Der Autor dieses Textes ist Mitglied einer Forschungsgruppe zum Thema ‚Datensouveränität‘ [1], die Experten aus unterschiedlichen Disziplinen umfasst. Die Diskurse in dieser Projektgruppe waren bislang sehr spannend, anregend, zugleich aber auch durchgehend herausfordernd, weil das vielfältige Ringen um die Bedeutung und die Rolle des modernen juristischen Konzepts ‚Datensouveränität‘ mit jedem Antwortversuch zugleich wieder viele Fragen mit sich brachte. Er tat sich bislang schwer, von seiner Position aus einen begrifflichen Zugriff auf das Konzept ‚Datensouveränität‘ zu finden. Erst im Anschluss an eine — wieder sehr anregende — online Sitzung vom 24.November 2021 kamen ihm einige Ideen zum Thema. Er versucht im folgenden Text — dem möglicherweise noch weitere Texte folgen werden — diese Idee zu skizzieren. Es wird sich zeigen, ob aus diesen Reflexionen ein Diskurs entsteht, der auch für andere einen Einstieg in die Thematik ermöglicht.
PROBLEMSTELLUNG
Durch die Einbettung von Computern in Netzwerke und durch die zunehmend Verbreitung dieser Netzwerke als ‚Internet‚ — auch ‚Cyberspace‚ genannt — in die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme weltweit, entstand ein hybrides System, in dem die bekannte ‚analoge Welt‚ mit der zugehörigen ‚analogen Welterfahrung‘, über ‚Schnittstellen‚ (‚Interfaces‚) mit dem neuen Cyberspace verbunden ist.
Aus Sicht der analogen Welt hat sich scheinbar kaum etwas verändert. Es gibt ein paar mehr ‚Geräte‚ (‚devices‚), die man im analogen Alltag nutzen kann, aber die Nutzung ähnelt dem Schreiben mit einer Schreibmaschine, oder dem Reden mittels Telefon, oder dem Fernsehen mittels Fernseher, oder — ja, das ist irgendwie neu — der Kombination von Schreibmaschine, Telefon und Fernseher. Und, ja, es gibt noch mehr neue Anwendungen, aber sind sie nicht alle letztlich ‚wie in der analogen Welt‘?
Für die meisten Menschen ohne explizites technisches Wissen erscheint der Cyberspace ‚eingehüllt‘ in Formate, die sich von der alltagsweltlichen Erfahrung möglichst wenig unterscheiden. Tatsächlich werden immer mehr Alltagshandlungen unter Zuhilfenahme der verfügbaren Cyberspace-Endgeräte so ausgeführt ‚als ob‚ man sie im Alltag wie gewohnt ausführt: man kann Geld abheben und überweisen, als ob man selbst bei der Bank war; man kann Texte schreiben und versenden, als ob man die alte Post benutzt; man kann Bücher bestellen und lesen, als ob man direkt im Buchladen oder der Bibliothek war und dann im Buch liest; man kann mit jemandem an einem anderen Ort ‚face-to-face‘ reden, als ob dieser jemand einem gerade gegenüber sitzt. Man kann innerhalb eines Freundeskreises jederzeit reden, als ob diese sich mit einem im gleichen Raum befinden …
War dieses ‚als ob‘ in der Frühzeit der Computer noch so umständlich, dass nur trainierte Experten in der Lage waren, direkt mit Computern und Computernetzwerke zu interagieren, so hat sich die Hardware und die Software von Computern und Netzwerken seit 1945 dermaßen weiter entwickelt, dass es für einen Menschen des Alltags heute kaum noch wahrnehmbar ist, dass er mittels eines Cyberspace-Endgerätes immer mehr ‚alltagsähnliche‘ (analoge) Handlungen vornimmt.
Und hier beginnt das Problem.
Die ‚wunderbare Leichtigkeit des Seins‘ in der Benutzung der modernen Cyberspace Endgeräte — und diese Nutzung wird kontinuierlich immer weiter ‚verbessert‘ — verdeckt eine technische Realität, die ganz anderen Regeln folgt als die bekannte analoge Welt. Jeder Versuch, diese ganz andere technische Realität mit den Bildern und Kategorien der analogen Alltagswelt zu ’sehen‘ und zu ‚interpretieren‘, führt unweigerlich in die Irre.
Ein prominenter und für einen ‚Rechtsstaat‘ substantieller Bereich ist der normativer Bereich, sind die Regeln der Verfassung, die verabschiedeten Gesetze und deren Anwendung und Auslegung im Alltag.
Diese normativen Regelungen entstammen der analogen Alltagswelt, orientieren sich an analogen ‚Alltagsmenschen‘ mit einem analog geprägten ‚Alltagsdenken‘ und ‚Alltagsempfinden‘. Ihre Begrifflichkeiten, ihre Bedeutungskonstrukte sind durch und durch auf ‚analoge Alltagsstrukturen‘ abgestellt.
Heute jedoch ist ein solches durch und durch ‚analoges Alltagsdenken‘ umschlungen von einem Cyberspace, der sich mittels Cyberspace-Endgeräten mit dem alltäglichen Handeln von Menschen verknüpft; im Wahrnehmen, Fühlen und Denken von Alltagsmenschen ist dieser Cyberspace real präsent, und bildet dadurch ein ‚Analogwelt-Cyberspace-Amalgam‚, das an seiner ‚Oberfläche‘ der analogen Alltagswelt ähnelt, in seiner inneren ‚impliziten Logik‘ aber immer mehr Eigenarten des Cyberspace in sich trägt, der nach ganz anderen Gesetzen als die analoge Alltagswelt funktioniert. Hierdurch findet — für die meisten kaum wahrnehmbar — eine reale ‚Mutation‘ des ‚Alltagsbewusstseins‘ statt: der reale analoge Mensch mit seinem realen analogen Gehirn trainiert sein Gehirn über sein hybrides Handeln und seine hybride Wahrnehmung immer mehr nach Gegebenheiten und Regeln des Cyberspace, die nicht die sind, die in der analogen Alltagswelt üblich sind.
Im Licht der Evolutionsbiologie könnte man sagen: ja, das ist eine weitere Stufe in der Evolution des Lebens auf der Erde.
Als Bürger einer demokratischen Gesellschaft muss man sich aber vielleicht fragen, was machen im Bewusstsein mutierte Bürger mit dem Konzept einer Demokratie, das im Kern auf einer gemeinsam geteilten Öffentlichkeit basiert, über die sich alle Bürger, alle politischen Handlungen soweit ‚synchronisieren‚ lassen, dass wir überhaupt von ‚Demokratie‚ sprechen können. Was passiert mit der Demokratie, mit ihrer ’normativen Ordnung‘, wenn die im Bewusstsein mutierten Bürger und ihre faktisch stattfindende Einbindung in eine ‚Cyberwirklichkeit‘ diese fundamentale Synchronisierung über eine demokratische Öffentlichkeit gare nicht mehr leisten können? Macht es dann noch Sinn von ‚Demokratie‘ und — dadurch impliziert — von ‚Datensouveränität‘ zu sprechen?
Fortsetzung ?
…
ANMERKUNGEN
[1] Siehe die Webseite https://zevedi.de/aktivitaeten/projekte/ und dort den Eintrag Projektgruppe „Datensouveränität“.
DER AUTOR
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In einem vorausgehenden Beitrag hatte ich am Beispiel der Demokratie aufgezeigt, welche zentrale Rolle eine gemeinsame funktionierende Öffentlichkeit spielt. Ohne eine solche ist Demokratie nicht möglich. Entspechend der Komplexität einer Gesellschaft muss die große Mehrheit der Bürger daher über ein hinreichendes Wissen verfügen, um sich qualifiziert am Diskurs beteiligen und auf dieser Basis am Geschehen verantwortungsvoll partizipieren zu können. Eine solche Öffentlichkeit samt notwendigem Bildungsstand scheint in den noch existierenden Demokratien stark gefährdet zu sein. Nicht ausdrücklich erwähnt wurde in diesem Beitrag die Notwendigkeit von solchen Emotionen und Motivationen, die für das Erkennen, Kommunizieren und Handeln gebraucht werden; ohne diese nützt das beste Wissen nichts.
KONTEXT DIGITALISIERUNG
In einem Folgebeitrag hatte ich das Phänomen der Digitalisierung aus der Sicht des Benutzers skizziert, wie eine neue Technologie immer mehr eine Symbiose mit dem Leben der Gesellschaft eingeht, einer Symbiose, der man sich kaum oder gar nicht mehr entziehen kann. Wo wird dies hinführen? Löst sich unsere demokratische Gesellschaft als Demokratie schleichend auf? Haben wir überhaupt noch eine funktionierende Demokratie?
