Archiv der Kategorie: Cyborg

SCHÄTZING: TYRANNEI DES SCHMETTERLINGS. KOMMENTAR: DEN ZEITGEIST DURCHBUCHSTABIERT – Über den Stil kann man streiten.

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
16.Mai 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Den folgenden Text hatte ich als Buchbesprechung zu Schätzings neuem Buch auf der Verkaufsseite des Buches bei amazon veröffentlicht. Es geht tatsächlich um eine Sachlage, um die Sachlage von uns Menschen. Hier der Link auf meine Besprechungsseite bei amazon.

KRITISCHE REZENSIONEN

Wer vor der Lektüre von Schätzings neuem Roman „Die Tyrannei des Schmetterlings. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 736 Seiten“ versucht hat, Rezensionen zu diesem Buch zu lesen, der wird wenig ermutigt sein, sich diesem Buch zu widmen. In angesehenen Zeitungen finden sich Verrisse wie die von Jan Wiele (FAZ), 25.4.2018, Elmar Krekeler (Die Welt, 27.4.2018), Gerhard Matzig (SZ, 28.4.), und Alard von Kittlitz (Die Zeit, 5.5.2018). Ähnlich kritisch (wenngleich auch mit unterschiedlichen Argumenten) die Mehrheit der Reaktionen bei den Lesermeinungen zum Buch auf amazon. Bei amazon finden sich dann zwar auch positive Stimmen, aber aus ihnen kann man nicht so recht entnehmen, warum das Buch positiv ist. Von all diesen verrissartigen Besprechungen hebt sich wohltuend die ausführliche Besprechung von Peter Körting ab (FAZ, 24.4.2018). Sehr sachlich, sehr differenziert und sehr ausführlich gibt er einen Überblick über die Struktur des Romans, benennt Schwächen, lässt die Stärken nicht aus, und überlässt es dem Leser, zu einem endgültigen Urteil zu kommen.

STANDPUNKT DES REZENSENTEN

Ich hatte im Vorfeld den Verriss von Jan Wiele zum Buch gesehen, zwei Talkshows mit Schätzing, in denen die üblichen Klischees zu Künstlicher Intelligenz ausgetauscht wurden, und hatte nach dem begeisternden ‚Schwarm‘ zwei nachfolgende Romane von ihm nur mit Unlust zu Ende gebracht. Sein tendenziell schwulstiger Stil mit vielen Längen, dazu relativ flache Personenprofile, ist nicht unbedingt mein Stil. Dazu kommt, dass ich ein Experte in Sachen Künstlicher Intelligenz und angrenzender Themenfelder bin, seit mehr als 30 Jahren, und die Signale, die das Buch im Vorfeld aussendete, waren eher dazu angetan, es nicht auf die Leseliste zu setzen. Aber, zum Glück, ist das Leben trotz aller Pläne und Steuerungen doch immer noch von Zufällen geprägt: meine Frau bekam das Buch als Hörbuch zum Geburtstag geschenkt und aktuell anstehende lange Autofahrten brachten mich in eine Art Schicksalsgemeinschaft mit diesem Buch.

REINKOMMEN

Die ersten Minuten des Hörbuchs waren bei meiner Voreinstellung eine harte Prüfung: ein erhebliches Wortgetöse für eine Situation, die man mehr erahnen als verstehen konnte, mit einem abrupten harten Schnitt, der den Hörer von einem afrikanischen Land direkt nach Nord-Kalifornien, ins Land des Silicon Valley, führte. Die geringen Ausweichmöglichkeiten einer langen Fahrgemeinschaft hielten mich dann – glücklicherweise – fest, und ich konnte in der Folge minutenweise, stündlich erleben, wie sich aus einer scheinbaren Idylle langsam ein Thriller entwickelte, der bis zum Schluss (verteilt über mehrere Fahrten) häppchenweise an Dramatik zulegte. Nach ca. drei-viertel des Hörbuchs bin ich dann auf die Ebook-Version umgestiegen, da das dann einfach schneller ging.

ÄSTHETISCHE VERPACKUNG VON IDEEN

Die große Masse der Rezensionen arbeitet sich stark an der ästhetischen Verpackung ab, kritisiert die vielen Wortungetüme oder scheinbare ‚Slangs‘, die dem deutschen Bildungsbürger abartig erscheinen, leidet an empfundenen Längen, findet die Personen nicht so dargestellt, wie man selbst sie gerne sehen würde …. aber das ist weitgehend wirklich Geschmackssache und sagt nicht wirklich etwas über die ‚Botschaft‘, die in diesem Buch mutig und – man muss es schon mal hier sagen – ‚genial‘ verpackt wurde.

DER ZEITGEIST UND KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

Während Experten im Bereich künstliche Intelligenz sich mit den Themen mindestens seit der Mitte des vorausgehenden Jahrhunderts intensiv beschäftigen, wurde die deutsche Öffentlichkeit so richtig erst seit der Cebit 2016 mit diesen Themen überrollt. Mit einem Mal besetzte das Thema ‚künstliche Intelligenz‘ nach und nach alle Medienkanäle, fortan täglich, stündlich. Es waren nicht unbedingt die Forscher selbst, die sich hier artikulierten, sondern vorwiegend die Marketingabteilungen der großen Konzerne, die verkaufen wollten, und die vielen Journalisten, die kaum etwas verstanden, aber nichts desto trotz als ‚Verstärker‘ der Marketingabteilungen viele Schlagworte in die Welt setzten, ohne sie wirklich zu erklären.

