig können wir kostenlos die Zukunft gewinnen.
  3. Ich kritisiere ja – wie leicht zu sehen – die bestehenden Religionen oft und stark. Aber es ist interessant, dass sich in den überlieferten Worten eines Jesus von Nazareth (sofern man sie ihm wirklich zuordnen kann), das Bild von einer je größeren Zukunft sehr deutlich findet; dass das Weizenkorn sterben muss, um dem je größeren Leben Raum zu geben; dass das, was er selber getan hat, jeder andere nicht nur auch tun kann, sondern dass jeder andere sogar noch viel mehr tun kann; dass man über andere nicht urteilen sollte, weil das eigene Wissen grundsätzlich falsch sein kann (und oft falsch ist), usw. Dies sind Gedanken, die nicht notwendigerweise etwas mit Religion zu tun haben müssen; es sind grundsätzliche Sachverhalte, die sich dem zeigen, der das biologische Leben betrachtet, wie es sich nun mal manifestiert.

Es gibt eine weitere Fortsetzung als Teil 2.

WEITERE QUELLEN/ LINKS (Selektiv)

  • Text des Neuen Testaments: https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/novum-testamentum-graece-na-28/lesen-im-bibeltext/ //* Das ist der griechische Urtext. Wir sind daran gewöhnt, immer irgendwelche Übersetzungen zu lesen und dabei zu vergessen, dass jede Übersetzung eine Interpretation ist. Zudem hat jeder Text eine Überlieferungsgeschichte, d.h. es gibt in der Regel nicht nur einen Text, sondern viele Handschriften, aus denen dann der ‚plausibelste‘ Text zusammengestellt wird/ wurde (was auf dieser Webseite leider nicht angezeigt wird). Und wenn man den Urtext liest, wird man fast über jedes Wort stolpern und sich fragen, was soll dieses Wort eigentlich bedeuten? Woher wissen wir, was die schwarzen Zeichen auf dem weißen Papier bedeuten können/ sollen? Meist ist ja bei alten Texten gar nicht klar, wer sie verfasst hat. Letztlich kann jeder sie geschrieben haben, oder viele verschiedene, oder verschiedene hintereinander, und jeder hat seine Änderungen angebracht….
  • Leo Corry, Modern Algebra and the Rise of Mathematical Structures, Basel – Boston – Berlin: Birkhäuser Verlag, 1996 (2.rev.Aufl. 2004)
  • Harold Morowitz: https://en.wikipedia.org/wiki/Harold_J._Morowitz (ein großes Thema: Wechselwirkung von Thermodynamik und Leben)
  • Michael J.Russel et al: http://www.gla.ac.uk/projects/originoflife/html/2001/pdf_articles.htm: The Origin of Life research project by Michael J. Russell & Allan J. Hall , University of Glasgow, May 2011
  • Krebs-Zyklus: https://en.wikipedia.org/wiki/Citric_acid_cycle
  • Martin W, Russell MJ., On the origin of biochemistry at an alkaline hydrothermal vent. , Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci. 2007 Oct 29; 362(1486):1887-925.
  • Martin W, Baross J, Kelley D, Russell MJ., Hydrothermal vents and the origin of life., Nat Rev Microbiol. 2008 Nov; 6(11):805-14.
  • Harold Morowitz und Eric Smith , Energy flow and the organization of life , Journal Complexity archive, Vol. 13, Issue 1, September 2007, SS. 51 – 59 ,John Wiley & Sons, Inc. New York, NY, USA

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DIE SELBSTABSCHALTUNG – UND NOCH EIN PAAR BETRACHTUNGEN ZUR PSYCHOLOGIE DES MENSCHEN

  1. Im Laufe seines Lebens trifft man auf sehr viele unterschiedliche Menschen. Über Körperformen, Geruchsprofile, Spracheigenschaften, Hautfarben, Verhaltensbesonderheiten, Art des Lachens oder Weinens, Essgewohnheiten, Musikvorlieben, und vielem mehr, gibt es eine große Bandbreite. Viele neigen dazu, äußerliche Besonderheiten sofort aufzugreifen, sie hoch zu stilisieren als abgrenzende Besonderheiten, als besondere Menschenklasse, als der bzw. die Anderen. Dabei sind es nur die ganz gewöhnlichen Varianten, die im biologischen Programm der Menschwerdung möglich und vorgesehen sind. Der/ die/ das Andere erweckt in vielen Menschen zudem oft spontane Ängste, weil sie instinktiv spüren, dass sie selbst, so, wie sie sind, nichts Absolutes sind, nicht die einzige Wahrheit; das sie selbst angesichts des Anderen sich auch als etwas Besonderes spüren, etwas Veränderliches, möglicherweise etwas Zufälliges, das am Selbstverständnis nagen kann: wer bin ich, wenn ich auch nur etwas Anderes für Andere bin? Wer bin ich, wenn ich auch nur etwas Zufälliges für andere bin, eine Variante?
  2. Es ist offensichtlich, dass Menschen, von Innen getrieben, nach Fixpunkten suchen, nach Wahrheiten, nach Gewissheiten, nach Anerkennung, nach einem positiven Selbstgefühl. Menschen halten es nicht gut aus, sie mögen es nicht, wenn ihr Selbstgefühl leidet. Und selbst in schweren Formen der Erniedrigung (z.B. in der leider viel zu häufigen Realität, wenn Frauen von Männern misshandelt werden), suchen Menschen noch in der Erniedrigung eine Form der Wertschätzung heraus zu lesen: Ja, der andere quält mich, aber noch in dieser Form der Qual nimmt der andere mich doch ernst, nimmt er mich wahr, verbringt er Zeit mit mir, usw. Dieses letzte Flackern des Lebenswillens reicht zwar aus, sich über der Nulllinie zu halten, nicht aber, um das zu verändern, was Leid und Zerstörung mit sich bringt.
  3. Dass Männer so oft Frauen misshandeln, weil Männer sich Frauen gegenüber aus vielfachen Gründen unterlegen fühlen, erscheint aber nur als eine Spielart von vielen anderen: Wenn Mitglieder einer politischen Partei wie besinnungslos auf Mitglieder anderer politischer Parteien mit Worten (und bisweilen auch Fäusten) einschlagen, dabei gebetsmühlenartig ihre Slogans wiederholen ohne dass irgend jemand näher überprüft hat, ob und wie man die Dinge auch anders sehen könnte, dann ist dies letztlich nichts anderes. Die andere Gesinnung als solche wird zum ab- und ausgrenzenden Merkmal, der Andere erscheint als direkte in Fragestellung der eigenen Position. Egal welche Parteien, ich habe noch nie erlebt, dass man mit einem aktiven Mitglied einer Partei (ob in Deutschland, Frankreich, England, den USA oder wo auch immer) bei einer Veranstaltung, wo verschiedene Vertreter präsent sind, einfach normal über mögliche Alternativen reden konnte.
  4. Bei Religionsgemeinschaften – zumindest in ihren fundamentalistischen Teilen – ist dies nicht anders (Juden, Christen, Muslime, Buddhisten, Hindus, …). Sie alle treten auf wie Marionetten eines Einpeitschers, der nicht außen steht, sondern sich in ihr eigenes Gehirn eingenistet hat und von dort aus alles terrorisiert. Das Furchtbare, das Erschreckende daran ist eben dieses: der Einpeitscher sitzt in ihrem eigenen Gehirn und er erlaubt diesen Menschen nicht, dass sie Fragen stellen, Fragen zu sich selbst, Fragen zu ihren eigenen Anschauungen, Fragen über die Welt, Fragen dazu, wie denn das alles gekommen ist, usw. Der Einpeitscher in ihren Gehirnen ist wie ein Computervirus, der dieses Gehirn gekapert hat, es so umprogrammiert hat, dass es gegen jegliche Beeinflussung von außen immunisiert wurde. Manche gehen damit bis in ihren eigenen Tod, wie jene Ameisen, die von einem bestimmten Pilz befallen wurden, der dann mit chemischen Stoffen über das Blut das Gehirn dieser Ameise so steuert, dass sie sich Vögeln zum Fraß anbieten, damit der Pilz in diese Vögel gelangen kann. Nicht anders funktionieren die fremde Einpeitscher-Slogans im eigenen Gehirn: sie schalten diese Menschen quasi ab, machen sie zu willenlosen Werkzeugen ihres Gedankenvirus. Man erkennt diese Menschen daran, dass sie im Gespräch immer nur Slogans wiederholen und nicht mehr selbst denken können.
  5. Wer glaubt, dass dies nur bei dummen Menschen funktioniert, der lebt in einer gefährlichen Täuschung. Der Virus der Selbstabschaltung findet sich auch bei intelligenten Menschen, und zwar nicht weniger häufig als bei sogenannten dummen Menschen (ich benutze die Begriffe ‚dumm‘ und ‚intelligent‘ normalerweise nicht, weil sie sehr oft zur Abgrenzung und Abwertung benutzt werden, aber in diesem Fall tue ich es, um genau diese Instrumentalisierung von Eigenschaften als Waffe gegen Menschen anzusprechen). Da die Welt sehr kompliziert ist und die allerwenigsten Menschen genügen Zeit haben, allen Dingen selbst soweit auf den Grund zu gehen, dass sie sich ernsthaft eine eigene Meinung bilden können, sind viele Menschen – ob sie wollen oder nicht – auf die Meinung anderer angewiesen. Davor sind auch intelligente Menschen nicht befreit. Da auch sogenannte intelligente Menschen die ganze Bandbreite menschlicher Triebe, Bedürfnisse, Emotionen, Gefühle in sich tragen (auch Eitelkeit, Machthunger usw.), angereichert mit ebenso vielen sublimen Ängsten, ist ihre Intelligenz nicht im luftleeren Raum, nicht beziehungslos, sondern steht auch permanent unter dem Andruck all dieser – vielfach unbewussten – Ängste, Triebe und Emotionen. Und, jeder einzelne, wie im Bilderbuch, nutzt seine Intelligenz um all diese unbewältigten Ängste, Triebe und Emotionen maximal zu bedienen. Wer seine Ängste, Triebe und Emotionen nicht in den Griff bekommt (Wer kennt jemanden, der dies vollständig kann?), erfindet wunderbare Geschichten (Psychologen nennen dies Rationalisieren), warum man eher das tut als etwas anderes; warum man nicht kommen konnte, weil; warum man unbedingt dorthin fahren muss, weil; warum dieser Mensch blöd ist, weil; usw. um damit  die wahren Motive unangetastet zu lassen.  Die große Masse der intellektuell verkleideten Geschichten ist in dieser Sicht möglicherweise Schrott, in der Politik, in der Religion, im menschlichen Zwischeneinander, in der Wirtschaft ….
  6. In einem der vielen Gespräche, die man so führt, stand mir einmal jemand gegenüber, der ohne Zweifel hochintelligent war und sehr viel wusste. Leitmotiv seiner vielen Äußerungen war, dass die meisten Menschen dumm sind und innerlich abgeschaltet sind. Daher lohne es sich nicht, sich mit Ihnen zu beschäftigen. Dabei fand er nichts dabei, dass er selbst immer wieder die gleichen Argumentationsfiguren wiederholte und bei Nachfrage, nach seinen Voraussetzungen tatsächlich erregt wurde, weil seine Kronzeugen nicht anzugreifen waren; seine eigenen Kronzeugen waren eben einfach wahr. Wer war hier abgeschaltet? War dies auch eine Strategie, um sich von der Vielfalt des Lebens mit Begründung abschotten zu können? Im Gespräch ging es fast nur um die Unterwerfung unter seine Prämissen; ein neugieriges Hinhören oder spielerisches Umgehen mit Varianten war im Ansatz trotz vielfacher Angebote meinerseits ausgeschlossen. Dieses Verhalten wirkte auf mich wie eine massive Selbstabschaltung vor der Vielfalt und dem Reichtum des Lebens, insbesondere auch als eine massive Selbstabschaltung vor den eigenen Abgründen und Möglichkeiten.
  7. Dieses sehr verbreitete Phänomen der Selbstabschaltung der Menschen von der Welt, von den anderen Menschen, vor sich selbst, ist gepaart mit einerseits einer unkritischen Überhöhung jener Positionen, die man (wie intelligent man auch sein mag) als für sich als wahr übernommen hat, und zugleich einer fast fanatischen Verteuflung von allem anderen. Wie eine Menschheit, die am Virus der Selbstabschaltung leidet, die sich nähernde Zukunft meistern soll, ist schwer zu sehen. Bislang haben die impliziten Kräfte der biologischen Evolution lebensunfähige Strukturen aussortiert. Das hat oft viele Millionen Jahre, wenn nicht hunderte von Millionen Jahren gedauert. Durch die Transformierung der Realität in das symbolische Denken von Gehirnen, erweitert um Kulturtechniken des Wissens, zuletzt durch Computer, Netzwerke und Datenbanken, hat es der homo sapiens geschafft, sich von diesem sehr langsamen Gang der bisherigen Form der Evolution zu befreien. Im Prinzip kann die Menschheit mit ihren Wissenstechniken die Erde, das Weltall, die Evolution denkerisch nachempfinden, nach analysieren, selber mögliche Zukünfte durchspielen und dann versuchen, durch eigenes Verhalten zu beschleunigen. Wenn nun aber dieses Denken eingebettet ist in eine unbewältigte Struktur von Ängsten, Trieben und Emotionen aus der Frühzeit des Lebens, ohne dass genau dafür neue leistungsfähige Kulturtechniken gefunden wurden, dann wirken all diese neuen analytischen Errungenschaften wie ein Panzer, der von einem kleinen Baby gesteuert wird mitten in einer belebten Stadt. Dies wirkt nicht wie ein Erfolgsrezept.
  8. Da das Universum ohne unsere Zutun entstanden ist, unsere Milchstraße, unser Sonnensystem, unsere Erde, das biologische Leben, wir alle, besteht vielleicht ein wenig Hoffnung, das in diesem – für uns nur schwer zu durchschauenden – Chaos Elemente vorhanden sind, implizite Dynamiken, die wir (dank unseres Selbstabschaltungsvirus?) bislang noch nicht entdeckt haben. Leider ist das, was viele offizielle Religionen als Lösungsmuster propagieren, offensichtlich nicht das, was uns hilft. Die meisten institutionalisierten Religionen erscheinen selbst als Teil des Problems.
  9. Man darf gespannt sein. Ich bin es. Höchstwahrscheinlich werde ich in meinem Leben nicht mehr erleben können, ob und wie die Menschheit ihre eigene Selbstabschaltung in den Griff bekommt.

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STUNDE DER ENTSCHEIDUNG – Ist irgendwie immer, aber manchmal mehr als sonst

PARIS IST ES NICHT

  1. Dass in dem Augenblick, in dem ich diese Zeilen schreibe, wenige Stunden zuvor wieder einmal Terroranschläge in Paris stattgefunden haben, die vielfach dem sogenannten Islamischen Staat zugerechnet werden (klare Informationen habe ich noch keine), ist eher Zufall. Dennoch gibt es möglicherweise einen Zusammenhang mit dem Thema dieses Blogeintrags. Der Leser möge sein eigenes Urteil bilden.

ENTSCHEIDUNGEN IM GROSSEN

  1. Die Formulierung Stunde der Entscheidung kann pathetisch klingen, je nachdem, wo und wie man solch eine Formulierung benutzt. Meist denkt man wohl an kriegerische Auseinandersetzungen, an Kriege zwischen Völker und Nationen, wenn es für alle Beteiligten um Sein oder Nichtsein ging. Das hatte dann schon etwas von Stunde der Entscheidung.

ENTSCHEIDUNGEN GANZ KLEIN

  1. Wenn man den Blick auf solch eine Sondersituation fokussiert, dann gerät man aber in Gefahr, den Blick für das Ganze zu verlieren. Das Ganze ist der Lebensprozess auf dieser Erde. Wir Menschen – das vergessen wir gerne – sind keine losgelösten Sonderwesen, die alleine auf diesem Planeten leben, die alleine über das Schicksal des Lebens auf diesem Planeten entscheiden. Nein. Nichts falscher als dieses. Wir Menschen, jeder einzelne Menschen, JEDER!, bilden eine Lebensform, die in der Kooperation von ca.37 Billionen (= 10^12) einzelnen Zellen besteht. 37 Billionen! (zum Vergleich, man schätzt, dass die Milchstraße, unsere Heimatgalaxie, ca. 100 Milliarden (= 10^9) Sonnen umfasst). Und das ist noch nicht alles. Man schätzt, dass IN unserem Körper nochmals ca. 100 Milliarden (=10^9) Bakterien leben, und auf unserer Haut ca. 220 Milliarden. Diese alle zusammen bilden eine Lebensgemeinschaft, die dafür sorgt, dass wir Körperfunktionen haben, das wir uns ernähren können, dass wir denken können, dass wir in dieser Welt voller Bakterien überhaupt existenzfähig sind. Ohne diese Bakterien würden wir innerhalb von Stunden zugrunde gehen, elendig, hilflos.

(Anmerkung: Alle Informationen zu den Mikroben habe ich dem Buch von Kegel entnommen (s.u.), das ich hier im Blog auch noch ausführlich besprechen werde).