PARTIZIPATION OHNE DEMOKRATIE?
Mitten in den Diskussionen zu diesen Fragen erreichte mich das neue Buch von Manfred Faßler Partizipation ohne Demokratie (2020), Fink Verlag, Paderborn (DE). Bislang konnte ich Kap.1 lesen. In großer Intensität, mit einem in Jahrzehnten erarbeiteten Verständnis des Phänomens Digitalisierung und Demokratie, entwirft Manfred Faßler in diesem Kapitel eine packende Analyse der Auswirkungen des Phänomens Digitalisierung auf die Gesellschaft, speziell auch auf eine demokratische Gesellschaft. Als Grundidee entnehme ich diesem Kapitel, dass der Benutzer (User) in Interaktion mit den neuen digitalen Räumen subjektiv zwar viele Aspekte seiner realweltlichen sozialen Interaktionen wiederfindet, aber tatsächlich ist dies eine gefährliche Illusion: während jeder User im realweltlichen Leben als Bürger in einer realen demokratischen Gesellschaft lebt, wo es der Intention der Verfassung nach klare Rechte gibt, Verantwortlichkeiten, Transparenz, Kontrolle von Macht, ist der Bürger in den aktuellen digitalen Räumen kein Bürger, sondern ein User, der nahezu keine Rechte hat. Als User glaubt man zwar, dass man weiter ein Bürger ist, aber die individuellen Interaktionen mit dem digitalen Raum bewegen sich in einem weitgehend rechtlosen und demokratiefreiem Raum. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen kaschieren diesen Zustand durch unendliche lange Texte, die kaum einer versteht; sprechen dem User nahezu alle Rechte ab, und lassen sich kaum bis gar nicht einklagen, jedenfalls nicht in einem Format, das der User praktisch einlösen könnte. Dazu kommt, dass der digitale Raum des Users ein geliehener Raum ist; die realen Maschinen und Verfügungsgewalten liegen bei Eignern, die jenseits der gewohnten politischen Strukturen angesiedelt sind, die sich eher keiner demokratischen Ordnung verpflichtet fühlen, und die diese Verfügungsgewalt — so zeigt es die jüngste Geschichte — skrupellos an jeden verkaufen, der dafür Geld bezahlt, egal, was er damit macht.
Das bisherige politische System scheint die Urgewalt dieser Prozesse noch kaum realisiert zu haben. Es denkt noch immer in den klassischen Kategorien von Gesellschaft und Demokratie und merkt nicht, wie Grundpfeiler der Demokratie täglich immer mehr erodieren. Kapitel 1 von Faßlers Buch ist hier schonungslos konkret und klar.
LAGEPLAN DEMOKRATISCHE DIGITALISIERUNG
Erschreckend ist, wie einfach die Strategie funktioniert, den einzelnen bei seinen individuellen privaten Bedürfnissen abzuholen, ihm vorzugaukeln, er lebe in den aktuellen digitalen Räumen so wie er auch sonst als Bürger lebe, nur schneller, leichter, sogar freier von üblichen analogen Zwängen, obwohl er im Netz vieler wichtiger realer Recht beraubt wird, bis hin zu Sachverhalten und Aktionen, die nicht nur nicht demokratisch sind, sondern sogar in ihrer Wirkung eine reale Demokratie auflösen können; alles ohne Kanonendonner.
Es mag daher hilfreich sein, sich mindestens die folgenden Sachverhalte zu vergegenwärtigen:
Verankerung in der realen Welt
Zukunft gibt es nicht einfach so
Gesellschaft als emergentes Phänomen
Freie Kommunikation als Lebensader
REALE KÖRPERWELT
Fasziniert von den neuen digitalen Räumen kann man schnell vergessen, dass diese digitalen Räume als physikalische Zustände von realen Maschinen existieren, die reale Energie verbrauchen, reale Ressourcen, und die darin nicht nur unseren realen Lebensraum beschneiden, sondern auch verändern.
Diese physikalische Dimension interagiert nicht nur mit der übrigen Natur sehr real, sie unterliegt auch den bisherigen alten politischen Strukturen mit den jeweiligen nationalen und internationalen Gesetzen. Wenn die physikalischen Eigentümer nach alter Gesetzgebung in realen Ländern lokalisiert sind, die sich von den Nutzern in demokratischen Gesellschaften unterscheiden, und diese Eigentümer nicht-demokratische Ziele verfolgen, dann sind die neuen digitalen Räume nicht einfach nur neutral, nein sie sind hochpolitisch. Diese Sachverhalte scheinen in der europäischen Politik bislang kaum ernsthaft beachtet zu werden; eher erwecken viele Indizien den Eindruck, dass viele politische Akteure so handeln, als ob sie Angestellte jener Eigner sind, die sich keiner Demokratie verpflichtet fühlen (Ein Beispiel von vielen: die neue Datenschutz-Verordnung DSGVO versucht erste zaghafte Schritte zu unternehmen, um der Rechtlosigkeit der Bürger als User entgegen zu wirken, gleichzeitig wird diese DSGVO von einem Bundesministerium beständig schlecht geredet …).
ZUKUNFT IST KEIN GEGENSTAND
Wie ich in diesem Blog schon mehrfach diskutiert habe, ist Zukunft kein übliches Objekt. Weil wir über ein Gedächtnis verfügen, können wir Aspekte der jeweiligen Gegenwart speichern, wieder erinnern, unsere Wahrnehmung interpretieren, und durch unsere Denkfähigkeit Muster, Regelhaftigkeiten identifizieren, denken, und neue mögliche Kombinationen ausmalen. Diese neuen Möglichkeiten sind aber nicht die Zukunft, sondern Zustände unseres Gehirns, die auf der Basis der Vergangenheit Spekulationen über eine mögliche Zukunft bilden. Die Physik und die Biologie samt den vielen Begleitdisziplinen haben eindrucksvoll gezeigt, was ein systematischer Blick zurück zu den Anfängen des Universums (BigBang) und den Anfängen des Lebens (Entstehung von Zellen aus Molekülen) an Erkenntnissen hervor bringen kann. Sie zeigen aber auch, dass die Erde selbst wie das gesamt biologische Leben ein hochkomplexes System ist, das sich nur sehr begrenzt voraus sagen lässt. Spekulationen über mögliche zukünftige Zustände sind daher nur sehr begrenzt möglich.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass das Denken selbst kein Automatismus ist. Neben den vielen gesellschaftlichen Faktoren und Umweltfaktoren, die auf unser Denken einwirken, hängt unser Denken in seiner Ausrichtung entscheidend auch von unseren Bedürfnissen, Emotionen, Motiven und Zielvorstellungen ab. Wirkliche Innovationen, wirkliche Durchbrüche sind keine Automatismen. Sie brauchen Menschen, die resistent sind gegen jeweilige ‚Mainstreams‘, die mutig sind, sich mit Unbekanntem und Riskantem auseinander zu setzen, und vieles mehr. Solche Menschen sind keine ‚Massenware’…
GESELLSCHAFT ALS EMERGENTES PHÄNOMEN
Das Wort ‚Emergenz‘ hat vielfach eine unscharfe Bedeutung. In einer Diskussion des Buches von Miller und Page (2007)Complex Adaptive Systems. An Introduction to Computational Models of Social Life habe ich für meinen Theoriezusammenhang eine Definition vorgeschlagen, die die Position von Miller und Page berücksichtigt, aber auch die Position von Warren Weaver (1958), A quarter century in then natural sciences. Rockefeller Foundation. Annual Report,1958, pages 7–15, der von Miller und Page zitiert wird.
Die Grundidee ist die, dass ein System, das wiederum aus vielen einzelnen Systemen besteht, dann als ein organisiertes System verstanden wird, wenn das Wegnehmen eines einzelnen Systems das Gesamtverhalten des Systems verändert. Andererseits soll man aber durch die Analyse eines einzelnen Mitgliedssystems auch nicht in der Lage sein, auf das Gesamtverhalten schließen zu können. Unter diesen Voraussetzungen soll das Gesamtverhalten als emergent bezeichnet werden: es existiert nur, wenn alle einzelnen Mitgliedssysteme zusammenwirken und es ist nicht aus dem Verhalten einzelner Systeme alleine ableitbar. Wenn einige der Mitgliedssysteme zudem zufällige oder lernfähige Systeme sind, dann ist das Gesamtverhalten zusätzlich begründbar nicht voraussagbar.
