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chatGPT – Wie besoffen muss man sein?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.Februar 2023 – 17.April 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

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Seit der Freigabe des chatbots ‚chatGPT‘ für die größere Öffentlichkeit geht eine Art ‚Erdbeben‘ durch die Medien, weltweit, in vielen Bereichen, vom Privatpersonen über Institutionen, Firmen, Behörden …. jeder sucht das ‚chatGPT Erlebnis‘. Diese Reaktionen sind erstaunlich, und erschreckend zugleich.

Anmerkung: In meinem Englischen Blog hatte ich nach einigen Experimenten mit chatGPT eine erste Reflexion über den möglichen Nutzen von chatGPT geschrieben. Mir hatte es für ein erstes Verständnis geholfen; dieses hat sich dann bis zu dem Punkt weiterentwickelt, der im vorliegenden Text zum Ausdruck kommt.[6]

Form

Die folgenden Zeilen bilden nur eine kurze Notiz, da es sich kaum lohnt, ein ‚Oberflächenphänomen‘ so intensiv zu diskutieren, wo doch die ‚Tiefenstrukturen‘ erklärt werden sollten. Irgendwie scheinen die ‚Strukturen hinter chatGPT‘ aber kaum jemanden zu interessieren (Gemeint sind nicht die Details des Quellcodes in den Algortihmen).

chatGPT als Objekt

Der chatbot mit Namen ‚chatGPT‘ ist ein Stück Software, ein Algorithmus, der (i) von Menschen erfunden und programmiert wurde. Wenn (ii) Menschen ihm Fragen stellen, dann (iii) sucht er in der ihm bekannten Datenbank von Dokumenten, die wiederum Menschen erstellt haben, (iv) nach Textmustern, die nach bestimmten formalen Kriterien (z.T. von den Programmierern vorgegeben) einen Bezug zur Frage aufweisen. Diese ‚Textfunde‘ werden (v) ebenfalls nach bestimmten formalen Kriterien (z.T. von den Programmierern vorgegeben) in einen neuen Text ‚angeordnet‘, der (vi) jenen Textmustern nahe kommen soll, die ein menschlicher Leser ‚gewohnt‘ ist, als ’sinnvoll‘ zu akzeptieren.

Textoberfläche – Textbedeutung – Wahrheitsfähig

Ein normaler Mensch kann — mindestens ‚intuitiv‘ — unterscheiden zwischen den (i) ‚Zeichenketten‘, die als ‚Ausdrücke einer Sprache‘ benutzt werden, und jenen (ii) ‚Wissenselementen‘ (im Kopf des Hörer-Sprechers), die als solche ‚unabhängig‘ sind von den Sprachelementen, aber die (iii) von Sprechern-Hörer einer Sprache ‚frei assoziiert‘ werden können, so dass die korrelierten ‚Wissenselemente zu dem werden, was man gewöhnlich die ‚Bedeutung‘ der Sprachelemente nennt.[1] Von diesen Wissenselementen (iv) ‚weiß‘ jeder Sprachteilnehmer schon ‚vorsprachlich‘, als lernendes Kind [2], dass einige dieser Wissenselemente unter bestimmten Umständen mit Umständen der Alltagswelt ‚korrelierbar‘ sind. Und der normale Sprachbenutzer verfügt auch ‚intuitiv‘ (automatisch, unbewusst) über die Fähigkeit, solche Korrelation — im Lichte des verfügbaren Wissens — einzuschätzen als (v) ‚möglich‘ oder (vi) als eher ‚unwahrscheinlich‘ bzw. (vi) als ‚bloße Fantasterei‘.[3]

Die grundlegende Fähigkeit eines Menschen, eine ‚Korrelation‘ von Bedeutungen mit (intersubjektiven) Umweltgegebenheiten feststellen zu können, nennen — zumindest einige — Philosophen ‚Wahrheitsfähigkeit‘ und im Vollzug der Wahrheitsfähigkeit spricht man dann auch von ‚zutreffenenden‘ sprachlichen Äußerungen oder von ‚wahren (empirischen) Aussagen‘.[5]

Unterscheidungen wie ‚zutreffend‘ (‚wahr‘), ‚möglicherweise zutreffend‘, ‚eher nicht zutreffend‘ oder ‚auf keinen Fall zutreffend‘ deuten an, dass der Wirklichkeitsbezug menschlicher Wissenselemente sehr vielfältig und ‚dynamisch‘ ist. Etwas, das gerade noch zutreffend war, kann im nächsten Moment nicht mehr zutreffend sein. Etwas, das lange als ‚bloße Fantasterei‘ abgetan wurde, kann dann doch plötzlich als ‚möglich‘ erscheinen oder ‚trifft plötzlich zu‘. Sich in diesem ‚dynamisch korrelierten Bedeutungsraum‘ so zu bewegen, dass eine gewisse ‚innere und äußere Konsistenz‘ gewahrt bleibt, stellt eine komplexe Herausforderung dar, die von Philosophie und den Wissenschaften bislang eher nicht ganz verstanden, geschweige denn auch nur annähernd ‚erklärt‘ worden ist.

Fakt ist: wir Menschen können dies bis zu einem gewissen Grad. Je komplexer der Wissensraum ist, je vielfältiger die sprachlichen Interaktion mit anderen Menschen werden, umso schwieriger wird es natürlich.

‚Luftnummer‘ chatGPT

(Letzte Änderung: 15.Februar 2023, 07:25h)

Vergleicht man den chatbot chatGPT mit diesen ‚Grundeigenschaften‘ des Menschen, dann kann man erkennen, dass chatGPT nichts von alledem kann. (i) Fragen kann er von sich aus nicht sinnvoll stellen, da es keinen Anlass gibt, warum er fragen sollte (es sei denn, jemand induziert ihm eine Frage). (ii) Textdokumente (von Menschen) sind für ihn Ausdrucksmengen, für die er über keine eigenständigen Bedeutungszuordnung verfügt. Er könnte also niemals eigenständig die ‚Wahrheitsfrage‘ — mit all ihren dynamischen Schattierungen — stellen oder beantworten. Er nimmt alles für ‚bare Münze‘ bzw. man sagt gleich, dass er ’nur träumt‘.

Wenn chatGPT aufgrund seiner großen Text-Datenbank eine Teilmenge von Ausdrücken hat, die irgendwie als ‚wahr‘ klassifiziert sind, dann kann der Algorithmus ‚im Prinzip‘ indirekt ‚Wahrscheinlichkeiten‘ ermitteln, die andere Ausdrucksmengen, die nicht als ‚wahr‘ klassifiziert sind, dann doch ‚mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit‘ als ‚wahr erscheinen‘
lassen. Ob der aktuelle chatGPT Algorithmus solche ‚wahrscheinlichen Wahrheiten explizit‘ benutzt, ist unklar. Im Prinzip übersetzt er Texte in ‚Vektorräume‘, die auf verschiedene Weise ‚ineinander abgebildet‘ werden, und Teile dieser Vektorräume werden dann wieder in Form eines ‚Textes‘ ausgegeben. Das Konzept ‚Wahrheit‘ taucht in diesen mathematischen Operationen — nach meinem aktuellen Kenntnisstand — nicht auf. Wenn, dann wäre es auch nur der formale logische Wahrheitsbegriff [4]; dieser liegt aber mit Bezug auf die Vektorräume ‚oberhalb‘ der Vektorräume, bildet in Bezug auf diese einen ‚Meta-Begriff‘. Wollte man diesen auf die Vektorräume und Operationen auf diesen Vektorräumen tatsächlich anwenden, dann müsste man den Code von chatGPT komplett neu schreiben. Würde man dies tun — das wird aber keiner schaffen — dann würde sich der Code von chatGPT dem Status einer formalen Theorie nennen (wie in der Mathematik) (siehe Anmerkung [5]). Von einer empirischen Wahrheitsfähigkeit wäre chatGPT dann immer noch meilenweit entfernt.