  1. Jede einzelne dieser Zellen ist so komplex, dass ein modernes Lehrbuch über die Zelle 1342 engbedruckte Seiten umfasst, und man nach der Lektüre von diesen 1342 Seiten wissen kann, dass viele wichtige Fragen – vielleicht sogar die wichtigsten? – noch unbeantwortet sind. Klar ist aber, dass jede einzelne Zelle in jedem Moment der Ort von Entscheidungen ist, von vielen Entscheidungen gleichzeitig, die alle darüber entscheiden, wird das Leben in den nächsten Minuten noch stattfinden oder nicht. Also, in jeder Sekunde, nein, in jeder Millisekunde, haben wir 37*10^12 * 100*10^19 * 220*10^9 Zellen und Bakterienorte, in denen jeweils mehr als eine Entscheidung gefällt wird, was als nächstes geschehen wird. Dort, wo diese Entscheidungen geschehen, sind sie unabhängig voneinander, aber in ihrem Effekt zeigen sie, dass sie auf wunderbare Weise aufeinander abgestimmt sind! Wenn wir sagen, dass wir gesund und leistungsfähig sind, dann sind alle diese 37*100* 220* 10^12 * 10^19 *10^9 = 814*10^43 Entscheidungsbereiche so aufeinander abgestimmt, dass wir subjektiv das Gefühl haben, alles ist OK, alles ist perfekt, alles ist gut.
  2. Zum Vergleich, ein Weltkonzern wie Siemens hatte im März 2015 ca. 342.000 Mitarbeiter, also 342 * 10^3 menschliche Entscheidungsbereiche. Wenn man sieht, wie schwer sich solch ein Weltkonzern mit einer Komplexität von 10^3 Entscheidungsbereichen tut, alles miteinander gut laufen zulassen, welcher Aufwand getrieben wird, wie viel Misskommunikation stattfindet, wie viele Pannen, dann kann man – aber nur sehr schwach und dunkel – erahnen, was es bedeutet, dass jeder einzelne Mensch eine Komplexität von 10^43 aufweist; ehrlicherweise entzieht sich dies unser Vorstellungskraft. Die Menge der Gegenstände, die wir mit unserem Gehirn bewusst gleichzeitig denken können, liegt in der Größenordnung von 4-9 Auch bei einem Nobelpreisträger!!!
  3. Laut dem statistischen Bundesamt waren von allen Arbeitnehmern in Deutschland 2014 offiziell 9,5 Tage krank gemeldet . Bezogen auf 365 Tage im Jahr sind dies 2.6% eines Jahres. Also, unser unvorstellbares Gebilde von 814*10^43 Mikroentscheidungsbereichen unseres Körpers hat eine – bezogen auf die Arbeitsfähigkeit – Ausfallrate von 2.6%. Wenn wir bedenken, dass wir bis heute nicht in er Lage sind, auch nur eine einzige Zelle selbst komplett herzustellen (wir benutzen dafür das Knowhow der Zellen, die sich selbst reproduzieren können), geschweige denn verstehen, wie man solch komplexe Gebilde mit einer Komplexität von 814*10^43 herstellen würde (obwohl jede Zeugung eines Menschen mit Geburt und anschließendem Wachstum den Eindruck erweckt, wir sind zumindest am Geschehen beteiligt), dann erleben wir in jedem Augenblick ein Ereignis-Wunderwerk, das sich unserem wissenschaftlichen Verstehen bislang weitestgehend entzieht. Immerhin gewinnen wir immer mehr erste Einblicke, durch die wir überhaupt merken (wer merkt es wirklich?), mit welch ungeheuerlichen Sache wir es hier zu tun haben.

PLANET DER MIKROBEN

  1. Würde man jetzt anfangen zu rechnen, wie viele Zellen und Bakterien es auf der Erde gibt, mit dem Wissen, das Bakterien sich sowohl viele Kilometer tief im Boden, im Meer, unterm Meer, in der Luft über uns vorfinden (mit vielen Milliarden pro Gramm Boden), dann kann man irgendwie erahnen, dass es eine ungeheuer große Zahl sein muss. Und es gibt keine Lebensform auf der Erde, weder bei den pflanzlichen noch den tierischen, die zu ihren elementaren Funktionen nicht Bakterien benötigt, und zwar immer sehr, sehr viele. Die Erde ist in erster Linie ein Planet der Bakterien, genauer der Mikroben, da man in der heutigen Wissenschaft neben den Bakterien noch die  Archaea kennt.
  2. Alle komplexeren Lebensformen, jene, die wir mit unseren Sinnesorganen direkt wahrnehmen können, sind letztlich Konstruktionen unter Verwendung der einfachen Strukturen (Eukaryoten, Bakterien, Archaea). Selbst das Gehirn, beim Menschen der Sitz von Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Sprechen, Bildverstehen, Emotionen, Gefühlen usw. ist nah besehen nichts anderes als eine Ansammlung von ca. 100 Milliarden Gehirnzellen (plus vieler weiterer Hilfszellen), die jede für sich ist. Die einzeln Zelle weiß in gewisser Weise nichts von all den anderen. Und doch kooperieren diese Zellen im Millisekundenbereich miteinander auf eine Weise, die uns, die wir solch ein Gehirn haben, den Eindruck erwecken, als ob wir Objekte im Raum sehen mit Formen, Farben, verschiedenen Positionen, wir hören Laute, wir betasten Gegenstände, wir haben gerade mal keinen Hunger aber vielleicht Durst, … das Gehirn bietet uns einen Raum des Bewusstseins, angefüllt mit Phänomenen. Und dies leisten diese 100 Milliarden einzelne Zellen, die nichts voneinander wissen. Die Neurowissenschaften, die bislang viele wunderbare Eigenschaften über das Gehirn herausgefunden haben, können bislang aber nicht wirklich erklären, woher und wie diese 100 Milliarden Zellen + X weitere Zellen es wissen, was zu tun ist.

WIE IST DAS MÖGLICH?

  1. Wie gesagt, das was wir sind, jeder einzelne von uns, ist so ungeheuerlich, so unfassbar, dass man sich – aktuell, momentan – kaum vorzustellen vermag, wie es möglich ist, dass es uns (und all die anderen unfassbaren Lebensformen) tatsächlich gibt, so gibt, wie wir uns vorfinden.
  2. Wunderbarerweise hat die Wissenschaft seit ca. der Mitte des 19.Jh immer mehr einzelne Fakten entdeckt, gesammelt, in Beziehung gesetzt, so dass wir heute davon ausgehen müssen, dass die Geschichte dieser Mikroben vor etwa 4 Milliarden Jahren begonnen zu haben scheint. Zu Beginn gab es noch keinen Sauerstoff, der heute so allgegenwärtig erscheint und ohne den die meisten Lebensformen nicht existieren könnten. Alle ersten Lebensformen kamen ohne Sauerstoff aus; es waren di Cyanobakterien, die als erste und einzige ein Verfahren zur Fotosynthese ‚erfunden‘ haben, das als Abfallprodukt Sauerstoff freisetzt. Dies begann vor ca. -3 Milliarden bis – 2.7 Milliarden Jahren, und setzte einen Prozess in Gang, der schrittweise, das Meer und die Atmosphäre nachhaltig veränderte. Die neuen Oxidationsprozesse erzeugten massive Treibhausgase, die u.a. zur Totalvereisung der Erde (Huronische Eiszeit) führten, die mehrere hundert Millionen Jahre gedauert hat.
  3. Vor ca. -1.45 bis -1.85 Milliarden kamen dann die eukaryontischen Zellen ins Spiel, die schon auf der Basis von Sauerstoff operierten. Zwischen -0.6 Milliarden und -0.85 Milliarden finden sich dann die ersten Vielzeller. Sehr trockene Fakten für ein kosmologisches Drama der Sonderklasse. Das biologische Leben als Ganzes hat die Qualität einer kosmologischen Singularität (unter anderem gilt: es funktioniert als Entropiekonverter, für den es keine bekannten physikalischen Gesetze gibt; für deren Auftreten es keinen bekannten Grund gibt; der Vorgang besitzt eine implizite anwachsende Komplexität; er ist irreversibel).

DNA ALS INFORMATION

  1. Sind alle diese Fakten schon atemberaubend, so erleben wir in unserer Gegenwart, seit ca. 50-60 Jahren einen Prozess, der das Zeug dazu hat, zu einem weiteren Meilenstein der Evolution beitragen zu können.
  2. Bislang in den vier Milliarde Jahren Leben auf dem Planet Erde hat das Leben sich dadurch behauptet und weiter entwickelt, dass es in der Lage war, Moleküle (DNA) dazu zu benutzen, um Bauprozesse und Ablaufprozesse in Form von chemischen Verbindungen zu kodieren und wieder zu dekodieren. Diese revolutionäre Erfindung von Information im Vollsinn (zum Vergleich, der heute vielfach benutzte sogenannte Informationsbegriff von Shannon deckt nur einen Teilbereich von Information ab; Shannon selbst war sich dieses Sachverhalts voll bewusst!) war – im Nachhinein betrachtet – mit Abstand die wichtigste aller Innovationen, die das Leben auf diesem Planeten auszeichnet. Denn nur dadurch konnte Evolution überhaupt stattfinden. Was immer der Selbstreproduktionsmechanismus leistete, nur durch die Einbeziehung einer Informationsstruktur, die aktuelle ‚Anweisungen‘ speicherte, konnten sich die verschieden – weitgehend zufällig erzeugten Änderungen – in der Gesamtheit erfolgreicher Bauteine ‚erhalten‘ und damit sich zu den Bauplänen von Leben entwickeln, die wir heute vorfinden und partiell kennen.
  3. Eine Theorie der Welt, die nur die bekannten physikalischen Gesetze berücksichtigen würde, wäre angesichts der biologischen Phänomene, wesentlich unvollständig (wobei die heutige Physik ja auch in sich selbst unvollständig und widersprüchlich ist und bezogen auf bekannte empirische Phänomene wie ‚dunkler Materie‘ bzw. ‚dunkler Energie‘ nicht einmal die leiseste Idee hat, wie sie damit umgehen soll).

JENSEITS DER DNA

  1. Nimmt man die biologischen Phänomene ernst, nimmt man diesen Selbstreproduktionsmechanismus mit dem vollen Informationsmechanismus im Kern ernst, dann erleben wir mit dem Auftreten von Gehirnen generell und mit dem Auftreten spezieller Technologien seit dem letzten Jahrhundert etwas Besonderes.
  2. Mit dem Auftreten der Gehirne, speziell dem Gehirn des homo sapiens (dazu werden wir gezählt), kommt eine neue Qualität ins Spiel. Während die in der DNA kodierte Information im Prinzip ‚fest‘ ist (obgleich wir heute gelernt haben, dass es ’nicht ganz fest‘ ist, Stichwort Epigenetik), können Gehirne ad hoc lernen, speziell können sie von der Wirklichkeit abstrahieren und in Echtzeit Modelle/ Theorien über mögliche Strukturen und Zusammenhänge der Wirklichkeit bauen. Insbesondere können sie mittlerweile auch die Gehirne selbst bzw. die DNA aller Lebewesen untersuchen, modellieren, simulieren, verändern, und experimentell die Veränderungen ausprobieren. Die aktuellen Lebensformen (und hier wieder speziell und ausschließlich der homo sapiens) können also erstmalig nach vier Milliarden Jahren den bisherigen DNA-gesteuerten Evolutionsprozess erweitern zu einem DNA-Gehirn-Computer-gesteuerten Evolutionsprozess, der die Entwicklung begrenzt beschleunigen kann.

EVOLUTIONSSPRUNG?

  1. Dies ist klar ein strukturelles Ereignis im Evolutionsprozess, das markant ist. Neben der Erfindung der DNA als generischem Informationsträger (vor mehr als 4 Milliarden Jahren) und dem Gehirn als erweiterter adaptiver Meta-Informationsstruktur (seit etwa -0.6 Milliarden Jahren) findet diese Rückanwendung von Gehirnerkenntnissen auf die Trägerstrukturen erst jetzt langsam in der Gegenwart statt (vor ca. 0 Jahren). Wenn man will, kann man darin eine Form von Beschleunigung erkennen.
  2. Was sich jetzt aber anzudeuten beginnt, ist ein Problem, das bislang eher verdeckt war, nun aber nicht mehr weiter unter der Decke gehalten werden kann: die Frage nach dem Wohin!

WOHIN?

  1. Solange das biologische Leben nur mit der DNA als steuernder Information gearbeitet hat, gab es zwei Komponenten: (i) Der Mechanismus des Kopierens und (zufälligen) Variierens im Bereich der informatorischen Kombinationsmöglichkeiten und der physikalisch-chemischen Realisierung; (ii) das Referenzsystem Erde, das nur solche ‚Entwicklungen‘ hat überleben lassen, die zu den jeweils aktuellen Lebensbedingungen der Erde (die sich im Laufe der vier Milliarden Jahre z.T. dramatisch geändert hatten) gepasst haben. D.h. alles, was sich bis heute entwickeln konnte, basiert auf den Erfolgen der Vergangenheit unter den Bedingungen der konkreten Erde.
  2. Im Rahmen unseres neuen Erkennens und Verstehens kann man sich aber – zumindest symbolisch-theoretisch – von den gesetzten Bedingungen der Erde frei machen, und die generelle Frage stellen, was das Ganze überhaupt soll? Geht es nur um Optimierung von Energiegewinnung und -nutzung? Geht es nur um immer bessere Kooperation und Koordinierung und damit um immer mehr Komplexität? Geht es nur um ein Leben auf der Erde (bis zur Ausdehnung der Sonne und dem Anstieg der Temperaturen haben wir ca. 1 Milliarde Jahre noch Zeit) oder auch um weitere Räume? Kann es nicht sogar noch ganz andere Lebensformen geben, auch für uns homo sapiens, für alle Zellen?
  3. Viele neue interessante radikale Fragen, die sich jetzt mit neuer Realität, mit neuer Wucht stellen. Fragen, die uns alle betreffen.

WER KANN ANTWORTEN?

  1. Schaut man sich dann Tagesereignisse an, dann erleben wir hier eine bizarre Ungleichzeitigkeit: auf der einen Seite steuert die Evolution durch die Erfolge des homo sapiens real auf einen neuen qualitativen Evolutionssprung zu, auf der anderen Seite erleben wir, wie in vielen Ländern dieser Welt ein Denken neue Macht gewinnt, das weder von der modernen Wissenschaft noch von den kulturellen Entwicklungen der letzten 10.000 Jahren Kenntnis zu haben scheint.
  2. Wenn Mitglieder des IS von sich behaupten, dass sie Muslime sind, dann muss man ernsthaft fragen, was sie überhaupt vom Islam wissen? Mag sein, dass sie Verse aus dem Koran zitieren können (das können heute schon die meisten Roboter), aber daraus folgt nicht, dass sie irgendetwas von dem Islam verstanden haben. Nicht nur hatte der Koran selbst, was man wissen kann, eine eigene dynamische Entstehungsgeschichte, in die unterschiedliche Überlieferungen und Interpretationen mit eingeflossen sind, sondern die Geschichte des Islams ist bunt, reich, vielschichtig und hatte Gesamteuropa in der Zeit 700 – 1400 eine Blütezeit geschenkt, die mit zu dem Größten zählt, was die europäische Kultur damals hervorgebracht hatte. Nicht nur lebte der Islam damals mit allen Religionen friedlich zusammen, sondern der Islam war u.a. die treibende Kraft in den Wissenschaften, und zwar auf allen Gebieten. Die größten Philosophen, Theologen und Wissenschaftler jener Zeit waren Muslime, und es gab für einen Muslim keine größere Ehre, als das Wissen der ganzen Welt zu sammeln, Übersetzungen anfertigen zu lassen, Bibliotheken für alle einzurichten, Schulen für alle, Krankenhäuser, medizinische Forschung und vieles mehr. Zur gleichen Zeit boten die westlichen christlichen Ländern ein Bild des Jammerns, wissenschaftsfeindlich, kein Sinn für das Gemeinwohl, keine Schulen, keine Bibliotheken usw.
  3. So, wie es auch im Christentum zu allen Zeiten unterschiedliche Strömungen gab, und sich nicht unbedingt die durchgesetzt haben, die am meisten christlich waren, so gab und gibt es auch im Islam unterschiedliche Strömungen. Eine sehr starke Strömungen heute, der Wahabismus, nimmt für sich (wie es jede Sekte tut), in Anspruch den wahren Islam zu vertreten. Aber wenn man den Koran und die Geschichte des Islams ernst nimmt, gibt es wenig Grund, warum man diesen Anspruch ernst nehmen sollte, außer, dass Wahabiten alle umbringen, die ihren Anspruch nicht akzeptieren. Eine solche Einstellungen widerspricht allen elementaren Erkenntnissen über den Menschen, über die Welt und widerspricht – soweit ich sehe – den meisten großen islamischen Philosophen und Theologen.
  4. Bedenkt man aber, wie wenig Christen einer Papstkirche widersprechen, wie wenig Juden den orthodoxen Juden in Israel widersprechen, dann sollte es uns auch nicht wundern, dass so wenig Muslime sich gegen den Wahabismus erheben. Eine Religion hat nur drei Wahrheitsquellen: die direkte Begegnung mit Gott, die Liebe zum Leben und die Wissenschaft. Wer eines davon ausschließt (und die Wahabiten schließen – so wie sie sich darstellen – alle drei Quellen aus) kann schwerlich zu einer lebendigen Religion finden, die das Leben von innen heraus liebt und fördert.
  5. Zurück zur Wertefrage: Wohin überhaupt? Die Wissenschaft ist heute an den Punkt gekommen, wo sich mehr und mehr die Wertefrage radikal stellen muss. Die Wissenschaft als solche ist aber nicht auf Ethik und Philosophie oder noch weitergehende Fragen eingestellt. Sie macht ihren Job als Sachklärerin, das macht sie bislang leidlich gut, aber mehr ist nicht drin. Was aber nun? Wenn kann man fragen?
  6. Wir alle sind gefragt.

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QUELLEN

Bernhard Kegel, Die Herrscher der Welt. Wie Mikroben unseer Leben bestimmten, Köln: DuMont, 2015

EINLADUNG ZUR NÄCHSTEN philosophieWerkstatt v3.0 am So 8.Nov. 2015, 16:00h – WISSEN, WISSENSCHAFT und OFFENBARUNGSRELIGIONEN (Judentum, Christentum, Islam) – ANNÄHERUNG AN EIN TRAUMA

Logo philosophieWerkstatt v.30
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EINLADUNG ZUR NÄCHSTEN

philosophieWerkstatt v3.0

am

Sonntag, 8.Nov.2015

16:00 – 19:00h

in der
DENKBAR Frankfurt
Spohrstrasse 46a

Essen und Trinken wird angeboten von Michas Essen & Trinken. Parken ist im Umfeld schwierig; evtl. in der Rat-Beil-Strasse (entlang der Friedhofsmauer).

Anliegen der Philosophiewerkstatt ist es, ein philosophisches Gespräch zu ermöglichen, in dem die Fragen der TeilnehmerInnen versuchsweise zu Begriffsnetzen verknüpft werden, die in Beziehung gesetzt werden zum allgemeinen Denkraum der Philosophie, der Wissenschaften, der Kunst und Religion. Im Hintergrund stehen die Reflexionen aus dem Blog cognitiveagent.org, das Ringen um das neue Menschen- und Weltbild.