Das Verhalten sozialer Systeme ist nach dieser Definition grundsätzlich emergent und wird noch dadurch verschärft, dass seine Mitgliedssysteme — individuelle Personen wie alle möglichen Arten von Vereinigungen von Personen — grundsätzlich lernende Systeme sind (was nicht impliziert, dass sie ihre Lernfähigkeit ’sinnvoll‘ nutzen). Jeder Versuch, die Zukunft sozialer Systeme voraus zu sagen, ist von daher grundsätzlich unmöglich (auch wenn wir uns alle gerne der Illusion hingeben, wir könnten es). Die einzige Möglichkeit, in einer freien Gesellschaft, Zukunft ansatzweise zu erarbeiten, wären Systeme einer umfassenden Partizipation und Rückkopplung aller Akteure. Diese Systeme gibt es bislang nicht, wären aber mit den neuen digitalen Technologien eher möglich.
FREIE KOMMUNIKATION UND BILDUNG
Die kulturellen Errungenschaften der Menschheit — ich zähle Technologie, Bildungssysteme, Wirtschaft usw. dazu — waren in der Vergangenheit möglich, weil die Menschen gelernt hatten, ihre kognitiven Fähigkeiten zusammen mit ihrer Sprache immer mehr so zu nutzen, dass sie zu Kooperationen zusammen gefunden haben: Die Verbindung von vielen Fähigkeiten und Ressourcen, auch über längere Zeiträume. Alle diese Kooperationen waren entweder möglich durch schiere Gewalt (autoritäre Gesellschaften) oder durch Einsicht in die Sachverhalte, durch Vertrauen, dass man das Ziel zusammen schon irgendwie erreichen würde, und durch konkrete Vorteile für das eigene Leben oder für das Leben der anderen, in der Gegenwart oder in der möglichen Zukunft.
Bei aller Dringlichkeit dieser Prozesse hingen sie zentral von der möglichen Kommunikation ab, vom Austausch von Gedanken und Zielen. Ohne diesen Austausch würde nichts passieren, wäre nichts möglich. Nicht umsonst diagnostizieren viele Historiker und Sozialwissenschaftler den Übergang von der alten zur neuen empirischen Wissenschaft in der Veränderung der Kommunikation, erst Recht im Übergang von vor-demokratischen Gesellschaften zu demokratischen Gesellschaften.
Was aber oft zu kurz kommt, das ist die mangelnde Einsicht in den engen Zusammenhang zwischen einer verantwortlichen Kommunikation in einer funktionierenden Demokratie und dem dazu notwendigen Wissen! Wenn ich eine freie Kommunikation in einer noch funktionierenden Demokratie haben würde, und innerhalb dieser Diskussion würden nur schwachsinnige Inhalte transportiert, dann nützt solch eine Kommunikation natürlich nichts. Eine funktionierende freie Kommunikation ist eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, aber die Verfügbarkeit von angemessenen Weltbildern, qualitativ hochwertigem Wissen bei der Mehrheit der Bürger (nicht nur bei gesellschaftlichen Teilgruppen, die sich selbst als ‚Eliten‘ verstehen) ist genauso wichtig. Beides gehört zusammen. Bei der aktuellen Zersplitterung aller Wissenschaften, der ungeheuren Menge an neuem Wissen, bei den immer schneller werdenden Innovationszyklen und bei der zunehmenden ‚Fragmementierung der Öffentlichkeit‘ verbunden mit einem wachsenden Misstrauen untereinander, ist das bisherige Wissenssystem mehr und mehr nicht nur im Stress, sondern möglicherweise kurz vor einem Kollaps. Ob es mit den neuen digitalen Technologien hierfür eine spürbare Unterstützung geben könnte, ist aktuell völlig unklar, da das Problem als solches — so scheint mir — noch nicht genügend gesellschaftlich erkannt ist und diskutiert wird. Außerdem, ein Problem erkennen ist eines, eine brauchbare Lösung zu finden etwas anderes. In der Regel sind die eingefahrenen Institutionen wenig geeignet, radikal neue Ansätzen zu denken und umzusetzen. Alte Denkgewohnheiten und das berühmte ‚Besitzstanddenken‘ sind wirkungsvolle Faktoren der Verhinderung.
AUSBLICK
Die vorangehenden Gedanken mögen auf manche Leser vielleicht negativ wirken, beunruhigend, oder gar deprimierend. Bis zum gewissen Grad wäre dies eine natürliche Reaktion und vielleicht ist dies auch notwendig, damit wir alle zusammen uns wechselseitig mehr helfen, diese Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Der Verfasser dieses Textes ist trotz all dieser Schwierigkeiten, die sich andeuten, grundlegend optimistisch, dass es Lösungen geben kann, und dass es auch — wie immer in der bisherigen Geschichte des Lebens auf der Erde — genügend Menschen geben wird, die die richtigen Ideen haben werden, und es Menschen gibt, die sie umsetzen. Diese Fähigkeit zum Finden von neuen Lösungen ist eine grundlegende Eigenschaft des biologischen Lebens. Dennoch haben Kulturen immer die starke Tendenzen, Ängste und Kontrollen auszubilden statt Vertrauen und Experimentierfreude zu kultivieren.
Wer sich das Geschehen nüchtern betrachtet, der kann auf Anhieb eine Vielzahl von interessanten Optionen erkennen, sich eine Vielzahl von möglichen Prozessen vorstellen, die uns weiter führen könnten. Vielleicht kann dies Gegenstand von weiteren Beiträgen sein.
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Am 3.Dezember 2019 fand die Gründungssitzung des hessischen Zentrums für ‚Verantwortungsbewusste Digitalisierung‘ [HZVD] statt. Natürlich stellen sich in diesem Zusammenhang viele Fragen. Der Autor dieses Textes fragt sich z.B., wie er selber die Frage beantworten würde, was denn der Ausdruck ‚Verantwortungsbewusste Digitalisierung‘ meinen könnte bzw. sollte. Im folgenden einige erste Gedanken. Es ist sicher kein Zufall, dass der vorausgehende Beitrag ‚Philosopie der Demokratie‚ (und natürlich viele andere Beiträge aus diesem Blog) mit diesen Gedanken mehrfache Bezüge aufweisen.
KEINER IST DRAUSSEN
Wenn irgendjemand anfängt, über Digitalisierung zu reden, dann ist er heute damit nicht alleine, weil es sich hier um ein wirklich globales Phänomen handelt, das in allen Ländern dieses Planeten auftritt. In einigen mehr, in anderen weniger, aber es ist da, überall: diese Technologie hat sich buchstäblich ‚hineingefressen‘ in alle Bereiche der Gesellschaft. Früher habe ich noch versucht, an dieser Stelle aufzuzählen, wo überall in der Gesellschaft sich Digitalisierung zeigt. Mittlerweile wäre es eher interessant, zu fragen wo eigentlich noch nicht? Wenn selbst schon kleinste Kinder mit digitalisierten Geräten umgehen, als ob es ein eigenes Körperteil ist. Wenn natürliche Verhaltensweisen, Bewegungsmuster, die noch vor ca. 30 Jahren ’normal‘ erschienen, heute schon garnicht mehr bekannt sind, dann ist dies ein sehr tiefgreifendes Anzeichen — und sogar nur eines unter vielen — für Veränderung, die den einzenen erreicht haben, aber in der Summe dann natürlich uns alle betreffen.
JENSEITS VON TECHNOLOGIE
Dieses einfache Beispiel als Indikator für Prozesse, die uns alle betreffen, kann verdeutlichen, dass die sogenannte Digitalisierung auf eine Technologie verweist, die wie keine andere eben nicht einfach nur eine Technologie ist, wie wir sie von ‚früher‘ kennen (vor 70 Jahren von heute rückwärts war die Welt noch ‚in Ordnung‘). Diese Technologie ist anders, sie ist radikal anders. Sie geht mit Menschen, mit ganzen gesellschaftlichen Systemen eine Symbiose ein, durch die sich diese Gesellschaft grundlegend ändert. Digitale Technologien können sich an die Schnittstellen des Menschen anschmiegen, können alle Äußerungen eines Menschen quasi aufsaugen, sie sich einverleiben, und dann irgendwo und irgendwann wieder ausspucken in einer Weise, die mit dem Ursprung nichts mehr zu tun haben muss. Lebensäußerungen eines Menschen können durch die Symbiose mit der digitalen Technologie beliebig verwandelt werden, und kommen dann als etwas Verwandeltes wieder zurück, zu anderen, die von dieser Verwandlung garnichts merken müssen, oder sogar zum Absender, der es vielleicht auch garnicht merkt, weil es so stark verwandelt hat.