Während sich die Öffentlichkeit mit möglichen Schreckgespensten wie einer neuen kommenden Arbeitslosigkeit beschäftigte, das – in der Tat ungute – globale Ausspähen zum Thema machte, die Politik Digitalisierung und Industrie 4.0 propagierte, bunte lustige Filmchen von Robotern herumgereicht wurden, die merkwürdig aussahen und merkwürdige Dinge taten, blieb die ‚wahre Natur‘ von künstlicher Intelligenz, die rasant voranschreitende Forschungen zu immer komplexeren Steuerungen, Vernetzungen, und vor allem zur Kombination von künstlicher Intelligenz und Mikrobiologie, vor allem Genetik, weitgehend unsichtbar. Neueste Erkenntnisse zur Evolution des Lebens, zur Astrophysik, die weitgehende Auflösung aller alten Menschenbilder samt einer damit verbundenen Auflösung aller bekannten Ethiken wurde nie und wird immer noch nicht offiziell in der Öffentlichkeit diskutiert. Das weltweit zu beobachtende Phänomen von neuen, starken Strömungen in Richtung Populismus, Fanatismus, Nationalismus, verbunden mit stark diktatorischen Zügen ist – in diesem Kontext – kein Zufall.

In einer solchen Situation ist es wichtig, dass man anfängt, die vielen scheinbar isolierten Einzelphänomene aus ganz unterschiedlichen Bereichen in ihrem Zusammenhang sichtbar zu machen, in ihrer tatsächlichen Dynamik, in ihrer möglichen synergistischen Logik, ansatzweise verstehbar ohne die vielen komplexen Details, die ja selbst die Fachwissenchaftler kaum verstehen. Ich gebe offen zu, dass ich selbst – als Fachexperte – schon mehrfach erwogen hatte, etwas Populäres zu schreiben, um die komplexen Sachverhalte irgendwie verständlicher zu machen. Ich bin aber über erste Plots nicht hinaus gekommen. Ich fand einfach keinen Weg, wie man diese Komplexität erzählbar machen kann.

JENSEITS DER EINZELFAKTEN

Sieht man von den ästhetischen Besonderheiten des Textes bei Schätzing ab (die einen finden seinen Stil gut, andere leiden), dann kann man im Verlaufe seiner Schilderungen nicht nur eine erstaunliche große Bandbreite an technischen Details kennenlernen, die den aktuellen und denkbar kommenden Forschungsstand sichtbar machen, sondern er vermag es, diese vielen Details in funktionale Zusammenhänge einzubetten, die nicht so ohne weiteres auf der Hand liegen und die sich so auch in kaum einer anderen Publikation finden, nicht in dieser Explizitheit. In seinem Text offenbart er eine innovative, kreative Kraft des Weiter-Denkens und des Zusammen-Denkens, die beeindruckend ist, die sehr wohl zu weiterführenden und intensiven Diskussionen geeignet sein könnte.

PARALLEL-UNIVERSEN

Verglichen mit dem mittlerweile schon abgedroschen wirkendem Stilmittel der Zeitreisen eröffnet seine Verwendung der Idee von Parallel-Universen viele neue, interessante Szenarien, die erzählerisch zu ungewohnten, und darin potentiell aufschlussreichen, Konstellationen führen können. Wissenschaftlich ist dieses Thema hochspekulativ und in der Art der Umsetzung wie bei Schätzing eher extrem unwahrscheinlich. Erzählerisch eröffnet es aber anregende Perspektiven, die viele philosophisch relevante Themen aufpoppen lassen, einfach so, spielerisch. Ob es Schätzing gelungen ist, dieses Stilmittel optimal zu nutzen, darüber kann man streiten. In seinem Text eröffnet dieses Stilmittel allerdings eine Diskussion über alternative Entwicklungsmöglichkeiten, die ohne das Stilmittel Parallel-Universen, wenn überhaupt, nur sehr umständlich hätten diskutiert werden können.

CYBORGS

Was Schätzing hier mit vielen Beispielen zum Thema ‚Design von neuen biologischen Strukturen‘ schreibt, ist in so manchem Entwicklungslabors Alltag. Die Fassade einer Ethik, die es inhaltlich gar nicht mehr gibt, verhindert in manchen Ländern die offizielle Forschung mit neuen molekularbiologischen Strukturen, aber sie passiert trotzdem. Unterstützt durch Computer mit immer leistungsfähiger Software werden immer schneller immer neuere biologische Strukturen geschaffen, die mit anderen Technologien (z.B. Nanotechnologie) verknüpft werden. Und der Einbau von künstlicher Intelligenz in biologische Strukturen (die als solche ja schon unterschiedliche Formen von Intelligenz haben) ist in vollem Gange. Aktuell sind diese Spezialentwicklungen. Es ist das Verdienst von Schätzing, beispielhaft Zusammenhänge zu denken, in denen sich diese Spezialentwicklungen im größeren Kontext zeigen und was sie bewirken können, wenn Geld und Macht gezielt genutzt werden, um sie bewusst zu nutzen. Diese Art von Science Fiction ist unserer Gegenwart erschreckend nahe.

SUPERINTELLIGENZ

Während heute selbst seriöse Forscher immer öfter über die Möglichkeit von technischen Superintelligenzen nachdenken, ist das Verständnis einer solchen Technologie bislang noch nicht wirklich da. Es gibt bis jetzt ja noch nicht einmal eine allgemein akzeptierte Definition von ‚künstlicher Intelligenz‘. Das Ausweichen auf den harmloser klingenden Ausdruck ‚maschinelles Lernen‘ löst das Problem nicht. Die Wissenschaft hat bislang keine klare Meinung, was sie wirklich unter einer ‚künstlichen Intelligenz‘ verstehen soll, geschweige denn, was eine ‚Superintelligenz‘ sein soll, eine solche, die die ‚menschliche Intelligenz‘ deutlich übertrifft. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass auch die sogenannte ‚menschliche Intelligenz‘ nach ungefähr 150 Jahren Intelligenzforschung noch nicht vollständig geklärt ist. Gemeinsam ist allen Positionen, dass man den Menschen in seiner aktuellen biologischen Verfassung bezüglich Datenmenge und Geschwindigkeit der Verarbeitung von Daten einer potentiellen Maschine gegenüber als hoffnungslos unterlegen ansieht. Aus diesen sehr äußerlichen Kriterien leitet man ab, dass eine solche Maschine dann ‚irgendwie‘ den Menschen auch in Sachen ‚Intelligenz‘ haushoch überlegen sein wird.