PROGRAMMVORSCHLAG

Nach der Sommerpause ist dies die erste Veranstaltung der philosophieWerkstatt, nunmehr in der dritten Auflage. Normalerweise gibt es einen Themenvorschlag aus der letzten Sitzung. Für diese erste Sitzung war das Thema offen. Angeregt durch vielerlei Faktoren werde ich diese Sitzung mit dem Thema einleiten:

WISSEN, WISSENSCHAFT und OFFENBARUNGSRELIGIONEN (Judentum, Christentum, Islam) – ANNÄHERUNG AN EIN TRAUMA

Letzter Anstoss zu diesem Thema war möglicherweise die Lektüre des Buches von Pohlmann zur Entstehung des Korans. Grundsätzlich sehe ich im Verhältnis von Wissen und moderner Wissenschaft gegenüber den großen drei Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam eine Art Trauma vorliegen: es gibt heute beides, die Wissenschaften und das Wissen einerseits sowie die großen Offenbarungsreligionen. Aber ihr Verhältnis ist gezeichnet von tiefen Verletzungen auf Seiten der modernen Wissenschaften und durch extreme Verdrängungen auf Seiten der Offenbarungsreligionen. Der Modus der Koexistenz in europäischen Gesellschaften erscheint eher gezwungen zu sein anstatt lebendig und einer natürlichen Einstellung entspringend. Ich kenne keinen einzigen Wissenschaftler, der das Thema Religion noch für wichtig hält. Ich kenne zugleich keinen einzigen engagierten Gläubigen (Juden, Cristen, Muslime), der ein wirklich offenes und positives Verhältnis zur modernen Wissenschaft hat. Psychologisch liegen hier tiefe Verletzungen und Verunsicherungen vor, die ein wirkliches Gespräch blockieren.

In der Philosophiewerkstatt am 8.November möchte ich mich diesem europäischen Trauma ein wenig annähern, wohl wissend, dass dieses Thema so groß und vielschichtig ist, dass wir zunächst keine zu großen Erwartungen haben sollten.

Als Programmablauf wird vorgeschlagen:

1. Begrüßung
2. Kurzeinführung durch Gerd Doeben-Henisch
3. Gemeinsame Reflexion zum Thema mit begleitender Erstellung eines gemeinsamen
Begriffsnetzwerkes.
4. ‚Blubberphase‘ – jeder kann mit jedem reden, um das zuvor gesagte ‚aktiv zu verdauen‘
5. Schlussdiskussion mit Zusammenfassung der Ergebnisse

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER

KURZNOTIZ: POHLMANN – ENTSTEHUNG DES KORANS – Teil 1

Karl-Friedrich Pohlmann (3.komplett überarbeitete und erweiterte Aufl., 2015), Die Entstehung des Korans. Neue Erkenntnisse aus der Sicht der historisch-kritischen Biblwissenschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG)

 

VORBEMERKUNG

  1.  Der folgend Text ist nicht einfach nur eine Kurzdarstellung der Aussagen von Pohlmann (schon auch), sondern nimmt die Aussagen von Pohlmann an verschiedenen Stellen zum Anlass, verschiedene Überlegungen und Fragen einzuschieben.
  2. Während die Vorbereitungen für die offizielle Gründung des Emerging-Mind Projektes auf Hochtouren laufen (Eröffnungsveranstaltung am 10.Nov.2015 um INM Frankfurt) lese ich weiter in verschiedenen Büchern. Besonders interessant finde ich die neue, 3.Aufl. des Buches von Pohlmann.
  3. KORAN UNANTASTBAR

  4. Wie bekannt tut sich die muslimische Welt bislang eher schwer, den Text des Korans historisch-kritisch zu betrachten, da man in der Haltung des Glaubens meint, dass der Koran nur dann ein heiliges Buch sei, wenn alle Worte mehr oder weniger direkt auf Mohammed zurückgeführt werden können, der wiederum alles direkt von Gott gehört haben soll.
  5. BIBEL, THORA UNANTASTBAR

  6. Im Christentum war dies bis mindestens ins 18.Jahrhundert nicht anders. Der Text der Bibel – altes wie neues Testament – galt auch als von Gott inspiriert und am aktuellen Wortlaut zu rütteln galt als Unglaube, der je nach Zeit und Umständen mit Folter und Tod enden konnte.
  7. Auch im Judentum, insbesondere bei den orthodoxen Juden, war (und ist?) dies so.
  8. HALTUNG DES GLAUBENS

  9. Von außen betrachtet erscheint es merkwürdig, warum Menschen eine Haltung einnehmen, die sie ‚Glauben‘ nennen, die dann dazu führt, dass sie sich weigern, die Realitäten der Welt, dazu zählen auch die historischen Umstände der Textentstehung, anzuerkennen, wie sie sind. Stattdessen blenden sie diese bewusst und willentlich aus. Als man 1972 in Sanaa (Jemen) alte Koranfragmente gefunden hatte, wurden diese zwar restauriert und mikroverfilmt, aber bis heute gibt es keine internationale textkritische Ausgabe unter Berücksichtigung dieser Fragmente, da die Behörden dies nicht zulassen. (vgl. S.24f) Das wenige, was die Forscher trotz der behördlichen Einschränkungen schon jetzt sehen konnten, waren viele Hinweise auf sehr alte Texte, auf Varianten, auf mehrere Textschichten, die auf einen Entstehungsprozess hindeuten. (vgl. S.25)
  10. Eine häufig zu beobachtende Tendenz von Menschen, die etwas Bestimmtes fest glauben (auch jenseits der großen Offenbarungsreligionen gibt es eine große Vielzahl von kleinen Religionen, Heilsgemeinschaften aller Arten, auch im Alltag die unzählig vielen ‚Spieler‘, die an ihr Glück glauben, viele politische Parteigänger, usw.), besteht darin, dass sie diesen ihren Glauben dazu benutzen, um eine ernsthafte und offene Beschäftigung mit dem, was außerhalb ihres Glaubens liegt schlichtweg auszuklammern bzw. nur Argumente zu sammeln, die dagegen sprechen, aber keine dafür. Diese Argumente können sehr abstrus sein.
  11. Man kann sich fragen, warum Menschen dies tun? Warum verleugnen sie den größten Teil der Welt, um ihr kleines Stück Glauben zu bewahren? Viele Äußerungen deuten darauf hin, dass sie in dem, was sie glauben, alle ihre Hoffnungen beheimatet sehen, während sie im Rest der Welt (der eigentlich überwältigend viel größer und reicher ist), nichts zu erkennen vermögen, was ihnen hilft. Obwohl diese Menschen mit ihren realen Augen offensichtlich sehen können, machen ihr inneren Einstellungen sie für den Rest der Welt geistig blind.
  12. Jetzt ist die Frage nach der Wahrheit natürlich eine durch alle Zeiten schwierige Frage, aber die Basis für alle mögliche Wahrheit ist die Wahrnehmung der Welt, wie sie tatsächlich ist und eine geistige (psychische, kognitive,..) Deutung, die die Strukturen und Dynamiken der Welt erkennen lässt, wie sie wirklich ist. Wenn Menschen sich über Gegebenheiten des Alltag nicht mehr einigen können, wird es schwer. Ob man etwas sieht und wie man etwas sieht ist bei Menschen weitgehend abhängig von der inneren Einstellung. Vorausgesetzt, das Wahrnehmungssystem ist intakt, können Menschen jede Wahrnehmung trotzdem verweigern. Sie können sie bewusst ausblenden, können wegsehen, können sie uminterpretieren. So wunderbar diese Fähigkeit einerseits ist, so verheerend können die Folgen sein, wenn man nur um bestimmte liebgewordenen Ideen zu retten, den Rest der Welt mehr oder weniger verleugnet.
  13. Dabei sollte man wissen, dass solche Verleugnungsphänomene vor niemandem halt machen. Selbst in den empirischen Wissenschaften gab es zu allen Zeiten und gibt es auch heute noch viele Beispiele, wie Forscher, die sich dem Ideal des objektiven wissenschaftlichen Wissens verschrieben haben, lange Zeit an Auffassungen festgehalten haben, gegen die viele Fakten sprachen. Dies kann man als Hinweis darauf deuten, dass das Phänomen des Glaubens offensichtlich sehr tief in uns drin sitzt und dass es eine permanente Herausforderung ist, sich selbst immer wieder ernsthaft in Frage zu stellen oder in Frage stellen zu lassen.
  14. SOUVERÄNITÄT GOTTES

  15. Schon mehrfach habe ich in diesem Blog die Auffassung geäußert, dass die Existenz Gottes – sollte es tatsächlich so etwas wie Gott geben – in keinem Fall in irgendeiner Weise davon abhängen würde, ob und wie Menschen über Gott reden oder Menschen leben. Als die ersten Menschen auftraten bestand das heute bekannte Universum schon seit ca. 13.5 Milliarden Jahren.
  16. KORAN ENTSTEHUNG ISLAMISCH

  17. Kehre wir zurück zur Entstehung des Koran.
  18. Auf Seiten der islamischen Koranforschung geht man bislang davon aus, dass (i) Mohammed in der Zeit 610 – 632 n.Chr. Gott direkt gehört und arabisch kommuniziert habe, und dass (ii) seine Anhänger bald nach seinem Tod alles zuverlässig gesammelt, rezensiert, und zu einem Kodex zusammen gestellt haben (beim Tode Mohammeds soll es noch keinen abgeschlossenen Text gegeben haben (vgl. S.21)). Diskutiert wird allenfalls (iii) ob Mohammed selbst überhaupt etwas aufgeschrieben habe, und falls ja, ab wann; ferner (iv) ob frühere Offenbarungen durch spätere Offenbarungen nachträglich abgeändert worden sind, und schließlich (v) ab wann der Koran dann überhaupt als geschlossenes Buch vorlag. (vgl. S.16) Die verbreitetste Auffassung ist die, dass der caliph Abu Bakr bald nach dem Tode Mohammeds eine erste Sammlung von allem angeordnet habe, geschrieben auf Blätter. Zu dieser Zeit waren schon viele der Gefährten aufgrund der vielen Kriege nicht mehr am Leben. Nach dem Tode von Abu Bakr ging das Material an seinen Nachfolger ‚Umar; nach ‚Umars Tod an dessen Tochter Hafsa, eine der Frauen Mohammeds. 20 Jahre nach der Kollektion von Abu Bakr gab es unterschiedliche Strömungen und Versionen, die dazu führten, dass der caliph ‚Utman (644 – 656 n.Chr) unter Leitung des ehemaligen Schreibers von Mohammed, Zhayd b.Thabit, eine neue Kollektion beauftragte, die dann zum allgemein akzeptierten Text unter den Muslimen wurde.(vgl. S.21) Diese äußerliche Kette verbindet sich mit der Überzeugung, dass die Offenbarungsinhalte, die Mohammed direkt von Gott empfangen haben soll, angemessen über all die Jahre, Umstände und verschiedenen Personen hinweg überliefert worden ist.
  19. Bislang gilt heute als beste Textausgabe des Korans der Kairiner Koran, der auf Veranlassung von König Fuad und einem Gremium von Azhar-Gelehrten 1923 erstmals in Kairo gedruckt wurde. (vgl. S.22) Dennoch handelt es sich bei diesem Text nicht um eine wissenschaftlich editierte kritisch-historische Textausgabe.(vgl. S.23) Die Funde von sehr alten Koranfragmenten in Sanaa (Jemen) wurden jedenfalls bislang offiziell nicht berücksichtigt. (vgl.SS.24-28)
  20. KORAN ENTSTEHUNG WESTLICH

  21. In der westlichen Islamwissenschaft gibt es zwei Strömungen: die einen übernehmen mehr oder weniger die Grundeinstellung der islamischen Koranwissenschaft, dass es trotz aller Schwankungen eine zuverlässige Überlieferungskette gibt und dass weitere historisch-kritische Forschungen nicht notwendig sind. Die andere Strömung sieht sehr wohl viele offene Fragen, die geklärt werden müssten, aber bislang konnte diese Forschung nur begrenzte Erfolge erzielen.(ausführlicher siehe SS.29-43)
  22. 100 JAHRE ERFAHRUNG TEXTANALYSE

  23. Berücksichtigt man die über 100 Jahre Erfahrungen, die im Bereich der wissenschaftlichen Untersuchungen von christlichen Offenbarungstexten gemacht werden konnten, dann verstärkt sich eigentlich der Verdacht, dass sehr Ähnliches auch für den Korantext gilt.
  24. Der Umbruch und Fortschritt in der wissenschaftlichen Untersuchung der christlichen Bibel (die in ihrem alttestamentlichen Teil weitgehend auch mit den jüdischen Texten übereinstimmt) begann erst, als man (i) bereit war, viele liebgewordene Unterstellungen mal in Frage zu stellen, und (ii) als man tatsächlich die realen Texte einer genaueren historisch-kritischen und redaktionellen Untersuchung unterzog.
  25. Am Beispiel der Texte, die den Propheten Jesaja, Ezechiel und Jeremia zugesprochen wurden (vgl. SS.45-55), denen alle eine direkte göttliche Inspiration zuerkannt worden war, zeigt Pohlmann auf, wie Schritt für Schritt aufgedeckt werden konnte, dass alle diese Texte Entstehungsgeschichten haben, vielfache Überarbeitungen aufweisen, die in unterschiedliche Zeiten mit unterschiedlichen Aussageabsichten verweisen. Für die einen erschien dies wie ein Verlust (ihres Idealbildes), für die anderen fingen die Texte damit erstmalig an zu sprechen, enthüllten sie ihre inneren Strukturen, die dahinter liegenden historischen Prozesse, die Sorgen und Hoffnungen der beteiligten Menschen.
  26. PERSÖNLICHES

  27. Als ich selbst, erst als Schüler, dann später als Student, erstmalig anhand der hebräischen Texte des alten Testaments mit all den wunderbaren neuen historisch-kritischen Erkenntnissen über die Entstehung der Texte konfrontiert wurde, war dies für mich wie eine Erlösung; erstmalig konnte ich mit diesen Texten tatsächlich etwas anfangen, sie kamen ganz nah, man konnte die realen Menschen dahinter spüren. Vorher wirkten die Texte fremd, abstrakt, unverständlich.
  28. Die voranschreitende ‚Vergöttlichung‘ in allen Texten sagte dann mehr über uns Menschen aus als über den unbekannten Gott. Offensichtlich tendieren wir Menschen dazu, in allem etwas Besonderes zu sehen. Wir neigen dazu, etwas Normales zu Überhöhen. Was zuvor menschliche Worte waren, normale Ereignisse, wird plötzlich zum Wort Gottes oder zu einer göttlich verursachten Tat hochstilisiert.
  29. ISLAMISCHE THEOLOGIE UNBERÜHRT

  30. Trotz der überwältigenden Erkenntnisse von mehr als 100 Jahren westlicher wissenschaftlicher Analyse biblischer Texte ist nach Pohlmann immer noch nicht zu erkennen, dass islamische Theologen einen ähnlichen Weg wissenschaftlicher Analyse der Korantexte beschreiten. (vgl. S.57) Wovor haben Muslime Angst bei einer intensiveren Begegnung mit den Korantexten (gilt natürlich gleichermaßen auch für Juden und Christen, die die Texte ähnlich fundamentalistisch sehen)? (siehe ausführlicher SS.45-58)
  31. EIN GOTT – VIELE MENSCHEN

  32. Egal wie Juden ihre Thora interpretieren, Christen ihre Bibel und die Muslime ihren Koran, die Welt ist entstanden, wie sie entstanden ist, und sie findet statt, unabhängig von diesem Glauben, und wenn die Sonne sich in etwa 1 Mrd. Jahren aufgrund ihrer Kernfusionsprozesse soweit ausgedehnt haben wird, dass ein Leben auf der Erde nicht mehr möglich sein wird, dann wird sie dies auch tun, egal wie bestimmte Menschengruppen bestimmte Texte interpretieren. Außerdem müssen sich alle Offenbarungsreligionen die Frage stellen, warum der eine Gott sich jeweils so unterschiedlich mitgeteilt haben soll. Dass auch so viele Menschen außerhalb des Judentums, des Christentums und des Islams Gott erfahren haben wollen und auch heute noch erfahren, ist damit auch noch nicht befriedigend geklärt. Dass ein Gott sich allen Menschen in gleicher Weise mitteilt wäre eigentlich naheliegend; dass dann einzelne Menschen für sich einen privilegierten Zugang zu Gott beanspruchen spricht vielleicht eher gegen diese Menschen und nicht für Gott. Schließlich müssen sich die Religionen fragen, warum sie noch nie ernsthaft überprüft haben, ob nicht die anderen den gleichen Gott erfahren. Wer hat dies jemals ernsthaft untersucht? Liegt dies nicht schlicht daran, dass viele, die sich in ihrem Glauben auf Gott beziehen, noch niemals wirklich selbst Gott erfahren haben? Dass sie letztlich gar nicht selbst wissen, wie Gott ‚wirklich‘ ist? Dass sie gar keine objektiven Kriterien haben, um zu unterscheiden, ob der andere tatsächlich Gott erfahren hat oder nicht? Wenn Gott tatsächlich der Schöpfer von allem sein soll, wie behauptet wird, dann würde er in allem und jedem stecken. Dies zu verleugnen wäre dann der eigentliche Unglaube.

Eine Fortsetzung folgt HIER.

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ERSTER RELIGIONSPOLITISCHER KONGRESS VON BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN – Sehr subjektive Betrachtungen eines Teilnehmers

KONTEXT DES BLOGS

1. Aufmerksame Leser dieses Blogs dürften bemerkt haben, dass das Thema Religion in diesem Blog seit wenigen Wochen eine neue Intensität gewonnen hat. Dies hat nichts – wie man im ersten Moment meinen könnte – mit den aktuellen Ereignissen in und um Paris zu tun, sondern damit, dass der ‚Denkweg‘ in diesem Blog nach Klärungen im Bereich ‚Philosophie und Wissenschaft‘, ‚Philosophie, Wissenschaft und Kunst‘ sowie immer wieder vereinzelt die Frage der Offenbarungsreligionen durch die Lektüre des Buches von Bergmeier Teil 1 und Teil 2 sowie meinen Reflexionen im Anschluß an die letzte philosophieWerkstatt v2.0 mit dem bisherigen Höhepunkt einer Verabschiedung der bisherigen Offenbarungsreligionen und Aufruf, jetzt, innerhalb der modernen Staatsformen jene Religiosität zu finden und zu kultivieren, die keine ‚Kirchen‘ mehr braucht, weil der Staat selbst den Rahmen liefert, in dem jeder einzeln und doch zusammen mit allen anderen eine authentische Religiosität leben kann.

