Archiv der Kategorie: Emotionen

WERKSTATTGESPRÄCH 14.Dezember 2013 – Rückblick

In Fortsetzung des Werkstattgesprächs vom 9.November 2013 fand sich wieder eine interessante Gruppe zusammen. Die konstruktive Atmosphäre wurde nur durch den zu kühlen Raum behindert, der uns zu einem früheren Abbruch bewegte, als geplant. Nichtsdestotrotz verlief das Gespräch lebendig und interessant.

Skizze vom Brainstorming beim Werkstattgespräch am 14.Dez.2013 (Fortsetzung vom 9.Nov.2013)
Skizze vom Brainstorming beim Werkstattgespräch am 14.Dez.2013 (Fortsetzung vom 9.Nov.2013)

Die Gedanken vom letzten Werkstattgespräch anhand der Gedankenskizze aufgreifend fokussierten die Gesprächsgruppen dieses Mal stark auf den Komplex Motivation – Gefühl – Emotion – Interesse einerseits und die Wechselwirkung dieses Komplexes mit dem Denken und dem Handeln. Ergänzt wurde dies von den Gesprächsgruppen durch den Hinweis auf das Gehirn als Sitz der vielfältigsten Bedürfnisse und Emotionen und dort wiederum unterscheidbar nach Hirnregionen, die sich verschiedenen Stadien der Gehirnentwicklung zuordnen lassen. In bestimmten Gefahrensituationen kann das Gehirn z.B. über seine Schaltungen ‚reflexartig‘ bestimmte Emotionen (‚Angst‘, ‚Flucht‘, ‚Aggression’…) aktivieren, um ein situationsgerechtes Verhalten quasi ‚aus dem Stand‘, ohne viel Reflexion, zu ermöglichen. Der Gesprächsverlauf zeigte aber, dass sich die Gesprächsteilnehmer in der Vagheit der Begriffe zu verstricken drohten, da alle die hier einschlägigen Begriffe eine sachlich bedingte ‚Unschärfe‘ mit sich bringen.

Es wurde daher an dieser Stelle eine kurze Metareflexion eingeblendet. Sie begann mit der Einblendung des Philosophischen Comic im Anschluss an das letzte Werkstattgespräch. In diesem kurzen Dialog wurde das Thema ‚Außenwelt‘ – ‚Innenwelt‘ behandelt und am Beispiel des Handy-Klingelns im Alltag verankert.

Skizze zur Übersetzung ('transduction') Energieereignissen im Kontext von von empirischen Ereignisquellen in neuronale Ereignisse. Am Beispiel des Ohres kann man ca. 6 verschiedene Übersetzungsprozesse unterscheiden, die alle hintereinander geschaltet sind
Skizze zur Übersetzung (‚transduction‘) Energieereignissen im Kontext von von empirischen Ereignisquellen in neuronale Ereignisse. Am Beispiel des Ohres kann man ca. 6 verschiedene Übersetzungsprozesse unterscheiden, die alle hintereinander geschaltet sind

Dies wurde erweitert um ein Schaubild zum Sinnesorgan ‚Ohr‘, in dem die Umwandlung der Schallenergie ‚außerhalb des Körpers‘ über fünf Transformationsstufen in ’neuronale Energie‘ in Form von wandernden elektrischen Potentialen illustriert wurde. Den wandernden elektrischen Potentialen kann man die Werte ‚1‘ und ‚0‘ zuordnen, analog den elektrischen Potentialen in den Chips der Computer. Diese Signale wandern dann von jedem Ohr in Richtung Gehirn und werden auf diesem Weg mehrfach ‚verschaltet‘ bzw. ‚verrechnet‘. Z.B. kann das Gehirn aus der Ungleichzeitigkeit von Schallereignissen am ‚linken‘ und ‚rechten‘ Ohr eine ‚Richtung‘ herausrechnen, aus welcher der Schall relativ zum Hörer kommt.

Der springende Punkt ist hier, dass die neuronale Maschinerie mit ihren ca. 100 Milliarden unverbundenen Nervenzellen als solche zwar elektrische Potentiale (und dazu gehörige diverse biochemische Prozesse) erkennen lassen, dem einzelnen Neuron als solchen kann man aber nicht ‚ansehen‘, ‚Teil‘ welcher ‚Funktion‘ es ist. Das ist analog zum Computer: die elektrischen Werte eines einzelnen logischen Gatters in einem Chip kann man messen, daran kann man aber nicht erkennen, welche ‚übergreifende Funktion‘ damit realisiert wird. Eine ‚übergreifende Funktion‘ erschließt sich nicht auf der Ebene der ‚Schalter‘, sondern nur auf einer ‚höheren‘ Ebene, einer ‚Metaebene‘. Im Fall von biologischen Systemen ist dies einmal der Bereich des ‚bewussten Erlebens (Bewusstsein)‘ und/ oder der des beobachtbaren Verhaltens.

Ein Beispiel ist unsere Fähigkeit, uns bestimmte Erlebnisse zu ‚merken‘, sie wieder ‚erinnern‘ zu können. Den konkreten Prozess des ‚Speicherns‘ und ‚Wiederfindens‘ können wir nicht ‚einsehen‘, nur seine ‚Wirkungen‘. Aus dieser Abfolge von ‚Ereignissen‘ und ‚Wiedererinnern‘ können wir versuchen, uns ein Bild zu machen, wie unser ‚Gedächtnis‘ funktioniert.

