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CHRISTLICHES ABENDLAND EINE LEGENDE? Nachbetrachtungen zum Buch von R.Bergmeier – Teil 2

Rolf Bergmeier, „Christlich-abendländische Kultur – eine Legende: Über die antiken Wurzeln, den verkannten arabischen Beitrag und die Verklärung der Klosterkultur Broschiert“, 238 Seiten, Aschaffenburg: Alibri Verlag, Dezember 2013

FORTSETZUNG

Diesem Teil 2 geht ein Teil 1 voraus, in dem die Hauptaussagen des Buches von Bergmeier skizziert werden.

In diesem zweiten Teil geht es um eine erste Diskussion dieser Thesen, sowohl um mögliche Kritik wie auch um mögliche Konsequenzen.

DISKUSSION

1. Wenn jemand Kritikpunkte an dem Buch sucht, kann er sie schnell finden: das zur Untersuchung anstehende Sachgebiet ist zeitlich und inhaltlich so riesig, dass ein Buch mit 215 Textseiten zwangsläufig weitgehend nur ‚Überschriften‘ liefern kann. Kein Gebiet kann wirklich detailliert in epischer Breite behandelt werden. Das Ganze wirkt wie ein ‚historisches Telegramm‘, bei dem jeder, der will, Punkte finden könnte, die zu grob sind, zu ungenau, oder einfach erklärungsbedürftig.

2. Auf der anderen Seite kann man aber gerade diese Kompaktheit, diese Thesenhaftigkeit als die große Stärke des Buches begreifen: angesichts eines so großen und schwierigen Thema würde mindestens jeder normale Mensch – und wie es scheint, auch die meisten Historiker – einfach kapitulieren und damit angesichts dieser großartigen Vergangenheit Europas im Nichtwissen verharren. Die Kompaktheit des Buches von Bergmeier aber eröffnet auch einem Nichthistoriker, einem Laien, einem ’normalen Menschen‘ die Möglichkeit, mal ein – wenn auch holzschnittartig verkürztes — Gesamtbild von einer Zeit zu bekommen, die für Europa fundamental war und eigentlich immer noch ist.

3. Wenn wir heute, im Jahr 2015, erleben, wie die aktuelle EU sich fast ausschließlich aus Ländern mit christlicher Vergangenheit – eben aus dem Abendland — zusammensetzt, dann ist dies kein Zufall. Und wenn wir in diesen Jahren erleben, wie schwer sich die Menschen in der EU tun – auch die sogenannten ‚Gebildeten‘ –, mit dem Islam umzugehen (der muslimische Arbeitskollege ist OK, aber der Islam …), dann erleben wir hautnah und konkret, wie real die unaufgearbeitete Geschichte des ganzen Europa – Morgenland und Abendland – sich heute, im Hier und Jetzt, noch auswirkt.

4. Betrachtet man das, was das ganze Europa in der Vergangenheit (-500 bis 1400) und dann danach in der Renaissance, in der Aufklärung, in der Moderne, stark gemacht hat, dann war dies immer ein Staatsgebilde, in der die Macht dafür gesorgt hat, dass die Rahmenbedingungen für möglichst alle optimal waren, wo die Infrastrukturen ein gemeinsames Leben, gemeinsame Bildung, gemeinsame Technologie, gemeinsames Handeln und Wirtschaften nach akzeptierten Regeln möglich war, und wo religiöse Toleranz herrschte. Immer dann, wenn diese Rahmenbedingungen gegeben waren, gab es lebendige dynamische Städte und Regionen, gab es blühenden Handel, gab es aufregende Entdeckungen und Erfindungen, die allen nützten, gab es Wohlstand und kunstvolle Durchdringungen des gemeinsamen Lebens; immer dann und auch NUR dann! Das fundamentale Prinzip lautet: Die Macht schafft einen Lebensraum für möglichst alle zu möglichst guten Konditionen