2. Sensibilisiert durch all diese aktuellen Überlegungen wirkte auf mich die Nachricht von dem religionspolitischen Kongress der Grünen in Düsseldorf am 17.Januar 2015 sehr stimulierend und dank einer starken Neugierde habe ich mich dort kurzfristig angemeldet und bin hingefahren.

ZIEL DES KONGRESSES

3. Den verschiedenen Verlautbarungen und Statements im Umfeld des Kongresses entnahm ich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre es notwendig erscheinen lassen, das Verhältnis zwischen Staat, Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften neu zu überdenken und in entsprechende Gesetzesinitiativen einfließen zu lassen. Eingeladen hatte die Landtagsfraktion der GRÜNEN sowie die Kommission ‚Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat‘ des GRÜNEN Bundesvorstandes. Diese Kommission hatte mehrere Themenfelder identifiziert, die dann die Plenarsitzungen wie auch die verschiedenen Arbeitskreise thematisch bestimmten.

BEEINDRUCKENDE MENSCHEN

4. Geht man von der Besetzung des Plenarsaales aus, dann waren mehr als 200 TeilnehmerInnen zu diesem Kongress gekommen. Die Vielfalt der vertretenen Auffassungen gepaart mit einer Offenheit, Fairness und Herzlichkeit im Umgang miteinander war beeindruckend. Denkt man an die Bilder von parteiischen Menschengruppen, die sich gegenseitig verdächtigen, beschimpfen oder sogar bekämpfen, die von den Medien vorzugsweise in die deutschen Wohnzimmer transportiert werden, dann erschien das hier fast wie eine Botschaft aus einer anderen Welt: Evangelische und katholische Christen, Juden, verschiedene islamische Bekenntnisse, Aleviten, Buddhisten, Humanistischer Verband – um nur einige zu nennen – diskutierten miteinander friedlich; die meisten kannten sich von Jahren gemeinsamer Arbeit vor Ort. In den Gesprächen zwischendurch und in Diskussionen während der Arbeitssitzungen begegnete einem viel Erfahrung, viel Engagement und sehr viel Fachkompetenz. Das war ermutigend.

STARKE EIGEN-INTERESSEN

5. Allerdings zeigte sich auch sehr schnell, dass es natürlich auch um handfeste Interessen ging. Immerhin ging es um Überlegungen, die Auswirkungen auf konkrete Anerkennung als Religionsgemeinschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft mit all den damit verbundenen ‚Privilegien‘ (wie z.B. Steuervergünstigungen, Sonderrechte, Religionsunterricht, Arbeitsrecht, und Feiertage) zu diskutieren.

6. So trat der Humanistische Verband unter seinem Präsidenten Dr. Wolf (zusammen mit weiteren Mitgliedern) im Rahmen des Erlaubten ziemlich massiv auf, um den Weg zur Anerkennung des Humanistischen Verbandes als Weltanschauungsgemeinschaft weiter zu ebnen um auf Dauer mit den etablierten Kirchen gleich zu ziehen. Nicht weniger selbstbewusst vertrat Herr Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland die legitimen Interessen verschiedener muslimischer Verbände. Dem standen die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche natürlich nicht nach; allerdings konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie natürlich aus einer historischen ‚Position der Stärke‘ heraus argumentierten und sich ‚offen‘ für mögliche Änderungen zeigten, ohne diese Offenheit aber weiter zu konkretisieren.

EUROPAS ERBE AUF DER HINTERBANK?

7. So positiv dies alles im ersten Moment erscheint (friedliches, freundliches Miteinander, …), so problematisch wird dies aber, sobald man es in einen historischen und systematischen Kontext einbettet.

8. Der Key-Note Vortrag (gemeint ist ‚Einführungsvortrag‘ … :-)) von Prof. Brumlik war kenntnisreich und anregend, konnte aber die jüdische Grundüberzeugung seines Autors nicht ganz verhehlen: so versuchte er eine religiöse Grundüberzeugung schon in die Gründungsformulierung der Grünen hinein zu interpretieren (‚ökologisch‘ als ‚Erhaltung der Schöpfung‘) und unterstellte allen Menschen eine Sehnsucht nach ‚Erlösung‘ (und das mit einem Adorno-Zitat…). Entsprechend fiel seine Analyse der wichtigsten Vertragsmodelle zwischen Staat und Kirche (USA, Frankfreich, Deutschland) besonders positiv für das deutsche ‚Kooperationsmodell‘ aus, in dem der Staat den religiösen Gemeinschaften eine Reihe von Sonderrechten (Privilegien!) einräumt und sich dafür das Recht vorbehält – hier vereinfachend –, bei dem Religionsunterricht und der Ausbildung der Lehrer und Theologen eine gewisse staatliche Aufsicht zu führen. Diese Form der Kooperation wirke sich – so Brumlik – ‚moderierend‘ aus gegen zu starke Fundamentalisierungen, wie man sie z.B. in den USA beobachten könne. Eine wirkliche historische Dimension lies der Vortrag allerdings vermissen und die speziellen historischen Entstehungsbedingungen der modernen Demokratien kamen nicht zur Sprache. Dies ist bedauerlich, da damit genau jene Momente verschwiegen wurden, die wichtig wären für eine Einschätzung des aktuellen Verhältnisses von Staat und Kirche.

9. Bettina Jarasch, die Leiterin der GRÜNEN Kommission ‚Weltanschauung, Religionsgemeinschaften und Staat‘ fand – nach Wahrnehmung dieses Autors – etwas klarere Worte als Prof.Brumlik, alle zum Punkt, leider war ihr Beitrag sehr kurz und sie nahm im weiteren Verlauf nicht aktiv an den Vorträgen und Diskussionen teil.

10. Die anwesenden starken religiösen und weltanschaulichen Interessengruppen sowie die ‚religionsgeschwängerten‘ generellen Überlegungen von Prof.Brumlik deuten an, dass die gegenwärtigen religiösen Verbände und Kirchen keinen wirklichen Blick für die Menschen und die Verfassungsinteressen jenseits ihrer religiösen Bekenntnisse haben. Dies erstaunt nicht, muss aber bedenklich stimmen angesichts der Tatsache, dass die ’statistische Mehrheit der Konfessionslosen‘, die ’normalen‘ Bürger, als solche nicht organisiert sind, da sie ja in einem modernen Staat leben, der ihnen eigentliche alle Rahmenbedingungen bietet für die es keine speziellen Kirchen mehr bräuchte. Und ein Interessenvertreter der evangelischen Kirche, Prof. Jähnichen hatte keine Probleme damit, im Panel 4 festzustellen, dass es in einer modernen Demokratie üblich sei, dass sich Interessengruppen öffentlich organisieren – was die Religionen tun –, und wenn die Nichtkonfessionellen dies nicht tun, dann sei das deren Problem.

11. Nun gab es auch die ‚Nichtkonfessionellen‘ im Publikum, und zwar nicht wenige, sehr Engagierte aus vielen Bereichen, die dem Geist eines demokratischen Staates wie der Bundesrepublik ’näher schienen‘ als die verschiedenen religiösen Interessenvertreter. Diese meldeten sich auch zu Wort (in meiner Zählung waren es insgesamt die meisten Diskussionsbeiträge), aber sie waren in den Leitungen der Panels deutlich unterrepräsentiert. Besonders beeindruckt hat mich die Gruppe der Säkularen GRÜNE aus NRW. Ihre Stellungnahme zum Positionspapier des Bundeskommission enthält alle wichtigen kritischen Punkte. Dass diese grundsätzliche Position, die im Einklang mit Geschichte, Menschenrechten und dem spezifischen Staatsinteresse steht, nach meiner Wahrnehmung im Programm und in den Dokumenten keinen erkennbar ‚offiziellen Status‘ bekommen hat, halte ich für bedenklich. Auf welcher geistigen und politischen Basis operiert hier die Bundeskommission?

12. Von den 6 Vertretern im Schlusspanel war nur einer (!), der explizit eine kritische Position gegenüber den religiösen Verbänden im Verhältnis zum Staat verdeutlichte, Joachim Frank, Chefkorrespondent der Mediengruppe M. DuMont (Schauberg, Köln, Frankfurt, Berlin), Deutschland. Aber wie schon zuvor, wenn Diskussionsteilnehmer kritische Positionen ins Gespräch einbrachten, wurden diese zwar gehört, aber von den Vertretern der religiösen und weltanschaulichen Interessengruppen letztlich ‚immunisiert‘, d.h. zur Kenntnis genommen aber nicht wirklich beantwortet. Für einen ernsthaften Dialog war allerdings auch die Zeit zu kurz. Immerhin konnte man einen guten Eindruck von der Vielfal bekommen und den – trotz aller Freundlichkeit – noch bestehenden Kommunikationsdefiziten.

WIE KANN ES WEITERGEHEN?

13. Wenn man bedenkt, dass Europa ca. 4000 Jahre gebraucht hat,neben der Erfindung von drei Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum und Islam), und neben der Erfindung des modernen Staatsgedankens (Griechen, Römer mit griechischer Kultur, arabisch-islamische Kultur 700 – 1400 teilweise, die Zivilgesellschaften in den westlichen europäischen Ländern in einem zähen Kampf gegen die römische Papstkirche und die vorherrschenden elitären Feudalstrukturen über ca. 1000 Jahre …), dann den ‚modernen‘ wissenschaftsgeleiteten, auf Menschenrechten und demokratischer Partiziption basierenden Staat – wenn auch z.T. unfreiwillig – zu realisieren, dann darf man nicht erwarten, dass die Eingliederung spezieller religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse in einen ‚gemeinsamen‘ Staat schnell und ‚leicht‘ geht. Wie schon in den zurückliegenden Jahrhunderten ist Mangel an Wissen das Haupthindernis für eine Verständigung. Will man keine Gewalt anwenden, bleibt nur die kontinuierliche ‚Aufklärung‘; diese allerdings braucht leistungsfähige Bildungsinstitutionen und eine funktionierende Öffentlichkeit. Letztere, obgleich für eine Demokratie ein unverzichtbarer Lebensnerv, gerät durch eine fortschreitende Ökonomisierung in immer mehr finanzielle Abhängigkeiten von partikulären Geschäftsinteressen, die von der eigenen politischen Geschichte eines umfassenden Europas immer weniger wissen und auch – so der Eindruck – scheinbar immer weniger wissen wollen. Solange jemand noch öffentlich sagt, dass das moderne Europa, der moderne deutsche Staat, auf dem Erbe des christlichen Abendlandes beruhe, solange kann man gewiss sein, dass dieser Jemand nicht versteht, was er sagt; das historische christliche Abendland war der größte Feind der modernen Gesellschaften. Diesen überwunden zu haben, ist eine der größten kulturellen Leistungen. Die aktuelle Diskussion um einen neuen religionspolitischen Staatsvertrag erweckt bislang nicht den Eindruck, dass die aktuelle Politik sich der historischen Dimension bewusst ist.

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HYSTERIE: NEIN, SOLIDARITÄT: JA – DAHINTER WARTET DIE WAHRHEIT

Zur Einstimmung: European Sound – There was a Time with more than three Colours of Souls Radically Unplugged Music vom 16.Januar 2015

HYSTERIE UND SOLIDARITÄT DIESER TAGE

Die Anschläge auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo am Mi, den 7.Januar 2015 hat eine Solidaritätsreaktion in Frankreich und weltweit ausgelöst, wie sie Frankreich selbst so noch nie erlebt hatte. Zugleich gab es vermehrt Angriffe auf muslimische und jüdische Einrichtungen, die zu großen Verunsicherungen und realen Ängsten bei jenen Franzosen geführt haben, die damit eigentlich gar nichts zu tun haben.

NICHT WIRKLICH NEU

Das Attentat von Charlie Hebdo am 7.Januar 2015 steht nicht alleine. Mindestens seit dem 11.Sept.2001 in New York gab und gibt es terroristische Anschläge in vielen Ländern, die Entsetzen, Unverständnis und – in extremer Form – Hass hervorgerufen haben, die politischen Reaktionen veranlassten, immer mehr Kontrolle, Verstärkung von Ängsten, und auch eine deutliche Verstärkung von Feindbildern.

ALLGEMEINE VERUNSICHERUNG

Solche Attentate finden in einer Zeit statt, in der sich viele Ländern, speziell auch die westlichen, in einer spürbaren allgemeinen Verunsicherung befinden, nicht wegen den Terroristen, sondern allein schon wegen ihrer eigenen Prozesse, die immer komplexer geworden sind, immer unübersichtlicher; wo die Wissensexplosion die Wissenschaften in ihrem Kern bedroht; wo die bekannten politischen Prozesse täglich erfahrbar den Eindruck erwecken, als ob sie die Nöte, Bedürfnisse und Erwartungen der Wähler nicht mehr erkannt und tatsächlich berücksichtigt werden. Wo Lobbyisten anscheinend die Kontrolle über viele Politiker bekommen haben. Wo komplizierte gesellschaftliche Probleme tendenziell eher ‚ausgesessen‘ anstatt konstruktiv gelöst werden. Wo die meisten Medien kurzfristig – und kurzsichtig? — sich dem Geschäft der tagesnahen ‚Belustigung des Publikums‘ verschrieben zu haben scheinen, 24 Stunden täglich eine Art ‚Gehirnwäsche mit Müllinhalten‘, die wenig geeignet sind, einen klaren Blick auf die laufenden gesellschaftlichen Prozesse zu unterstützen.

VEREINFACHUNG ALS VERSUCHUNG

Vor diesem Hintergrund und in dieser Situation ist es nachvollziehbar, das nicht wenige Menschen das tun, was jedem Menschen als Verhaltensreaktion quasi angeboren ist: zu vereinfachen. Es gehört zur Überlebensstrategie des Menschen, dass sein Gehirn versucht, die vielfältigen eindrücke zu ‚ordnen‘, dadurch zu ‚vereinfachen‘, und damit die Welt lebbare zu machen. Wie weit die ‚Verarbeitungstiefe‘ solcher Vereinfachungen reichen, ist zeitabhängig (wie lange kann man sich mit einem Problem beschäftigen) und wissensabhängig (wie viel weiß man schon, um neue Ereignisse einsortieren zu können). So gesehen gab es schon immer Vereinfachungstendenzen. Davon lebt jede Propaganda, die Werbeindustrie, der Unterhaltungsindustrie, und die Fundamentalisten in jeder bekannten Religion sind auch nicht neu. In der radikalen Version eines Fundamentalisten hat sich die Vereinfachung aber so verfestigt, abgeschottet, dass eine Änderung der Anschauungen nahezu ausgeschlossen scheint; Fundamentalismus ist eine Art geistiger Kurzschluss: alles, was eine Modifizierung, Korrektur des aktuellen Weltbildes verursachen könnte, ist geächtet. Wären es nicht Menschen, die solche Haltungen einnehmen können, würde man von ‚Robotern‘ sprechen, obgleich jeder ‚echte‘ Roboter eine grundsätzliche Lernfähigkeit besitzen würde, …

ERNST NEHMEN

Eine häufig zu beobachtende Reaktion von Menschen zu anderen Menschen, die erkennbare Vereinfachungen nach außen zeigen ist ‚lächerlich machen‘, ‚Verunglimpfen‘, ‚Beschimpfen‘, ‚Verachten‘, ’nieder machen‘ und dergleichen mehr. Dies verstärkt nicht nur die Haltung der anderen, sondern zeigt auch eine gewisse Form der Hilflosigkeit bei denen, die auf solche Vereinfacher treffen. Im Falle von ‚fundamentalistischen Vereinfachern‘ ist in der Tat schwer zu sehen, was man tun kann außer sich der eigenen Mehrheit in Solidarität zu versichern. Doch die wirklich harten fundamentalistischen Vereinfachern sind in der Regel eher deutliche Minderheiten. Die große Mehrheit der Vereinfacher weiß es normalerweise einfach nicht besser; ihnen fehlen Informationen; ihnen fehlt Wissen; ihnen fehlen Medien und Politiker, die sie ernsthaft und sachkundig ‚aufklären‘, die vernünftig und ruhig informieren, die zuverlässig sind und reales Vertrauen aufbauen können.

LEICHEN IM KELLER

In ‚ruhigen‘ Zeiten, wo alles ’seinen Gang‘ geht, muss man nicht viel nachdenken, benötigt man keine spezielle Kommunikation. Jeder redet das, was alle erwarten. Nimmt aber die Komplexität zu, zeigen sich Veränderungen, entstehen Verunsicherungen durch Änderungen der Abläufe, nimmt die Vielfalt zu wegen Durchdringung, dann entsteht zunehmend der Bedarf nach Verständigung, nach Erklärung. In diesem Moment kann es sich rächen, wenn man in der Vergangenheit Probleme ‚unter den Teppich‘ gekehrt hat, wenn man in der Vergangenheit keine ‚echte Diskussionskultur‘ praktiziert hat, wenn man in der Vergangenheit die Medien in Schrottkanäle verwandelt hat, wenn die Politiker sich angewöhnt haben, ihre Wähler nur noch wahltaktisch zu sehen und zu behandeln.
In Frankreich z.B., wissen alle seit Jahren, dass die Vorstädte in ihrer Struktur und Funktionalität eine vollständige Fehlplanung waren, dass sie in ihrem Format und mit ihrer ‚Belegung‘ mit problemintensiven Gruppen das ‚Unheil‘ geradezu in Reinform gleichsam ‚züchten‘, ‚ausbrüten‘. Aber niemand hat dagegen etwas getan. Diese Vorstädte waren – und sind – tickende soziale Zeitbomben; wenn in manchen Bereichen der Gesellschaft, Menschen der Gesellschaft Schaden zufügen, dann werden sie dafür u.U. zur Verantwortung gezogen. Alle jene, die diese unseligen Vorstädte geplant und gebaut haben, wurden bislang nicht zur Verantwortung gezogen. Welcher der Planer und Erbauer würde freiwillig 5 Jahre in so einem Wohngebiet wohnen? Wenn dann einige wenige junge Menschen von vielen Zehntausenden, die dazu Grund hätten, ihre Verzweiflung in unmenschliche Taten umsetzen ist die Aufregung groß, aber alle haben Jahrelang zugesehen, wie Menschen durch solche Lebensverhältnisse geradezu ‚gezüchtet‘ werden…

WAS DIE GESCHICHTE UNS SAGEN KÖNNTE

Wagt man einen Blick zurück in die Geschichte, dann findet man zu allen Zeiten Eroberungen, Wanderungsbewegungen, Transformationsprozesse, und speziell Europa als Ganzes (Morgenland und Abendland!) war schon immer reich, um nicht zu sagen überreich an Vielfalt von Ethnien, Kulturen, Gebräuchen und Sprachen. Und Europa als Ganzes hat es erstaunlich oft geschafft, über große Zeiträume (z.B. griechisch-römische Kultur ca. 500 Jahre, arabisch-islamische Kultur ca. 700 Jahre) nicht nur Frieden zu realisieren, sondern zugleich auch Toleranz, Bildung, Gesundheit, Infrastrukturen, Wohlstand, Weiterentwicklung auf allen Ebenen. Die Kernelemente waren immer eine Toleranz für eine Koexistenz unterschiedlicher Weltanschauungen und eine umfassende Bildung aller Schichten, nicht nur für Eliten. Dies war der ‚Schmierstoff‘, der alle anderen Prozesse ermöglicht hat. Die größten Bedrohungen und Behinderungen waren immer Verabsolutierungen einzelner Anschauungen und gesellschaftsfeindliche Konzentration von Besitz (sehr massiv in diesem Sinne die römische Papstkirche zwischen 500 und ca. 1500, oder all jene absolutistischen Monarchen, die eine Spaltung zwischen Eliten und der Restbevölkerung betrieben).