Ich drücke Tasten auf einem Keyboard, und im Kopfhörer höre ich die Klänge eines Orchesters. Ich male ein paar Striche auf einem leeren Bildschirm, und es entstehen wie von Zauberhand Figuren, Landschaften, dreidimensional, sehr natürlich. Ich spreche in ein Mikrofon und ich höre eine Stimme, die die eines anderen sein könnte. Ich setze eine Brille auf und sehe nicht einfach die normale Strasse, sondern zusätzlich Namen von Gegenständen, Namen von Menschen, die an mir vorbei laufen, Namen, die vielleicht falsch sind, Bezeichnungen, die in die Irre führen können. Ich schreibe eine Nachricht an eine Bekannte, und diese Nachricht wird von vielen anderen mitgelesen, während sie als Datenstrom ihren Weg durch das unsichtbare Datennetzwerk nimmt bis hin zum Empfänger. Mein Smartphone liegt auf dem Tisch, ich unterhalte mich mit anderen, und die Mikrophone des Smartphones sind eingeschaltet, nicht von mir, und alles was wir erzählen, geht irgendwohin, von dem wir nichts wissen. Die Sekretärin im Büro schreibt einen Brief, und während sie schreibt wird der gesamte Text mehrfach — unbemerkt — ins Internet verschickt… Kleine Beispiele aus einem Alltag, der uns schon alle ‚hat‘. Die Organisatoren dieses Alltags sind nicht unsere Freunde, sondern Menschen die irgendwo auf diesem Planeten sitzen, und sich beständig überlegen, was sie jetzt am gewinnbringendsten mit diesen Daten machen. Zwischen lupenreiner Diktatur und radikalem Kommerz gibt es hier alles, was wir uns denken können.
TREIBENDE KRÄFTE
Als Bürger eines — noch — demokratischen Staates sind wir gewohnt in Kategorien der Kontrolle von Macht, von Transparenz zu denken, von Grundwerten, von einer sozialen Gesellschaft, in der versucht wird, zwischen den verschiedenen Kräften einen Ausgleich dergestalt herzustellen, dass nicht einzelne Interessengruppen alle anderen dominieren und in undemokratischer Weise beherrschen.
Mit dem Auftreten einer umfassenden Digitalisierung sind diese Spielregeln mittlerweile immer mehr außer Kraft gesetzt; man kann sich mittlerweile fast schon vorstellen, dass diese Spielregeln bei einer weiteren politisch unkontrollierten Digitalisierung ganz außer Kraft gesetzt werden. Dazu muss man nicht einmal eine klassische Revolution durchführen. Es reicht einfach, die Gehirne aller Menschen, die über die Symbiose im Alltag mit der großen universalen digitalen Maschine verknüpft sind, von allen Inhalten und Kommunikationen fern zu halten, die notwendig sind, um sich gemeinsam ein realistisches Bild der gemeinsamen Gesellschaft zu machen. Wenn die berühmte demokratische Öffentlichkeit nicht mehr stattfindet, wenn alle Gehirne unsichtbar voneinander getrennt wurden, weil sie an Datenräume gekoppelt sind, die von demokratiefernen Gruppierungen betrieben und manipuliert werden, dann gibt es keine demokratische Gesellschaft mehr; dann sind die Politiker digital isoliert, hängen selber in digitalen Subräumen, die voneinander nichts mehr wissen, die selber hochgradig manipuliert sein können. Wer kann denn heute noch unterscheiden, ob er mit einem Menschen oder einer Software redet? Nicht nur die Stimme, nein, sogar das gesamte Äußere lässt sich täuschend echt simulieren.
In vielen Ländern Europas, in vielen gesellschaftlichen Gruppen, ist das, was ich hier schreibe, keine Fiktion mehr. Die Menschen sind real über ihr digitale Symbiose von manipulativen digitalen Subräumen so eingenommen, dass für sie eine realitätsgerechte Meinungsbildung nicht mehr möglich ist … was sich politisch konkret auswirkt.
IN DER DIGITALEN SCHLEIFE
Was früher reine Science Fiction Geschichten waren, das erleben wir mittlerweile als weitreichende Realität. Durch die permanente Ankopplung unserer Gehirne an die große digitale Maschine hängen wir schon jetzt in einer Weise von diesem digitalen Pseudo-Raum ab, dass ein Arbeiten ohne ihn faktisch nur noch für Fast-Einsiedler möglich ist. Immer mehr alltägliche Abläufe sind ohne Benutzung eines Smartphones entweder gar nicht oder nur sehr beschwerlich möglich. Unsere Städte, unsere Firmen brechen sofort zusammen, wenn die große digitale Maschine zu stottern anfängt oder wegen Energiemangel still steht. Den immer umfangreicheren Datenmissbrauch (‚Cybercrime‘) übergehen wir mal großzügig. Den gibt es offiziell ja nicht eigentlich, obwohl er ein Ausmaß annimmt, das die digitale Maschine und damit das Leben, das symbiotisch an ihr hängt, immer stärker bedroht.
GROSSE HILFLOSIGKEIT
Bislang ist es noch wenig üblich, einzuräumen, dass die wunderschöne neue Welt des Digitalen vielleicht nicht nur schön ist, dass hinter alltäglicher Bürosoftware, die in ganz Europa in allen Büros benutzt wird, vielleicht ein gigantischer Datenmissbrauch stattfindet, täglich, stündlich, minütlich … solche Gedanken sind verpönt, weil dann ja plötzlich alle Opfer wären…
So muss man feststellen, dass die gesamte Gesellschaft bislang eher den Eindruck einer ‚Hilflosigkeit‘ erweckt, dass sie mehr ‚getrieben‘ wirkt als tatsäch bewusst, verantwortungsvoll handelnd. Flächendeckend ist kein Bürger auf diese rasante Entwicklung wirklich vorbereitet. Ob Schule, Kommune, Gesundheitssystem, Arbeitswelt, … es finden sich kaum hinreichende Kompetenzen, um auf diese Situation qualifiziert, interdisziplinär, im Verbund, nachhaltig zu reagieren. Auch wenn man es nicht wahrhaben will, diese ‚Opferrolle‘ erzeugt unterschwellig viele Ängste, Belastungen, Unwägbarkeiten. Die Chancen einer umfassenden Manipulation von Menschen waren nie größer als heute.
WAS KANN MAN TUN?
Wenn jemand Durst hat und weiß, wo er/ sie etwas zu trinken bekommt — und er/ sie auch über die Mittel vefügt, das Wissen umzusetzen! –, dann holt er sich einfach etwas zu trinken und trinkt.
Wenn wir symbiotisch mit der großen digitalen Maschine leben und wir wollen nicht, dass wir zu einem reinen Spielball digitaler Prozesse werden, die von uns unbekannten Fremden beliebig manipuliert werden können, dann ist die Antwort ganz klar; (i) wir benötigen so viel Wissen als notwendig, damit wir verstehen, was passiert und was wir selbst real tun können, um unser eigenes Ding machen zu können, und (ii) wir benötigen die Kontrolle über alle Ressourcen, die man benötigt, um die große digitale Maschine nach den eigenen Regeln zu nutzen. Ja, und wir brauchen auch (iii) einen für alle bekannten und genutzen gemeinsamen digitalen Raum, den wir als demokratische Bürger eines digitalen Staates nutzen, um uns gemeinsam eine Meinung darüber bilden zu können, was wir gemeinsam wollen. Gibt es diesen gemeinsamen Raum nicht, nützt uns unser individuelles Wissen nicht viel. Gibt es die Kontrolle über die Ressourcen nicht, bleiben wir ohne Wirkung; wir können uns nicht einmal artikulieren. Fehlt uns das Wissen, wissen wir erst garnicht, was wir tun können oder sollten.