Skizze zum Zusammenhang von 'Außenweltereignissen' und 'Innenweltereignissen', sowie 'Neuronal' vs. 'Funktional', dazu die spezielle Rolle des 'bewussten Erlebens'
Skizze zum Zusammenhang von ‚Außenweltereignissen‘ und ‚Innenweltereignissen‘, sowie ‚Neuronal‘ vs. ‚Funktional‘, dazu die spezielle Rolle des ‚bewussten Erlebens‘

Dies haben einerseits viele Philosophen in der Vergangenheit versucht, aber auch, ab dem späten 19.Jahrhundert, immer mehr Psychologen (als Begründer der modernen Gedächtnisforschung gilt Ebbinghaus). Diese haben im Laufe von mehr als 100 Jahren ein ‚Modell‘ der Gedächtnisleistungen ermittelt, das grob die Komponenten ‚Sensorischer Speicher‘, ‚Kurzzeitspeicher‘ sowie ‚Langzeitspeicher‘ umfasst, mit recht komplexen internen Funktionen. Unser bewusstes Erleben (Bewusstsein) korrespondiert sehr stark mit dem ‚Kurzzeitspeicher, der auch ‚Arbeitsspeicher‘ oder ‚Arbeitsgedächtnis‘ genannt wird.

Zurück von dieser Metareflexion zum Diskussionsthema ‚Emotionen – Gefühle – …‘ deutete sich an, dass wir aus der Perspektive des Erlebens nur einen sehr begrenzten und groben Zugang zu jenen Gehirnprozessen haben, die den verschiedenen ‚Erlebnissen = Phänomenen‘ zugrunde liegen, die wir ‚Gefühl‘, ‚Emotion‘, ‚Motivation‘ usw. nennen. Und wenn diese noch durch evolutionäre ‚Erbschaften‘ ‚überlagert‘ sind, durch die das Gehirn uns aufgrund seiner Verschaltungen in bestimmte Richtungen ‚drängt‘, die wir selbst ‚gar nicht wollen‘ (Was ist ‚Wollen‘?), dann wird die Lage nicht gerade einfacher.

Soweit, stark vereinfachend, der Gesprächsprozess vom 14.Dez.2013.

Vorschau: das nächste Werkstattgespräch findet statt am Sa, 11.Januar 2013, 19:00h, im vorderen Teil von Confetti 2.0 (da ist es wärmer….:-))

Einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

SEXUALITÄT GESTERN, MORGEN, UND

Zuerst: 29.Juni 2011

Korrekturen: 20.Nov.2011

(1) Sexualität war und ist ein Kernthema unseres menschlichen Lebens; angefeindet, verherrlicht, verdammt, gepriesen, verfolgt, geehrt, Ware, Ideal, sündhaft, Sakrament, überlebensnotwendig, Konsumartikel, schmachtend, verwirrt, glühend, bezaubert, heiß, zart, aggressiv gewalttätig,… also schrecklich und schön zugleich.

Augen der Begierde 1
Augen der Begierde 1

(2) Die Erfahrung von Sexualität beginnt meistens irgendwo im Übergang von der Kindheit zur Jugend. Wenn die Wachstumsprozesse den Körper so zu verändern beginnen, dass Moleküle (Hormone) das Gehirn mehr und mehr in Form von Spannungs- und Erregungszuständen beeinflussen können. Die statistische Mehrheit der Körper hat irgendwann Empfindungszustände, die so vorher nicht da waren. Bei männlichen Körpern können diese Erregungszustände biologisch bedingt eine Intensität annehmen, die alle anderen Empfindungen gleichsam ‚übertönt‘ und damit zur ‚Qual‘ werden kann. Grundsätzlich sind sexuelle Erregungszustände an spezifische Auslöser gebunden, aber aufgrund des assoziativ-kreativen Charakters des menschlichen Gehirns kann dieses mehr und mehr alles und jedes in Verbindung zu sexuellen Erregungszuständen setzen, so dass dann gleichsam die ganze Welt nahezu permanent als Stimulus dienen kann, um spezifische sexuelle Erregungszustände zu erzeugen, die der Körper intern als ‚Belohnung‘ empfindet. Gehirne, die sich so verhalten, würde man in gewissem Sinne als ‚abnorm‘ bezeichnen, da sie es zulassen, dass die Vielfalt des Körpers und der Welt — ab einem bestimmten Punkt dann ‚zwanghaft‘ — einem einzigen internen Trieb ‚unterworfen‘ wird und damit das Gehirn seine Vermittlerfunktion für die ganze Breite des Leben immer mehr verliert; aber unser Gehirn kann sich einem einzelnen Bereich ‚dienstbar‘ machen; ’sich selbst überlassen‘ kann ein Gehirn sich in diesem Sinne ‚falsch programmieren‘. Dies zu ändern kann ab einem bestimmten Punkt nahezu unmöglich werden; letzte absolute Aussagen über das Verhalten unserer Gehirne sind allerdings — aus theoretischen Gründen — prinzipiell unmöglich.