So gesehen sind die ‚Zutaten‘ zu einer blühenden Gesellschaft sehr einfach: reale Toleranz, Rechtssicherheit, massive Bildung, funktionierende Infrastrukturen, darin eingebettet Handel und Wirtschaft. Dann sind alle zufrieden, jeder gibt sein Bestes.

ANFANGEN KANN MAN IMMER

Egal in welchem Zustand sich eine Gesellschaft gerade befindet: es wird immer Menschen brauchen, viele Menschen, die die entscheidenden ‚Leitbilder‘ ‚vor Augen‘ haben und sich für ihre Verwirklichung einsetzen, auf allen Ebenen, an allen Orten. Ohne diese ‚Visionäre des guten Lebens‘ geht gar nichts.

Ein weit verbreiteter Irrglauben ist, dass es die Religionen sind, die uns in solchen Fragen helfen können. Die Geschichte lehrt uns eindeutig, dass es auf keinen Fall die Religionen sind, die uns helfen, eine blühende Gesellschaft zu realisieren. Die römische Papstkirche z.B. hat über fast 1000 Jahre demonstriert, dass sie Menschen und allgemeines Wissen verachtet, staatliche Einrichtungen nahezu völlig zerstört hat, und eine elitäre feudalistische Gesellschaft gefördert hat, die die westlichen europäischen Staaten (das Abendland) nahe an den Abgrund gebracht hat. Hätte es zur gleichen Zeit nicht die hochstehende arabisch-islamische Kultur gegeben, die das griechisch-römische Erbe nicht nur aufgegriffen, sondern beeindruckend weiter entwickelt und gepflegt hätten, wer weiß, was aus Europa dann geworden wäre. Der spätere Zerfall der arabisch-islamischen Kultur zeigt aber auch, dass es nicht der Islam als solcher ist, der eine blühende Gesellschaft garantiert, sondern dass es die Kombination eines Islam war mit einer Aufgeschlossenheit für Bildung und Wissen für alle gepaart mit allen zugänglichen leistungsfähigen Infrastrukturen eingebettet in eine dominante Toleranz, die es Menschen aller Hautfarbe und Anschauung ermöglichte, ein freies, kreatives und produktives Leben zu führen.

GUT UND BÖSE, WAHR UND FALSCH

Innerhalb des allgemeinen Bedürfnisses der Menschen, ihre Welt zu ‚verstehen‘, die Ereignisse ‚einordnen‘ zu können (‚Vereinfachen‘!), gibt es auch das mindestens so starke Bedürfnis – oder ist es einfach Teil vom Wunsch nach dem Verstehen? –, zu wissen, was ‚richtig‘ ist, was ‚wahr‘ und was ‚falsch‘ ist bzw. was ‚gut‘ und ‚böse‘ ist.

In Diskussionen zu diesem Thema kann man – was jeder bestimmt schon mal selbst erlebt hat – schnell in wildeste Gespräche geraten bei denen am Ende keiner mehr so richtig weiß, was ist denn jetzt ‚wahr‘, ‚falsch‘ …. und man bleibt dann vorsichtshalber erst mal wieder bei dem, was man immer schon gewusst hat.

Nun dürfte jedem klar sein, dass ein Urteil über ‚Gut – Böse‘, ‚Wahr – Falsch‘ jeweils irgendein Kriterium K voraussetzt, anhand dessen man entscheiden kann, trifft eher das eine oder eher das andere zu. Wenn man z.B. weiß, was es heißt, dass die ‚Sonne scheint‘, dann kann man normalerweise natürlich feststellen, ob die Aussage ‚Die Sonne scheint jetzt‘, ‚zutrifft‘, also ‚wahr‘ ist, oder nicht zutrifft, also ‚falsch‘ ist. Desgleichen: wenn man sich in einer sozialen Gruppe darauf geeinigt hat, was ‚Stehlen‘ ist und dass dies in der ozialen Gruppe nicht vorkommen soll, dann können alle Mitglieder der Gruppe nach bedarf entscheiden, ob ein Mitglied der Gruppe ‚etwas gestohlen‘ hat oder nicht. Ist es wahr, dass jemand etwas gestohlen hat, dann ist dies nach dem Verständnis der Gruppe ‚Böse‘; trifft es zu (ist es wahr), dass das Mitglied nicht gestohlen hat, dann ist dies im Verständnis der Gruppe ‚Gut‘.

‚Wahrheit‘ und ‚Falschheit‘ sind in diesem Sinne entscheidbare Sachverhalte, die die Basis für unsere Weltbetrachtung bilden. ‚Gut‘ und ‚Böse‘ sind ‚Wertvorstellungen‘ von sozialen Gruppen, die – sofern sie verstehbar sind – dazu verwendet werden können, innerhalb einer sozialen Gruppe das gemeinsame Verhalten zu ‚regeln‘. Die Anwendung von Gut-Böse-Regeln setzt die Möglichkeit der Wahrheitsfindung voraus: liegen tatsächlich die Sachverhalte vor, die im Sinne von Gut-Böse bewertet werden sollen.

Gut-Böse-Regeln sind so gesehen gemeinsame Verhaltensnormen, Verhaltensregeln, können auch ‚Gesetze‘ genannt werden, kann man als ‚Moral‘ einer Gruppe verstehen oder als ‚ethische Dimension‘.

DER MISSBRAUCHTE GOTT

Solange solche Regeln in einer überschaubaren Gruppe praktiziert werden, sind sie für alle verstehbar, nachvollziehbar, und letztlich sogar diskutierbar, da sich ja u.U. die Lebensverhältnisse ändern, so dass bestimmte Regeln unter den neuen Bedingungen gar keinen Sinn mehr machen. Solche ‚offene‘ Normensystem sind lebenswichtig für eine Gruppe und zugleich produktiv-kreativ; sie werden den Umständen angepasst.

Werden solche sozialen Gruppen größer, so groß, dass nicht mehr alle miteinander reden können, dass man sich nicht mehr kennt, dann wird eine Verständigung über solche wichtigen Verhaltensnormen schwierig, eventuell so schwierig, dass man neue Mechanismen benötigt, um sie ‚abzusichern‘.

Das sogenannte Alte Testament als Teil der christlichen Bibel (und dann auch die Thorah der Juden) liefert zahllose Beispiele dafür, wie Verhaltensregeln, die zunächst nur für bestimmte lokale Gruppen/ Stämme galten, irgendwann (aufgrund von Wanderungen und Eroberungen) auch für weitere Gruppen gelten sollten. Das Mittel der Wahl war dann die Berufung auf ein ‚höheres Wesen‘, auf ‚Gott‘. Da scheinbar jeder Mensch eine gewisse Neigung hat, an ein höheres Wesen zu glauben, zugleich dieser ‚Gott‘ nicht weiter definiert ist, konnten soziale Anführer relativ leicht den individuellen unspezifischen Gottesglauben dazu benutzen, um ihn mit den jeweiligen Regelsystemen zu verknüpfen, die gerade sozial-politisch oder aufgrund bestimmter partikulärer Machtinteressen ‚gewollt‘ waren. Dass es im Alten Testament mehrere verschiedene solche Regelsysteme nebeneinander gab und gibt, zeigt nur die historische Bedingtheit all dieser Vorstellung (dies macht das Alte Testament zum Verstehen der Geschichte interessant). Wie man historisch feststellen kann, war dieses Vorgehen der Verknüpfung eines historisch gewachsenen Regelsystems mit einem unspezifischen Gottesglauben sozial erfolgreich. es ermöglichte größere komplexe soziale Gruppen auf der Basis eines gemeinsamen Regelsystems. Dieses ‚magische‘ Modell der Normenbildung hatte und hat nur den Nachteil, dass die Verhaltensnormen fortan nicht mehr offen von allen diskutierbar waren. Da die Regeln ihrer menschlichen Herkunft jetzt entrückt waren und den Status von ‚Gottes Wort‘ erlangt hatten, waren sie entweder ‚ewig‘ oder aber, es gab eine ‚Sonderklasse‘ von Menschen, die ‚Gottesmittler‘ die, obgleich sie Menschen waren, irgendwie, auf geheimnisvolle Weise, doch mehr wussten als normale Menschen (Propheten, Priester, Seher…). Die Geschichte zeigt klar, wie allzu menschlich all diese ‚Gottesmittler‘ in allen Jahrhunderten waren. Zugleich sieht man, wie solche der Realität enthobenen Regelsysteme im Laufe der zeit immer befremdlicher, immer obskurer wirken. während die Welt sich weiter verändert, die Gesellschaften sich aufgrund ihrer Aktivitäten weiter entwickeln, bleiben die künstlich festgefrorenen Regelsysteme ’starr‘, passen immer weniger, werden immer unverständlicher.

Man muss es Ganz-Europa hoch anrechnen, dass es nicht nur die drei größten Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum und Islam) ‚erfunden‘ hat – was als große kulturelle Leistung zu betrachten ist –, sondern zugleich auch die ‚Weiterentwicklung‘ der Offenbarungsreligion in Form des religionsfreien Staates mit einer religionsfreien Wissenschaft.

Im Konzept der religionsfreien Wissenschaft wurden die Regelsysteme wieder ‚zurückgeholt‘ aus der Sphäre der Unkontrollierbarkeit und verankert im Hier und Jetzt, wurden die Menschen wieder Herr ihrer eigenen Regeln, wurden Regeln wieder ‚kritisierbar‘, konnte man menschlich aufgestellte Regeln wieder ändern, wenn die Wirklichkeit ihnen entgegen stand. Und gestärkt durch die Erfolge der empirischen Wissenschaften gewannen auch wieder solche staatliche Regelsysteme Anerkennung und Gewicht, die wie das Griechische oder das Römische religionsfreie Regeln zur Praktizierung einer gemeinsamen und offenen Gesellschaft darstellten. Keine ‚Sonderwesen‘, keine ‚Sonderrechte‘, keine ‚Sonderwahrheiten‘ außerhalb der Kompetenz und Kontrolle der Menschen, die nach diesen Regeln leben wollen.

WAHRE RELIGION

Ist Religion damit überflüssig geworden?
Ein ganz klares NEIN!
Jetzt kann wahre Religion erstmalig anfangen.
Ganz-Europa steht vor seiner nächsten kulturellen Revolution: nach der Erfindung der Offenbarungsreligionen und des modernen, aufgeklärten Staates geht es jetzt um die wahre Religion aller Menschen in einer freien, und offenen Gesellschaft, in der Wissen offen und transparent ist, in der alle Menschen gleich sind, in der der Wohlstand für alle da ist.

Anmerkung: Dieser Beitrag kam nur zustande, weil ich mich zuvor mit dem Buch von Bergmeier Christlich-abendländische Kultur – eine Legende: Über die antiken Wurzeln, den verkannten arabischen Beitrag und die Verklärung der Klosterkultur auseinander setzen konnte, dazu auch das Gespräch in der philosophieWerkstatt v2.0 vom 11.Januar 2015.

Wer noch etwas Zeit übrig hat …. der kann folgende RUM-Komposition anhören:

Heh – Where are You?.

Es handelt sich um ein Stück das die Situation des Autors cagent schildert … und damit stellvertretend die Situation jedes einzelnen Menschen, der versucht, in Kommunniaktion zu treten. Das Artikulieren von ‚Innenleben‘ heisst nicht automatisch, dass es eine Rückmeldung gibt… die dunkle Einsamkeit ist ein Moment einer sich aufbauenden Gemeinsamlkeit in Verschiedenheit…

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

Seit einiger Zeit melde ich die Beiträge des Blogs auch bei Twitter an. Das Pseudonym ist @cagentartist und hat als Erkennungsbild einen originalen Schneemann aus Finnland, gebaut von einer Freundin. Ein Schneemann hat viele Ähnlichkeiten mit uns Menschen 🙂

ISLAM, CHRISTENUM und EUROPA AUS HISTORISCHER SICHT – Kurzmemo zur philosophieWerkstatt v2.0 vom 11.Januar 2015

PLAN DER EINLADUNG

Entsprechend der Einladung zur philosophieWerkstatt v2.0 für den 11.Januar 2015 sollte es neben einem kleinen experimentellen Kunstteil ein Einführungsreferat aus religionswissenschaftlicher Sicht zum Thema „Das Gute und das Böse in den Religionen” geben.

THEMENWECHSEL: RELIGIONEN IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE, VERHÄLTNIS ZUM STAAT

Da erst zu Beginn der Sitzung bekannt wurde, dass die geplante Referentin nicht kommen würde, musste das Thema kurzfristig etwas geändert werden. Statt eines ’strukturellen Vergleichs‘ mit Blick auf ‚Gut und Böse‘ in den Religionen sprang der Veranstalter dann ein mit Thesen aus dem Buch von Bergmeier: Christlich-abendländische Kultur – eine Legende (Teil 1) und Teil 2. Bei diesem Buch handelt es sich um eine interessante historische Studie zum Wechselspiel zwischen ‚Gesellschaft – Christentum‘ einerseits und parallel zwischen ‚Gesellschaft – Islam‘ andererseits im Zeitraum 700 – 1400.

GESELLSCHAFT OHNE RELIGION IST MÖGLICH

Aus dieser Studie — und unter Berücksichtigung der Jahrhunderte danach — kann man ersehen, dass ein blühende Gesellschaft ohne Religion möglich ist, dass aber Religion umgekehrt ganze Gesellschaften behindern oder zerstören kann. Auch wenn man es aus der Sicht des Jahres 2015 kaum glauben mag, aber die kulturell höchstentwickelte Periode und Blütezeit hatte Ganz-Europa in der Zeit ca. 800 – 1100 im arabisch-islamischen Reich. Parallel verzeichnen wir einen wirklich dramatischen Niedergang der Gesellschaft unter der römischen Papstkirche bis sich die Zivilgesellschaft von diesem Einfluss ab ca. 1200 schrittweise und mühsam im Laufe von ca. 700Jahren befreien konnte.

Diese historische – und letztlich auch soziologische – Betrachtungsweise erlaubt es, Einschätzungen zu verschiedenen Religionen zu bekommen, ohne dass man Details dieser Religion kennen noch verstehen muss.

GRIECHISCH-RÖMISCH

Wenn so z.B. (i) in der Phase der griechischen Kultur (ca. ab 500 v.u.Z.) und dann in der römisch-griechischen Kultur (ca. 200 v.u.Z. bis ca. 400) die Gesellschaft blüht weil der Staat sich für alle verantwortlich fühlt und mit Schulen, Infrastruktur, Toleranz bzgl. Weltanschauungen sowie Rechtssicherheit das Aufblühen von Handel und Wirtschaft ermöglicht, wir dann beobachten können,

ARABISCH-ISLAMISCH

wie (ii) sich diese Blüte im arabisch-islamischen Bereich ca. 700 – 1400 fortsetzt, da die neuen islamischen Machthaber dem Wissen gegenüber aufgeschlossen sind und sie Toleranz gegenüber Weltanschauungen praktizieren,

RÖMISCHE PAPSTKIRCHE

wie dann (iii) zeitgleich in den westlich christlichen Ländern die Gesellschaft geradezu dramatisch zusammenbricht, weil unter dem Einfluss der staatlich privilegierten römischen Papstkirche dem Staat die Mittel fehlen, öffentliche Schulen, Infrastrukturen weiter zu pflegen; Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen praktisch abgeschafft ist; dann finden wir einen beispiellosen Niedergang des Wissens, der Wirtschaft und der Gesellschaft.

RENAISSANCE, AUFKLÄRUNG, REVOLUTION …

In den westlichen europäischen Ländern (Abendland) kann man dann (iv) beobachten, wie die westlichen Länder sich langsam aus ihrer Schockstarre wieder befreien, indem sie sich schrittweise aus dem Machteinfluss der römischen Papstkirche lösen. Die Zauberworte hier lauten u.a. Renaissance, Aufklärung, französische Revolution, Entstehung von Demokratien. Dies bedeutet Rückgewinnung des Wissens (zu Beginn unter Hilfe der arabisch-islamischen Kultur und der des griechischen Byzanz!), Aufbau von Bildung und Infrastrukturen, und Rückkehr der Toleranz. Dieser Befreiungsprozess hat ca. 700 Jahre gedauert und er ist noch nicht wirklich vollständig abgeschlossen (die Rolle der Reformation wurde noch nicht diskutiert).

OSMANISCH

(v) In der Nachfolge des arabisch-islamischen Reiches gab es zwar das osmanische Reich (ca. 1300 bis 1923), doch hatte es zu keinem Zeitpunkt die Offenheit für Wissen, die Toleranz und die Infrastrukturen wie das vorausgehende arabisch-islamische Reich. Die Gesellschaft als solche blieb hinter der Entwicklung der westlichen europäischen Länder zurück.