Schätzing kann das Fehlen wissenschaftlicher Erklärungen zu künstlicher Intelligenz nicht ersetzen, aber als innovativ-kreativer Geist kann er literarisch ein Szenario erschaffen, in dem ansatzweise sichtbar wird, was passieren könnte, wenn es eine solche maschinelle Superintelligenz gäbe, die über Netze und steuerbare Körper mit der Welt verbunden ist. Es ist auch bemerkenswert, dass Schätzing sich dabei nicht von technischen Details ablenken lässt sondern den Kern des Super-Intelligenz-Problems im Problem der ‚Werte‘, der ‚Präferenzen‘ verortet. Das, was heute weltweit als ‚künstliche Intelligenz‘ propagiert wird, ist in der Regel noch weitab von einer ‚vollen künstlichen Intelligenz‘, da diese ‚gezähmten Intelligenzen‘ nur innerhalb eng vorgegebener Zielgrößen lernen und dann agieren dürfen. Andernfalls könnten die Firmen die Zuverlässigkeit des Betriebs nicht garantieren. Jene wenigen Forschungsgruppen, die sich mit echten ‚ungezähmten‘ künstlichen Intelligenzen beschäftigen (z.B. im Bereich ‚developmental robotics‘), stehen vor dem riesigen Problem, welche Werte diese offen lernenden Systeme haben sollten, damit sie tatsächlich ‚autonom‘ ‚alles‘ lernen können. Aktuell hat niemand eine befriedigende Lösung. Und diese Forschungen zeigen, dass wir Menschen über die Art und Weise, wie wir selbst Werte finden, entwickeln, benutzen bislang kein wirklich klares Bild haben. Das bisherige Reden über Ethik hat eher den Charakter einer ‚Verhinderung von Klärung‘ statt einer offenen Klärung.

Schätzing wagt es sogar, über das mögliche Bewusstsein einer solchen maschinellen Superintelligenz zu spekulieren. Dies ist nicht abwegig, es ist sogar notwendig. Aber auch hier zeigt sich, dass wir Menschen unsere eigenen Hausaufgaben noch lange nicht gemacht haben. Auch das Thema ‚Bewusstsein‘ ist weder von der Philosophie noch von den unterstützenden empirischen Wissenschaften bislang gelöst. Es gibt viele hundert Artikel und Bücher zum Thema, aber keine allgemein akzeptierte Lösung.

Ich finde es daher gut und mutig, dass Schätzing in diesem Zusammenhang es wagt, das Thema anzusprechen. Künstliche Intelligenzforschung kann ein wunderbarer Gesprächspartner für Psychologen, Neuropsychologen und Philosophen sein. Leider wissen die jeweiligen Gesprächspartner aber oft zu wenig voneinander.

DEN ZEITGEIST DURCHBUCHSTABIERT

Nimmt man alle Einzelheiten zusammen, würdigt die vielen kreativ-innovativen Zusammenhänge, die Schätzing sichtbar macht, schaut sich an, wie er es schafft, das schwierige Thema ‚maschinelle Superintelligenz‘ in einem größeren komplexen Kontext in Szene zu setzen, dann bin ich bereit, zu konzedieren, dass dies eine tatsächlich geniale Leistung ist. Er kondensiert die vielen losen Fäden zu einem Gesamtbild, das unserer tatsächlichen und der sehr bald möglichen Zukunft sehr nahe ist, und macht deutlich, dass hier ein erheblicher Diskussionsbedarf besteht, und zwar über alle Positionen und Fachgrenzen hinweg. Ich kenne kein Buch, das in der aktuellen Situation auch nur ansatzweise literarisch das leistet, was Schätzing hier vorgestellt hat. Ich kann nur hoffen, dass diesem Aufschlag von Schätzing noch viele Reaktionen folgen (allerdings bitte nicht als billiger Verriss).

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DER VERSTECKTE BEOBACHTER UND AKTEUR. Wo Denken sich verabschiedet. Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
12.April 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: cagent

Philosophie des Beobachters - Vogelperspektive
Philosophie des Beobachters – Vogelperspektive

DER  BEOBACHTER

In den Wissenschaften ist klar, dass es ohne einen Beobachter nichts gibt: keine Experimente mit Messungen, die Daten generieren, und keine Modelle, Theorien, die Daten in Zusammenhänge setzen und damit Deutungs- oder gar Erklärungshypothesen liefern.

Weniger klar ist, dass und wieweit der Beobachter konstitutiv in eine Theorie eingeht und dass eine ’normale‘ Theorie nicht in der Lage ist, ihren eigenen Beobachter zu thematisieren.

Besonders krass ist der Fall in der Physik. Die standardisierten physikalischen Messeinheiten erlauben interessante Modellbildungen zu Strukturen und Dynamiken der realen Welt, es ist mit diesen Daten und Modellen jedoch nicht möglich, den physik- spezifischen Beobachter angemessen zu beschreiben.

Andere Disziplinen wie z.B. die Biologie, die Psychologie oder die Soziologie kommen den komplexen Phänomenen eines Beobachters zwar ’näher‘, aber auch diese – wenn sie denn als empirische Wissenschaften arbeiten – können ihre jeweiligen spezifischen Beobachter nicht mir eigenen ‚Bordmitteln‘ erschöpfend beschreiben. Würden sie es tun, würden sie ihr Wissenschaftsparadigma sprengen; dann müssten sie aufhören, empirische Wissenschaften zu sein.