5. Was man auch erkennen kann, ist, dass eine zentrale – vielleicht die wichtigste überhaupt — Bedingung für all dies die Verfügbarkeit von WISSEN war (und ist). Ohne geeignetes Wissen, das IN den Köpfen der Menschen AKTIV verfügbar ist, ist kein Mensch in der Lage, weder individuell noch gemeinschaftlich, irgend etwas Sinnvolles zu tun. Ohne Wissen gibt es kein Bauwerke, keine Straßen, keine Infrastrukturen, keine Maschinen, keine Landkarten, keine Verständigung, keinen Handel, keine medizinische Versorgung, keine Erfindungen, keinen Fortschritt.
6. Die Verfügbarkeit von Wissen für möglichst alle setzt voraus, dass jeder Mensch grundsätzlich wertgeschätzt, geachtet wird, dass man jedem Menschen so viel ‚Würde‘ zusteht, dass man ihm einen ‚Anspruch‘, ein ‚Recht‘ auf Wissen einräumt und auch dafür sorgt, dass es die reale Möglichkeit für Wissen gibt. Und schaut man mit diesen Augen in die Vergangenheit ganz Europas (Indien und China sind auch zu empfehlen …), dann wird man u.a. folgendes feststellen können:

7. In der griechischen Kultur im Zeitraum -500 bis ca. 500 finden wir hochstehende bis maximale Leistungen auf allen Gebieten, obgleich diese Kultur weder jüdisch, noch christlich noch islamisch war. Das Gleiche gilt für die römische Kultur bis zum ‚Sündenfall‘ des Religionserlasses von Kaiser Theodosius 380.

8. Die arabisch-islamische Kultur der zeit 700 – 1400 zeigt ebenfalls Höchstleistungen, weil sie aufgrund ihres Glaubens die erfolgreichen Prinzipien und das Wissen der griechisch-römischen Kultur in allen Bereichen aufgegriffen und substantiell in vielen Bereichen sogar weiter entwickelt haben. Dazu gehörte eine überwiegende Toleranz anderen weltanschaulichen und religiösen Bekenntnissen gegenüber, ein Leistungsprinzip bei der Auswahl der Kandidaten für wichtige Ämter, und eine kaum zu überbietende Wertschätzung gegenüber WISSEN! Nicht nur gab es überall Schulen für alle (speziell sogar für sozial Schwache und Benachteiligte), sondern dazu weiterführende, forschende Lehranstalten, riesige öffentliche Bibliotheken, umfangreiche Übersetzungstätigkeiten aus ganz vielen anderen Sprachen nach Methoden, die auch heute noch wissenschaftlich gültig sind.

9. Jahrhunderte nach 1400, bis heute, können wir beobachten, dass es islamische Kulturen gibt, die diese Offenheit für Wissen und diese Toleranz nicht praktizieren mit den entsprechenden Folgen für die Lebenssituation der Menschen. Unter anderem kann man daraus ersehen, dass die Berufung auf den Islam nicht automatisch einhergeht mit Toleranz, Bildung, und Fortschritt.

10. Ähnliches beobachten wir bei den christlichen Bekenntnissen. Die ersten vier Jahrhunderte des Christentums waren geprägt von schweren, auch blutigen, Auseinandersetzungen zwischen mehr als 80 verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen. Dass dann ein römischer Kaiser – gegen alle vorausgehenden Traditionen – plötzlich das Toleranzprinzip aufgibt, quasi über Nacht eine der mehr als 80 christlichen Richtungen, nämlich die ‚Trinitarier‘ – zur Staatsreligion erhebt, diese mit absoluten Machtansprüchen ausstattet, führte dann in den kommenden ca. 1000 Jahren zu einer der größten Verfinsterungen in den westlichen (abendländischen) Ländern, sofern sie dem Einfluss der römischen Papstkirche unterlagen. Die römische Paptskirche verachtete die Welt (allerdings nicht, wenn es um ihre Besitztümer ging); sie verachtete Wissen; sie verachtete alle Menschen, die nicht Kleriker, Bischöfe oder Fürsten waren; sie verachtete den Staat und alle öffentlichen Einrichtungen; sie verachtete Andersdenkende und verfolgte sie mit dem Tode.