(3) Diese körperlichen Prozesse von molekül-basierten Spannungs- und Erregungszuständen im Gehirn haben eine Empfindungsseite. Menschen erleben ihren Körper nicht ‚wie er ist‘, sondern so wie das Gehirn die Vielfalt der körperlichen Prozesse in Form von ‚bewussten Empfindungen‘ zur Verfügung stellt. Wir ‚empfinden‘ bestimmte Spannungen, wir ‚empfindenden‘ bestimmte Erregungen, wir ‚erleben‘ diese Spannungen und Erregungen als Momente einer jeweiligen Situationserfahrung ohne dass wir die dahinter liegende körperlichen (physiologischen) Prozesse selbst direkt erkennen könnten, da unser Gehirn uns diese ‚vorenthält‘ (würde das Gehirn uns die ungeheure Fülle aller körperlichen Vorgänge ‚ungefiltert‘ erfahren lassen, wir würden an dieser Komplexität möglicherweise ‚ersticken‘. Insofern ist das ‚Bewusstsein mit seiner Filterfunktion ein ungeheurer evolutionärer Fortschritt). In diesem Sinne ‚verstehen‘ wir im ersten Moment nicht, was mit uns passiert, sondern wir ‚erleben‘ diese Zustände passiv, als etwas, das uns geschieht, das uns betrifft, das uns beeinflusst. Für Kinder kann dies zu Beginn sehr wohl beunruhigend, ja möglicherweise erschreckend sein. Und jeder braucht seine Zeit (Monate, Jahre, Jahrzehnte (?)), um diese erlebbaren Zustände in geeignete Deutungs- und dann Handlungszusammenhänge einzuordnen. Als Kind und Jugendlicher übernimmt man Deutungszusammenhänge aus der Umgebung. Im Zeitalter von Massenmedien und Internet kann dies nahezu alles sein, was ein Kind so findet.

(4) Vom Standpunkt des ‚Lebens auf dem Planet Erde‘, das sich uns als komplexer Entwicklungsprozess zeigt — den wir bislang zwar noch nicht vollständig erklären können, aber doch in vielen Aspekten so umfangreich, dass wir einige interessante Mechanismen identifizieren können — stellt sich ‚Sexualität‘ als eine ‚revolutionäre Erfindung‘ dar, die dazu geführt hat, dass bei der Weitergabe der ‚Bauanleitung für neue Lebewesen‘ sich das Prinzip des ‚Mischens von Informationen‘ als für das ‚Überleben auf der Erde‘ als ‚erfolgreicher‘ erwiesen hatte als ein Verzicht auf dieses Mischungsprinzip. Da die Bauanleitung selbst (ein Molekül, die DNA, das Genom, die Erbsubstanz…) nicht lebensfähig ist, sondern nur ein Körper (ein Phänotyp), der sich anhand einer solchen Bauanleitung entwickeln kann (Wachsen, Ontogenese,….), war es wichtig, dass das Leben in der Phase der ‚agierenden Körper‘ ‚Vorsorge‘ dafür trifft, dass sich die Körper zum Zwecke der Mischung der Erbinformationen ‚finden‘ und ‚aktiv zusammenwirken‘. Die Konstruktionsaufgabe lautete: statte die Körper (Phänotypen) so aus, dass sich immer zwei so ‚attraktiv‘ finden, dass sie sich ‚angezogen‘ fühlen, dass diese Anziehung so stark ist, dass die umwelttypischen Widrigkeiten, Bedrohungen und Gefahren mit den daraus resultierenden Beunruhigungen und Ängsten diese Anziehung nicht vollständig neutralisieren können. Für diese Konstruktionsaufgabe fanden sich im Laufe der Jahrmillionen unterschiedliche Lösungsmodelle. Das Lösungsmodell beim homo sapiens — uns heute lebenden Menschen — kennen wir. Der Körper der Frau wirkt als ‚Reiz‘ (Stimulus) auf das Gehirn des Mannes, das diesen dann in solche Spannungszustände versetzt (volkstümlich: der Mann ist ‚Schwanzgesteuert‘), dass dieser sprichwörtlich tatsächlich nahezu alles vergessen kann, um seinen Trieb zu befriedigen. Diese Lösung, die viele tausend Jahre für das Überleben und die Weiterentwicklung des Lebens auf der Erde erfolgreich (in welchem Ausmaß ‚gewaltfrei‘?) war, hat durch die rasante Entwicklung der menschlichen Lebensformen heute — so scheint es — ‚Passungsprobleme‘ unterschiedlicher Art. Diese alle hier zu schildern würde zu weit führen; das Phänomen ist sehr bunt und vielschichtig (aber alleine eine Zahl wie ‚20.000 verschwundene (verschleppte?) junge Frauen im Jahr 2010‘ in einem (!) kleinen Ostblockland wäre – würde sie stimmen — ein grausamer Index für die soziale und ökonomische Realität eines schwer kontrollierbaren genetischen Merkmals bei männlichen homo sapiens Vertretern).

(5) Vom Standpunkt des Lebens auf der Erde ist eigentlich nur ein einziger Punkt interessant: das Leben in Gestalt des homo sapiens sapiens hat die Fähigkeit erlangt, die ‚Mischung von Erbinformationen‘ nicht mehr nur und ausschliesslich dem drei Milliarden Jahren alten Prinzip der Erbinformationsweitergabe zu überlassen, sondern wir können mehr und mehr eine solche Mischung nun mit speziell geschaffenen Techniken vornehmen. In dem Maße, wie der homo sapiens diese Technik so beherrschen kann, dass daraus lebensfähige Gebilde entstehen, wäre die bisherige Form von geschlechterspezifischen Körpern mit ihren komplexen Anziehungsmechanismen letztlich überflüssig. Salopp: zukünftigen geschlechtsneutralen Lebewesen könnte man auf Wunsch Pillen verabreichen, die für eine gewisse Zeit solche Spannungs- und Erregungszustände in den Gehirnen — und damit dann auch in bestimmten Körperteilen, sofern es noch welche gibt — induzieren würden, wie sie ‚damals‘ die ‚alten Menschen‘ hatten, die sich noch nicht aus dem genetischen Gefängnis befreit hatten. Vielleicht gäbe es dann nostalgische Geschichtsvereine, in denen man solche Pillen nehmen und entsprechende Filme ‚von früher‘ anschauen würde, begleitet von einem gewissen ‚Ekel‘, wie diese ‚primitiven Menschen von früher‘ sich von ihren ’sexuellen Zwängen‘ haben ‚knechten‘ lassen (speziell die Frauen würden den Zeiten von Schwangerschaft und schmerzhaften — bis hin zu gefährlichen — Geburten nicht unbedingt nachtrauern). Da bekannt ist, dass schon das ungeborene Kind während der Schwangerschaft mit dem Körper der Mutter und durch diesen mit der Umwelt ‚kommuniziert‘, würden entsprechende ‚Kommunikationsschnittstellen‘ entwickelt werden, um von Anfang an die Kommunikation eines neuen Lebewesens mit seiner Umgebung zu sichern.