IRREFÜHRUNG INTERDISZIPLINARITÄT

Im übrigen muss man auch fragen, ob nicht alle Disziplinen auf ihre spezifische Weise Sichten zum Beobachter entwickeln, die  jeweils spezifisch  ‚Recht‘ haben. Nur eine Zusammenschau aller dieser verschiedenen Sichten würde dem komplexen Phänomen ‚Beobachter‘ gerecht, wenngleich prinzipiell unvollständig. Allerdings wäre keine der einzelnen Disziplinen je für sich in der Lage, eine ‚Gesamtschau‘ zu organisieren. Das gibt der normale Theoriebegriff nicht her. Das Reden vom ‚Interdisziplinären‘ ist insofern eine Farce. Hier wird eine Disziplinen-Übergreifende Einheit angedeutet, die es zwischen Einzeldisziplinen prinzipiell nicht geben kann (und auch in der Praxis nie erreicht wird; das scheitert schon an den verschiedenen Sprachen der Disziplinen).

ROLLEN

In der Praxis der Gesellschaft und der Industrie manifestiert sich das Dilemma des versteckten Beobachters im Phänomen der unterschiedlichen Rollen. An einem Systems-Engineering Prozess (SEP) kann man dies verdeutlichen.

Die Manager eines SEP legen Rahmenbedingungen fest, geben Ziele vor, überwachen den Ablauf. Der Prozess selbst wird von unterschiedlichen Experten (Akteuren) gelebt. Diese Experten setzen den ‚durch die Manager gesetzten Rahmen‘ für die Dauer des Prozesses voraus, als gültiges Referenzsystem, innerhalb dessen sie ihre Problemlösung in Kooperation mit anderen Akteuren ‚leben‘.

Innerhalb eines SEP gibt es Akteure , z.B. die Mensch-Maschine Interaktions (MMI) Experten, heute auch schon Akteur-Akteur-Interaktions (AAI) Experten genannt (Akteure können Menschen (biologische Systeme) oder auch mittlerweile Roboter (nicht-biologische Systeme) sein. ‚Cyborgs‘ bilden neuartige ‚Zwitterwesen‘, wo noch nicht ganz klar ist, ob es ‚erweiterte biologische Systeme‘ sind oder es sich hier um eine neue hybride Lebensform als Ergebnis der Evolution handelt). Die MMI oder AAI Experten entwickeln Konzepte für ‚potentielle Benutzer (User)‘, also ‚andere Akteure‘, die in ‚angedachten Abläufen‘ mit ‚angedachten neuen Schnittstellen (Interface)‘ aktiv werden sollen. Werden die Pläne der AAI Experten akzeptiert und realisiert, entstehen für die angedachten Abläufe neue Schnittstellen, mit denen dann andere – dann ‚reale‘ – Akteure‘ arbeiten werden. Tritt dieser Fall ein, dann übernehmen die ‚Anwender (User)‘ einen ‚von anderen Akteuren gesetzten‘ Rahmen für ihr Handeln.

Vom Auftraggeber (Ebene 1) zum Manager eines SEP (Ebene 2) zu den Experten des SEP (Ebene 3) zu den intendierten Anwendern (Ebene 4). Wie sich dies dann wieder auf die umgebende Gesellschaft (Ebene 5) auswirkt, die sowohl Auftraggeber (Ebene 1) als auch Manager von Prozessen (Ebene 2) als auch die verschiedenen Experten (Ebene 3) beeinflussen kann, ist im Normalfall weitgehend unklar. Zu vielfältig sind hier die möglichen Verflechtungen.

Andere Querbeziehungen in einen SEP hinein (kleine Auswahl) treten dort auf, wo z.B. die AAI Experten andere Wissenschaften zu Rate ziehen, entweder über deren ‚Produkte‘ (Artikel, Bücher, Verfahren) oder direkt durch Einbeziehung der Akteure (Psychologie, Psychologen, Soziologie, Soziologen, usw.).

An keiner Stelle in diesem überaus komplexen Rollengeflecht gibt es normalerweise eine Rolle, die offiziell sowohl die spezifischen Aufgaben ‚innerhalb‘ einer Rolle wie auch die ‚Rolle selbst‘ beobachtet, protokolliert, untersucht. Eine solche Rolle würde jeweils vorgegebene Rollen ‚durchbrechen‘, ‚aufbrechen‘, ‚verletzten‘. Das verwirrt, schafft Unruhe, erzeugt Ängste und Abwehr.

HOFNARREN, PHILOSOPHEN

Andererseits gibt es historisch diese Formen in allen Zeiten. In der einen Form ist es der ‚Hofnarr‘, der kraft seiner Rolle grundsätzlich anders sein darf, dadurch feste Muster, Klischees durchbrechen darf, bis zum gewissen Grad wird dies auch erwartet, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Unterschwellige Machtstrukturen dürfen in der Regel nicht angetastet werden.

In der anderen Rolle haben wir die Philosophen. Das philosophische Denken kann das einzelwissenschaftliche Denken ‚imitieren‘, es kann aber jederzeit aus diesem Muster ausbrechen und nach den Voraussetzungen des einzelwissenschaftlichen Denkens fragen. Ein Philosoph kann — von seinem Denken her — die immer und überall wirksamen ‚Voraussetzungen‘ von Verhalten und Denken ‚hinterfragen‘, ‚thematisieren‘ und auf diese Weise einer expliziten Reflexion und sogar bis zu einem gewissen Grade einer Theoriebildung zugänglich machen. Der Philosoph als Teil einer Gesellschaft mit seiner Nähe zum ‚Hofnarren‘ darf meistens aber nur soviel anders sein (Schulphilosophie), die die Gesellschaft ihm zugesteht. Vom Standpunkt eines philosophischen Denkens aus kann man unterschiedliche einzelwissenschaftliche Modelle und Theorien ‚als Objekte‘ untersuchen, vergleichen, formalisieren und man kann auf einer ‚Metaebene‘ zu den Einzelwissenschaften ‚integrierte Theorien‘ schaffen; nur so. Interdisziplinarität ist von hier aus betrachtet eine Form von Ideologie, die genau solche Integrationen  verhindert.