Hybride Scheinwahrheiten

Im Anwendungsfall, bei dem der Algorithmus mit Namen ‚chatGPT‘ Ausdrucksmengen benutzt, die den Texten ähneln, die Menschen produzieren und lesen, navigiert sich chatGPT rein formal und mit Wahrscheinlichkeiten durch den Raum der formalen Ausdruckselemente. Ein Mensch, der die von chatGPT produzierten Ausdrucksmengen ‚liest‘, aktiviert aber automatisch (= unbewusst!) sein eigenes ’sprachliches Bedeutungswissen‘ und projiziert dieses in die abstrakten Ausdrucksmenge von chatGBT. Wie man beobachten kann (und hört und liest von anderen), sind die von chatGBT produzierten abstrakten Ausdrucksmengen dem gewöhnten Textinput von Menschen in vielen Fällen — rein formal — so ähnlich, dass ein Mensch scheinbar mühelos seine Bedeutungswissen mit diesen Texten korrelieren kann. Dies hat zur Folge, dass der rezipierende (lesende, hörende) Mensch das ‚Gefühl‘ hat, chatGPT produziert ’sinnvolle Texte‘. In der ‚Projektion‘ des lesenden/hörenden Menschen JA, in der Produktion von chatGPT aber NEIN. chatGBT verfügt nur über formale Ausdrucksmengen (kodiert als Vektorräume), mit denen er ‚blind‘ herumrechnet. Über ‚Bedeutungen‘ im menschlichen Sinne verfügt er nicht einmal ansatzweise.

Zurück zum Menschen?

(Letzte Änderung: 27.Februar 2023)

Wie leicht sich Menschen von einer ‚fake-Maschine‘ so beeindrucken lassen, dass sie dabei sich selbst anscheinend vergessen und sich ‚dumm‘ und ‚leistungsschwach‘ fühlen, obgleich die Maschine nur ‚Korrelationen‘ zwischen menschlichen Fragen und menschlichen Wissensdokumenten rein formal herstellt, ist eigentlich erschreckend [7a,b], und zwar mindestens in einem doppelten Sinne: (i)Statt die eigene Potentiale besser zu erkennen (und zu nutzen), starrt man gebannt wie das berühmte ‚Kaninchen auf die Schlange‘, obgleich die Maschine immer noch ein ‚Produkt des menschlichen Geistes‘ ist. (ii) Durch diese ‚kognitive Täuschung‘ wird versäumt, das tatsächlich ungeheure Potential ‚kollektiver menschlicher Intelligenz‘ besser zu verstehen, das man dann natürlich durch Einbeziehung moderner Technologien um mindestens einen evolutionären Level weiter voran bringen könnte. Die Herausforderung der Stunde lautet ‚Kollektiver Mensch-Maschine Intelligenz‘ im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung mit Priorität bei der menschlichen kollektiven Intelligenz. Die aktuelle sogenannte ‚Künstliche (= maschinelle) Intelligenz‘ sind ziemlich primitive Algorithmen. Integriert in eine entwickelte ‚kollektive menschliche Intelligenz‘ könnten ganz andere Formen von ‚Intelligenz‘ realisiert werden, solche, von denen wir aktuell höchstens träumen können.

Kommentierung weiterer Artikel von anderen Autoren zu chatGPT

(Letzte Änderung: 17.April 2023)

Achtung: Einige der Text in den Anmerkungen sind aus dem Englischen zurück übersetzt worden. Dies geschah unter Benutzung der Software www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version).

Siehe [8], [9], [10], [12],[13],[14],[15]

Anmerkungen

[1] In den vielen tausend ’natürlichen Sprachen‘ dieser Welt kann man beobachten, wie ‚erfahrbare Umweltgegebenheiten‘ über die ‚Wahrnehmung‘ zu ‚Wissenselementen‘ werden können, die dann in jeder Sprache mit unterschiedlichen Ausdrücken korreliert werden. Die Sprachwissenschaftler (und Semiotiker) sprechen daher hier von ‚Konventionen‘, ‚frei vereinbarte Zuordnungen‘.

[2] Aufgrund der körperlichen Interaktion mit der Umgebung, die ‚Wahrnehmungsereignisse‘ ermöglicht, die von den ‚erinnerbaren und gewussten Wissenselementen‘ unterscheidbar sind.

[3] Die Einstufung von ‚Wissenselementen‘ als ‚Fantasterei‘ kann falsch sein, wie viele Beispiele zeigen, wie umgekehrt, die Einstufung als ‚wahrscheinlich korrelierbar‘ auch falsch sein kann!

[4] Nicht der ‚klassischen (aristotelischen) Logik‘ da diese noch keine strenge Trennung von ‚Form‘ (Ausdruckselementen) und ‚Inhalt‘ (Bedeutung) kannte.

[5] Es gibt auch Kontexte, in denen spricht man von ‚wahren Aussagen‘, obgleichgar keine Beziehung zu einer konkreten Welterfahrung vorliegt. So z.B. im Bereich der Mathematik, wo man gerne sagt, dass eine Aussage ‚wahr‘ ist. Dies ist aber eine ganz ‚andere Wahrheit‘. Hier geht es darum, dass im Rahmen einer ‚mathematischen Theorie‘ bestimmte ‚Grundannahmen‘ gemacht wurden (die mit einer konkreten Realität nichts zu tun haben müssen), und man dann ausgehend von diesen Grundannahmen mit Hilfe eines formalen Folgerungsbegriffs (der formalen Logik) andere Aussagen ‚ableitet‘. Eine ‚abgeleitete Aussage‘ (meist ‚Theorem‘ genannt), hat ebenfalls keinerlei Bezug zu einer konkreten Realität. Sie ist ‚logisch wahr‘ oder ‚formal wahr‘. Würde man die Grundannahmen einer mathematischen Theorie durch — sicher nicht ganz einfache — ‚Interpretationen‘ mit konkreter Realität ‚in Beziehung setzen‘ (wie z.B. in der ‚angewandten Physik‘), dann kann es unter speziellen Bedingungen sein, dass die formal abgeleiteten Aussagen einer solchen ‚empirisch interpretierten abstrakten Theorie‘ eine ‚empirische Bedeutung‘ gewinnen, die unter bestimmten Bedingungen vielleicht ‚korrelierbar‘ ist; dann würde man solche Aussagen nicht nur ‚logisch wahr‘ nennen, sondern auch ‚empirisch wahr‘. Wie die Geschichte der Wissenschaft und der Wissenschaftsphilosophie zeigt, ist der aber ‚Übergang‘ von empirisch interpretierten abstrakten Theorien zu empirisch interpretierbaren Folgerungen mit Wahrheitsanspruch nicht trivial. Der Grund liegt im benutzten ‚logischen Folgerungsbegriff‘. In der modernen formalen Logik gibt es mahezu ‚beliebig viele‘ verschiedene formale Folgerzungsbegriffe. Ob ein solcher formaler Folgerungsbegriff tatsächlich die Struktur empirischer Gegebenheiten über abstrakte Strukturen mit formalen Folgerungen ‚angemessen wiedergibt‘, ist keinesfalls gesichert! Diese Problemstellung ist in der Wissenschaftsphilosophie bislang nicht wirklich geklärt!