(6) Durch die Tatsache, dass es ausschließlich der homo sapiens ist (bislang), der über das KnowHow und die Technik verfügt, Erbinformationen technisch gezielt mischen zu können, kann er dies nicht nur für die Erbinformationen der eigenen Art tun, sondern letztlich für alle Arten, ja, letztlich für das gesamte Phänomen des Lebens auf der Erde. Dies ist ziemlich ungeheuerlich. Es hat ca. 3.5 Milliarden Jahre gebraucht, bis das Leben eine Form annehmen konnte, die über diese Fähigkeit verfügt. Obwohl wir bis heute noch nicht wirklich völlig verstehen, wie es überhaupt zu den Anfängen des Lebens kommen konnte, verfügen wir im Prinzip über die Technologie, verändernd eingreifen zu können. Allerdings, bislang können wir — bildhaft gesprochen — nur die Buchstaben des Textes herumwirbeln, wie Kinder, die die herabgefallenen Blätter von den Bäumen herumwirbeln, wir haben nahezu keine Ahnung, wie man gezielt die möglichen Wirkungen (= Bedeutung, Semantik, Pragmatik) der Buchstabenkombinationen im Rahmen von Wachstumsprozessen ‚berechnen‘ kann. Eine ‚genetische Semantik‘ bzw. ‚genetische Pragmatik‘ steckt noch ganz in den Kinderschuhen. Doch, wie die bisherige Geschichte nahe legt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir dieses KnowHow haben werden. Wenn irgendetwas die Bezeichnung ‚historische Wende‘ verdient, dann diese Phase des Lebens auf der Erde; es ist der gewaltigste Umbruch, den es seit dem Beginn des Lebens auf der Erde gegeben hat.

Augen der Begierde 2
Augen der Begierde 2

(7) Wer bis hierher gelesen hat könnte den Einwand erheben, dass diese Sichtweise doch zu ‚biologistisch‘ sei und in keiner Weise der Tatsache Rechnung trägt, dass Menschen über den unmittelbaren ‚Trieb‘ hinaus noch andere ‚Emotionen‘, ‚Gefühle‘ in sich tragen, ‚Werte‘, die sie dazu befähigen, Interaktionen komplexe Institutionen zu realisieren, die nicht von sexuellen Motiven geprägt sind. Diesem Einwand würde ich zustimmen. In der Tat verfügt der Mensch über eine Bandbreite von Empfindungen, Emotionen, Gefühlen, Motivationen, Werten, die erstaunlich ist und die ihn zu Verhaltensweisen befähigen, die sich einem einfachen Verstehen entziehen. Während bei Tieren die Sexualität etwas Unausweichliches hat, kann der Mensch damit letztlich gestalterisch ‚umgehen‘, bis dahin, dass es Menschen gibt, die sich aus eigenen Stücken entschlossen haben, ‚Keusch‘, d.h. ‚frei von Sexualität‘, zu leben. D.h. die ‚Plastizität‘ des menschlichen Gehirns kann sowohl dazu ‚missbraucht‘ werden, immer mehr dem ‚Sexualtrieb‘ ‚zuzuarbeiten‘, als auch dazu, aus der großen Bandbreite von anderen Bedürfnissen, Stimmungen, Gefühlen, Emotionen usw. ‚Zufriedenheitskonstellationen‘ zu ‚erlernen‘, ‚einzuüben‘, die sexfrei sind oder wo die Sexualität nur ein bestimmter Teil eines größeren Zusammenhanges ist (die Pädagogen/ Therapeuten sprechen hier von der ‚Integration des Triebes‘). Diese Fähigkeiten des Menschen, ‚über‘ (trans…) konkrete Bedürfnisse hinaus Motivationen entwickeln zu können, macht den Menschen als Lebensform ‚auffällig‘, lässt ihn in einem ‚besonderen Licht‘ erscheinen, wirft zahllose Fragen auf, fasziniert. Zwischen Menschen — nicht nur zwischen Frau und Mann, sondern auch Frau und Frau, Mann und Mann — kann es Gefühlszustände geben, die sehr intensiv und nachhaltig sein können, ohne dass dies unmittelbar etwas mit Sexualität zu tun haben muss, Gefühle, die weder Geschlechts- noch Altersgrenzen kennen, die sich auch nicht durch abweichendes Aussehen beeinflussen lassen (Mir ist nicht bekannt, dass es dazu irgendwelche wirkliche Forschungsarbeiten gibt; dies sind aber Lebenserfahrungen).


Es gab eine Art Fortsetzung der Gedanken unter dem Titel SEXARBEITERiINNEN – Sind wir weiter?

Eine Übersicht über alle Blogbeiträge nach Titeln findet sich HIER.

Jenseits des Wärmetods?

  1. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass bei unklaren Fragestellungen der Rückgang auf die ‚Klassiker‘ zu Klarheiten verhilft, die die neue und neueste Literatur nicht bieten kann. Die neuere Fachliteratur ist oft schon so fortgeschritten im Detailwissen, dass man sich als ‚Neuling‘ sehr schwer tut, zu verstehen, warum all dieser Aufwand getrieben wird. In den letzten Monaten war es z.B. die Lektüre von Schrödingers ‚What is Life‘ oder Heisenbergs ‚Physics and Philosophy‘ gewesen, die wertvolle Einsichten vermittelt hatten.