WISSENSCHAFTLICHE EINZELSTAATEREI

Der Versuch der Einzelwissenschaften, sich der ‚Gängelei‘ eines philosophischen Denkens zu entziehen, führt bei aller Positivität der einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse zu dem großen Wirrwarr, das wir heute um uns herum beobachten können. Ein komplexes Phänomen wie der Homo sapiens wird zwischen den einzelwissenschaftlichen Mühlsteinen zu Sand zerrieben; übrig bleibt nichts. Die verschiedenen biologischen, psychologischen, neurologischen, soziologischen usw. ‚Substrate‘ bilden unterschiedliche Zerrformen, die in keinem Gesamtbild integriert sind. Das kommt einer Abschaffung des Menschen durch den Wissenschaftsbetrieb gleich. Dies erinnert ein wenig an den kleinstaatlichen Flickenteppich, bevor Deutschland ein integrierter Staat wurde; jeder war sein eigener Fürst; sehr schön; komplexere Einheit fand nicht statt. Das menschliche Gehirn bevorzugt Vereinfachungen, und das subjektive Machtgefühl eines jeden fühlt sich geschmeichelt, wenn es sich als (wenn auch kleiner und beschränkter) ‚Fürst‘ fühlen kann.

SPRICHT GOTT MIT CYBORGS? (CHRISTLICHE) SPIRITUALITÄT IM ZEITALTER DER DIGITALISIERUNG DES MENSCHEN – Teil 2

ZULETZT

  1. Im vorausgehenden Teil wurde stark abgehoben auf die Vielfalt und Vielschichtigkeit von sprachlichen Bedeutungen, die jeweils eingebettet sind in Individuen mit ihren je persönlichen Lerngeschichten, die ein spezifisches virtuelles Bild einer Welt im Kopf weben, das mit der unterstellten Außenwelt nicht viel zu tun haben muss. Nicht nur die sogenannten psychisch Kranken, geistig verwirrten Menschen leben in einer virtuellen Welt, die weitgehend ihre eigene ist, nein, jeder normale Mensch lebt in seiner virtuellen Welt im Kopf, die das Gehirn erzeugt, und die in Korrespondenz mit der Außenwelt zu bringen kein Selbstgänger ist.

BLICK ZURÜCK

Übersicht zur Evolution des Universums und darin zur Evolution des biologischen Lebens auf der Erde
Übersicht zur Evolution des Universums und darin zur Evolution des biologischen Lebens auf der Erde
  1. Der Blick zurück in die Evolution des biologischen Lebens kann zeigen, dass diese Fähigkeit zur Bildung virtueller Welten im Kopf, die – ja nachdem – mit der Welt jenseits des Gehirns (eigener Körper, Welt jenseits des Körpers) irgendwie korrelieren, eine sehr, sehr späte Entwicklung ist. Es musste unfassbar viel geschehen, bis es Lebensformen gab, die dies in diesem Ausmaß dann tun konnten.
  2. Und wenn man dann noch bedenkt, dass es 8-9 Mrd Jahre gebraucht hat, bis alle Zutaten verfügbar waren (Sonnensystem mit einer habitablen Zone, hinreichend schwere Atome für notwendige biologisch relevante Moleküle, …(Bitte Bücher zur Astrobiologie lesen…)), damit sich solch eine komplexe Entwicklungsgeschichte wie die der biologischen Evolution ereignen konnte, dann gewinnt das Ereignis der Fähigkeit zu internen virtuellen Modellen realer und möglicher Zustände möglicherweise einen ganz anderen Stellenwert, als wenn man dies alles für überaus selbstverständlich hält, geradezu nichtssagend…

BILDER NICHT 1-ZU-1

  1. Die ‚Bilder im Kopf‘ sind also nicht, wie manche vermutet haben, automatisierte 1-zu-1 Abbildungen des eigenen Körpers oder der unterstellten Außenwelt; wie ja auch schon die bildende Kunst seit 2000 Jahren (oder auch länger, Höhlenzeichnungen und andere Artefakte viel früher) demonstriert, dass gemalte Bilder (oder auch Plastiken) fast nie eine reine 1-zu-1 Abbildung sind. Der gestaltende Künstler tritt zwischen stimulierender Realität und Kunstwerk und verwandelt mögliche Stimuli unter Einbeziehung seiner vielen eigenen Stimuli in meist nicht voll bewusster Weise in Objekte, Werke, die dann der Betrachter wiederum sehr unterschiedlich wahrnimmt. Selten sagen verschiedenen Menschen das Gleiche über ein und dasselbe Kunstwerk.
  2. Ähnliche Vielfalt erlebt man bei Zeugenaussagen, die erwiesenermaßen ein hohes Maß an Eigenanteilen der Zeugen besitzen.
  3. Die Gedächtnisforschung hat gezeigt, dass unsere Erinnerungen aktive Strukturen sind, die sich selbst assoziieren, kommentieren, umbauen, verändern, überschreiben.
  4. Über die Objektivität von Fotos wurde viel diskutiert und geforscht. Jedes Foto ist eine Auswahl, eine Interpretation, und heute im Zeitalter der digitalen Bildverarbeitung ist es immer schwerer zu sagen, was ein Bild denn nun ‚abbildet‘, wenn der Begriff ‚Abbildung‘ überhaupt Sinn macht. Eigentlich hat er noch nie Sinn gemacht, sondern eher ‚Un-Sinn‘ befördert.
  5. Die Geschichte des empirischen Messens selbst, eigentlich eine Paradedisziplin der objektiven Tatsachenfeststellung, hat schon sehr früh gezeigt, dass selbst der ‚empirische Messwert‘ sehr schnell in eine Abhängigkeit von theoretischen Modellen (speziellen Bilder im Kopf) gerät, so dass der pure Messwert für sich (irgendeine Zahl auf einer theoretischen Skala mit einer theoretischen Einheit) je nach Modell das eine oder das andere bedeuten kann.
  6. Kurzum, die ‚Bilder in unserem Kopf‘ sind keine einfachen, automatischen 1-zu-1 Abbilder von einem vorausgesetztem Realen, sie sind primär und durch und durch erst einmal dynamische Konstruktionen unseres Gehirns, das darin eine unfassbare Leistung vollbringt. Dass diese Bilder mit der unterstellten realen Welt des eigenen Körpers oder der Welt jenseits des Körpers nichts zu tun haben müssen, ist eine Sache. Die viel spannendere Sache ist die, dass wir, wenn wir entsprechenden Lern- und Kommunikationsmustern folgen, doch in der Lage zu sein scheinen, immer wieder interessante Korrespondenten mit der Welt jenseits des Gehirns konstruieren können. Kein Automatismus, kein Selbstgänger, aber möglich.