[6] Gerd Doeben-Henisch, 15.-16.Januar 2023, „chatGBT about Rationality: Emotions, Mystik, Unconscious, Conscious, …“, in: https://www.uffmm.org/2023/01/15/chatgbt-about-rationality-emotions-mystik-unconscious-conscious/

[7a] Der chatbot ‚Eliza‘ von Weizenbaum von 1966 war trotz seiner Einfachheit in der Lage, menschliche Benutzer dazu zu bringen, zu glauben, dass das Programm sie ‚versteht‘ selbst dann, wenn man ihnen erklärte, dass es nur ein einfacher Algorithmus sei. Siehe das Stichwort ‚Eliza‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/ELIZA

[7b] Joseph Weizenbaum, 1966, „ELIZA. A Computer Program For the Study of Natural Language. Communication Between Man And Machine“, Communications of the ACM, Vol.9, No.1, January 1966, URL: https://cse.buffalo.edu/~rapaport/572/S02/weizenbaum.eliza.1966.pdf Anmerkung: Obwohl das Programm ‚Eliza‘ von Weizenbaum sehr einfach war, waren alle Benutzer fasziniert von dem Programm, weil sie das Gefühl hatten „Es versteht mich“, dabei spiegelte das Programm nur die Fragen und Aussagen der Benutzer. Anders gesagt: die Benutzer waren ‚von sich selbst‘ fasziniert mit dem Programm als eine Art ‚Spiegel‘.

[8] Ted Chiang, 2023, „ChatGPT Is a Blurry JPEG of the Web. OpenAI’s chatbot offers paraphrases, whereas Google offers quotes. Which do we prefer?“, The NEW YORKER, February 9, 2023. URL: https://www.newyorker.com/tech/annals-of-technology/chatgpt-is-a-blurry-jpeg-of-the-web . Anmerkung: Chang betrachtet das Programm chatGPT im Paradigma eines ‚Kompressions-Algorithmus‘: Die Fülle der Informationen wird ‚verdichtet/ abstrahiert‘, so dass ein leicht unscharfes Bild der Textmengen entsteht, keine 1-zu-1 Kopie. Dies führt beim Benutzer zum Eindruck eines Verstehens auf Kosten des Zugriffs auf Details und Genauigkeit. Die Texte von chatGPT sind nicht ‚wahr‘, aber sie ‚muten an‘.

[9] Dietmar Hansch, 2023, „Der ehrlichere Name wäre ‚Simulierte Intelligenz‘. An welchen Defiziten Bots wie chatGBT leiden und was das für unseren Umgang mit Ihnen heißen muss.“, FAZ, 1.März 2023, S.N1 . Bemerkung: Während Chiang (siehe [8] sich dem Phänomen chatGPT mit dem Konzept ‚Kompressions-Algorithmus‘ nähert bevorzugt Hansch die Begriffe ’statistisch-inkrementelles Lernen‘ sowie ‚Einsichtslernen‘. Für Hansch ist Einsichtslernen an ‚Geist‘ und ‚Bewusstsein‘ gebunden, für die er im Gehirn ‚äquivalente Strukturen‘ postuliert. Zum Einsichtslernen kommentiert Hansch weiter „Einsichtslernen ist nicht nur schneller, sondern auch für ein tiefes, ganzheitliches Weltverständnis unverzichtbar, das weit greifende Zusammenhänge erfasst sowie Kriterien für Wahrheit und Wahrhaftigkeit vermittelt.“ Es verwundert dann nicht wenn Hansch schreibt „Einsichtslernen ist die höchster Form des Lernens…“. Mit Bezug auf diesen von Hansch etablierten Referenzrahmen klassifiziert er chatGPT in dem Sinne dass er nur zu ’statistisch-inkrementellem Lernen‘ fähig sei. Ferner postuliert Hansch für den Menschen, „Menschliches Lernen ist niemals rein objektiv, wir strukturieren die Welt immer in Bezug auf unsere Bedürfnisse, Gefühle und bewussten Zwecke…“. Er nennt dies den ‚Humanbezug‘ im menschlichen Erkennen, und genau diesen spricht er chatGPT auch ab. Für geläufige Bezeichnung ‚KI‘ als ‚Künstliche Intelligenz‘ postuliert er, dass der Terminus ‚Intelligenz‘ in dieser Wortverbindung nichts mit der Bedeutung zu tun habe, die wir im Fall des Menschen mit ‚Intelligenz‘ verbinden, also auf keinen Fall etwas mit ‚Einsichtslernen‘, wie er zuvor schon festgestellt hat. Um diesem Umstand mehr Ausdruck zu verleihen würde er lieber den Begriff ‚Simulierte Intelligenz‘ benutzen (siehe dazu auch [10]). Diese begriffliche Strategie wirkt merkwürdig, da der Begriff Simulation [11] normalerweise voraussetzt, dass es eine klare Sachlage gibt, zu der man ein vereinfachtes ‚Modell‘ definiert, mittels dem sich dann das Verhalten des Originalsystems in wichtigen Punkten — vereinfacht — anschauen und untersuchen lässt. Im vorliegenden Fall ist aber nicht ganz klar, was denn überhaupt das Originalsystem sein soll, das im Fall von KI simuliert werden soll. Es gibt bislang keine einheitliche Definition von ‚Intelligenz‘ im Kontext von ‚KI‘! Was die Begrifflichkeit von Hansch selbst angeht, so sind die Begriffe ‚statistisch-inkrementelles Lernen‘ sowie ‚Einsichtslernen‘ ebenfalls nicht klar definiert; der Bezug zu beobachtbarem menschlichen Verhalten geschweige den zu den postulierten ‚äquivalenten Gehirnstrukturen‘ ist beliebig unklar (was durch den Bezug zu bis heute nicht definierten Begriffen wie ‚Bewusstsein‘ und ‚Geist‘ nicht gerade besser wird).

[10] Severin Tatarczyk, 19.Februar 2023, zu ‚Simulierter Intelligenz‘: https://www.severint.net/2023/02/19/kompakt-warum-ich-den-begriff-simulierte-intelligenz-bevorzuge-und-warum-chatbots-so-menschlich-auf-uns-wirken/

[11] Begriff ‚Simulation‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Simulation

[12] Doris Brelowski machte mich auf folgenden Artikel aufmerksam: James Bridle, 16.März 2023, „The stupidity of AI. Artificial intelligence in its current form is based on the wholesale appropriation of existing culture, and the notion that it is actually intelligent could be actively dangerous“, URL: https://www.theguardian.com/technology/2023/mar/16/the-stupidity-of-ai-artificial-intelligence-dall-e-chatgpt?CMP=Share_AndroidApp_Other . Anmerkung: Ein Beitrag, der kenntnisreich und sehr differenziert das Wechselspiel zwischen Formen der AI beschreibt, die von großen Konzernen auf das gesamte Internet ‚losgelassen‘ werden, und was dies mit der menschlichen Kultur und dann natürlich mit den Menschen selbst macht. Zwei Zitate aus diesem sehr lesenwerten Artikel: Zitat 1: „The entirety of this kind of publicly available AI, whether it works with images or words, as well as the many data-driven applications like it, is based on this wholesale appropriation of existing culture, the scope of which we can barely comprehend. Public or private, legal or otherwise, most of the text and images scraped up by these systems exist in the nebulous domain of “fair use” (permitted in the US, but questionable if not outright illegal in the EU). Like most of what goes on inside advanced neural networks, it’s really impossible to understand how they work from the outside, rare encounters such as Lapine’s aside. But we can be certain of this: far from being the magical, novel creations of brilliant machines, the outputs of this kind of AI is entirely dependent on the uncredited and unremunerated work of generations of human artists.“ Zitat 2: „Now, this didn’t happen because ChatGPT is inherently rightwing. It’s because it’s inherently stupid. It has read most of the internet, and it knows what human language is supposed to sound like, but it has no relation to reality whatsoever. It is dreaming sentences that sound about right, and listening to it talk is frankly about as interesting as listening to someone’s dreams. It is very good at producing what sounds like sense, and best of all at producing cliche and banality, which has composed the majority of its diet, but it remains incapable of relating meaningfully to the world as it actually is. Distrust anyone who pretends that this is an echo, even an approximation, of consciousness. (As this piece was going to publication, OpenAI released a new version of the system that powers ChatGPT, and said it was “less likely to make up facts”.)“