SPALTUNG EUROPAS

In diesen geschilderten Entwicklungen liegen die Wurzeln für die Entstehung eines sogenannten ‚fortschrittlichen abendländischen‘ Europas und eines ‚weniger fortschrittlichen morgenländischen‘ Europas. Während im Fall des ‚morgenländischen‘ Europas der Faktor Religion in Form verschiedener islamischer Varianten eher bremsend wirksam ist, liegt der Fall bei dem ‚fortschrittlicheren morgenländischen‘ Europa anders: hier findet die Entwicklung in dem Maße statt, wie sich die Gesellschaft vom Einfluss der Religionen – – speziell vom Einfluss der römischen Papstkirche – befreit hat. Im Fall des abendländischen Europas von einer ‚christlichen Leitkultur‘ zu sprechen ist historisch und sachlich falsch. Zwar gab es starke christliche Einflüsse im abendländischen Europa, aber alles, was die heutigen Demokratien und das gesellschaftliche Funktionieren ermöglicht, wurde eindeutig GEGEN den Einfluss der christlichen Bekenntnisse mühsam – und streckenweise blutig – erkämpft! Die wahren Grundlagen des Erfolges des abendländischen Europa sind die staatlichen und Kulturen Errungenschaften des antiken Griechenlands, des antiken Roms, die Blütezeit des arabisch-islamischen Reiches und dann die fortschreitende Befreiung vom Einfluss der Religionen im Abendland.

EIN GANZES EUROPA

Ein ‚Ganzes Europa‘ (= Morgenland und Abendland) war in der Vergangenheit möglich und wäre auch heute möglich, wenn die Förderung der staatlich-gesellschaftlichen Strukturen im Vordergrund stehen würde (Bildung, Forschung, Infrastrukturen, Rechtssicherheit, Toleranz) und die Religionen dies als ihre ‚Rahmenbedingungen‘ anerkennen würden. Zugleich müssten die Religionen alle ‚weiter entwickelt‘ werden, da ihr aktueller Wissensstand weit hinter dem Wissen der Welt zurückliegt. Was immer eine Religion heute privat, individuell von Gott wissen mag, eingehüllt in eine dunkle Wolke von Nichtwissen kann dieses Wissen um Gott nur ein Zerrbild Gottes ergeben.

OFFENE GESPRÄCHSRUNDE

Die offene Gesprächsrunde folgte diesen historischen Entwicklungslinien nicht. Alle Teilnehmer standen stark unter dem Eindruck der Geschehnisse in Paris (Attentate von Islamisten in Paris) im Kontext der anhaltenden Diskussionen in der Öffentlichkeit zur Rolle des Islam in Europa. Einige artikulierten auf unterschiedliche Weise eine gewisse Hilflosigkeit der Orientierung. Diese Orientierungslosigkeit wollte nicht ganz von dem Begriff der Religion lassen und fokussierte mehrfach um die Frage, was ‚Gut‘ und ‚Böse‘ sei, was ‚Richtig‘ und ‚Falsch‘. Der Begriff der ‚Religion‘ blieb unklar trotz Unterscheidung von ‚Religion‘ – ‚Konfession‘ – ‚Kirche‘. Einige sehen ‚Religion‘ als sehr grundlegende Bedürfnisse, die sich aus der Existenz des Menschen in dieser Welt ergeben sollen. Andere zitierten den Psychologen Bauer, der die Wurzel in jener Zeit verordnen, in der die Menschen im Übergang von kleinen Gruppen (Jäger) zu größeren komplexen Gruppen (Ackerbau, Städtebildung) gezwungen sind, komplexe Regelsystem aufzustellen und zu sanktionieren. ‚Gott‘ hier als ‚virtueller Rächer‘ für Regelmissbrauch. Es gab nicht genügend Zeit, um alle aufgeworfenen Fragen ausreichend zu klären.

AUFGABENSTELLUNG FÜR DAS NÄCHSTE MAL: So, 8.Febr.2015

Für das nächste Mal gab es zwei Vorschläge

1. Jeder überlegt aus seinem Wissens- und Erfahrungsbereich, wo und wie er/sie die Begriffe ‚Gut’/ ‚Böse, ‚Richtig’/’Falsch‘ am ehesten verorten würde. Dazu den Begriff ‚Religion‘.
2. Zwei der teilnehmenden PsychologenInnen versuchen ein Kurzstatement vorzubereiten, wie diese Phänomene im Kontext von Kindern auftreten. Kann man daraus etwas entnehmen?

MUSIK(KUNST)EXPERIMENTE

Zu Beginn wurde wieder ein kleines Musik-Kunst-Experiment durchgeführt und kurz darüber gesprochen. Dies bestand aus drei Teilen: (i) 7 Bilder in Folge, die auf einem einzigen Foto beruhten, das unterschiedlich bearbeitet worden war; (ii) Die sieben Bilder mit einem ersten Klangbild nach der RUM-Methode; (iii) die gleichen Bilder mit einem zweiten Klangbild nach der RUM-Methode. sowohl die Bilder als auch die Musik sind in Finnland entstanden, und zwar zunächst unabhängig voneinander. Interessant war die große Vielfalt der Eindrücke sowohl zu den Bildern alleine wie auch zum Wechselspiel von Bild und Klang. Klangbeispiel zwei, obgleich völlig unabhängig von den Bildern gemacht, wirkte in der Einheit mit den Bildern so intensiv, als ob Bildfolge und Musik bewusst aufeinander abgestimmt war. Was sagt dies darüber, wie wir als ‚Konsumenten‘ Klangstrukturen und Bildfolgen in uns verarbeiten?

Für einen Überblick zu allen Blogeinträgen nach Titeln siehe HIER.

CHRISTLICHES ABENDLAND EINE LEGENDE? Nachbetrachtungen zum Buch von R.Bergmeier – Teil 2

Rolf Bergmeier, „Christlich-abendländische Kultur – eine Legende: Über die antiken Wurzeln, den verkannten arabischen Beitrag und die Verklärung der Klosterkultur Broschiert“, 238 Seiten, Aschaffenburg: Alibri Verlag, Dezember 2013

FORTSETZUNG

Diesem Teil 2 geht ein Teil 1 voraus, in dem die Hauptaussagen des Buches von Bergmeier skizziert werden.

In diesem zweiten Teil geht es um eine erste Diskussion dieser Thesen, sowohl um mögliche Kritik wie auch um mögliche Konsequenzen.

DISKUSSION

1. Wenn jemand Kritikpunkte an dem Buch sucht, kann er sie schnell finden: das zur Untersuchung anstehende Sachgebiet ist zeitlich und inhaltlich so riesig, dass ein Buch mit 215 Textseiten zwangsläufig weitgehend nur ‚Überschriften‘ liefern kann. Kein Gebiet kann wirklich detailliert in epischer Breite behandelt werden. Das Ganze wirkt wie ein ‚historisches Telegramm‘, bei dem jeder, der will, Punkte finden könnte, die zu grob sind, zu ungenau, oder einfach erklärungsbedürftig.

2. Auf der anderen Seite kann man aber gerade diese Kompaktheit, diese Thesenhaftigkeit als die große Stärke des Buches begreifen: angesichts eines so großen und schwierigen Thema würde mindestens jeder normale Mensch – und wie es scheint, auch die meisten Historiker – einfach kapitulieren und damit angesichts dieser großartigen Vergangenheit Europas im Nichtwissen verharren. Die Kompaktheit des Buches von Bergmeier aber eröffnet auch einem Nichthistoriker, einem Laien, einem ’normalen Menschen‘ die Möglichkeit, mal ein – wenn auch holzschnittartig verkürztes — Gesamtbild von einer Zeit zu bekommen, die für Europa fundamental war und eigentlich immer noch ist.

3. Wenn wir heute, im Jahr 2015, erleben, wie die aktuelle EU sich fast ausschließlich aus Ländern mit christlicher Vergangenheit – eben aus dem Abendland — zusammensetzt, dann ist dies kein Zufall. Und wenn wir in diesen Jahren erleben, wie schwer sich die Menschen in der EU tun – auch die sogenannten ‚Gebildeten‘ –, mit dem Islam umzugehen (der muslimische Arbeitskollege ist OK, aber der Islam …), dann erleben wir hautnah und konkret, wie real die unaufgearbeitete Geschichte des ganzen Europa – Morgenland und Abendland – sich heute, im Hier und Jetzt, noch auswirkt.

4. Betrachtet man das, was das ganze Europa in der Vergangenheit (-500 bis 1400) und dann danach in der Renaissance, in der Aufklärung, in der Moderne, stark gemacht hat, dann war dies immer ein Staatsgebilde, in der die Macht dafür gesorgt hat, dass die Rahmenbedingungen für möglichst alle optimal waren, wo die Infrastrukturen ein gemeinsames Leben, gemeinsame Bildung, gemeinsame Technologie, gemeinsames Handeln und Wirtschaften nach akzeptierten Regeln möglich war, und wo religiöse Toleranz herrschte. Immer dann, wenn diese Rahmenbedingungen gegeben waren, gab es lebendige dynamische Städte und Regionen, gab es blühenden Handel, gab es aufregende Entdeckungen und Erfindungen, die allen nützten, gab es Wohlstand und kunstvolle Durchdringungen des gemeinsamen Lebens; immer dann und auch NUR dann! Das fundamentale Prinzip lautet: Die Macht schafft einen Lebensraum für möglichst alle zu möglichst guten Konditionen

5. Was man auch erkennen kann, ist, dass eine zentrale – vielleicht die wichtigste überhaupt — Bedingung für all dies die Verfügbarkeit von WISSEN war (und ist). Ohne geeignetes Wissen, das IN den Köpfen der Menschen AKTIV verfügbar ist, ist kein Mensch in der Lage, weder individuell noch gemeinschaftlich, irgend etwas Sinnvolles zu tun. Ohne Wissen gibt es kein Bauwerke, keine Straßen, keine Infrastrukturen, keine Maschinen, keine Landkarten, keine Verständigung, keinen Handel, keine medizinische Versorgung, keine Erfindungen, keinen Fortschritt.
6. Die Verfügbarkeit von Wissen für möglichst alle setzt voraus, dass jeder Mensch grundsätzlich wertgeschätzt, geachtet wird, dass man jedem Menschen so viel ‚Würde‘ zusteht, dass man ihm einen ‚Anspruch‘, ein ‚Recht‘ auf Wissen einräumt und auch dafür sorgt, dass es die reale Möglichkeit für Wissen gibt. Und schaut man mit diesen Augen in die Vergangenheit ganz Europas (Indien und China sind auch zu empfehlen …), dann wird man u.a. folgendes feststellen können:

7. In der griechischen Kultur im Zeitraum -500 bis ca. 500 finden wir hochstehende bis maximale Leistungen auf allen Gebieten, obgleich diese Kultur weder jüdisch, noch christlich noch islamisch war. Das Gleiche gilt für die römische Kultur bis zum ‚Sündenfall‘ des Religionserlasses von Kaiser Theodosius 380.

8. Die arabisch-islamische Kultur der zeit 700 – 1400 zeigt ebenfalls Höchstleistungen, weil sie aufgrund ihres Glaubens die erfolgreichen Prinzipien und das Wissen der griechisch-römischen Kultur in allen Bereichen aufgegriffen und substantiell in vielen Bereichen sogar weiter entwickelt haben. Dazu gehörte eine überwiegende Toleranz anderen weltanschaulichen und religiösen Bekenntnissen gegenüber, ein Leistungsprinzip bei der Auswahl der Kandidaten für wichtige Ämter, und eine kaum zu überbietende Wertschätzung gegenüber WISSEN! Nicht nur gab es überall Schulen für alle (speziell sogar für sozial Schwache und Benachteiligte), sondern dazu weiterführende, forschende Lehranstalten, riesige öffentliche Bibliotheken, umfangreiche Übersetzungstätigkeiten aus ganz vielen anderen Sprachen nach Methoden, die auch heute noch wissenschaftlich gültig sind.

9. Jahrhunderte nach 1400, bis heute, können wir beobachten, dass es islamische Kulturen gibt, die diese Offenheit für Wissen und diese Toleranz nicht praktizieren mit den entsprechenden Folgen für die Lebenssituation der Menschen. Unter anderem kann man daraus ersehen, dass die Berufung auf den Islam nicht automatisch einhergeht mit Toleranz, Bildung, und Fortschritt.

10. Ähnliches beobachten wir bei den christlichen Bekenntnissen. Die ersten vier Jahrhunderte des Christentums waren geprägt von schweren, auch blutigen, Auseinandersetzungen zwischen mehr als 80 verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen. Dass dann ein römischer Kaiser – gegen alle vorausgehenden Traditionen – plötzlich das Toleranzprinzip aufgibt, quasi über Nacht eine der mehr als 80 christlichen Richtungen, nämlich die ‚Trinitarier‘ – zur Staatsreligion erhebt, diese mit absoluten Machtansprüchen ausstattet, führte dann in den kommenden ca. 1000 Jahren zu einer der größten Verfinsterungen in den westlichen (abendländischen) Ländern, sofern sie dem Einfluss der römischen Papstkirche unterlagen. Die römische Paptskirche verachtete die Welt (allerdings nicht, wenn es um ihre Besitztümer ging); sie verachtete Wissen; sie verachtete alle Menschen, die nicht Kleriker, Bischöfe oder Fürsten waren; sie verachtete den Staat und alle öffentlichen Einrichtungen; sie verachtete Andersdenkende und verfolgte sie mit dem Tode.

11. Erst als sich die westlichen Länder von dem absolutistischen menschen- und wissensverachtenden Zugriff der Papstkirche schrittweise befreien konnten, erst als Wissen, Technik, Handel wieder zu blühen begannen, erst dann entwickelten sich norditalienische Städte, westliche Universitäten, Handelsverbünde im Norden, neue Industrien und neue Gesellschaftsformen. Wohlgemerkt: erst als sich die Gesellschaft aus der menschenverachtenden tödlichen Umarmung der römischen Papstkirche löste! Vor diesem Hintergrund zu sagen, dass die politische EU wesentlich auf den christlichen Werten des christlichen Abendlandes beruhe, ist in einer Weise falsch, die nicht mehr zu überbieten ist. Ja, faktisch existiert die aktuelle (kleine) politische EU fast nur in den Ländern, die nach dem römischen Reich westlich-christlich geworden sind, aber sie existieren in der heutigen politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Verfassung nicht wegen der christlichen Vergangenheit, sondern TROTZ der christlichen Vergangenheit. Nur weil die heutigen westlich-christlichen Ländern mit Hilfe der griechisch-römischen Kultur, übermittelt durch die arabisch-islamische Kultur, aus der 1000 Jahre andauernden tödlichen Umarmung der römischen Papstkirche gelöst hatte, gibt es das neue, moderne, aufgeschlossene, menschenbejahende, wissensdurstige Europa.

12. Für viele wirken die heutigen Christen – auch das römische Papsttum – ‚zahm‘, ‚kompatibel‘ mit einer modernen demokratischen Gesellschaft. Betrachtet man das römische Papsttum aber näher, dann muss man feststellen, dass es sich nicht wirklich geändert hat. Es hat bis heute keinerlei Lehren aus der unrühmlichen Vergangenheit gezogen. Und ob die anderen christlichen Bekenntnisse wirklich viel ‚besser‘ sind, das ist eine letztlich offene Frage. Leider wird über Religion, über die Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit von Religionen öffentlich nicht mehr ernsthaft diskutiert. Für die einen sind die alten Religionen passé und für die anderen werden diese Institutionen weitgehend unwissend und unkritisch-naiv einfach übernommen; der normale Gläubige weiß in der Regel nichts von der wahren Geschichte Europas und seiner Religion. Er ist halt Christ der Richtung X oder Muslim oder Jude oder …, weil es halt immer so war, seine Eltern, seine Freunde, die Umgebung … Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, aber gedankliche Gleichgültigkeit für die Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit ist schlecht bis tödlich. Wenn Konflikte aufflammen wie heute wieder zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, bei die einen Religion X angehören, die anderen Religion Y, ist man schnell mit Verallgemeinerungen und Verteufelungen zur Hand, ohne die andere Position wirklich zu kennen. Alle diese Aufregungen wirken weitgehend scheinheilig, da sie in der Regel nicht dazu führen, dass man ernsthaft MITEINANDER redet, sondern immer nur GEGENEINANDER und ÜBEREINANDER.

13. Unterm Strich kann man sagen, dass es – schaut man in der Geschichte zurück und nimmt auch die Gegenwart war –für ein blühendes florierendes Gemeinwesen nicht notwendig ist, dass man zu einer bestimmten Religion gehört. Religionen können kompatibel sein mit einem blühenden Gemeinwesen (der Islam in der Zeit 700 – 1400, oder das Christentum der Neuzeit), aber diese kompatiblen Religionen sind nicht wirklich wichtig.

