(1) Horst Dreier, Prof. für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht in Würzburg, stellt sich in seinem Beitrag in der FAZ vom 17.August 2011 der Frage nach der Rolle des Deutschen Ethikrates. Klar und prägnant arbeitet er die gesetzlich definierte Rolle des Rates heraus, der eindeutig auf eine Beratungsfunktion beschränkt ist, die dem Parlament seine eigene Entscheidung nicht abnehmen kann. Da er unter Berufung auf Peter Graf Kielmansegg der Wissenschaft eine Sonderstellung für Fragen der Ethik abspricht — präzisiert durch die Bemerkung, dass man aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen keine normativen Schlüsse ziehen könne — verschiebt sich die Frage der normativen Klärung auf den Bereich der ‚Bewertung‘ von (naturwissenschaftlichen) Sachverhalten im Lichte der Kompetenz letztlich jeden einzelnen Bürgers („Bei ethischen Fragen sind die Bürger gleich zu achten“). Dieser einzelne Bürger ist allerdings ‚eingebettet‘ in die geltende Gesetzgebung, deren ‚Einhaltung‘ vom Bundesverfassungsgericht überwacht wird. Letzteres steht aber nicht ‚über‘ dem Gesetz; es ist nicht das sich selbst genügsame ‚perpetuum mobile‘ von ethischen Prinzipien, sondern ist dem geltenden Gesetzestext — und seiner ‚unterstellten Intentionen‘ — verpflichtet.
(2) Mit dieser Ortsbestimmung des Ethikrates könnte man den Eindruck gewinnen, als ob sich ‚das Ethische‘ in eine ‚Beliebigkeit‘ verflüchtigt. Zwar dürfen die Experten des Ethikrates Meinungen äußern — und letztlich auch alle Bürger (wo werden diese gefragt?) — aber durch die Verlagerung der ethischen Erkenntnis in das individuelle Denken, das im Ethischen gleichberechtigt ist, gibt es keinen wirklichen ‚Fixpunkt‘ mehr, an dem sich die individuellen Urteile messen können. Dreier nennt diesen Bereich jenseits der Fakten den Bereich ’normativer Wertungen‘, für den er mit Bezug auf Max Weber günstigstenfalls reklamiert, dass man diese normativen Inhalte einer ‚Diskussion‘ zuführen kann, eventuell in Form einer ‚konsistenten‘ (widerspruchsfreien) Darstellung kondensiert in ‚Wertaxiomen‘.
(3) Dieser Versuch einer formalen Eingrenzung des ‚Ethischen‘ im interdisziplinären Diskurs lässt erahnen, dass es hier nicht um ‚die‘ Wertaxiome geht, sondern um jene Wertaxiome, die unterschiedliche Vertreter artikulieren. Der Raum des Ethischen ist in diesem Konzept also ein ‚offener‘ Raum, der sich entwickeln kann, der anhand neuer Einsichten umakzentuiert werden kann; das Ethische wird damit eingebettet in den allgemeinen Erkenntnisprozess der Menschheit, der bekanntlich in den letzten Tausenden von Jahren starke Wandlungen erfahren hat.
(4) Diese Sicht einer Ethik, die sich im fortdauernden Diskurs ‚finden‘ muss, wird auch noch unterstützt durch die Ergebnisse der mathematischen und linguistischen Grundlagenforschung des 20.Jahrhunderts. Seit Goedel (1931) und Turing (1936/7) ist unabwendbar klar, dass selbst im abgegrenzten Bereich formaler (mathematischer) Theorien ‚konsistente‘ Theorien nur bis zu einer gewissen ‚Ausdrucksstärke‘ möglich sind. Das meiste, was heute in der Mathematik wichtig ist, lässt sich nicht als konsistent beweisen. Für den Bereich natürlicher Sprachen (dazu gehört Philosophie und Ethik allemal) ist die Frage der ‚Konsistenz‘ ganz bodenlos (u.a. Wittgenstein). Die Idee eines widerspruchsfreien ethischen Diskurses ist bestenfalls eine ‚regulative Idee‘, eine Illusion, die helfen kann, den Glauben an Konsistenz aufrecht zu erhalten, aber praktisch einlösbar ist eine Widerspruchsfreiheit in diesem Bereich grundsätzlich nicht. Die einzig mögliche Konsequenz aus diesen Sachverhalten ist, die Partialität jeglicher Erkenntnis, insbesondere auch der ethischen, sehr ernst zu nehmen, und Bruchstücke, fragile Konstruktionen, von vornherein niemals einfach auszugrenzen. In den Naturwissenschaften hat man gelernt, mit partiellen Erkenntnissen so umzugehen, dass man ‚inkrementelle Modelle (Theorien)‘ entwickelt, die im Laufe der Zeit ‚verbessert‘, ‚korrigiert‘ werden, ohne dass zu irgendeinem Zeitpunkt eine Theorie einen ‚Absolutheitsanspruch‘ hat. Dass diese Modell einer ‚dynamisch partiellen‘ Erkenntnis erfolgreich sein kann, belegen die letzten Jahrhunderte. Ob Horst Dreier diesen Konsequenzen zustimmen würde?
(5) Letztlich wird man wohl auch nicht umhin kommen, das Format eines ethischen Diskurses neu zu bestimmen, zumindest erheblich weitergehender als es bislang geschehen ist. Es ist allerdings schwer zu sehen, aus welcher ‚Ecke‘ geisteswissenschaftlicher Aktivitäten diese ‚Erneuerung‘ kommen kann. Die Diskursbeiträge der letzten Jahrhunderte haben nur demonstriert, dass sie diese Aufgabe nicht bewältigen können.