[13] David Krakauer in einem Interview mit Brian Gallagher in Nautilus, March 27, 2023, Does GPT-4 Really Understand What We’re Saying?, URL: https://nautil.us/does-gpt-4-really-understand-what-were-saying-291034/?_sp=d9a7861a-9644-44a7-8ba7-f95ee526d468.1680528060130. David Krakauer, Evolutionstheoretiker und Präsident des Santa Fe Instituts für Complexity Science, analysiert die Rolle von Chat-GPT-4-Modellen im Vergleich zum menschlichen Sprachmodell und einem differenzierteren Verständnis dessen, was „Verstehen“ und „Intelligenz“ bedeuten könnte. Seine Hauptkritikpunkte stehen in enger Übereinstimmung mit der obigen Position. Er weist darauf hin, dass (i) man klar zwischen dem „Informationskonzept“ von Shannon und dem Konzept der „Bedeutung“ unterscheiden muss. Etwas kann eine hohe Informationslast darstellen, aber dennoch bedeutungslos sein. Dann weist er darauf hin (ii), dass es mehrere mögliche Varianten der Bedeutung von „Verstehen“ gibt. Die Koordinierung mit dem menschlichen Verstehen kann funktionieren, aber Verstehen im konstruktiven Sinne: nein. Dann setzt Krakauer (iii) GPT-4 mit dem Standardmodell der Wissenschaft in Beziehung, das er als „parsimony“ charakterisiert; chat-GPT-4 ist eindeutig das Gegenteil. Ein weiterer Punkt (iv) ist die Tatsache, dass die menschliche Erfahrung einen „emotionalen“ und einen „physischen“ Aspekt hat, der auf somato-sensorischen Wahrnehmungen im Körper beruht. Dies fehlt bei GPT-4. Dies hängt (v) mit der Tatsache zusammen, dass das menschliche Gehirn mit seinen „Algorithmen“ das Produkt von Millionen von Jahren der Evolution in einer komplexen Umgebung ist. Die GPT-4-Algorithmen haben nichts Vergleichbares; sie müssen den Menschen nur ‚überzeugen‘. Schließlich (vi) können Menschen „physikalische Modelle“ generieren, die von ihren Erfahrungen inspiriert sind, und können mit Hilfe solcher Modelle schnell argumentieren. So kommt Krakauer zu dem Schluss: „Das Narrativ, das besagt, dass wir das menschliche Denken wiederentdeckt haben, ist also in vielerlei Hinsicht falsch. Einfach nachweislich falsch. Das kann nicht der richtige Weg sein.“ Anmerkungen zum Text von Krakauer: Benutzt man das allgemeine Modell von Akteur und Sprache, wie es der Text oben annimmt, dann ergeben sich die Punkt (i) – (vi) als Folgerungen aus dem allgemeinen Modell. Die Akzeptanz eines allgemeinen Akteur-Sprache Modells ist leider noch nicht verbreitet.

[14] Von Marie-José Kolly (Text) und Merlin Flügel (Illustration), 11.04.2023, „Chatbots wie GPT können wunderbare Sätze bilden. Genau das macht sie zum Problem“. Künstliche Intelligenz täuscht uns etwas vor, was nicht ist. Ein Plädoyer gegen die allgemeine Begeisterung. Online-Zeitung ‚Republik‘ aus der SChweiz, URL: https://www.republik.ch/2023/04/11/chatbots-wie-gpt-koennen-wunderbare-saetze-bilden-genau-das-macht-sie-zum-problem? Hier einige Anmerkungen:

Der Text von Marie-José Kolly sticht hervor weil der Algorithmus mit Namen chatGPT(4) hier sowohl in seinem Input-Output Verhalten charakterisiert wird und zusätzlich ein Vergleich zum Menschen zumindest in Ansätzen vorgenommen wird.

Das grundsätzliche Problem des Algorithmus chatGPT(4) besteht darin (wie auch in meinem Text oben herausgestellt), dass er als Input-Daten ausschließlich über Textmengen verfügt (auch jene der Benutzer), die nach rein statistischen Verfahren in ihren formalen Eigenschaften analysiert werden. Auf der Basis der analysierten Regelmäßigkeiten lassen sich dann beliebige Text-Kollagen erzeugen, die von der Form her den Texten von Menschen sehr stark ähneln, so sehr, dass viele Menschen sie für ‚von Menschen erzeugte Texte‘ nehmen. Tatsächlich fehlen dem Algorithmus aber das, was wir Menschen ‚Weltwissen‘ nennen,es fehlt echtes ‚Denken‘, es fehlen ‚eigene‘ Werte-Positionen, und der Algorithmus ‚versteht‘ seine eigenen Text ’nicht‘.

Aufgrund dieses fehlenden eigenen Weltbezugs kann der Algorithmus über die verfügbaren Textmengen sehr leicht manipuliert werden. Eine ‚Massenproduktion‘ von ‚Schrott-Texten‘, von ‚Desinformationen‘ ist damit sehr leicht möglich.

Bedenkt man, dass moderne Demokratien nur funktionieren können, die Mehrheit der Bürger über eine gemeinsame Faktenbasis verfügt, die als ‚wahr‘ angenommen werden können, über eine gemeinsame Wissensmenge, über zuverlässige Medien, dann können mit dem Algorithmus chatGPT(4) genau diese Anforderungen an eine Demokratie massiv zerstört werden.

Interessant ist dann die Frage, ob chatGPT(4) eine menschliche Gesellschaft, speziell eine demokratische Gesellschaft, tatsächlich auch positiv-konstruktiv unterstützen kann?

Vom Menschen ist jedenfalls bekannt, dass dieser den Gebrauch seiner Sprache von Kindes Beinen an im direkten Kontakt mit einer realen Welt erlernt, weitgehend spielerisch, in Interaktion mit anderen Kindern/ Menschen. Für Menschen sind ‚Worte‘ niemals isolierte Größen sondern sie sind immer dynamisch eingebunden in ebenfalls dynamische Kontexte. Sprache ist nie nur ‚Form‘ sondern immer zugleich auch ‚Inhalt‘, und dies auf mannigfaltige Weise. Dies geht nur weil der Mensch über komplexe kognitiven Fähigkeiten verfügt, die u.a. entsprechende Gedächtnisleistungen wie auch Fähigkeiten zur Verallgemeinerung/ Generalisierung umfassen.

Die kulturgeschichtliche Entwicklung von gesprochener Sprache, über Schrift, Buch, Bibliotheken bis hin zu gewaltigen digitalen Datenspeichern hat zwar bezüglich der ‚formen‘ von Sprache und darin — möglicherweise — kodiertem Wissen Gewaltiges geleistet, aber es besteht der Eindruck, dass die ‚Automatisierung‘ der Formen diese in die ‚Isolation‘ treibt, so dass die Formen ihren Kontakt zur Realität, zur Bedeutung, zur Wahrheit immer mehr verlieren. Aus der Sprache als zentralem Moment der Ermöglichung von mehr komplexem Wissen und mehr komplexem Handeln wird damit zunehmend ein ‚Parasit‘, der immer mehr Raum beansprucht und dabei immer mehr Bedeutung und Wahrheit vernichtet.