EINER ALLEINE REICHT NICHT

  1. Nur vergessen wir schnell, dass nicht nur der einzelne Mensch hier eine Rolle spielt, sondern das Zusammenspiel von vielen Menschen in Gruppen, Institutionen, Regionen, ganzen Nationen oder jetzt einer möglichen Weltgesellschaft.
  2. Was immer ein Mensch in seinem Kopf haben mag, es bleibt so lange ohne Wirkung, als er es nicht mit den Bildern der anderen Menschen in seiner Umgebung austauschen und koordinieren kann. Hier beginnt das Wunder und zugleich das Drama der Kultur(en).
  3. In der Geschichte gibt es mittlerweile viele Beispiele, wie größere Menschengruppen bis hin zu vielen Nationen umfassenden Verbänden (Region China, Region Indien, Region Europa, Region Afrika, Region Mittel- und Südamerika…) es geschafft hatten, ihr Verhalten zu koordinieren, indem Regelsysteme eingeführt wurden, die ein komplexes Miteinander ermöglichten. Regelsysteme sind immer auch mentale, kognitive Modelle, Bilder eines gesollten Zusammenlebens, die an ihre Träger, die einzelnen Menschen gebunden sind.

KEIN AUTOMATISMUS FÜR KULTUREN

  1. Bislang gibt es keine Automatismen, dass ein Mensch aus einer anderen Kultur B (anderes Regelsystem, anderes Modell) die Regeln einer Kultur A automatisch versteht und befolgt. Neben der inneren Bereitschaft gehören dazu langwierige Lernprozesse auf vielen Ebenen, in vielen Bereichen. Diese zu ermöglichen, diese zu durchlaufen, dauert Jahre, eher Jahrzehnte, bisweilen Jahrhunderte.
  2. Neben den Transformationsprozessen religiöser Überzeugungen (Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, und vielen anderen) kann man dies am Beispiel des allgemeinen Weltverstehens anschaulich sehen.

BEISPIEL PHILOSOPHISCHES-WISSENSCHAFTLICHES WISSEN

Wichtige Namen im Kontext Ontologie der griechischen Antike und des lateinischen Mittelalters
Wichtige Namen im Kontext Ontologie der griechischen Antike und des lateinischen Mittelalters
  1. In der griechischen Philosophie und Wissenschaft von ca. -500 bis ca. -200 gab es Ansätze im Verstehen der Welt, des Menschen und des Wissens, die sehr vieles von dem, was uns heute vertraut ist, vorweg genommen hatten. Dieses Wissen versank dann aber im lateinischen Europa (vor allem unter dem Einfluss des damals dogmatisch-engen Christentums) für gut 1000 Jahre im Nichts des Vergessens, während es in der islamischen Kultur (ja, es gab auch einen anderen Islam, als wir ihn heute erleben) gesammelt, übersetzt, und weiterentwickelt wurde, bis es über diesen Denkraum im 12./13.Jh langsam, häppchenweise wieder in das lateinische Europa einsickerte. Das griechische Denken wurde dann, als es bekannt wurde (vor allem Aristoteles) aufgesogen, analysiert, und schrittweise weiter entwickelt, bis es dann immer mehr zu einem eigenständigen philosophischen und wissenschaftlichen Denken erblühte, das sich ab dem 15.Jh stark weiter entwickelte und im Laufe der Jahrhunderte  nicht nur zu neuen Technologien und Wirtschaftsformen führte, sondern dann auch zu politischen Modellen, die über verschiedene Revolutionen neue Regierungsformen ermöglichten.

WISSEN IST KEIN SELBSTGÄNGER

  1. Wissen jedoch ist kein Selbstgänger. Wie viele Bibliotheken und Datenbanken es auch geben mag, wenn dieses Wissen nicht hinreichend von den handelnden Menschen immer wieder neu angeeignet, aktiv verarbeitet und aktiv weiter entwickelt wird, dann mag es ein Überfluss an Daten in der Welt jenseits der Gehirne geben, aber die Gehirne selbst werden veröden, austrocknen, sich verdunkeln.

DENKEN DES DENKENS

  1. In den geistigen Auseinandersetzungen des Mittelalters lernten die Akteure eine Form des geistigen Arbeitens, die sehr diszipliniert, sehr intensiv, sehr kommunikativ war. Sie lernten sich mit der Sprache als Medium der Gedanken auseinander zu setzen. Sie begannen schrittweise zu ahnen, dass das ‚normale Denken‘ in sich ein hochkomplexer Prozess ist, in dem Sprachzeichen, sprachliche Ausdrücke und das damit Gemeinte, mögliche Bedeutungen, darin eingebettet mögliche Objekte, Gegenstände, keine Selbstgänger sind. Das Zusammenbinden von Zeichen, Ausdrücken mit möglichen Bedeutungen geschieht in dynamischen Prozessen, die vielerlei Unklarheiten beherbergen, vielfältige Abhängigkeiten untereinander aufweisen, und sie begannen zu lernen, das die Formen/ Muster des Denkens nicht automatisch, 1-zu-1 auf die Umgebung, auf die reale Welt übertragen werden können. Der Universalienrealismus eines Plato wurde vielfach kritisch umgewandelt in einen vorsichtigen Nominalismus, der die Strukturen des Denkens zwar anerkennt, sie aber nicht sofort auch in die Außenwelt hinein projiziert. Dies war die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft, in der die Menschen gelernt haben, symbolische Modelle (mathematische Theorien) zu konstruieren, von denen man nicht automatisch annimmt, dass sie schon allein deshalb war sind, weil man sie gedacht hat und sie schön aussehen. Sie müssen in jedem einzelnen Fall empirisch überprüft werden.