14. Schaut man die wichtigsten Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, Islam) an, dann muss man feststellen, dass sich die umgebenden Gesellschaften in einigen Teilen unserer Erde zwar trotz und gegen diese Religionen positiv weiter entwickelt haben, dass sie mehr und höhere Werte ausgebildet haben, als jede der drei Religionen jemals hatte, dass aber die Religionen selbst trotz dieser menschenfreundlichen und zukunftsbejahenden Gesellschaften in einer Geisteshaltung verharren, die rückwärtsgewandt ist, weitgehend menschen- und wissensverachtend. So gesehen sind die modernen Gesellschaften, die sich vom Einfluss der institutionalisierten Religionen freigekämpft haben, in ihrer Substanz ‚religiöser‘ als die, die sich religiös nennen. Schon einem Jesus von Nazareth werden die Worte in den Mund gelegt, dass man die wahren Propheten nicht an ihren Worten erkennt, sondern an ihren Taten. Und er hat durch unmissverständliche Beispiele deutlich gemacht, dass nicht die ‚fromm‘ sind, die ihre Rituale äußerlich verrichten, sondern jene, die den Menschen helfen, die real Hilfe brauchen, egal wer das ist. Man braucht auch keinen speziellen heiligen Ort, um zu beten, sondern man kann überall beten. Man braucht keine besonderen ‚Vermittler‘ (irgendwelche Kleriker, Priester und dergleichen mehr), sondern jeder kann jederzeit überall beten, alleine und zusammen. Gott ist dort, wo ein Mensch sein Herz öffnet und das tut, was jedem hilft, egal wer es ist. Wer in diesem Sinne lebensbejahend, aufrecht, lebt, besitzt deswegen keine besonderen Privilegien, heisst es doch das der ‚Größte‘ der ist, der allen am meisten ‚dient‘. Auch wird man deswegen nicht automatisch befreit von Leiden oder vom Sterben. Jesus von Nazareth ist gestorben wie alle anderen auch, wie jeder von uns sterben wird. Die modernen Gesellschaften haben mit ihren modernen Verfassungen und ihrer Lebensweise weit mehr von dieser fundamentalen Religiosität und den Grundwerten als alle die bekannten historischen Offenbarungsreligionen zusammen. Die wenigstens sind sich dessen allerdings bewusst. Die Wertschätzung für die ‚alten‘ Religionen ist sachlich gesehen sehr unangebracht.
15. [Anmerkung: Nach den obigen Kriterien für ‚rechten Glauben‘ ist der Islam mit Abstand ‚christlicher‘ als es die römische Papstkirche jemals war (was nicht heisst, dass es auch Menschen gibt, die den Begriff ‚Islam‘ missbrauchen können) ]

16. Würde heute ein Abraham, ein Jesus und ein Mohammed gleichzeitig leben, ich bin ziemlich sicher, dass sie den Kopf schütteln würden über das, was aus ihren Deutungsansätzen gemacht wurden, und ich bin sicher, sie würden die modernen demokratischen Lebensformen höher bewerten als alles andere, was da im Namen von Religionen bislang ausgedacht worden ist. Dies heißt nicht, dass die aktuellen demokratischen Lebensformen optimal sind, nein, auch hier beobachten wir, dass die verfügbare Macht heute Menschen genauso korrumpiert, wie sie dies schon in der Vergangenheit getan hat; dass heutige Regierungen und Großkonzerne genauso kontinuierlich gefährdet sind, nur ihre partiellen Interessen zu sehen statt das Gemeinwohl. Aber die demokratische Gesellschaftsform bietet transparenten Ansatzpunkte, mit diesen korrumpierenden Tendenzen offen und menschlich umzugehen, wenn sich alle ihrer Verantwortung als Menschen und für das Leben bewusst sind. Mehr denn je ist heute die Stunde von GANZ Europa, Morgenland und Abendland, und ein demokratisches Europa ist offen für eine wahrheits- und zukunftsfähige Weltgesellschaft.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

CHRISTLICHES ABENDLAND EINE LEGENDE? Nachbetrachtungen zum Buch von R.Bergmeier

Letzte Änderungen: 9.Januar 2015 09:33h

Rolf Bergmeier, „Christlich-abendländische Kultur – eine Legende: Über die antiken Wurzeln, den verkannten arabischen Beitrag und die Verklärung der Klosterkultur Broschiert“, 238 Seiten, Aschaffenburg: Alibri Verlag, Dezember 2013

KONTEXT BLOG

Dieser Blog startete 2007 mit der Frage, ob heute angesichts eines ausgeprägten wissenschaftlichen Denkens Philosophie überhaupt noch Sinn macht. Der Auftaktvortrag bei der Philosophischen Gesellschaft Bremerhaven im Januar 2012 markierte nach 5 Jahren ein erstes deutliches ‚Ja‘, was sich dann im weiteren Verlauf weiter vertiefte und differenzierte. Auf dieser Basis wurde die Fragestellung dann weiter ausgedehnt auf die Frage der Rolle der Kunst im Verhältnis zu Philosophie und Wissenschaft sowie auch die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Religionen.

War die Frage nach Gott für die Wissenschaft lange Zeit kein wirkliches Thema, so spannt das Tandem (Philosophie, Wissenschaft) – speziell auch mit den immer ‚tiefer‘ reichenden Erkenntnissen zur Struktur der Materie – mittlerweile einen Denkraum auf, der prinzipiell keine Schranke mehr darstellen muss für Fragen nach einem ‚umfassenderen Sinn‘. Dies wird verschärft durch die sich vertiefenden Einsichten zur ‚Logik der Evolution‘, die es nicht nur gestatten, sondern logisch erzwingen, die ‚Wertefrage‘ als genuinen Teil einer Evolutionslogik aufzuwerfen.

So spannend all diese Fragen und Perspektiven sind, so sehr wird eine offene Auseinandersetzung, ein offener alle befruchtender Dialog über diese Perspektiven durch eine Vielzahl von nicht-wissenschaftlichen Faktoren behindert:

1. Die fortschreitende Instrumentalisierung von Wissenschaft durch Wirtschaft und Politik macht ein offenes Forschen und einen freien Austausch immer schwieriger.

2. Der Publikationszwang führt zu einer Inflation von Veröffentlichungen, die sich nicht nur durch die schiere Menge wechselseitig neutralisieren, sondern auch erprobte Qualitätsmechanismen vielfach außer Kraft gesetzt haben.

3. Die sehr starke kontinuierlich fortschreitende Spezialisierung wird nicht durch entsprechend starke disziplinübergreifende integrierende Maßnahmen aufgefangen.

4. Soziologische, anthropologische und methodische Aspekte des Wissenschaftsbetriebs werden kaum bis gar nicht reflektiert; stattdessen werden entsprechende Lehrstühle und Forschungsprogramme eher noch minimiert oder ganz abgeschafft.

5. Wird durch die Punkte (1) – (4) schon für Wissenschaftler selbst eine begründete Sicht übergreifender Strukturen schwierig bis unmöglich, ist die Öffentlichkeit von der gesamten Wissenschaftsentwicklung weitgehend abgeschnitten.

6. Dazu kommt die anhaltende Existenz verschiedenster religiöser Anschauungen in den Köpfen der Menschen, die in ihrer konkreten Ausformung eigentlich im Widerspruch zu vielem stehen, was wissenschaftlich erarbeitet wurde. So schwer es ist, sehr verlässliche Zahlen zu Mitgliederzahlen der verschiedenen religiösen Bekenntnissen zu bekommen und noch schwerer, klare Angaben zu den ‚tatsächlichen‘ Meinungen der Menschen, so scheint es doch dass es mit ca. 5.7 Mrd Menschen bzw. ca. 6.2 Mrd Menschen einen überwältigenden Anteil von Menschen zu geben, der trotz neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse Interpretationen der Welt folgt, die rational schwer zu rechtfertigen sind. Nach Schätzungen der UN gab es 2010 ca. 6.9 Mrd. Menschen.

GLAUBEN – KIRCHE – RELIGION

Aufgrund dieser Zahlen muss man vermuten, dass ein Gespräch über Glauben, Kirche, Religion bei ca. 8 von 10 Menschen mit Argumenten geführt wird, die weniger von wissenschaftlichen Erkenntnissen geleitet sind als vielmehr von religiös ‚inspirierten‘ Anschauungen, für die es keine nachvollziehbaren Argumente gibt. Die Möglichkeiten der Ideologiebildung, von Fundamentalismus, von Instrumentalisierung für sekundäre Zwecke, sind von daher vermutlich sehr groß.

Wenn dann in einer solch schwierigen geistigen Situation jemand ein Buch veröffentlicht, das zu der – statistisch — verbreitetsten Religion, nämlich dem Christentum, hier speziell zur westlichen Papstkirche, sehr kritische Feststellungen formuliert, dann darf man erwarten, dass in einem Diskurs über diese Religion sehr schnell Meinungen hochkochen, die nicht unbedingt sachlich gerechtfertigt sein müssen.

Was die Position des Autors cagent in Fragen der Religion – hier speziell der katholischen Kirche — betrifft, so startete er in einer ‚kirchennahen‘ Position, intensivierte dies durch sehr intensive Engagements ‚innerhalb‘ dieser Kirche, bis es dann 1990 bei ihm zur klaren Abgrenzung von dieser institutionellen Weise von Religion kam, einer Abweisung, die sich dann im Laufe der Jahre auch auf andere Formen von institutioneller Religiosität ausgedehnt hat. Diese in all Jahren langsam voranschreitende ‚Abkehr‘ von den religiösen Institutionen war begleitet von einer stärkeren Zuwendung zu politisch-sozialen Strukturen der allgemeinen Gesellschaft und einer weiteren Vertiefung einer ‚Spiritualität‘ im Sinne eines ‚Gott für Alle‘ Paradigmas, ‚Gott überall‘, ‚Gott zum Nulltarif‘.

Vor diesem Hintergrund hat der Autor cagent das Buch von Bergmeier mit höchstem Interesse gelesen und in ihm viele wertvolle Ideen gefunden die ihm so bislang (trotz Lektüre von vielen hunderten Artikeln und Büchern) entweder überhaupt nicht oder zumindest nicht in diesem speziellen Kontext bekannt waren.

Die nachfolgende Besprechung kann nur grob die Vielzahl der Thesen und Argumente wiedergeben und es wäre wünschenswert, dieses Thema auch in den nächsten Monaten (und Jahren) weiter zu verfolgen, zu vertiefen und zu klären.

Wenn man bedenkt, wie viele Kriege seit Jahren immer noch im Namen irgendwelcher Religionen geführt werden, Menschen verfolgt, gequält, gefoltert und getötet werden, dann scheint es sehr ‚rational‘ zu sein, auch heute die Frage der der Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit einer Religion zu stellen, und zwar nicht isoliert für eine Religion, sondern simultan für alle Religionen! Wenn heute immer noch mehr als 80% aller Menschen religiösen Anschauungen anhängen, die keine rationale Begründung zulassen, und im Namen solcher Anschauungen anderen Menschen deren Lebensrecht absprechen, dann ist eine bloß formale ‚Religionsfreiheit‘ zu wenig. Die Frage muss vielmehr lauten, wie wir eine gemeinsame Zukunft denken und leben können, in der ALLE Menschen einen Platz haben können, und in der eine Religion – welcher Anschauung auch immer – ihre Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit als eine Frage der Ehre und Gewissenhaftigkeit behandelt. Die formale Berufung auf irgendwelche Texte, die man einfach als ‚heilig‘ erklärt ohne ihre ‚Wahrheitsfähigkeit‘ ernst zu nehmen, kann keine Basis für eine gemeinsame Zukunft sein. Eine solche Haltung würde den Menschen selbst, bevor er überhaupt anfängt, Mensch zu sein, von vornherein ausschalten. Das ist vom gleichen Muster, wie wenn im Namen von ‚Sicherheit‘ genau die ‚Freiheit‘ und ‚Demokratie‘ abgeschafft wird, die geschützt werden soll; oder wenn im Namen von ‚Wahrheit‘ alles zerstört wird, was genau ‚Wahrheit‘ ermöglicht.

HAUPTTHESEN

Die folgenden Formulierungen reflektieren mein Verständnis des Buches und sind möglicherweise teilweise oder ganz falsch. Ich würde mich über jede Art von konstruktiver Klärung freuen, denn meistens lernt man durch bekannt gewordene Fehler.

Bei der Verwendung des Begriffs ‚Kultur‘ legt Bergmeier sich fest auf die Bereich Kunst, Bildung, Wissenschaft, intellektuelle Aktivitäten und zivilisatorische Leistungen (Anmk.5, S.9). ‚Zivilisatorische Leistungen‘ kann man aus dem Text deuten z.B. als die Infrastruktur von Gebäuden und ganzen Städten, technische Geräte aller Art, Verwaltungsstrukturen usw.

1. Das griechische Denken hat sich auch nach der Eroberung durch Rom in der Ausbildung und im Lebensstil der Römer vielfach behaupten können.

2. Merkmale der römischen Zivilisation sind: Einsatz für die Gesellschaft, Technologie, städtische Infrastrukturen mit Kanalisation und öffentlichen Bädern, Verkehrswege, Verwaltungsstrukturen mit Recht und Gesetz, Theater, religiöse Toleranz, Schulen, Wissenschaft in Akademien, Bibliotheken, effizientes geordnetes Militär. Alle Kommunen waren mit Elementarschulen ausgestattet und man schätzt dass ende des 1.Jh ca. die Hälfte aller Bürger Lesen und Schreiben konnte. (vgl. S.54f)

3. Nach dem Zerfall des römischen Reiches im Westen bricht das zivilisatorische Netzwerk im westlichen Einflussgebiet Roms sehr schnell zusammen. Nach Bergmeier ist dies aber weniger der Zerstörung von außen geschuldet (die Normannen habe eher versucht, sich zu ‚romanisieren‘), sondern die neue, wesentlich christliche Ideologie mit ihren gesellschaftsfeindlichen feudalistischen Anschauungen haben den bisherigen Strukturen jegliche geistige Unterstützung entzogen. (vgl. z.B. SS.20-22)

4. Der christliche Glaube war als solcher bis ins 4.Jh in mehr als 80 Glaubensrichtungen zersplittert, die sich z.T. massiv bekämpften. Die gemeinsamen Texte waren vieldeutig genug, um alle diese Deutungen zu erlauben. In diesem Chaos verschafft ein Erlass von Kaiser Theodosius von 390 ganz profan der Gruppe der Trinitarier die Oberhand. Jetzt definiert der Kaiser was ‚katholisch‘ ist und alle anderen sind von nun an ‚Ketzer‘, die verfolgt und bestraft werden. (vgl. SS.24-28) In den Folgejahren um weitere Dekrete ergänzt, ist ab jetzt die bisherige religiöse Toleranz per Staatsdekret abgeschafft; alle anderen – auch die Juden –, die nichtchristliche Kulthandlungen begehen oder Bekenntnissen huldigen, gelten als todeswürdig und werden verfolgt. Die allgemein zu beobachtende Abschwächung der staatlichen Organe wird immer mehr durch die kirchlichen Strukturen, insbesondere durch die Bischöfe, ausgeglichen. Ausgestattet mit einem absolutistischen Religionserlass können Sie alles verfolgen, was ‚gegen die Religion‘ zu stehen scheint. Dazu gehören alle ‚heidnischen‘ Schriften und eine sich auf diese Schriften berufende ‚Lebensform‘ wie Schulen, Theater, und Bibliotheken. Mit der Bibel und den Kirchenväter sei alles gesagt; außerdem habe man den Klerus und die Bischöfe. Mehr Bildung sei nicht notwendig. Damit wird die gesamte geistige Welt der Antike vernichtet. Aus der bisherigen Opposition der christlichen Lebensformen zur Lebensweise der römischen Gesellschaft wird plötzlich eine staatlich subventionierte klar hierarchisch organisierte Kirche, die mehr und mehr Macht und Einfluss an sich zieht. Die Interpretation und Leitung der Gegenwart aller gesellschaftlichen Strukturen wird damit nicht mehr ‚rational‘ vorgenommen, sondern in einem ’nichtrationalen Mythos‘ eingetaucht, der der Gesellschaft die Luft zum Atmen und die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung nimmt. In diesem unkontrollierten Bündnis von weltlicher Macht und irrationaler Religiosität will die Kirche letztlich die totale Macht. Dank ihrer absoluten ‚Deutungshoheit‘ über alles kann sie sich alles so zurecht definieren, wie die aktuellen Kirchenführer es gerade brauchen.(vgl. SS.29-36)

5. Während sich nach dem Tode des Kaisers Theodosius im Machtvakuum Roms die organisierte Papstkirche weiter in eine staatstragende Rolle hinein manövrieren kann bei gleichzeitiger Verachtung für Bildung und Wissenschaft, behält das Ostreich mit Byzanz seine Öffnung für die antike Bildung und Kultur bei. Klerus und Bischöfe beanspruchen niemals eine weltliche Macht wie im Westreich; der Klerus ist verheiratet und sondert sich nicht ab von der übrigen Bevölkerung. Es gibt weiterhin Bibliotheken und Akademien.(vgl. SS.36-39)

6. Unabhängig von Westrom und Ostrom entsteht mit dem Islam eine weltgeschichtlich bedeutsame Bewegung, die sehr oft ohne nennenswerten Widerstand ganze Städte und Regionen einnehmen konnte. In der Zeit der beiden großen Dynastien (661 – 750 Umaiyaden, 750 – 1258 Abbasiden) werden die damals noch vorhandenen Infrastrukturen und Akademien und Bibliotheken nicht nur übernommen, sondern massiv ausgebaut. Die Vielfalt der Kulturen mit dem dazugehörigen Wissen werden aufgegriffen und konstruktiv weiter entwickelt. Die Hauptstadt Bagdad wächst unter den Abbasiden auf eine Größe von 2 Mio Einwohnern an. (vgl. SS.39-43, 49-52)

7. Eine besondere Rolle spielt hier auch Spanien, das nach seiner Eroberung (beginnend in 710/711) durch die islamische Bewegung zu einer ungeahnten Blüte in nahezu allen Bereichen gelang (bis 1031). Durch eine tolerante Religionspolitik, geringe Steuern, und durch den Aufbau einer leistungsfähigen Infrastrukturen für alle wurden ungeahnte Kräfte frei gesetzt. (vgl. SS.43-47) Im Jahr 1000 zählt Cordoba 500.000 Einwohner, verfügt über Kanalisation und Straßenbeleuchtung, benutzt 3000 Moscheen und bietet 300 öffentliche Dampfbäder. (vgl.S.52)

8. Als dann nach 1031 die innerislamischen Stammeskämpfe stärker werden bei zugleich Erstarkung der päpstlichen Macht, die brutal alle nichtkatholischen Kräfte bekämpft, fällt Spanien schrittweise (bis zuletzt Cordoba 1492) wieder an die mitteleuropäischen christlichen Länder und Kräfte zurück. Die Verachtung für Bildung und Wissen im allgemeinen, gepaart mit extremer religiöser Intoleranz führt dann alsbald zum Zerfall von allen Strukturen, zum Niedergang der Wirtschaft, zur Flucht vieler Menschen. (vgl. S.48)