[15] Gary Marcus, April 2023, Hoping for the Best as AI Evolves, Gary Marcus on the systems that “pose a real and imminent threat to the fabric of society.” Communications of the ACM, Volume 66, Issue 4, April 2023 pp 6–7, https://doi.org/10.1145/3583078 . Anmerkung: Gary Marcus schreibt anlässlich der Wirkungen von Systemen wie chatGPT(OpenAI), Dalle-E2 und Lensa über die ernst zunehmenden negativen Wirkungen, die diese Werkzeuge innerhalb einer Gesellschaft haben können, und zwar in einem Ausmaß, das eine ernsthafte Bedrohung für jede Gesellschaft darstellt! Sie sind inhärent fehlerhaft in den Bereichen Denken, Tatsachen und Halluzinationen. Mit nahezu Null Kosten lassen sich mit ihnen sehr schnell umfangreiche Desinformationskampagnen erstellen und ausführen. Am Beispiel der weltweit wichtigen Webseite ‚Stack Overflow‘ für Programmierer konnte (und kann) man sehen, wie der inflationäre Gebrauch von chatGPT aufgrund der inhärenten vielen Fehler dazu führt, dass das Management-Team von Stack Overflow seine Benutzer dringend bitten musste, den Einsatz von chatGPT komplett zu unterlassen, um den Zusammenbruch der Seite nach 14 Jahren zu verhindern. Im Falle von großen Playern, die es gezielt auf Desinformationen absehen, ist solch eine Maßnahme unwirksam. Diese Player zielen darauf ab, eine Datenwelt zu erschaffen, in der niemand mehr irgend jemandem vertrauen kann. Dies vor Augen stellt Gary Marcus 4 Postulate auf, die jede Gesellschaft umsetzen sollte: (1) Automatisch generierter Inhalt sollte komplett verboten werden; (2) Es müssen rechtswirksame Maßnahmen verabschiedet werden, die ‚Missinformationen‘ verhindern können; (3) User Accounts müssen fälschungssicher gemacht werden; (4) Es wird eine neue Generation von KI Werkzeugen gebraucht, die Fakten verifizieren können.

DER AUTOR

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Magie der Worte – Kein Fake. Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 26.April 2019
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

In diesem Fall ist es die letzte der vielen spontanen Produktionen aus meinem seit Jahren andauerndem RUM- Experiment (radically unplugged music), die als Anlass für einen Eintrag dient. Das Experiment ereignete sich gestern Abend. Im Nachhinein, heute Morgen, trafen sich die Wirkungen mit vielen grundlegenden Überlegungen der letzten Zeit zu der Art und Weise, wie unterschiedliche Menschen ihr Wissen, ihre Erfahrungen, aus dem Dunkel ihres Unbewussten hervor holen können, um sich in gemeinsamen Resonanzereignissen wechselseitig anregen — stimulieren — zu können, im Rauschen der Worte das scheinbar Unsagbare doch irgendwie zu sagen. Was als merkwürdiges Geplapper anfangen kann, als Stammeln von Worten, als lyrische Wortfetzen, als poetisch reguliertes ‚Irgendwie‘, als Strom von Klängen mit innewohnenden Worten, das kann sehr wohl in noch mehr regulierte Wortstrukturen übergehen, in Texte, die mehr Konkretheit, mehr Klarheit an sich tragen, die im engeren Sinne wahrheitsfähig erscheinen und als solche dann auch funktionieren. Die sich so entbergende Wahrheiten werden dann zu jenen Kletterhaken unseres Geistes, an denen wir steile Wände erklimmen können, die ansonsten nur ferne, eher ungewiss zu erahnen sind.

THE FLYING DANCER – Soundereignis

Wie gesagt, ich führe seit Jahren ein Experiment durch, das sich Radically Unplugged Music (RUM) nennt. Es geht darum, welche Klänge, Sounds, Musikstücke entstehen, wenn man selbst weder richtig ein Instrument spielen kann, noch singen, noch Zeit hat, zu üben, keine Noten benutzt, keine fertigen Texte, sondern sich einfach nur hinsetzt, die Aufnahmegeräte einschaltet, und dann anfängt zu spielen bzw. zu sprechen… und dies mehrfach in dem Sinne, dass z.B. im Stück genannt The Flying Dancer erst Schlagzeug gespielt wird, dann ein Elektro-Bass, dann ein Elektro-Klavier, und schließlich dazu gesprochen wird.

Die Stimme beginnt mit einer Entschuldigung, weil der Sprecher gerade die Distanz zum Hörer unterbricht, möglicherweise störend, weil er bei seiner Betrachtung der Welt, von seinem speziellen Standpunkt aus, etwas wahrnimmt, das er mitteilen möchte.

Die Stimme spricht vom Staub der Zeit, vielleicht meint er auch so etwas wie Nebel, worin er die Schatten von Lichtern zu erkennen meint, die das Auge durchdringen. Und in diesen Schatten von Lichtern im Staub der Zeit scheint er viele wahrzunehmen, die gehört werden wollen, und es stellt sich die Frage, ob das, was da zu Gehör kommen soll, wichtig ist? Hilfreich? Und in all dem sieht er dann den fliegenden Tänzer, zwischen allem, mit sich ändernden Farben, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, auf- und absteigend im Gewoge der Ereignisse; wie auf einer Welle reitend. Die Stimme wiederholt diese bisherigen Eindrücke, und bemerkt dann zum fliegenden Tänzer noch, dass dieser schaue als ob er etwas weiß von hinter den Oberflächen der Dinge, die sich zeigen, und er schaut Dich an… und der Klang schwebt dahin, entschwebt, als ob nichts war.

LYRIK – POESIE – MAGIE DER WORTE …

In der Hetze des Alltags, können solche Worte leicht überhört werden, selbst, wenn Sie in Klänge eingehüllt daher kommen. Wir hören — und sehen — heute so Vieles, dass das Erklingen von Etwas weit weniger Aufmerksamkeit erzeugt als das Nicht-Erklingen, das Schweigen, die Stille. In der Stille, in der vermeintlichen, oft beschworenen, ist es dann aber real, tatsächlich, gar nicht still … es ist anders. Wir nehmen anders wahr, Anderes, was sonst im Getöse des Alltags schlicht untergeht, weil die anderen, lauteren Klänge die leisen übertönen, kaschieren, oder maskieren, wie die Tontechniker sagen.

Und einzelne Klänge, Töne, einzelne Worte entfalten plötzlich eine eigene Resonanz mit unserem Inneren… und wie von Zauberhand steigen Bilder, Erlebnisse, andere Töne und andere Worte aus dem Dunkel des Unbewussten auf, wie von Geisterhand, und beginnen die scheinbare Stille zu füllen mit ihrem eigenen Geschmack, ihrem eigenen Anfühlen, und diese aufsteigenden Ereignisse rufen weitere, andere wach, und so entsteht ein bunter Strom an Farben, Gestalten, Tönen, Gerüchen, Geschmäckern, Worten, aus dem scheinbaren Nichts des Unbewussten, das sich als gar nicht so unbestimmt, leer erweist, als das es im ersten Moment erscheinen mag.