ENDE OFFEN
Ob wir als demokratische Gesellschaft es schaffen, uns gemeinsam ein Bild der Lage zu verschaffen, was angemessen ist, was wir miteinander teilen, ob wir in der Lage sind, genügend Kräfte zu mobilisieren, die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen, ob wir genügend gute Ideen haben werden, zukünftige Prozesse nachhaltig zu gestalten, das entscheidet sich im Alltag, an dem jeder auf seine Weise mitwirkt. Glücklicherweise ist die Realität in Europa und Deutschland noch nicht ganz so schwarz, wie ich es im vorausgehenden Text gezeichnet habe. Aber die aktuellen Tendenzen lassen alle Optionen real erscheinen: wir können gemeinsam in einen digitalen Nihilismus abdriften, der von wenigen anonymen Kräften genutzt wird, oder wir können alles in einen digitalen Konstruktivismus verwandeln, in dem wir die große digitale Maschine bewusst und kraftvoll für unsere gemeinsam geteilte Zukunftsvision nutzen. Aber die brauchen wir dann auch, eine gemeinsam geteilte Zukunftsvision. Mit Wegschauen, übergroßer Korrektheit, reinem Sicherheitsdenken, und Kontrollwahn wird es keine lebbare Zukunft geben. Den homo sapiens –also uns — gibt es nur, weil das biologische Leben in 3.5 Mrd. Jahren immer auch ein Minimum an Unangepasstheit und Verrücktheit vorgelebt hat, und dadurch ein frühes Aussterben verhindert hat. … für die ewigen Pessimisten ein permanenter Stein des Anstoßes… ein Pessimist empfindet die bloße Tatsache des Lebens als Zumutung: verantwortungsvoll handeln, selbst handeln, mit all den Risiken: Igitt es könnte ja schief gehen …. Ja, es kann schiefgehen, das genau charakterisiert biologisches Leben, das aus Freiheit erwächst… Leben ist niemals fertig, sondern muss sich permanent weiter finden, er-finden! Das ist nichts für Angsthasen oder für die ewigen Weltverschwörer…
Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.
In der aktuellen Gegenwart treffen zwei große Strömungen zusammen: (i) Das Gefühl der meisten Menschen, der scheinbaren Komplexität des Alltags nicht mehr gewachsen zu sein, nicht mehr durchzublicken; ein Gefühl der Ohnmacht und Hilfslosigkeit. (ii) Zugleich der Eindruck, dass unser politisches System dieser Aufgabe auch nicht mehr gewachsen zu sein scheint. Fehler häufen sich, ein Ausmaß an intransparentem Lobbyismus, der beunruhigt. Dazu eine zunehmende Verweigerung von Politikern, sich der allgemeinen Presse, den öffentlichen Medien zu stellen.
EINE BRILLE AUFSETZEN
Verallgemeinert man den Allgemeinplatz, dass der Pessimist das halb volle Glas als halb leer ansieht und der Optimist als halbvoll, dann hängt das Bild, das wir von der Wirklichkeit haben, schon im Ansatz davon ab, wie wir mit unserem bisherigen Wissen und mit unserer Grundeinstellung die Welt sehen wollen bzw. sehen können.
Im Fall unserer Gesellschaft, die sich als Demokratie versteht, hinterlegt im Grundgesetz, ist natürlich nicht ganz unwichtig, wie wir auf das Gebilde drauf schauen. Speziell dann nicht, wenn Menschen an allem zu zweifeln beginnen und einige sich die Frage stellen, was können bzw. was müssen wir tun, um unsere Demokratie zukunftsfähig zu machen.
Im obigen Schaubild sind einige Kernelemente hervorgehoben, die nach Ansicht des Autors fundamental sind. Ohne die ist Demokratie prinzipiell unmöglich.
DEMOKRATIE IST ANSPRUCHSVOLL
Schon auf den ersten Blick erscheint die Gesellschaftsform der Demokratie als sehr anspruchsvoll ist. Und es ist von daher vielleicht kein Zufall, dass es seit den Griechen — je nach Zeiteinteilung — an die 2000 Jahre gedauert hat, bis es moderne Gesellschaften gab, die das ansatzweise hinbekommen haben (wobei wir die ca. 600.000 Jahre Vorgeschichte des homo sapiens mal großzügig ausklammern).
KOGNITIVER FAKTOR
Und da wir uns hier im Kontext eines Philosophie-Wissenschaftsblogs befinden, sollte es auch nicht wundern, dass wir uns hier auf die kognitiven Aspekte der Demokratie konzentrieren und Faktoren wie materielle Prozesse, Macht, Besitz usw. ausklammern (aber nicht vergessen).
Die Betonung der sogenannten kognitiven Faktoren hängt damit zusammen, dass der Mensch als Lebensform homo sapiens über die Besonderheit verfügt, dass er die umgebende reale Körperwelt über seine Sinnesorgane im Innern seines Körpers durch das Gehirn in einer Weise verarbeiten kann, dass er erlebte Gegenwart nicht nur partiell abspeichern und auf vielfache Weise — weitgehend unbewusst, vollautomatisch — verarbeiten kann, sondern er kann zudem auf der Basis seiner inneren Zustände über mögliche alternative Zustände nachdenken und sein Handeln daran versuchsweise ausrichten. Dank der Sprache kann ein einzelnes Gehirn mit anderen Gehirnen Kontakt aufnehmen und sich im beschränkten Umfang über seine inneren Zustände austauschen und sich mit anderen koordinieren.
Was immer also ein Mensch tun will, er hängt von diesen seinen inneren Bildern ab.
Jetzt wird natürlich jeder sofort einwerfen, dass der Mensch doch ein soziales Wesen sei und sich untereinander austauscht und dadurch mehr weiß als er nur für sich alleine wissen könnte.
Dies ist nicht ganz falsch. Aufgrund seiner Fähigkeit zur Wahrnehmung der Umwelt — und auch seiner inneren Umwelt wie seine inneren Körperzustände (Hunger, Durst, Müdigkeit, sexuelle Erregung, Angst, …) — kann er natürlich auf seine Umgebung reagieren. Und es ist ja gerade die Umwelt, die ihre Spuren im Innern hinterlässt. Aber dennoch sind es dann die individuellen inneren Zustände zu einem bestimmten Zeitpunkt, die darüber entscheiden, wie man Dinge wahrnimmt und was man für möglich hält. Und wie jeder aus seiner eigenen Alltagserfahrung verifizieren kann, Menschen tendieren mit wachsendem Alter dazu, bestimmte Bilder in sich zu verfestigen und die Bereitschaft, etwas von außen, von anderen aufzunehmen, nimmt ab. Dieses sich kontinuierlich verfestigende Wissen im einzelnen ist notgedrungen unvollständig und wird im Laufe der Zeit nicht wirklich besser, eher schlechter. Die Übereinstimmung mit der realen Umgebung wird dadurch immer schwieriger. Die Momente der Irritation und Fremdheit nehmen zu. In der darin aufkommenden Unsicherheit fühlt man sich wohl, wenn es auch andere gibt, die die eigenen Bilder von der Welt — mögen sie auch noch so unpassend (‚falsch‘) sein — teilen.
ÖFFENTLICHKEIT
Eine der Möglichkeiten, gegen eine innere kognitiven Vergreisung vorzubeugen, ist die aktive Teilnahme an einer funktionierenden Öffentlichkeit, in der eine Vielzahl von Journalisten und Experten in Zusammenarbeit mit allen Bürgern versuchen, die aktuell wichtigen Faktoren und Prozesse der aktuellen Gesellschaft vorzustellen und zu erläutern. Sofern es eine solche Öffentlichkeit gibt, die von einer hinreichend großen Zahl von Bürgern aktiv wahrgenommen wird, besteht zumindest im Ansatz die Chance, dass eine hinreichende Mehrheit von Bürgern kontinuierlich qualitativ mit einem aktuellen Weltbild ausgestattet sein könnte.
Es gibt allerdings viele Anzeichen dafür, dass genau diese Öffentlichkeit in Deutschland immer weniger existiert (übrigens nicht nur nicht in Deutschland; Deutschland ist aber trotz aller Schwächen möglicherweise noch eines der Länder mit der besten funktionierenden Öffentlichkeit). Die Beschreibung dieser Schwachstellen würde ein eigenes Buch benötigen. Hier soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass eine funktionierende Öffentlichkeit für eine Demokratie lebensnotwendig ist und das im Falle von schwächelnden Momenten alles getan werden müsste, dem abzuhelfen. Ohne eine funktionierende Öffentlichkeit ist eine Demokratie tot bevor sie dann tatsächlich abstirbt.
WISSEN DURCH BILDUNG
Historisch ist klar belegt, dass komplexere Gesellschaften erst dann entstehen konnten, als die Ausbildung der jungen Generation besser wurde, vorbereitet und begleitet durch die Entwicklung von Wissen in immer anspruchsvolleren Wissensprozessen (Hochschulen, Forschung, begleitende Technologien, ..).
Und jeder kann in seinem eigenen Leben direkt nachvollziehen, dass er letztlich nur das sinnvoll tun kann, was er einigermaßen gelernt hat (alle Handwerksberufe, alle Technikerberufe, Landwirtschaft, Straßenbau, Kanalisation, Energieversorgung, …). Die rasant steigende Differenzierung in der heutigen Gesellschaft, das hohe Tempo an Innovationen, die Verlagerung von Knowhow aus dem lokal-regionalen zu überregional-globalen Zentren, dies sind nur einige Faktoren, die das klassische Bildungssystem immer mehr überfordern (und da reden wir noch nicht von der immer größeren Bandbreite der Voraussetzungen bei den Schulkindern, die aus unterschiedlichsten Milieus kommen, die von notgedrungen überforderten Lehrern unterrichtet werden sollen, die von den Kultusbürokratien buchstäblich allein gelassen werden).