  2. Nach einiger Mühe ist es mir gelungen, die ‚Populären Schriften‘ von Ludwig Boltzmann (publiziert 1905) zu bekommen. Allein schon die ersten Beiträge waren sehr erhellend. Wunderbar finde ich seinen Vortrag ‚Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie‘, den er 1886 in einer feierlichen Sitzung vor der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften vorgetragen hatte. Zu sehr vielen grundlegenden Fragestellungen, die uns noch heute bewegen, erhellt er Grundlegendes; dies aber auf einer Weise formuliert, die von großer Klarheit und Verständlichkeit ist.

  3. Er nimmt sich in diesem Vortrag sogar etwas Zeit, um die besondere Rolle der Naturforschung gegenüber allgemeiner Philosophie und Alltagswissen zu verdeutlichen. Mit Anspielung auf Herbarth lokalisiert er die Rolle des Bewusstsein zwar an der Quelle unseres Weltzuganges (im Sinne dass wir ‚Empfindungen‘ haben), aber der primäre Inhalt dieses Bewusstseins kann uns aus sich heraus nichts darüber sagen, wie sich diese Inhalte zusammensetzen, wie sie entstehen (vgl. S.48f). Und, wie wir heute wissen, sind diese Bewusstseinsinhalte komplexe Produktionen unseres Gehirns, u.a. auf der Basis sensorischer Daten, die sich aus den energetischen Ereignissen der Umwelt speisen. Die Naturforschung kann — und muss wohl — die bewusste Wahrnehmung als Ausgangspunkt nehmen, beginnt ihre eigentliche Arbeit aber dort, wo sie versucht mittels ‚Hypothesen‘ und ‚Messungen‘ hinter diese Phänomene zu schauen.

  4. Eine dieser — mittlerweile komplexen — Hypothesen ist die von der ‚atomistischen‘ Struktur der Materie, aus der sich dann die weitere Hypothese der mechanischen Wärmelehre herleitet, dass nämlich die ‚Elemente der Körperwelt‘ beständig in ‚reger Bewegung begriffen sind‘ (S.32) Hierher gehört der von Robert Mayer begründete erste Hauptsatz von der Erhaltung der Energie, wobei Energie nach Mayer in den drei Formen ’sichtbare Bewegung‘, ‚Wärme‘ oder ‚Arbeit‘ auftreten kann. Währen die Gesamtmenge der Energie in einem geschlossenen System bei Umwandlung einer Energieform in die andere unverändert bleiben soll, so sagt der zweite Hauptsatz, dass zwar Bewegung und Arbeit bedingungslos ineinander und in Wärme übergehen können, Wärme kann aber höchstens partiell in Bewegung oder Arbeit zurückverwandelt werden (vgl. S.33). In dieser Eigenschaft erscheint Wärme ‚dissipativ‘, als ‚degradierte‘ Energie (Unter Verwendung des von Clausius eingeführten Begriffs der ‚Entropie‘ kann man auch sagen, dass mit Zunahme der Degradation nicht nur die Wahrscheinlichkeit des Zustandes zunimmt, sondern auch seine Entropie (vgl. S.37)). Der zweite Hauptsatz induziert damit eine Art Richtung im Prozess, der schlussendlich zu einer völligen Degradierung von Energie führt oder — in der bekannten Formulierung — zum ‚Wärmetod des Universums‘ (vgl. S.33). Letzterer Schluss gilt aber nur, solange die Annahme eines geschlossenen Systems gilt (vgl. S.48).

  5. Das Prinzip hinter dem Prinzip des 1. und 2. Hauptsatzes ist, dass sich Energie grundsätzlich vom unwahrscheinlicheren Zustand in den wahrscheinlicheren Zustand verändert. So ist die höhere Energiekonzentration in der Sonne im Vergleich zur Erde ‚unwahrscheinlicher‘. Auf dem Weg der ‚Degradation‘ gelangt Energie von der Sonne zur Erde und kann auf diesem Weg und auf der Erde unterschiedliche Zwischenzustände durchlaufen, bis sie als Wärme ‚verschwindet‘. Es sind die Pflanzen, die diesen Energiefluss aufgreifen und ihn mittels chemischer Prozesse in solche Energieformen verwandeln, die anderen biologischen Lebensformen als ‚Nahrung‘ dienen können, bevor der Zustand höherer Entropie weiter angenähert wird (vgl. S.40).

  6. Boltzmann wagt einige Spekulationen zur möglichen ‚Erklärung‘ der Lebensformen, des erfahrbaren Geistes, indem er die Hypothese anformuliert, dass sich die komplexen bekannten biologischen Formen eventuell doch aus den allereinfachsten Atomen durch immer komplexere Konfigurationen herausgebildet haben (vgl.S.49). Heute haben wir so viele Indizien sammeln können, dass diese Hypothese zu großen Teilen als ‚gewiss‘ gelten kann, wenngleich noch nicht vollständig.