Fokussieren wir uns in diesen aufsteigenden Gestalten auf die Worte, Wortfetzen, Satzfragmenten, dann haben diese eine eigentümliche Zwitterstellung: ja, es sind Fragmente, herausgerissen aus etwas möglichem Größeren, lassen — noch unbewusst, unsichtbar — ein schwer Bestimmbares und doch irgend ein angefühltes Anderes in einem anklingen, das aus diesen Wortfetzen gefühlt mehr macht als sie als Worte darstellen. Dies kann die Wurzel, der Ur-Grund von Lyrik sein, von Poesie, wenngleich der eine oder die andere möglicherweise Worte wie Lyrik und Poesie noch mit weiteren Eigenschaften aufladen möchte, z.B. mit noch mehr Eigenschaften des rein Sprachlichen.

Ich bevorzuge bei solchen sprachlichen Ereignissen im Kontext von Lyrik, Poesie und RUM die Fokussierung auf den Charakter der Gratwanderung, des Ambivalenten, des Fragmentarischen, das davon lebt, dass Worte jeglicher Art diese besonderen Boten des Zwischen sind, zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, die möglichen Brücken zwischen bloßem Schall und möglicher Bedeutung. Es ist genau diese Mittlerrolle die unseren Worten eine Magie verleihen, weil sie quasi aus dem Nichts, aus der völligen Bedeutungslosigkeit, auferstehen können mit einer möglichen Botschaft zunächst zwischen dem eigenen Unbewussten und dem eigenen Bewusstsein, dann aber auch, vielleicht, im glücklichen Fall, zwischen verschiedenen Gehirnen, die in verschiedenen Körpern wohnen und sich nur über die Magie der Worte miteinander koordinieren können (ein Thema, das in diesem Blog schon mehrfach behandelt wurde, und das beliebig komplex gedacht werden kann).

MYSTIK

Im Kontext von Lyrik und Poesie muss man die Mystik nicht erwähnen. Mystik lebt primär nicht vom Wort, von Wortfragmenten, Sätzen. Mystik nährt sich vom Ereignis, das aus den Weiten des Unbewussten, des nicht direkt Wahrnehmbaren, auf uns zukommt, uns packt, uns auf vielerlei Weise berührt, anrührt, bewegt, erfüllt, aufregt, bewegt, erleuchtet, … das Vielerlei der Worte, das Menschen (Mystiker) bemühen, um das irgendwie Unsagbare doch irgendwie zu sagen, deutet an, lässt anklingen, dass wir es hier mit Urereignissen des Erlebens zu tun haben, für die Worte zu finden, die diesem Urerleben gerecht werden und sich dann irgendwie mit anderen bekannten Erlebnissen verknüpfen lassen, schwer bis unmöglich ist. Letztlich bleibt einem nur Worte zu benutzen, die irgendwie aus anderen Kontexten schon eine gewisse Bedeutung und Bekanntheit haben, und man dann diese geliehene Bedeutung benutzt, um etwas von dem neuen Erleben anzudeuten, das sich da zur Erfahrung gibt. In diesem sehr speziellen Sinne hat die Sprache der Mystik Ähnlichkeiten mit der Sprache der Lyrik und Poesie bzw. zeigt sich im Grenzfall des mystischen Erlebens die Magie der Worte in ihrem absoluten Grenzfall: man möchte etwas sagen, was eigentlich nicht sagbar ist, und benutzt dazu Worte aus anderen Zusammenhängen, die, je für sich zu ernst genommen, falsch sind, aber doch, gerade in ihren verschiedenen Verschränkungen zwischen den Zeilen, indirekt, etwas anklingen lassen können, was derjenige, der dann Ähnliches erleben kann, möglicherweise wiedererkennt.

Ist es schon in der offiziellen Wissenschaft heute nicht ganz einfach, ja, sogar schwer, zwischen wahrer Wissenschaft und Fake-Wissen zu unterscheiden, so geraten wir im Bereich der Mystik, der mystischen Sprache, in einen Bereich, wo eine Bewertung des Wahrheits- und Sinngehaltes letztlich — und auch dann nur ansatzweise, versuchsweise — gelingt, wenn man selbst hinreichend ähnliche Erlebnisse, Erfahrungen machen konnte, die sich über viele Zeitpunkte in verschiedenen Kontexten erstrecken. Trotz dieses schwer fassbaren Gehalts an Wirklichkeit sind solche Erfahrungen dennoch von großem Wert, da sie etwas über uns, unsere Wirklichkeit erkennen lassen, das deutlich über die grobkörnigen Alltagsereignisse hinausreicht (auch eine moderne Physik lebt von zahllosen grenzwertigen Phänomenen, die sich in keiner Alltagserfahrung erfassen lassen, nur mit aufwendigsten Messvorrichtungen, die jede für sich eine Vielzahl komplexer Theorien voraussetzen, um sie zu interpretieren). Und die mystische Erfahrung in dieser Form ist in keiner Weise beliebig! Ihr Charakter gleicht jener der härtesten empirischen Erfahrung, ist nicht manipulierbar, und macht ausdrücklich, was eine Quantenphysik nur sehr indirekt vermitteln kann: der Grundcharakter aller Wirklichkeit ist nicht deterministisch sondern Freiheit. Die mystische Erfahrung enthüllt in der Art und Weise, wie sie in jedem von uns stattfinden kann, neben ihrer Ur-Realität eine Nicht-Erzwingbarkeit. Es kann stattfinden, es muss aber nicht. Dies ist schwer verstehbar; aber der Grundcharakter der quantenmechanisch enthüllten empirischen Wirklichkeit als solcher ist auch nicht wirklich verstehbar. Wie denn auch? Wir kennen nichts Vergleichbares.

Wenn man bedenkt, dass die Menschen aus allen Zeiten, aus denen wir Zeugnisse haben, den mystischen Charakter ihres Grunderlebens schon immer entdeckt und genutzt haben (nicht zu verwechseln mit den vielfältigen Ideologien unterschiedlichster Religionen, die wenig mit Mystik zu tun haben), dann könnte man sagen, dass die moderne Physik die späte Rekonstruktion dieser Ur-Phänomene mit empirisch-formalen Mitteln ist. Leider hat die offizielle Physik den Kontakt mit ihren eigenen humanen Wurzeln weitgehend verloren; selbst der unverzichtbare Beobachter wird aus theoretischen Betrachtungen weitgehend eliminiert, was die physikalischen Theorien in gewisser Weise in die Sphären von irrationalen Wortgebilden entrückt. Aber diese Blickrichtungen sind grundsätzlich korrigierbar.

KEIN FAKE

Unsere Zeiten erleben die Praxis von Propaganda, Desinformationen und Fake-News mit einer neuen, bislang kaum gekannten Wucht, vor allem nicht in der Art, dass Regierungen und Öffentlichkeiten selbst in sogenannten demokratischen Staaten meinen, dass dies doch kein Problem sei. Dass wir als Menschen uns auf diese Weise großflächig, ja, man könnte sagen, in einem industriellem Maße, den Zugang zur Wirklichkeit, zur Wahrheit verschütten, verbauen, unkenntlich machen, und uns als Gesellschaften damit die Basis für eine rationale Zukunftsgestaltung entziehen, scheint aktuell immer weniger Menschen zu kümmern.