Dazu kommt dass die Wissenschaft als quasi Leitsystem in dieser Funktion immer mehr versagt. Die Wissenschaft erstickt an sich selbst, um ein Bild zu gebrauchen. Ein Schnelltest mit einer randomisierten Gruppe von Wissenschaftlern würde zeigen, dass es zur Zeit gar keinen Konsens mehr gibt, was Wissenschaft überhaupt ist. Folgende Faktoren sind besonders auffällig: (i) die immer größere Zahl an spezialisierten Feldern und Subfeldern zusammen mit einer ansteigende Flut an Publikationen macht es mehr oder weniger unmöglich, ernsthaft zu bewerten, ob ein Beitrag wirklich ‚gut‘ ist. Wo sollen die Gutachter herkommen, die den größeren Überblick haben? (ii) Dem Ruf nach Interdisziplinarität steht entgegen, dass es keine fach-übergreifende, allgemein akzeptierte Methodik gibt, wie man Teilfragmente zu einer größeren, höher integrierten Theorie zusammen setzt; es fehlt schon schlicht an einer geeigneten Sprache dafür. (iii) Überall nehmen nicht-wissenschaftliche Kräfte (speziell auch die Politik) Einfluss auf die Wissenschaft, was zur Folge hat, dass immer weniger das geforscht wird, was man eigentlich erforschen müsste, sondern immer mehr nur das, was der Politik in ihrem kurzfristigen Tagesgeschäft passt. (iv) Ein negativer Begleiteffekt ist, dass Wissenschaftler gezwungen werden, sich immer mehr als Konkurrenten zu betrachten anstatt als jene Gruppe in der Gesellschaft, die versucht vorbildhaft gemeinsam die großen Probleme anzugehen, die man schlicht nicht alleine oder als kleine Gruppe lösen kann.
Im Kontext einer Demokratie ist dieses wissenschaftsinterne Problem letztlich eine Bedrohung für die Demokratie, weil die Wissenschaft eine der wichtigsten Quellen für eine Weltorientierung darstellt (wenn sie denn funktioniert), die über alle Bildungssysteme und über die Öffentlichkeit dem Bürger helfen soll, sein eigenes Weltbild aktuell zu halten, um den Anforderungen der Welt — und der nahenden Zukunft — zu genügen. Wissenschaft ist nichts für den elitären Elfenbeinturm, sondern ist der Wissensgrundstoff, den eine Demokratie in den Köpfen aller Bürger notwendig braucht! Dass es heute fast zum alltäglichen Ritual politischer Gremien zu gehören scheint, wissenschaftliche Gutachten großzügig beiseite zu schieben, wenn es den eigenen (woher inspirierten) Interessen zuwider läuft, ist ein wichtiger Faktor für den Verfall von Demokratie.
ALLTAG
Im Idealfall funktionieren unsere Bildungsprozesse, die Öffentlichkeit ergänzt dieses täglich, und die Bürger sind hinreichend im Bilde. In diesem Fall wären die politischen Entscheidungen ‚auf der Höhe der Zeit‘, wären in ihrer Begründung transparent, und jeder wüsste, warum was geschehen soll. Die Möglichkeit, dann Schwachstellen zu erkennen, Unzulänglichkeiten oder gar schwerwiegendere Probleme, wäre relativ hoch. In einer konsequent wissensbasierten Demokratie könnte der Bürger jederzeit auch die verantwortlichen Akteure und die wichtigen Informationen abfragen, rund um die Uhr. Und wenn dies nicht reicht, dann gäbe es kompetente und bürgerfreundliche Informationsstellen, und wenn das nicht reicht, dann gibt es direkten Zugang zu den politisch Handelnden.
KOMPLEXITÄT NEU DENKEN
Es sei hier angemerkt, dass es für eine wissensbasierte Demokratie allerdings nicht ausreichen wird, alles smart zu machen in dem Sinne, dass man Prozesse, die bislang analog waren, nun digitalisiert. Das genau wird nicht reichen. Man wird real neue, leistungsfähigere Wissenstechniken benötigen, die nicht nur eine Datenflut liefern, sondern dem Bürger helfen, sich selbst in seinem Wissen qualitativ zu verbessern. Einen Tipp, wie das geht, findet sich in einem vorausgehenden Blogeintrag.(Anmerkung: dazu gibt es eine ziemlich komplexe Theorie im Hintergrund und ein größeres Anwendungs-Forschungsprojekt des Autors an anderer Stelle).
Der folgende Beitrag beleuchtet die Rolle der Digitalisierung für einen Demokratie kritisch, aber nicht einfach nur ablehnend.
Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.
In einem Beitrag vom 7.Februar 2019 hatte ich mir die Frage gestellt, warum sich das alltägliche Phänomen des Populismus nahezu überall in allen Kulturen, in allen Bildungsschichten — eigentlich auch zu allen Zeiten — mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit findet, die einem Angst und Bange machen kann. Und gerade in der Gegenwart scheinen wir geradezu wieder eine Hochblüte zu erleben. In diesem ersten Beitrag hatte ich einige Faktoren angesprochen, die unser normales menschliches Lern- und Sozialverhalten charakterisieren und die genügend Anhaltspunkte liefern, um eine erste ‚Erklärung‘ dafür zu geben, warum das Auftreten populistischer Tendenzen keine Überraschung ist, sondern eben genau in den Strukturen unserer personalen Strukturen als grundlegende Überlebensstrategie angelegt sind. In einem Folgebeitrag am 11.Februar 2019 habe ich diese Gedanken ein wenig weiter verfolgt. Auf die Frage, wie man der starken Verhaltenstendenz des Populismus gegensteuern könnte, habe ich versucht, anhand der Hauptfaktoren des alltäglichen Lernens und der Gruppenbildungen Ansatzpunkte zu identifizieren, die normalerweise die Bildung populistischer Meinungsbilder begünstigen bzw. deren Modifikation dem möglicherweise entgegen wirken könnte. Durch zahlreiche Gespräche und Veranstaltungen der letzten Wochen haben sich die Themen für mich weiter entwickelt bis dahin, dass auch erste Ideen erkennbar sind, wie man den starken Verhaltenstendenzen in jedem von uns möglicherweise entgegen wirken könnte. Gegen Verhaltenstendenzen zu arbeiten war und ist immer sehr herausfordernd.
POPULISMUS – Eine Nachbemerkung
Bislang wird das Thema ‚Populismus‘ in der Öffentlichkeit tendenziell immer noch wie eine ‚religiöse‘ Frage behandelt, stark versetzt mit ‚moralischen Kategorien‘ von ‚gut‘ und ‚böse‘, mit starken Abgrenzungen untereinander, vielfach fanatisch mit der Bereitschaft, diejenigen mit der ‚anderen Meinung‘ zu bekämpfen bis hin zur ‚Ausrottung‘. Diese Meinungen verknüpfen sich mit Ansprüchen auf politische Macht, oft mit autoritären Führungsstrukturen. Die Frage nach Transparenz und Wahrheit spielt keine zentrale Rolle. Und, falls man zu einer Meinungsgruppe gehört, die ‚anders‘ ist, versteht man selten, warum die einen jetzt so unbedingt von Meinung A überzeugt sind, weil man selbst doch eher B oder C favorisiert. Das verbal aufeinander Einschlagen und das Demonstrieren mit Gegenparolen ändert an den grundlegenden Meinungsunterschieden wenig; es fördert möglicherweise eher die Abgrenzung, verhärtet die Fronten.
Dies alles ist nicht neu; die vielen blutigen Religionskriege in der Vergangenheit sind nur ein Beispiel für das Phänomen gewalttätiger Populismen; viele weitere Beispiele liesen sich anführen.