  7. Vor dem Hintergrund der Hautsätze der Wärmelehre sieht es dann so aus, als ob sich die komplexen biologischen Lebensformen nur gestützt auf den Energiefluss von Seiten der Sonne bilden konnten. Unter Ausnutzung dieser Energieformen konnten sich immer komplexere molekulare Strukturen herausbilden, die schließlich — Zwischenstand 2011 — in der Lage sind, anhand der energetischen Ereignisse in der Welt sich ‚intern‘ in einem Körper ‚Bilder‘, ‚Modelle‘ der ‚Welt da draußen‘ zu generieren, die auch ‚Selbstbilder‘ mit einschließen. Die Allokierung von Energie in Form von biologischen Strukturen ermöglicht das ‚Sichtbarwerden‘ all jener Dynamiken und Strukturen, die den physikalischen Kosmos auszeichnen. Allerdings sind diese biologischen Strukturen grundsätzlich limitiert durch den Bedarf an ‚freier‘ Energie. Versiegt der Strom von Energie in einer Form, die sich ’nutzen‘ lässt, dann verlieren die biologischen Lebensformen ihre ‚Seele‘; sie versinken im ‚Nichts‘ nahe der maximalen Entropie.

  8. Aus dieser allgemeinen Perspektive kann man den Eindruck gewinnen, dass die entscheidende Eigenschaft, die die biologischen Lebensformen in das bekannte Universum einbringen, jene ist, dass sie ’sichtbar machen können‘, dass sie ‚erkennen‘ können, dass sie ein ‚Bewusstsein von‘ den Dingen entwickeln können. Durch die Verfügbarkeit von Wissen innerhalb des Kosmos gewinnt der Kosmos eine eigentümliche ‚Handlungsfähigkeit‘ ’sich selbst gegenüber‘. Mit der Entstehung, Verfügbarkeit und Ausbreitung von ‚Erkenntnis‘ kann der Kosmos im Prinzip ‚zu sich selbst‘ kommen und darin und dadurch seine Strukturen dazu nutzen, ‚etwas‘ ‚zu tun‘. Fragt sich natürlich: was?

  9. Nach den bisherigen Erkenntnissen entsteht in den biologischen Strukturen Wissen durch ‚Verdichtungen’/ ‚Abstraktionen‘, durch das Finden von Beziehungen/ Relationen, durch die die Wechselwirkungen unterschiedlicher Beziehungen (verstehbar als Netzwerk/ Modell/ Theorie), durch unterschiedlichste Assoziationen zwischen Wissensmomenten und allen möglichen Zuständen (auch Bedürfnissen, Emotionen, Gefühlen,…). Ferner haben wir gelernt, dass sich Wissen wesentlich auch nur im Austausch zwischen unterschiedlichen Gehirnen ereignet/ bilden kann. Für solch eine Kommunikation benötigt man symbolische Mittel, Sprachen, speziell formale Sprache wie z.B. die Sprache der Mathematik oder heute die algorithmischen Formen von Computersprachen und Simulationen.

  10. Ein anderer wesentlicher Aspekt ist die Kooperation als Bedingung für Kommunikation. Eine ‚hinreichende‘ Kooperation wiederum benötigt eine ‚hinreichende‘ Öffentlichkeit: ohne funktionierende Öffentlichkeit keine gute Kommunikation, ohne gute Kommunikation nur partielle, schlechte Erkenntnis.

  11. Berücksichtigt man all dies, stellt sich natürlich die Frage nach dem ‚Sinn‘ des Ganzen. Klar ist, dass die Frage wer am meisten Geld hat, die größte politische Macht, wie berühmt jemand ist, wie ’schön‘ usw. relativ bedeutungslos sind gemessen an der globalen Aufgabe, die verfügbare Energie in jenes Wissen zu verwandeln, das den ‚Wärmetod‘ ‚überlebt‘. Militärische Macht kann punktuell und regional eventuell entscheiden, welche Gruppeninteressen sich für eine kurze Zeit ‚durchsetzen‘, doch auch militärische Macht entkommt nicht der globalen Herausforderung, wie das biologische Leben als solches sich angesichts seiner fragilen Lage innerhalb des verfügbaren Zeitfensters auf Dauer den Kosmos so umgestaltet, dass aus der ‚Anfangsübung‘ ‚Leben auf der Erde‘ ‚mehr‘ wird. Vielleicht müssen wir uns auch gar nicht physikalisch behaupten; vielleicht besteht der ‚Sinn‘ dieses Lebens auf der Erde/ in diesem Kosmos nur darin, die ‚Hoffnung auf Mehr‘ zu schmecken, um dann im/ nach dem körperlichen Tod den ‚eigentlichen‘ Zustand zu erleben. Wer kann dies so genau sagen. Ich persönlich halte allerdings den ‚Aufwand‘, der bislang getrieben wurde, um biologisches Leben überhaupt zu ermöglichen und über all die Milliarden Jahre zu immer komplexeren Formen heran zu reifen für so immens, dass es nicht so recht einleuchten will, dass darin kein spezieller ‚Auftrag‘ gegeben ist. Zu sagen, wir sind ’nur‘ Menschen übersieht, dass dieses ’nur‘ genau den Punkt verpasst, der das zentrale Drama der ganzen Erde, des ganzen Sonnensystems auszeichnet. Natürlich wäre es unbequem, zuzugeben, dass der Erfolg dieses Lebens wichtig ist…

Quelle: Ludwig Boltzmann, „Populäre Schriften“, Leipzig: Verlag Johann Ambrosius Barth, 1905

Hoffmanns Erzählungen

  1. Nach Jahren war ich wieder mal in der Oper (Frankfurt); ‚Hoffmanns Erzählungen‘ in der Vertonung von Jaques Offenbach. Zum ersten Mal aufgeführt in Paris am 10.Februar 1881. Der Komponist selbst starb vor der Uraufführung am 5.Okt.1880 in Paris. Er hinterlässt eine vollständige Klavierpartitur für die ersten drei Akte und Skizzen für die restlichen zwei.