VERLIEREN WIR UNSERE EIGENE GESCHICHTE?

  1. Es waren diese großartigen Denker des lateinischen Mittelalters, die im Dialog mit dem aristotelischen Denken das neue Denken gefunden und geformt haben. Aber, dieser Prozess hat letztlich von ca. 1100 bis ca. 1900 gedauert; und wir erleben aktuell, dass diese großen Fortschritte der menschlichen Denkkultur im Zusammenwirken von fortschreitender Spezialisierung und gleichzeitiger automatisierter Datenüberflutung die Gehirne und Kommunikationen der Menschen zu veröden drohen. Primitive und fundamentalistische Ansichten über Menschen und Welt, die historisch eigentlich als überwunden gelten konnten, gewinnen wieder Kraft und Einfluss. Selbst Menschen mit Universitätsabschlüssen sind vor der neuen Unwissenheit nicht gefeit. Die fortschreitende Digitalisierung, die eine Hilfe auf dem Weg zu einer neuen Menschheitskultur sein könnte, wird aktuell eher missbraucht von Interessen und Denkmodellen, die Fundamentalismus, Rassismus, Hass, Engstirnigkeit, Angst, diktatorische Tendenzen und vieles mehr fördern. Das Abenteuer des Geistes tritt – wieder einmal – in eine neue Phase ein.

Fortsetzung folgt (Die Sache mit Gott wurde nicht vergessen …. )

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SPRICHT GOTT MIT CYBORGS? (CHRISTLICHE) SPIRITUALITÄT IM ZEITALTER DER DIGITALISIERUNG DES MENSCHEN – Teil 1

DAS WOR ‚GOTT‘ IN DEN MUND NEHMEN

  1. Heutzutage das Wort ‚Gott‘ in den Mund zu nehmen ist unmittelbar ein Akt potentieller Selbstzerstörung. Angesichts der vielen, fast schon unzählbar vielen, Strömungen, Richtungen, Bewegungen, Vereinigungen und Kirchen, die je auf ihre Weise einen Deutungsanspruch auf das Wort ‚Gott‘ anmelden, und mindestens genauso vielen, die dem Wort ‚Gott‘ jegliche Deutung absprechen, ist jeder individuelle Sprechakt, in dem man die Wortmarke ‚Gott‘ benutzt, genauso vielen Deutungsakten ausgesetzt, wie es verbreitete Meinungen zur Wortmarke ‚Gott‘ gibt.
  2. Als Autor dieses Textes kann ich zwar versuchen, mich formell von jenen Deutungsansprüchen abzugrenzen, die ich aus meinen eigenen Gründen für unpassend oder gar falsch empfinde, dies wird aber engagierte Vertreter anderer Deutungsversuche kaum bis gar nicht beeindrucken. Es ist ein Wesenszug von uns Menschen, dass wir dazu tendieren, das Bild von der Welt, welches wir aktuell in unserem Kopf mit uns herumtragen, zum Maßstab für die Welt zu machen, selbst wenn es vollständig falsch ist. Falschen Bildern in unserem Kopf kann man nicht direkt ansehen, dass sie falsch sind! Sie riechen nicht schlecht, sie verursachen keine direkte Schmerzen, sie kommentieren sich nicht selbst, sie sind da, in unserem Kopf, und lassen uns die Welt sehen, wie diese Bilder die Welt in unserem Kopf vorzeichnen. Solche falschen Bilder in unserem Kopf zu erkennen, sich von ihnen zu befreien, ist eine eigene Lebenskunst, eine Kulturtechnik, die zu beherrschen, selbst für die Besten, immer nur im Modus der kontinuierlichen Annäherung gelingt, wenn überhaupt.
  3. Aufgrund dieses umfassenden Dilemmas überhaupt nichts mehr zu sagen scheint auch keine attraktive Verhaltensweise zu sein. Damit würde man nicht nur sich selbst möglicher Erkenntnisse berauben, nein, man würde auch jenen, die aktuell ein anderes Bild von der Welt haben, die Chance nehmen, im Handeln eines anderen Menschen etwas zu erfahren, was von seinem aktuellen Weltbild abweicht. Das Auftreten einer Differenz zum eigenen Bild, das Sich-Ereignen von etwas Anderem, kann immer eine vorzügliche Gelegenheit sein, auf Unterschiede zum eigenen aktuellen Bild aufmerksam zu werden, der mögliche kleine Anstoß, der zum Nachdenken über sein eigenes aktuelles Bild anregt. Viele Wochen, Monate, gar Jahre oder Jahrzehnte mögen solche auftretenden Differenzen scheinbar keine Wirkung zeigen, aber dann kann dieser magische Moment eintreten, in welchem dem Inhaber eines bestimmten Weltbildes nachhaltig dämmert, dass sein vertrautes Bild – zumindest an dieser einen Stelle – falsch ist. Diese kleine Verschiebung kann andere Verschiebungen nach sich ziehen, und aus vielen solchen kleinen Verschiebungen kann plötzlich eine ganze Lawine ins Rollen kommen, die zu einer völligen Neuausrichtung des eigenen Weltbildes führt. Aus Verfolgern werden plötzlich Anhänger, aus gequälten Menschen werden plötzlich begeisterte Befürworter, aus Gegnern werden Freunde, ein zerstrittenes Land findet zu einer, für unmöglich gehaltenen, neuen Einheit.