Die Tatsache, dass wir heute, im Jahr 2019, nach vielen tausend Jahren Geschichte mit einer unfassbaren Blutspur hervorgebracht durch Meinungsunterschiede, verteufelnden Abgrenzungen, Schlechtreden ‚der Anderen‘, immer noch, und zwar weltweit (!), in diese Muster zurückfallen, ist ein sehr starkes Indiz dafür, dass die Ursachen für diese Verhaltensmuster tief in der menschlichen Verhaltensdynamik angelegt sein müssen. Bei aller Freiheit, die jedem biologischen System zukommt und dem Menschen insbesondere, scheint es genügend Faktoren zu geben, die die Weltbilder in den Köpfen der Menschen in einer Weise beeinflussen, dass sie im großen Maßstab Bilder von der Welt — und darin auch von den anderen und sich selbst — in ihren Köpfen mit sich herumtragen, die sie in maschinenhafte Zombies verwandeln, die sie daran hindern, die Differenziertheit der Welt wahr zu nehmen, komplexe dynamische Prozesse zu denken, mit der Vielfalt und der Dynamik von biologischem Leben, ökologischen und technischen Systemen nutzbringend für das Ganze umzugehen.
Viele kluge Leute haben dazu viele dicke Bücher geschrieben und es kann hier nicht alles ausgerollt werden.
Dennoch wäre eine sachliche Analyse des Populismus als einer starken Verhaltenstendenz äußerst wichtig als Referenzpunkt für Strategien, wie sich die Menschen quasi ‚vor sich selbst‘, nämlich vor ihrer eigenen, tief sitzenden Tendenz zum Populismus, schützen könnten.
Eine Antwort kann nur in der Richtung liegen, dass die jeweilige Gesellschaft, innerhalb deren die Menschen ihr Leben organisieren, in einer Weise gestaltet sein muss, dass sie die Tendenzen zur Vereinfachung und zur überdimensionierten Emotionalisierung im Umgang miteinander im alltäglichen Leben gegen steuern. Für eine angemessene Entwicklung der grundlegenden Freiheit, über die jeder Mensch in einer faszinierenden Weise verfügt, müssten maximale Anstrengungen unternommen werden, da die Freiheit die kostbarste Eigenschaft ist, die die Evolution des Lebens als Teil der Evolution des ganzen bekannten Universums bis heute hervorgebracht hat. Ohne die Nutzung dieser Freiheit ist eine konstruktive Gestaltung der Zukunft im Ansatz unmöglich.
KULTUR DER FREIHEIT – Eine Nachbemerkung
In dem erwähnten Beitrag vom 11.Februar 2019 hatte ich erste Gedanken vorgestellt, welche Faktoren sich aus dem Geschehen der biologischen Evolution heraus andeuten, die man berücksichtigen müsste, wollte man das Geschenk der Freiheit gemeinsam weiter zum Nutzen aller gestalten.
Neben der Dimension der Kommunikation, ohne die gar nichts geht, gibt es die fundamentale Dimension der jeweiligen Präferenzen, der ‚Bevorzugung von Zuständen/ Dingen/ Handlungen …, weil man sich von ihnen mehr verspricht als von möglichen Alternativen.
KOMMUNIKATION
Obwohl die Menschen allein in den letzten 100 Jahren viele neue Technologien entwickelt haben, die den Austausch, den Transport von Kommunikationsmaterial hinsichtlich Menge und Geschwindigkeit dramatisch gesteigert haben, ist damit das zugehörige Verstehenin den Menschen selbst nicht schneller und tiefer geworden. Die Biologie des menschlichen Körpers hat sich nicht parallel zu den verfügbaren Technologien mit entwickelt. Auf diese Weise entstehen völlig neue Belastungsphänomene: zwar kann der Mensch noch wahrnehmen, dass es immer schneller immer mehr gibt, aber diese Überflutung führt nur begrenzt zu mehr Verstehen; überwiegend macht sich heute in dieser Situation ein wachsendes Ohnmachtsgefühl breit, eine Hilflosigkeit, in der nicht erkennbar ist, wie man als einzelner damit klar kommen soll. Die gleichzeitige Zunahme von ‚falschen Nachrichten‘, ‚massenhaften Manipulationen‘ und ähnlichen Phänomenen tut ihr Übriges, um in den Menschen das Gefühl zu verstärken, dass ihnen der Boden unter den Füßen gleichsam weggezogen wird. Wenn sich dann selbst in offiziellen demokratischen Gesellschaften Politiker (und Teile der Verwaltung oder Staatstragenden Institutionen) diesem Stil des Verbergens, Mauerns, geheimer Absprachen und dergleichen mehr anzuschließen scheinen, dann gerät das gesellschaftliche Referenzsystem ganz gefährlich ins Schwimmen. Was kann der einzelne dann noch tun?
PRÄFERENZEN (WERTE)
Der andere Faktor neben der aktuell mangelhaften Kommunikation sind die Präferenzen, nach denen Menschen ihr Lernen und Handeln ordnen. Ohne irgendwelche Präferenzen geht gar nichts, steht jedes System auf der Stelle, dreht sich im Kreis.
Ein Teil unserer Präferenzen ist in unserem Verhalten angelegt als unterschiedliche starke Tendenz eher A als B zu tun. Andere Präferenzen werden innerhalb gesellschaftlicher Systeme durch Mehrheiten, privilegierten Gruppen oder irgendwelche andere Mechanismen ausgezeichnet als das, was in der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppierung gelten soll (im Freundeskreis, in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Strafgesetz, in einer religiösen Vereinigung, …). Zwischen den gesellschaftlich induzierten Normen und den individuellen Verhaltenstendenzen gibt es unterschiedlich viele und unterschiedliche starke Konflikte. Ebenso wissen wir durch die Geschichte und die Gegenwart, dass es zwischen den verschiedenen gesellschaftlich induzierten Präferenzsystemen immer mehr oder weniger starke Konflikte gab, die alle Formen von möglichen Auseinandersetzungen befeuert haben: zwischen kriegerischer Totalausrottung und wirtschaftlich-kultureller Vereinnahmung findet sich alles.
Der Sinn von Präferenzen ist schlicht, dass sich Gruppen von Menschen einigen müssen, wie sie ihre Fähigkeiten am besten ordnen, um für alle einen möglichst großen Nutzen in der jeweiligen Lebenswelt zu sichern.
Der eine Bezugspunkt für diese Regeln ist die Lebenswelt selbst, die sogenannte Natur, die heute mehr und mehr von technologischen Entwicklungen zu einer Art Techno-Natur mutiert ist und — das wird gerne übersehen — zu der der Mensch gehört! Der Mensch ist nicht etwas Verschiedenes oder Getrenntes von der Natur, sondern der Mensch ist vollständig Teil der Natur. Im Menschen werden Eigenschaften der Natur sichtbar, die ein besonderes Licht auf das ‚Wesen‘ der Natur werfen können, wenn man es denn überhaupt wissen will. Der andere Bezugspunkt ist die Welt der Bilder in den Köpfen der Beteiligten. Denn was immer man in einer Lebenswelt tun will, es hängt entscheidend davon ab, was jeder der Beteiligte in seinem Kopf als Bild von der Welt, von sich selbst und von den anderen mit sich herum trägt.
An diesem Punkt vermischt sich die Präferenz-/Werte-Frage mit der Wissensfrage. Man kann beide nicht wirklich auseinander dividieren, und doch repräsentieren die Präferenzen und das Weltwissen zwei unterschiedliche Dimensionen in der Innendynamik eines jeden Menschen.
EIN EPOCHALER WENDEPUNKT?
Fasst man die bisherigen ‚Befunde‘ zusammen, dann zeichnet sich ein Bild ab, dem man eine gewisse Dramatik nicht absprechen kann:
In der Kommunikationsdimension hat sich eine Asymmetrie aufgebaut, in der die Technologie die Menge und die Geschwindigkeit des Informationsmaterials in einer Weise intensiviert hat, die die biologischen Strukturen des Menschen vollständig überfordern.
In der Präferenzdimension haben wir eine mehrfache Explosion im Bereich Komplexität der Lebenswelt, Komplexität der Präferenzsysteme, Komplexität der Weltbilder.
Die Anforderungen an mögliche ‚praktische Lösungen‘ steigen ins ‚gefühlt Unermessliche‘, während die Kommunikationsprozesse, die verfügbaren Weltbilder und die verfügbaren Präferenzen sich immer mehr zu einem ‚gefühlten unendlichen Komplexitätsknäuel‘ verdichten
Alle bekannten Wissenstechnologien aus der ‚Vergangenheit (Schulen, Bücher, Bibliotheken, empirische Wissenschaften, …) scheinen nicht mehr auszureichen. Die Defizite sind täglich immer mehr spürbar.
WAS BEDEUTET DIES FÜR EINE MÖGLICHE NEUE STRATEGIE?
Obwohl die soeben aufgelisteten Punkte nur als eine sehr grobe Charakterisierung der Problemlage aufgefasst werden können, bieten sie doch Anhaltspunkte, in welcher Richtung man suchen sollte.