  2. Von den vielen Dingen, die man über den Text und die Musik schreiben könnte (und so viel wurde auch schon geschrieben) hier jetzt nur dieses: im Handlungsteil erleben wir einen Hauptdarsteller Hoffmann (gleichnamig mit dem Autor des Textes), der drei Beziehungsgeschichten durchlebt, die alle in der Enttäuschung enden.

  3. Die erste Frau, in die er sich verliebt, wird irgendwann ‚enttarnt‘ als ein ‚Automat‘ (heute würden wir vielleicht sagen ‚Roboter‘); gar kein Mensch. Ob die Liebe trotz allem bis zu einem gewissen Grade vielleicht doch Bestand gehabt hätte, erfahren wir nicht, weil der Automat von einem anderen Enttäuschten zerstört wird.

  4. Die zweite Frau, in die er sich verliebt, ist todkrank, ohne es zu wissen. Der schöne Körper als Projektionsfläche der Erwartungen, ’stirbt‘ sehr bald. Die wunderschöne Stimme des Körpers erklingt zuvor, erweckt schöne Gefühle, bewirkt aber die Beschleunigung des körperlichen Todes. Die Frau selbst, Antonia, erlebt unterschiedlichste starke Gefühle in sich, die sie hin und her reißen, weil sie nicht weiß, wie sie diese Gefühle deuten soll. Welches Gefühl ist ‚richtig‘?

  5. Die dritte Frau wird als ‚Kurtisane‘ bezeichnet (Prostituierte, Hure, erotische Dienstleisterin,…). Obgleich als solche dem Hauptdarsteller bekannt und abgelehnt, gelingt es ihr, seine Zuneigung durch eine Verführung der anderen Art zu gewinnen: sie präsentiert sich als ‚Opfer‘ und bietet sich ihm als ‚Belohnung‘ an, wenn er sie aus ihrer Gefangenschaft befreit. Als die Verführung gelingt, entlockt sie ihm sein ‚Spiegelbild‘ und bringt ihn dazu, den Mann zu erschießen, von dem sie behauptet, dass er sie gefangen halte.

  6. Man kann diese bisherige Handlung als ‚billige‘ Geschichten abtun, als ’seichte‘ Unterhaltung, als Boulevardstoff (als der er zu seiner Zeit sicher auch gehandelt wurde; E.T.A. Hoffmann war seinerzeit mit seinen skurrilen Geschichten sehr populär), aber man muss nicht. Je nach Standpunkt bieten Sie Ansatzpunkte für weiterreichende Betrachtungen.

  7. In der Frankfurter Aufführung folgt den drei verunglückten Beziehungsgeschichten noch ein Epilog, in dem die ‚wahre‘ Freundin den Hauptdarsteller in seinem Leid und Suff ‚bespricht‘; sie sieht in seinem ‚Leid‘ eine Chance zu Läuterung, zur tieferen Erkenntnis. Details bleiben im Dunkel. Möglicherweise erhofft Sie sich als konkrete Person durch die Befreiung des Hauptdarstellers von ‚falschen‘ Liebesbildern eine stärkere Öffnung und Zuwendung für sie als Freundin. Aber dies bleibt im Ungewissen.

  8. Das ist das Bizarre an diesem Stück: der Weg ins ‚Unglück‘ in Form selbstzerstörerischen Leidens und begleitendem Suff wird breit und lustvoll inszeniert (eine gewisse Parallele zum Lebensstil und Leben von Jacques Offenbach und E.T.A.Hoffmann selbst), ein Ausweg aber nur angedeutet. Die treibenden Kräfte der Handlung sind ein buntes Gemisch, aus Sehnsüchten, Leidenschaft, der viel bemühten ‚Liebe‘, Drogen, Ruhmsucht, die aufgrund ihrer fragilen und zeitlich beschränkten Natur auf Scheitern programmiert sind. Und dann der Absturz, das Versagen, das Scheitern, das Zerbrechen, das Entschwinden des begehrten Objektes, das zu einem ebenso schmerzenden Gemisch aus enttäuschten Gefühlen führt, die das innere Erleben überschwemmen und zu ersticken drohen.

  9. So fantastisch die Struktur von uns Menschen vor dem Hintergrund einer langen evolutionären Entwicklungsgeschichte auch erscheinen mag, im alltäglichen Leben des vielfältigen komplexen Miteinanders erweisen sich die emotionalen Komponenten der Bewertung und Steuerung als ‚primitiv‘ und vielfältig überfordert. So mag man z.B. die hormonale Programmierung des männlichen Gehirns auf spezifische weibliche Attribute gattungstechnisch als ‚überlebensnotwendig‘ klassifizieren oder sie subjektiv bisweilen als ‚angenehme‘ empfinden, in den meisten Fällen ist diese Programmierung aber unangepasst, störend, quälend bis hin zu zerstörend und Enttäuschungen produzierend. Das hormonale Programm als solches ist sehr dumm, es ist ‚blind‘. Ähnlich sind viele tief sitzende primitiven Bedürfnisse wie z.B. an ‚Kontrolle‘, an ‚Macht‘ und an ‚Ruhm‘ Fixierungen, die den betreffenden ‚von innen fesseln‘, ihn an bestimmte Ereignisse, Situationen ‚binden‘. Enttäuschungen hier, Zerstörungen dort sind unausweichlich; eine vergiftete Atmosphäre ist das begleitende ‚Parfüm‘ dieser Verhaltensprogramme.

  10. Wenn am Ende von Hoffmanns Erzählungen das ‚Leiden‘ als mögliches Tor zur Läuterung, zur Erlösung bemüht wird, dann fragt man sich: wieso? Warum und wie kann das Leiden die Situation verbessern, und , warum erst Leiden? Warum nicht gleich den ‚besseren‘ Weg wählen, wenn es denn einen gibt. Warum soviel Zeit mit ‚Schrott‘ verbringen, wenn es doch etwas ‚Besseres‘ gibt?