DIE ANDERSHEIT IST LEBENSWICHTIG

  1. Ja, es ist dieses Auftreten von Andersheiten, Neuheiten, welche die Voraussetzung dafür sind, dass wir in unserem Wahrnehmen und Deuten darauf aufmerksam werden können, dass unser aktuelles Weltbild möglicherweise unpassend, unangemessen, falsch ist. In starren, scheinbar unveränderlichen Umgebungen ist das kognitive Reizklima zur Entstehung von Andersheit gering; damit auch die Chance für den Inhaber eines Weltbildes sehr klein, die mögliche Fehlerhaftigkeit seines Weltbildes zu bemerken. Erhöht man die Intensität des kognitiven Reizklimas, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass man Unterschiede zum eigenen aktuellen Weltbild bemerkt, dass diese Unterschiede zum Anlass werden, über das eigene Weltbild neu nachzudenken. Die besten Mittel zur Erhöhung des kognitiven Reizklimas sind Vielfalt und Veränderungen.
  2. Beim individuellen Menschen kann man aber kulturübergreifend feststellen, dass er, wenn er nicht in einer Notsituation ist, nicht in einer Anforderungssituation, stark dazu tendiert, die als angenehm empfundene Situation zu stabilisieren, zu konservieren, sie abzusichern. Möglichst nichts verändern. Stillstand; eine Art ‚stehendes Gewässer‘.
  3. Von der Gehirnforschung heute wissen wir, dass das Gehirn ein lebendes, dynamisches Netzwerk von Zellen ist, die hochsensibel auf Veränderungen reagieren. Wird das Gehirn beansprucht, dann ist es aktiv, Zellen differenzieren und verbinden sich; ist es weniger aktiv, dann sterben Verbindungen und Zellen ab. Das Gehirn schaltet sich gleichsam selbst ab (Energie sparen!). Diese partielle Selbstabschaltung vermindert Erregungen, Interessen, Aktivitäten, was in einer negativen Spirale dazu führt, dass der Inhaber dieses Gehirns tendenziell noch weniger macht, was das Gehirn weiter abschwächt.

WIR SIND EXPERIMENTELL GEWORDENE

  1. Betrachtet man den größeren Rahmen, den individuellen Menschen als Teil der ganzen Population des homo sapiens (sapiens), diesen wiederum als Teil des gesamten biologischen Lebens, dann wird schnell klar, warum Veränderung so wichtig ist (Siehe Schaubild)
Stammbaum der Lebensform homo sapiens bis zu den Wurzeln (Man beachte die noch unbefriedigende Koordinierung der Datierungen)
Stammbaum der Lebensform homo sapiens bis zu den Wurzeln (Man beachte die noch unbefriedigende Koordinierung der Datierungen)
  1. Wir Menschen als Mitglieder der Art homo sapiens, stehen am Ende eines langen Stammbaums von Lebensformen, der nach heutigem Wissen mindestens 3.5 Milliarden Jahre zurück reicht. Die Geschichte, die dieser Stammbaum erzählt, ist die Geschichte einer sehr langen Kette von Experimenten des Lebens mit sich selbst, um auf die sich ständig verändernde Situation auf der Erde jene überlebenswirksamen Strukturen, Funktionen und Interaktionen zu finden, die ein Leben auf der Erde ermöglichen. Immer wieder sind Lebensformen ausgestorben; in manchen Phasen bis zu 90% (manche schätzen sogar bis zu 99%) aller Lebensformen auf der Erde. Vor diesem Bild erscheint das Leben keinesfalls als ein ruhiges, gefälliges Dasein, dessen höchstes Ziel die Selbstgenügsamkeit ist, die Ruhe, das Nichtstun, die Gleichförmigkeit, sondern das genaue Gegenteil. Leben auf der Erde war und ist immer ein intensiver Prozess des Findens, Umbauens, Ausprobierens, Testens mit einem kontinuierlich hohen Risikoanteil, der den individuellen Tod als konstitutiven Erneuerungsfaktor umfasst.
  2. Dass bei diesem Überlebens-Findungs-Prozess ‚Bilder im Kopf‘ überhaupt eine Rolle spielen, ist vergleichsweise neu. Wann diese Fähigkeit im großen Maßstab wirksam wird, ist möglicherweise nicht genau zu datieren; klar ist aber, dass spätestens mit dem Auftreten des homo sapiens eine Lebensform auftrat, die ganz klar die Gegenwart durch Abstraktion, Gedächtnis, Vergleichen, Kombinieren, Bewerten, Planen und Experimentieren durchbrechen und überwinden konnte. Spätestens mit dem homo sapiens hat sich die Situation des Lebens auf der Erde grundlegend gewandelt. Mit einem Mal konnte man in die Vergangenheit und hinter die Phänomene schauen. Mit einem Male konnte man die sich verändernden Phänomene der Erde und des Lebens im Kopf einsammeln, sortieren, neu zusammenbauen und nach verborgenen Regeln und Dynamiken suchen. Mit einem Mal begann die materielle Welt sich im Virtuellen des gehirnbasierten Denkens zu verdoppeln. Von jetzt ab gab es die gedachte virtuelle Welt im Kopf und die reale Welt drum herum, die auch den Körper mit dem Gehirn stellte. Die physikalische Welt schenkte sich im denkenden Gehirn eine Art ‚Spiegel‘, in dem sie sich selbst anschauen konnte, und zwar in jedem Gehirn, tausendfach, millionenfach, milliardenfach. In der Virtualität des Denkens vervielfältigte sich die Erde. Was war jetzt die wahre Welt: jene, die Körper, Gehirne und Denken ermöglicht oder jene, die im Denken virtuell erstand; für den Denkenden die primäre Realität; für die reale Welt ein sekundäres Abbild. Die gedachte Welt kann falsch sein.

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