Ich deute die Asymmetrie zwischen der technologisch ermöglichten Turbo-Daten-Welt und dem individuellen Gehirn mit seiner nenschentypischen Arbeitsweise als eine Aufforderung, dass man die Verstehensprozesse auf Seiten des Menschen deutlich verbessern muss. Wenn jemand über ein — bildhaft gesprochen — ‚Schwarz-Weiß‘ Bild der Welt verfügt, wo er doch ein ‚Vielfarbiges‘ Bild benötigen würde, um überhaupt wichtige Dinge erkennen zu können, dann muss man bei den Bildern selbst ansetzen. Wie kommen sie zustande? Was können wir dazu beitragen, dass jeder von uns die Bilder in den Kopf bekommt, die benötigt werden, wollen wir gemeinsame eine komplexe Aufgabe erfolgreich bewältigen? Einzelne Spezialisten reichen nicht. Ein solcher würde als Einzelgänger ‚veröden‘ oder — viel wahrscheinlicher — auf lange Sicht von der Mehrheit der anderen als ‚Verrückter‘ und ‚Unruhestifter‘ ‚ausgestoßen‘ werden.
Vom Ende her gedacht, von der praktisch erwarteten Lösung, muss es möglich sein, dass die jeweilige gesellschaftliche Gruppe in der Lage ist, gemeinsam ein Bild der Welt zu erarbeiten, das die Gruppe in die Lage versetzt, aktuelle Herausforderungen so zu lösen, dass diese Lösung noch in einem überschaubaren Zeitabschnitt (wie viele Jahre? Auch noch für die Enkel?) funktionieren. Dies schließt eine sachliche Funktion genauso ein wie die Übereinstimmung mit jenen Präferenzen, auf sich die Gruppierung zu Beginn geeinigt hat.
Die Ermöglichung hinreichend leistungsfähiger Bilder von der Weltin allen Beteiligten verlangt auf jeden Fall einen Kommunikationsprozess, bei dem alle Beteiligten aktiv mitwirken können. Nun kennen wir in demokratischen Gesellschaften heute die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligungen aus vielen politischen Bekundungen und auch von zahllosen realen Initiativen. Die reale Auswirkung auf die Politik wie auch die Qualität dieser Beteiligungen ist bislang — in meiner Wahrnehmung — nicht sehr groß, meistens sehr schlecht, und auch eher folgenlos. Diese Situation kann auch die gefühlte Ohnmacht weiter verstärken.
EINE PARALLELWELT – Bislang ungenutzt
Bei der Frage, was kann man in dieser Situation tun, kann es hilfreich sein, den Blick vom ‚alltäglichen politischen Normalgeschehen‘ mal in jene Bereiche der Gesellschaft zu lenken, in denen es — unbeachtet von der öffentlichen Aufmerksamkeit und den Mainstream-Medien — weltweit eine Gruppe von Menschen gelingt, täglich die kompliziertesten Aufgaben erfolgreich zu lösen. Diese Menschen arbeiten in Gruppen von 10 bis 10.000 (oder gar mehr), sprechen viele verschiedene Sprachen, haben ganz unterschiedliches Wissen, arbeiten parallel in verschiedenen Ländern und gar auf verschiedenen Kontinenten in unterschiedlichen Zeitzonen, und errichten riesige Bauwerke, bauen riesige Flugzeuge, Raketen, ermöglichen die Arbeit von riesigen Fabriken, bauen eine Vielzahl von Autos, bauen tausende von Kraftwerken, immer komplexere Datennetzwerke mit Rechenzentren und Kontrollstrukturen, Roboter, und vieles, vieles mehr …
Was von außen vielleicht wie Magie wirken kann, wie ein Wunder aus einer anderen Welt, entpuppt sich bei näherem Zusehen als ein organisiertes Vorgehen nach transparenten Regeln, nach eingeübten und bewährten Methoden, in denen alle Beteiligten ihr Wissen nach vereinbarten Regeln gemeinsam ‚auf den Tisch‘ legen, es in einer gemeinsamen Sprache tun, die alle verstehen; wo alles ausführlich dokumentiert ist; wo man die Sachverhalte als transparente Modelle aufbaut, die alle sehen können, die alle ausprobieren können, und wo diese Modelle — schon seit vielen Jahren — immer auch Simulierbar sind, testbar und auch ausführlich getestet werden. Das, was am Ende eines solche Prozesses der Öffentlichkeit übergeben wird, funktioniert dann genauso, wie geplant (wenn nicht Manager und Politiker aus sachfremden Motiven heraus, Druck ausüben, wichtige Regel zu verletzten, damit es schneller fertig wird und/ oder billiger wird. Unfälle mit Todesfolgen sind dann nicht auszuschließen).
Normalerweise existiert die Welt des Engineerings und die soziale und politische Alltagswelt eher getrennt nebeneinander her, wenn man sie aber miteinander verknüpft, kann sich Erstaunliches ereignen.
KOMMUNALPLANUNG UND eGAMING
Bei einem Kongress im April 2018 kam es zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen Städteplanern und einem Informatiker der UAS Frankfurt. Aus dem Kongress ergab sich eine erste Einsicht in das Planungsproblem von Kommunen, das schon bei ‚kleinen‘ Kommunen mit ca. 15.000 Einwohner eigentlich alle bekannten Planungsmethoden überfordert. Von größeren Gebilden, geschweige denn ‚Mega-Cities‘, gar nicht zu reden.
Mehrere Gespräche, Workshops und Vorträge mit Bürgern aus verschiedenen Kommunen und Planungseinheiten von zwei größeren Städten ermöglichten dann die Formulierung eines umfassenden Projektes, das von Mai – August 2019 einen realen Testlauf dieser Ideen ermöglicht.
Aus nachfolgenden Diskussionen entstand eine erste Vision unter dem Titel Kommunalplanung und eGaming , in der versuchsweise die Methoden der Ingenieure auf das Feld der Kommunalplanung und der Beteiligung der Bürger angedacht wurde. Es entstand eine zwar noch sehr grobe, aber doch vielseitig elektrisierende Vision eines neuen Formates, wie die Weisheit der Ingenieure für die Interessen der Bürger einer Kommune nutzbar gemacht werden könnte.
REALWELT EXPERIMENT SOMMER 2019
Im Rahmen einer alle Fachbereiche übergreifenden Lehrveranstaltung haben Teams von Studierenden die Möglichkeit (i) die ingenieurmäßigen Methoden kennen zu lernen, mit denen man Fragestellungen in einer Kommune ausgehend von den Bürgern (!) analysieren kann; (ii) mit diesen Fragestellungen können dann — immer auch in Absprache mit den Bürgern — Analysemodelle erarbeitet werden, die dann — unter Klärung möglicher Veränderbarkeit — zu (interaktiven) Simulationsmodellen erweitert werden. Diese lassen sich dann (iii) mit allen Beteiligten durchspielen. Dadurch eröffnen sich Möglichkeiten des direkten ‚Erfahrungsaustausches zwischen Studierenden und Bürgern und ein gemeinsames Lernen, was die Wirklichkeit einer Stadt ist und welche Potentiale eine solche Kommune hat. Insbesondere eröffnet solch ein Vorgehen auch Einsichten in vielfältige Wechselwirkungen zwischen allen Faktoren, die ohne diese Methoden völlig unsichtbar blieben. In nachfolgenden Semestern soll noch die wichtige Orakelfunktion hinzugefügt werden.
Parallel zum Vorlesungsgeschehen bereitet ein eigenes Software-Team eine erste Demonstrationssoftware vor, mit der man erste Analysemodelle und Simulationsmodelle erstellen kann, um — auch interaktive — Simulationen vornehmen zu können. Wenn alles klappt, würde diese Juni/ Juli zur Verfügung stehen.
AUSBLICK
Vereinfachend — und vielleicht auch ein wenig überspitzt polemisch — ausgedrückt, kann man sagen, dass in diesem Projekt (vorläufige Abkürzung: KOMeGA) das Verhältnis zwischen Menschen und digitaler Technologie umgekehrt wird: während bislang die Menschen mehr und mehr nur dazu missbraucht werden, anonyme Algorithmen zu füttern, die globalen Interessen dienen, die nicht die des einzelnen Bürgers sind, wird hier die Technik den Interessen der Bürger vollständig untergeordnet. Die Technologie hat einzig die Aufgabe, den Bürgern zu helfen ihr gemeinsames Wissen über die Kommune :
zu klären
sichtbar zu machen
auszuarbeiten
durch zuspielen
zu verbessern
nach Regeln, die die Bürger selbst formulieren
für alle transparent
jederzeit änderbar
rund um die Uhr über das Smartphone abrufbar
…
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