9. Deutete sich in den vorausgehenden Abschnitten schon an, dass die grundlegende Einstellung zum Wissen und zur Weltgestaltung zwischen der damaligen westlichen Papstkirche und dem damaligen Islam grundverschieden war, so sind die tatsächlichen Fakten regelrecht niederschmetternd. Während es im Islam ein Grundgebot für jeden Gläubigen ist, sich möglichst viel Wissen anzueignen, um seinen Glauben immer besser zu verstehen und es auch keine eigene Klerikerkaste gibt, die sich gegenüber den ’normalen‘ Gläubigen speziell positionieren muss, huldigt die westliche Papstkirche der Abschottung der Kleriker und Bischöfe, verteufelte Wissen jenseits der Liturgie und der Bibel und hielt die allgemeinen Gläubigen bewusst in Unwissenheit. Während sich islamische Bürger einen Wettstreit darin lieferten, Wissen aus allen Bereichen der Welt zu sammeln, übersetzen zu lassen und in Bibliotheken möglichst allen zugänglich zu machen, dazu öffentliche Schulen für alle (z.B. hatte Cordoba im 9.Jh hatte 27 Grundschulen und 17 höhere Lehranstalten speziell nur für Schüler aus einfachen Verhältnissen, insgesamt aber 800 öffentliche Schulen für Muslime, Juden und Christen gemeinsam!) gab es in den westlich-christlichen Länder nur Klosterschulen, und diese nur für eine ausgewählte Schar von Kindern, mit einem sehr einseitigen Bildungsauftrag. Auffällig ist auch die offene bildungsorientierte Funktion der Moschee, die für Begegnung, Kommunikation, Schule und gemeinsames Beten da war. Der offene kritische Stil des Lernens und Diskutierens an den islamischen Universitäten war letztlich die Schablone für die neuen Universitäten der westlich-christlichen Länder, die sich später aus der ungeistigen Bevormundung der Papstkirche lösen wollten. Das öffentliche Schulwesen, das Rom noch systematisch befördert hatte, kam in den westlich-christlichen Ländern im Laufe des 5.Jh weitgehend zum Erliegen. Höhere Bildung gab es überhaupt nicht mehr. Dass es im Klosterbereich trotz allseitiger Beschränkungen die eine oder andere Geistesgröße gab, darf nicht über die allgemeine Misere des christlichen Bildungswesens hinwegtäuschen. Die sogenannte ‚karolingische Bildungsreform‘ änderte an dieser allgemeinen Misere bei näherer Betrachtung so gut wie nichts. Im islamischen Bereich hatte nahezu jede Stadt mindestens eine Bibliothek, die allen offenstand (z.B. umfasste die Bibliothek von Cordoba 400.000 Bücher aus allen Wissensbereichen, mit Übersetzungen aus ganz vielen Sprachen, speziell aus dem Griechischen). Die größten Klosterbibliotheken besaßen aber nur Bestände von 400 – 700 Büchern, überwiegend zu Themen der Liturgie und des Glaubens, und diese waren nur innerhalb des Klosters zugänglich, und auch hier niemals allen Mönchen in gleicher Weise! Antike Texte oder Texte aus nichtkirchlichen Bereichen waren verpönt, waren des Teufels, lenkten nur vom Kern des Glaubens ab, den die Kleriker definieren. (vgl. SS.54 – 72)

10. Die islamische Blütezeit bringt zahlreiche berühmte Gelehrte hervor, von denen Al-Farabi, Ibn Rushd (Averroes) und Ibn Sina (Avicenna) vielleicht die Bekanntesten sind. Neben intensiven Studien und Kommentaren zu Aristoteles und der gesamten griechischen Philosophie bereichern sie die Philosophie speziell durch die intensiven Reflexionen zum Verhältnis von Glauben und Wissen. Avicenna war darüber hinaus anerkanntermaßen einer der größten Medizinforscher und Medizinlehrer seiner Zeit mit Nachwirkungen bis in 18.Jahrhundert. Während der Islam dieser Zeit Wissen und Wissenschaft grundsätzlich positiv sieht und keine Berührungsängste zu den Wissenschaften und zur griechischen Philosophie hat, gilt der päpstlichen Kirche griechisches Wissen als verdammenswert und jedes Wissen wird in seiner möglichen Konkurrenz zum absoluten Deutungsanspruch der selbsternannten Glaubenshüter grundsätzlich beargwöhnt. (vgl. SS.72-82)

11. Sehr deutlich, geradezu krass, ist der Unterschied zwischen der damaligen islamischen und und christlichen Kultur im Bereich Gesundheitsversorgung und medizinischer Forschung. Während die islamische Kultur nicht nur die vorzügliche medizinische Infrastruktur der Römer übernehmen, systematisch ausbauen und verbessern, dazu die Forschung intensivieren, Enzyklopädien verfassen, und für ein gutes System von Apotheken sorgen, ist von alledem in den damaligen christlich-westlichen Ländern nichts zu finden. Während die arabischen Werke die Grundlage für die moderne Medizin des späteren wissenschaftlichen Europa bildeten, findet sich von alledem im christlichen Bereich nichts. Es gibt keine öffentlichen Krankenhäuser und Apotheken, es gibt keine wirkliche Medizinforschung und Ausbildung, es gibt nur viel Nichtwissen und Aberglauben. Krankheit wird als ‚Sünde‘ eingestuft, als ‚Strafe Gottes‘. So steigt der Bedarf an Schutzheiligen und Wallfahrten. Das Dogma von der ‚blutfreien Medizin‘ führt dazu, dass chirurgische Eingriffe für Ärzte verboten sind und allen Berufsständen in der Kirche wird das Studium der Medizin gänzlich verboten. In diesem Zusammenhang weist Bergmeier auch auf viele Fragwürdigkeiten in den Überlieferung zu Hildegard von Bingen hin. (vgl. SS.82 – 96)

12. Im Bereich der Astronomie und Mathematik muss man auch eine große Diskrepanz konstatieren: während die arabischen Wissenschaftler die großen griechischen Werke übersetzen und mit eigenen Forschungen weiter ausbauten, verharrt die Mathematik in den westeuropäischen christlichen Ländern während 500 Jahren auf niedrigstem, elementarem Niveau. Erst als die großen arabisch-islamischen Werke ab dem 13.Jh ins Lateinische übersetzt werden kann die westeuropäische Renaissance neben und gegen die Kirche daran anknüpfen und ab dem 15.Jahrhundert diese großartigen Vorarbeiten dann schöpferisch weiter entwickeln. (Vgl. SS.96-105)

13. Wendet man den Blick auf die Mechanik, Feinmechanik, zu Uhren, Pumpen, Kartentechnik oder Papierproduktion, überall hat die arabisch-islamische Kultur durch intensivstes Studieren und Erforschen bekannten Wissens und dann durch eigene Entwicklungen einen Niveau erreicht, das international überall an der Spitze lag. Während z.B. die ersten Papiermühlen in Bagdad schon Ende des 8.Jhs nachweisbar sind, finden sich Nachweise für Papierproduktionen im westlichen Europa erst mehr als 400 Jahre später. (vgl. SS.105 – 113)

14.In den arabisch-islamischen Regionen blühen die Städte und floriert der Handel, da eine staatlich unterstütze Infrastruktur allgemeine Rahmenbedingungen schafft, die all dies ermöglicht. So ist z.B. Bagdad mit 2 Mio Einwohnern damals die größte Stadt der Welt mit aktiven Handelsbeziehungen nach Indien und China. Spanien wird dank exzellentem Bewässerungssystem, einer Vielzahl von neuen Pflanzen, Pflanzenveredelungen, neuen Produktionsmethoden, Seidenindustrie und vielem mehr zum Agrarexporteure Nr.1. In Sevilla sollen allein an die 16.000 Webstühle für die Seidenproduktion tätig gewesen sein. Im Gegensatz dazu verkümmern die Städte in den westlichen christlichen Ländern und versinken mangels Infrastruktur buchstäblich im Dreck; 80 – 90% der Landbevölkerung sind unselbständige Bauern, Landarbeiter, Hörige oder Sklaven und sind bettelarm. Aufgrund eines nicht vorhandenen Bildungssystems fehlt überall Knowhow und Wissen, Technologie und Wirtschaft sind nicht konkurrenzfähig, der Handel ist schwach, die allgemeine Armut wird immer schlimmer. Die einzigen Profiteure sind die Kirchen, Klöster und Bischöfe. Aufgrund von Schenkungen, Vermächtnissen und staatlichen Privilegien häufen sie immer mehr Landbesitz und passiven Reichtum an. So wird geschätzt, dass um 1000 sowohl in Deutschland wie auch in Italien ca. 50% allen Landes der Kirche (Bischöfe, Klöster, Kirchen) gehört. Während immer mehr kirchliche Gebäude gebaut werden, zu denen auch entsprechende Versorgungseinrichtungen gehören (für jede Kirche ein Hof mit 2 Morgen Land und 1 Knecht und 1 Magd pro 120 Einwohnern), gibt es keine öffentlichen Schulen, keine Krankenhäusern, keine Straßen, keine Kanalisation, usw. Der Staat, das Gemeinwesen wird bis aufs Blut ausgeplündert. Unter diesen verheerenden Rahmenbedingungen gab es für Städte keinerlei Wachstumsimpulse; wer konnte floh aus den Städten. Rom, einstmals Millionenstadt mit Brunnen, Bibliotheken und hunderten von Thermen, soll im 9.Jh nur noch 20.000 Einwohner gehabt haben. Während es im heidnischen Rom ein umfangreiches Sozialprogramm gab, um Arme und Bedürftige versorgen zu können, galt der Papstkirche Armut als Gottesstrafe und als etwas sündiges. Bettlern und Krüppel wurden mit der Peitsche gezüchtigt, mit glühenden Eisen gebrandmarkt oder gar das Ohr abgeschnitten. (vgl. SS.113 – 128)

15. Faktoren des Erfolgs in der arabisch-islamischen Kultur dieser Zeit sind eine große Offenheit für Wissen, das aktive Sammeln und Weiterentwickeln von Wissen, die große Toleranz für andere Kulturen und Religionen, und die Anwendung des Leistungsprinzips bei der Vergabe von Ämtern im Staat. So konnten Christen und Juden beispielsweise hohe Ämter erlangen, wenn sie die Anforderungen erfüllten. Das Steuersystem mit 10% war sehr moderat und sah darüber hinaus Ausnahmen für Kranke, Bedürftige etc. vor. Bedenkt man den geringen Bildungsgrad der westlich-christlichen Herrscher, ihre Intoleranz Andersgläubigen gegenüber, ihre Unwissenheit über wirtschaftliche Zusammenhänge, dann wundert manches nicht. Dazu verstärkend die massive Wissensfeindlichkeit der Kirche und der Klöster, die einseitige Ansammlung von Besitztümern bei den Kirchen, Klöstern und Bischöfen, und der weitgehende Rückzug des Staates aus gemeinschaftlichen Aufgaben. (vgl. SS.129 – 156)

16. Die beginnende Rückeroberung von ehemals arabisch besetzten Gebieten in Spanien und Sizilien führt zunächst nicht zu einem völligen Bruch mit der arabisch-islamischen Kultur. Im Gegenteil, der hohe Entwicklungsstand in allen Gebieten führt dazu, dass die jeweiligen Eroberer versuchen, die bestehende Kultur zu übernehmen und damit weiter zu leben. So wird Toledo in der Zeit 1072 – 1157 zu einem Zentrum der Übersetzung arabischer Texte ins Lateinische. War das ursprüngliche Motiv nicht unbedingt das Wissen als solches, sondern Argumente gegen die Ketzer zu finden, so wurden nicht wenige der westlich-christlichen Gelehrten von der überwältigenden Fülle und Breite des angesammelten Wissens und der wissenschaftlichen Methodiken so beeindruckt, dass sich offener Zweifel und Kritik an der christlichen Position entwickeln konnte (was auch von den Päpsten sofort kritisiert wurde). Analysen ausgewählter Wissensgebiete zeigen, dass etwa 90% aller lateinischen Übersetzungen arabischer Quellen (und über diese viele wichtige griechische Werke) durch die Übersetzungstätigkeit in Toledo in die westlich-christlichen Länder kam. Ähnliches geschah auch in Sizilien, wenngleich ohne die intensive Übersetzungstätigkeit wie in Toledo. Sizilien wird 1091 von den Normannen erobert, nachdem der Emir von Syrakus die Normannen um Hilfe gebeten hatte. Nach grausamer Eroberung übernehmen die Normannen aber die vorgegebenen Strukturen und Kultur und bewahren die religiöse Toleranz. Die Normannenkönige lernen die arabische Sprache und ihre Kindern werden sowohl christlich wie auch arabisch-islamisch erzogen. Sie befördern wie die Araber Wissenschaft und Kunst. So gilt in arabischen Kreisen die Kugelgestalt der Erde seit dem 9.Jh als gegeben, mit Eigenrotation und Bahn um die Sonne! Man findet ein neuerliches Aufblühen der italienischen Handelsstädte Venedig, Genua, Mantua und Florenz; sie sind aufgeschlossen für neues Wissen. In der Zeit ca. 1300 und 1430 wird der hemmende Einfluss des Papstums auf Italien wegen der Verlagerung nach Avignon und internen Machtkämpfen abgeschwächt. Neben der Erstarkung oberitalienischer Städte entstehen sogar erste Universitäten in Bologna, Paris, Prag und Heidelberg. Eine Nähe zur 200-jährigen Tradition von multidisziplinären Universitäten und königlichen Akademien im arabisch-islamischen Raum mit ihren hochentwickelten wissenschaftlichen Methoden ist so groß, dass hier das Vorbild zu vermuten ist (ansonsten gab es keine Beispiele, an denen die Universitäten in westlich-christlichen Ländern anknüpfen konnten). Die neuen Universitäten sind allerdings nicht ganz ‚frei‘, da sich der Papst immer das letzte Urteil darüber vorbehält, was mit der christlichen Lehre ‚vereinbar‘ sei. So gab es im 13.Jh mehrfach kirchliche Verbote, bestimmten Bücher des Aristoteles lehren zu dürfen. Doch mit Beginn des 14.Jh wird der Geist der Renaissance immer stärker und die ‚Bevormundung‘ durch das kirchliche Lehramt wird zunehmend abgelehnt; zugleich nimmt die Achtung und Hochschätzung der arabsch-islamischen Kulturleistungen zu und – vermittelt über diese – die Vertiefung der Kenntnisse der griechischen Antike. (vgl. SS.157 – 176)

17. Während das arabisch-islamische Reich teils durch innere Erbfolgestreitigkeiten, teils durch islamische Machtkämpfe mit fundamentalistischen Berberstämmen, teils durch äußere Feinde wie die Mongolen (1285 Eroberung Bagdads, man schätzt 800.000 Tote) zunehmend geschwächt wurde, erringen auch in Spanien westlich-christliche Heere immer mehr die Oberhand. Nachdem Toledo schon sehr früh zurück erobert worden war, fällt 1248 Sevilla, und Granada im Januar 1492. Führte die Eroberung von Toledo noch zu einer Anpassung der Eroberer an die vorgefundene hochstehende Kultur zum Nutzen aller, wurden die neuen Eroberungen von einem Geist religiösen Fanatismus geleitet. Mit der Heirat 1469 von Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon gewinnt der Papst durch den dominikanischen Beichtvater Torquemada Einfluss auf die Königin. 1478 wird offiziell die Inquisition begründet. Von da an wird mit dominikanischen und franziskanischen Kampfschriften Hass gegen Muslime und Juden geschürt und mit beispielloser Grausamkeit werden sie gefoltert und getötet. Mit anonymen Anklägern, ohne Zulassung von Zeugen, mittels grausamsten Foltermethoden, keinen ordentlichen Richtern, werden abertausende von Menschen getötet oder schwerst bestraft. Jegliche Opposition gegen den Papst und seine Regeln werden mit dem Tod durch Feuer bestraft. Abschluss und Höhepunkt eines Prozesses ist immer die öffentliche Verbrennung der Angeklagten. In dieses Bild passt auch, dass der katholische Erzbischof Jiménez 1499 alle heidnischen (= arabischen) Schriften Cordobas öffentlich verbrennen lässt. Diese waren mehr als 1 Mio Bücher aus allen Wissensgebieten. Zur Belohnung wird der Erzbischof zum Vorsitzenden der Inquisition ernannt. Mit der Zerstörung des Wissens und der Tötung und Vertreibung der Wissensträger bricht das ganze Bildungssystem, brechen die Infrastrukturen, bricht der Handel und die Wirtschaft zusammen. Gleichzeitig wird der Grundbesitz der Kirche dramatisch vergrößert und wieder ein feudales System mit hohen Abgaben eingeführt. Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragon, die Herrscher des vereinigten christlichen Spanien, gelten fortan als Retter des spanischen Christentums. (vgl. SS.176 – 182)

18. Im fünften und letzten Kapitel fasst Bergmeier nochmals alle bisherigen Argumente zusammen, z.T. mit Wiederholung von zuvor genannten Fakten, z.T. mit zusätzlichen Details. Die Grundthese bleibt die gleiche: (i) Die wesentlichen Eigenschaften, die das ‚moderne‘ Europa prägen, stammen aus der griechischen Kultur, die über die römische Kultur nachwirkt, und die dann in der Weiterentwicklung und Veredlung durch die arabisch-islamische Kultur aus der Zeit 700 – 1400 die Grundlagen für Renaissance und Aufklärung geboten hat. (ii) Das Christentum dagegen, das nach den Wirren der ersten vier Jahrhunderte mit einer der vielen theologischen Richtungen durch einen römisch-kaiserlichen Erlass zur Staatsreligion wurde, verachtete die Welt, das allgemeine Wissen, die Gesellschaft, und nutzte seinen Einfluss, um innerhalb von wenigen Jahrzehnten das gesamte Bildungswesen, die Bibliotheken, die städtischen Infrastrukturen, Wissenschaft und damit Technik zu zerstören. Es praktizierte einen radikalen Feudalismus, der der Kirche und ihren Institutionen im Laufe von 500 Jahren immer mehr Besitztümer einbrachte (in Deutschland und Italien um 1000 ca. 50% des gesamten Landbesitzes). Es verwandelte die Toleranz der anderen Kulturen in einen fundamentalistischen Dogmatismus, der es bei Todesstrafe nicht zuließ, dass Menschen die Papstkirche und ihre Lehren nicht anerkannten. (iii) Die Formulierung, dass Europa auf den Werten des ‚christlichen Abendlandes‘ basiere, sei vor diesem Hintergrund irreführend und damit ideologisch. (vgl. SS.183 – 212)

Die Fortsetzung mit Teil 2 findet sich HIER.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

EINZELNE QUELLEN

Wikipedia-DE: Normannen

Wikipedia-DE:Normannische Eroberung Süditaliens. In der Zeitspanne ca. 1000 bis 1139 erobern die Normannen Apulien, Kalabrien und Sizilien einschließlich Capua und Neapel. Dieser Beitrag berichtet mit keinem Wort über die Kultur dieser Gebiete. Nach Bergmeier waren diese Gebiete in ihrer Kultur stark geprägt griechisch-byzantinischer und arabisch-islamischer Lebensart und Bildung, speziell Sizilien durch die ‚maurische‘ Besetzung seit 827 geprägt.

Wikipedia-EN: Inquisition.

Wikipedia-EN: Spanische Inquisiton. Sehr ausführlich!

Wikipedia-DE: Spanische Inquisition.