  11. Das Leiden wird gerne und oft bemüht als der ‚Preis‘ für ein falsches Leben oder eben als möglicher ‚Einstieg‘ in ein Besseres. Doch erscheint dies zu billig. Denn weder muss das Leben immer und überall zum ‚Leiden‘ führen noch ist gesagt, dass Menschen durch Leiden tatsächlich zu einem ‚besseren‘ Zustand finden. Viele (die meisten?), die durch den Gang ihres konkreten Lebens in den inneren Zustand des ‚Leidens‘ kommen, finden dadurch nicht zu einem besseren Leben. Sie verfangen sich in diesen Gefühlen und finden keinen Ausgang. Es ist wie ein Strudel, der alles weg zu reißen scheint, was vielleicht Hoffnung geben könnte. Die Betroffenen wirken wie Ertrinkende, bei denen nicht klar ist, welcher ‚Rettungsring‘ noch greift.

  12. Der Verweis auf das Leiden erscheint daher eher als hilflose Geste gespeist von einem Funken Hoffnung, dass es trotz all des erlebten Scheiterns irgendwie doch noch irgendwo etwas gibt, was da heraus führt.

  13. Im Buddhismus hat man hier eine sehr einfache Antwort: ‚Man muss sich von all dem lösen, was Leiden erzeugen kann‘. Im radikalen Sinn würde dies bedeuten, dass man seinem aktuellen Leben ein Ende bereitet, da unsere aktuelle Lebensform sich genau durch diese implizite ‚Spannung‘ definiert. Im Gegensatz zur ‚unbelebten‘ Materie definiert sich Leben ja gerade dadurch, daß durch Zusammenführung von freier Energie aus der Umgebung Potentialunterschiede aufgebaut werden, die durch die daraus resultierenden Differenzen/ Spannungen zu jenen Informationsflüssen fähig sind, die das Geschehen in den Zellen, in den Zellverbänden, in den Organen, im Körper ermöglichen. Wir sind körperlich nur das, was wir sind, weil hunderte von Milliarden Potentialunterschiede sich gegenseitig, wechselwirkend anregen, anstoßen, und zwischen Spannung und Entspannung hin und her oszillieren. Und dies alles nicht ‚ungeordnet‘, sondern in – fast möchte ich sagen ‚geheimnisvollen‘ – Rhythmen, deren Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit die Symphonie eines bewussten Gehirns ermöglichen. Aus dieser Perspektive erscheint das Motto des Buddhisus als lebensfeindliche Ideologie, die genau das, was Leben ausmacht, verteufelt. Das erscheint mir nicht zielführend.

  14. Unsere aktuelle körperliche Lebensform, die ein Durchgangsstadium repräsentiert von ungefähr -3.6 Milliarden beginnend bis zu einem unbekannten Enddatum, enthält neben sehr vielen ‚eingebauten‘ (‚angeborenen, genetisch bedingten,….) Mechanismen, die sowohl hilfreich als auch störend, belastend sein können, auch verschiedene Möglichkeiten, sich ‚zusätzliche‘ Erkenntnis- Erlebens- und Handlungsebenen zu verschaffen, die über die eingebauten Tendenzen hinausführen können. Die Antonia aus Hoffmanns Erzählungen wird zwischen verschiedenen erlebten Zuständen (Gefühlen) hin und her gerissen, weil sie nicht weiß, wie sie die verschiedenen Gefühle ‚bewerten‘, ‚deuten‘ soll. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir heute in der Kunst der Gefühlsdeutung im Alltag nennenswert weiter gekommen sind. Die Literatur über Gefühle ist zwar uferlos, aber ihr ‚Wahrheitsgehalt‘ erscheint mir gering, da meistens sehr beliebig. Die wissenschaftliche Psychologie hilft partiell weiter, sehr partiell. Das größte Hindernis für einen substantiellen Fortschritt in Sachen besseres Verständnis der menschlichen Emotionen und ihre konstruktive Einbindung in den Alltag sehe ich darin, das wir bislang nicht zugeben können, dass wir fast nichts Brauchbares wissen. Wissenschaft wird zur Pseudowissenschaft, wenn sie vorgibt, mehr zu können als sie wirklich kann.

  15. Eine Oper besteht natürlich nicht nur aus Handlungen und Text, sondern auch aus Klängen, die Handlung und Text ‚umhüllen‘. Sie dringen ins Ohr und bewegen unsere Emotionen (und den Verstand?). Aber, es ist bekannt, dass das visuelle System des Menschen das auditive ‚dominiert‘: erste ’sehen‘ wir und dann ‚hören‘ wir. So entsteht in einer Oper eine diffuse Parallelität zwischen Zuschauer und Zuhörer, zwischen Bild und Klang, eine Parallelität, die naturgemäß nicht ‚aufgeschlüsselt‘ ist. Wer nicht vorher den Text, die Handlung und die Partitur intensiv analysiert hat, der wird nahezu nichts von den Details der Musik ‚mitbekommen‘. Es bleiben im Gesamteindruck Höhen und Tiefen, Laut Leise, diverse Klangfarben, emotionale Schwingungen, anrührende Stimmen, blasse Abschnitte, usw. im ‚Kontext‘ einer Handlung, die anspricht oder nicht. Ist dies eine ‚Versklavung‘ der Musik durch das Auge? Nur, wenn man es so sehen will. Im ‚reinen‘ Konzert wird das Auge weitgehend neutralisiert. Es gibt viele Formen der Einwirkung auf das Gehirn.