Der bewusste Umgang mit der realen Welt im Lichte des eigenen Erlebens, und gerade auch im Grenzbereich der Magie der Worte und der mystischen Erfahrung, ist dagegen keine Flucht aus der Wirklichkeit, ist kein Fake, sondern die einzige Möglichkeit, den instrumentalisierten Fakes eines global ferngesteuerten Alltags ein kleines Stück echter Wirklichkeit entgegen zu setzen. Einzelne Elementarteilchen scheinen bedeutungslos zu sein, aber im Verbund von Atomen, Molekülen und Zellen entwickeln sie eine Kraft, die dabei ist, das gesamte Universum zu verändern. Fake News sind dagegen eine kognitive Krankheit, eine Art kognitiver Krebs, der daherkommt wie Wahrheit aber tatsächlich mögliche Wahrheit im falschen Gewand der Wahrheit zersetzt, zerstört, und damit unsere Brücken zur realen Welt und zueinander zerstört.

THE FLYING DANCER

Ist der fliegende Tänzer nur ein unwirkliches Fantasiegebilde oder irgendwie mehr?…

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MEDITATION – Desinformation oder das einzig wahre ‚Bootstrapping‘?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 3.Februar 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Letzte Änderung: 19.Februar 2019 (Ein weiterer Soundfile; … wenn man morgens meditiert …)

KONTEXT

Am 12.Dezember 2018 veröffentlichte die Frankfurter Rundschau einen Buchvorabdruck unter dem Titel „Der sanfte Umbruch“. Die FR schrieb dazu: „Wer passt eigentlich auf, dass der Mensch im Zuge der Digitalisierung nicht untergeht? Drei Autoren haben sich der Frage gewidmet, wie Philosophie und Meditation diese gefährliche Dynamik entschärfen können. Ein Buchauszug.“ Dazu ergänzend ein Bild mit der Unterschrift „Es ist ein Statement in dem Sinne, dass die Antwort auf Digitalisierung eben nicht nur noch mehr IT-Infrastruktur und noch umfassendere Digitalisierung sein kann, sondern die Wiedereinführung alten Wissens.“ Das Buch selbst hat den etwas sperrigen Titel „Bildung 5.0: Wissenschaft, Hochschulen und Meditation. Das Selbstprojekt.“ Als Autoren werden genannt Frank Dievernich, Reiner Frey und der Autor dieses Blogbeitrags. Es wird also ein Jahrtausend altes Phänomen angesprochen, die Meditation, die mit der aktuellen modernen digitalisierten Gesellschaft und ihrer spezifischen Dynamik konfrontiert wird. Ergibt dies irgend einen Sinn?

DAS SELBSTEXPERIMENT

Der Auslöser für dieses Buch war ursprünglich schon eine Art ‚Zeitgefühl‘, dass in der neuen Woge der primär an Technik orientierten Digitalisierung im Kontext einer immer mehr in Einzeldisziplinen zersplitterten empirischen Wissenschaft das Gefühl für den Menschen, die Verfügbarkeit eines modernen Menschenbildes, irgendwie zwischen den Fingern schlicht zerbröselt. Und es waren Frank Dievernich (Präsident der Frankfurt University of Applied Sciences) und Reiner Frey (Exkanzler der Hochschule und bekennender Buddhist) die aktiv nach einem Weg suchten, wie man dieses gesellschaftliche Unwohlsein in der aktuellen Situation irgendwie konkret packen und einer möglichen Handlungsdimension zuführen könne. Eher durch Zufall geriet Gerd Doeben-Henisch in diesen Diskurskontext und daraus entstand die Idee, mit einer neuen Lehrveranstaltung einen Einstieg zu versuchen. Die Arbeitshypothese zu Beginn war einfach: den Studierenden, die der aktuellen gesellschaftlichen Situation direkt ausgesetzt sind, zwei Angebote zu machen. Einmal (i) konkrete Techniken der Meditation vorzustellen, zum eigenen Ausprobieren, zum anderen (ii) parallel verschiedene Deutungsmodelle zum Meditieren vorzustellen, in deren Kontext sie die konkreten Praktiken diskutieren können. Die Entscheidung für das Thema ‚Meditation‘ wurde motiviert durch die Tatsache, dass das Phänomen ‚Meditation‘ sich seit mehr als 5 Tausend Jahren in allen Kulturen gefunden hat und immer noch findet. Und seit Jahren wird es auf vielfältige Weise zu einem Art Megatrend, für den es keine einfache Definition oder eine einfache Theorie gibt.

Das Buch entstand eher spontan nach dem ersten Semester, das alle Beteiligte sehr beeindruckt hat. Während also die Arbeiten an dem Buch liefen, entwickelte sich die Lehrveranstaltung aktiv weiter. Die zentrale Tendenz dieser Entwicklung kann man vielleicht wie folgt charakterisieren: Ausdehnung des Charakters der Lehrveranstaltung immer mehr zu einem tatsächlichen Selbstexperiment, in dem die Studierenden nicht nur verschiedene bekannte Techniken des Meditierens einfach so kennenlernen, sondern dass Sie immer mehr angeleitet werden, in ihrem eigenen Alltag ein Experiment mit sich selbst durchzuführen, in dem Sie ausprobieren, was tatsächlich mit Ihnen geschieht. Schaffen sie es überhaupt, in ihrem stressigen Alltag zu meditieren? Wie oft? Wie lange? Wie ergeht es Ihnen dabei? Entsprechend verschoben sich auch die Inhalte der Deutungsmodelle; neben den traditionellen Deutungsmodellen wurden nun immer mehr philosophische und wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden bei der Erforschung des Menschens und speziell des Meditierens eingebracht, was indirekt immer mehr Fragen an die traditionellen Deutungsmodelle hervorbrachte.

Da ein echtes Selbstexperiment im eigenen Alltag sehr schnell sehr persönlich wird, ergab sich natürlich eine natürliche Kommunikationsbarriere: was von den persönlichen Erlebnissen kann ein Studierender im größeren Rahmen einer Lehrveranstaltung einbringen? Dafür wurden neue Kommunikationsformen definiert, die dem einzelnen Raum lassen, Privates nicht zu erzählen, aber dennoch auch die Möglichkeit einräumen, in einer eher objektivierenden Weise doch Erfahrungen und Erkenntnisse an andere weiter geben zu können. Trotz einer gewissen letzten Unsicherheit in der Frage, was nun ‚tatsächlich passiert ist‘, war und ist der Gesamteindruck, dass die einzelnen (auch die Dozenten) sehr offen, sehr ehrlich über ihr eigenes Selbstexperiment berichten. Vieles davon, das meiste, kann nicht ’nach außen‘ weiter gegeben werden; dies verbietet die Vertraulichkeit und der Datenschutz. Doch deutet sich an, dass die Grundorientierung der Lehrveranstaltung sich der ‚Lebensader‘ des einzelnen im Alltag‘ nähert und dass es den Studierenden sehr hilft, in einem übermächtig erscheinenden gesellschaftlichen Deutungskontext ihre eigene Position, ihr eigenes reales körperliches und geistiges Dasein, zumindest ansatzweise, neu erspüren zu können, und im Gespräch mit den anderen Studierenden, den Dozenten und im Licht alternativer wissenschaftlicher Deutungsmodelle ansatzweise neu interpretieren zu können.

Obwohl die bisherigen Verläufe sehr konstruktiv, sehr ansprechend wirken, und die Studierenden in den offiziellen anonymen Evaluationen seitens der Hochschule sich eindeutig positiv zu dieser Lehrveranstaltung äußern, wird gerade darin aber auch spürbar und verstehbar, dass solch eine Lehrveranstaltung nur der berühmte ‚Tropfen auf den heißen Stein‘ ist. Es stellen sich sehr viele Fragen an unser ganzes Bildungssystem, an die individuellen ‚Bildungskarrieren‘, und an die bisherigen Deutungsmuster von Menschen, Werten, Persönlichkeit und Sinn, um nur einige Aspekte anzusprechen.

SICH EINE EIGENE MEINUNG BILDEN

Gerade das Thema Meditation ist historisch so vielschichtig, so umfassend, so überwältigend, dass der einzelne sich notgedrungen erst einmal überfordert fühlen muss, will er sich dem Thema aussetzen. Viele lösen das Problem dadurch, dass sie sich einfach einer herrschenden Lehre, einem bekannten ‚Meister‘ oder auch ‚Meisterin‘ anschießen, einer Gemeinschaft beitreten, und vieles mehr. Letztlich zerfällt das Phänomen der Meditation in unterscheidbare Komponenten: (i) Es gibt die konkrete Handlung, die Meditation genannt wird; (ii) Viele bieten zu diesen Handlungen Deutungsmodelle‘ an, ‚Interpretationen‘, wie man das Meditieren und das, was man dabei erleben kann, ‚verstehen soll‘; (iii) in vielen Gesellschaften gibt es in der Öffentlichkeit bekannte (und mehr oder weniger akzeptierte) Verhaltensweisen, institutionelle Einrichtungen, die den Anspruch erheben, entweder für das Meditieren gut zu sein oder sich aus der Erfahrung des Meditierens ergeben. Ob dies tatsächlich so ist, kann man am Anfang nur glauben oder eben nicht glauben. Wer es wissen will, muss sich diesen Praktiken jahrelang aussetzen, um herauszufinden, ob es ihm selbst etwas bringt oder nicht.

Da das Meditieren letztlich immer im eigenen Tun, in der eigenen Praxis, im eigenen Erleben gründet, steht es jedem frei, sich seine eigene Meinung zu bilden. Beim Meditieren gibt es keine Privilegien oder Hierarchien. Beim Meditieren zählt jeder und ist jeder gleich! Das, was ein einzelner persönlich erlebt, ist genauso wichtig und ‚wahr‘ wie das, was jemand anderes erlebt. Wie man diese individuellen Erlebnisse darüber hinaus noch ‚deuten‘ kann, ob und wie man diese in irgendeinen ‚Zusammenhang‘ einordnen kann, das entscheidet sich dann im Kontext desjenigen Wissens, das ein einzelner zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung hat.

An dieser Stelle macht es sehr viel Sinn, sich mit seinen individuellen Erlebnissen mit anderen auszutauschen, um heraus zu finden, was ist sehr speziell, nur individuell, und was hat man mit anderen gemeinsam. Darüber hinaus ist das individuell verfügbare Wissen in der Regel sehr eng, sehr begrenzt, und der Austausch mit anderen kann fehlendes Wissen ergänzen, falsches Wissen deutlich machen, und gemeinsam findet man eventuell Deutungen, die man alleine möglicherweise nicht finden würde.

Dieser Sachverhalt ist das Motiv für den Aufruf zu einem Selbstexperiment für 30 Tage, bei dem jeder sein eigenes Experiment macht, aber dann seine Erkenntnisse mit anderen austauscht. Die Erfahrungen des einzelnen sind unverzichtbar, der Goldstandard im Erkennen von sich selbst und der Welt, aber im Austausch mit anderen befreit man sich von möglichen individuellen Zufälligkeiten und ermöglicht einen gemeinsamen Blick auf eine gemeinsame Welt im Licht von jedem einzelnen.

BOOTSTRAPPING

Wenn ein Computer sich beim Einschalten ’selbst mit Programmen lädt‘, damit er dann im Sinne der Programme ‚arbeitsfähig‘ wird, sprechen die Informatiker vom ‚Bootstrapping‘; mehr literarisch gibt es auch das Bild des Lügenbarons Münchausen, der sich samt Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Die Philosophen haben immer wieder das Motto ausgerufen, sich an den ‚Grundlagen jeder Erkenntnis‘ zu orientieren, was je nach Philosoph etwas anderes bedeutet hat. Die phänomenologische Philosophie bevorzugte das Reden von den ‚Phänomenen‘ als den Grundtatsachen unsres Erlebens. Dies kommt der Situation im individuellen, persönlichen Meditieren sehr nahe: man versucht sich erst einmal an das zu halten, was man selber erlebt und so, wie man es erlebt. Das dieses Erleben letztlich auch abhängig ist von dem Wissen, das man bis zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung hat, ist unausweichlich. Daher der Aufruf, im Nachhinein darüber nachzudenken und der Aufruf, sich mit anderen über das eigene Erleben auszutauschen.

DESINFORMATION

‚Desinformation‘ ist ein Begriff aus der Propaganda, gehört in den Kontext von Kriegsführung, Geheimdiensten, und heute leider unter dem Pseudonym ‚Fake News‘ zum Alltagsgeschäft vieler gesellschaftlicher Gruppen, die andere als Feinde sehen und die Fähigkeit verloren haben, an eine gemeinsame Zukunft mit möglichst allen Menschen zu glauben. So erzählt, klingt ‚Desinformation‘ negativ.

Allerdings, und das ist vielleicht vielen nicht bewusst, ist das ganz normale Wissen, über das ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügt, grundsätzlich begrenzt, beschränkt, vielfach verzerrt und damit in einem grundlegenden Sinne ‚falsch‘. Eine Verwendung des eigenen Wissens ohne eine immer wieder stattfindende kritische Überprüfung an der Realität, an der Meinung anderer, kommt daher — sicher ungewollt — einer Desinformation nahe!

Die Gefahr einer Desinformation wird umso größer, je ‚älter‘ ein Wissen ist, je schwieriger es ist, seine Entstehung transparent zu überprüfen.

Klassische Beispiele für solch ein ‚gefährliches Wissen‘ sind die alten, klassischen Texte verschiedener Religionen (Hinduismus, Judentum, Buddhismus, Christentum, Islam, …). Diese Texte stammen aus Zeiten, die heute niemand mehr kennt; sie sind in Sprachen geschrieben, die heute entweder nicht mehr oder sehr abgewandelt gesprochen werden. Sie haben eine komplexe interne Überlieferungsgeschichte mit vielen Überlagerungen und Umschreibungen. Ihre Lebenskontexte waren grundverschieden von unseren heutigen Verhältnissen. Jeder Versuch, diese Texte zu interpretieren, ist hochgradig spekulativ. Die Geschichte der Interpretation der jüdischen und christlichen Texte alleine füllt viele, viele Bände und zeigt, dass jedes Jahrhundert ’seine eigene Sicht‘ in diese Texte hineingetragen hat. Die Texte sind als Texte ‚wehrlos‘: jeder kann sie interpretieren, wie er will. Es gibt keine harten Wahrheitskriterien.

Insofern diese Texte von Meditation sprechen gerät man schnell in ein Universum von Begriffen, die alles und nichts sagen können. Und es ist kein Zufall, dass es immer wieder sogenannte ‚Lehrer‘, ‚Meister‘, ‚Meisterinnen‘ sind, die ihre Interpretation der Texte vorstellen, aufgrund ihres Erlebens und ihres Denkens. Aber es sind einzelne, konkrete Menschen, Kinder ihrer Zeit, mit ihrem meist sehr begrenztem Wissen.

Will man diese Lehren beurteilen bleibt einem entweder das ‚Abschalten des eigenen Erkennens‘ (was keine Option ist) oder die eigene Überprüfung durch eigenes Erleben und eigenes Denken und eigenes Kommunizieren mit anderen. Eine Option in diese Richtung ist das eigene radikale Selbstexperiment, wie im vorausgehenden Blogbeitrag beschrieben 🙂

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