11. Erst als sich die westlichen Länder von dem absolutistischen menschen- und wissensverachtenden Zugriff der Papstkirche schrittweise befreien konnten, erst als Wissen, Technik, Handel wieder zu blühen begannen, erst dann entwickelten sich norditalienische Städte, westliche Universitäten, Handelsverbünde im Norden, neue Industrien und neue Gesellschaftsformen. Wohlgemerkt: erst als sich die Gesellschaft aus der menschenverachtenden tödlichen Umarmung der römischen Papstkirche löste! Vor diesem Hintergrund zu sagen, dass die politische EU wesentlich auf den christlichen Werten des christlichen Abendlandes beruhe, ist in einer Weise falsch, die nicht mehr zu überbieten ist. Ja, faktisch existiert die aktuelle (kleine) politische EU fast nur in den Ländern, die nach dem römischen Reich westlich-christlich geworden sind, aber sie existieren in der heutigen politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Verfassung nicht wegen der christlichen Vergangenheit, sondern TROTZ der christlichen Vergangenheit. Nur weil die heutigen westlich-christlichen Ländern mit Hilfe der griechisch-römischen Kultur, übermittelt durch die arabisch-islamische Kultur, aus der 1000 Jahre andauernden tödlichen Umarmung der römischen Papstkirche gelöst hatte, gibt es das neue, moderne, aufgeschlossene, menschenbejahende, wissensdurstige Europa.

12. Für viele wirken die heutigen Christen – auch das römische Papsttum – ‚zahm‘, ‚kompatibel‘ mit einer modernen demokratischen Gesellschaft. Betrachtet man das römische Papsttum aber näher, dann muss man feststellen, dass es sich nicht wirklich geändert hat. Es hat bis heute keinerlei Lehren aus der unrühmlichen Vergangenheit gezogen. Und ob die anderen christlichen Bekenntnisse wirklich viel ‚besser‘ sind, das ist eine letztlich offene Frage. Leider wird über Religion, über die Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit von Religionen öffentlich nicht mehr ernsthaft diskutiert. Für die einen sind die alten Religionen passé und für die anderen werden diese Institutionen weitgehend unwissend und unkritisch-naiv einfach übernommen; der normale Gläubige weiß in der Regel nichts von der wahren Geschichte Europas und seiner Religion. Er ist halt Christ der Richtung X oder Muslim oder Jude oder …, weil es halt immer so war, seine Eltern, seine Freunde, die Umgebung … Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, aber gedankliche Gleichgültigkeit für die Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit ist schlecht bis tödlich. Wenn Konflikte aufflammen wie heute wieder zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, bei die einen Religion X angehören, die anderen Religion Y, ist man schnell mit Verallgemeinerungen und Verteufelungen zur Hand, ohne die andere Position wirklich zu kennen. Alle diese Aufregungen wirken weitgehend scheinheilig, da sie in der Regel nicht dazu führen, dass man ernsthaft MITEINANDER redet, sondern immer nur GEGENEINANDER und ÜBEREINANDER.

13. Unterm Strich kann man sagen, dass es – schaut man in der Geschichte zurück und nimmt auch die Gegenwart war –für ein blühendes florierendes Gemeinwesen nicht notwendig ist, dass man zu einer bestimmten Religion gehört. Religionen können kompatibel sein mit einem blühenden Gemeinwesen (der Islam in der Zeit 700 – 1400, oder das Christentum der Neuzeit), aber diese kompatiblen Religionen sind nicht wirklich wichtig.

14. Schaut man die wichtigsten Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, Islam) an, dann muss man feststellen, dass sich die umgebenden Gesellschaften in einigen Teilen unserer Erde zwar trotz und gegen diese Religionen positiv weiter entwickelt haben, dass sie mehr und höhere Werte ausgebildet haben, als jede der drei Religionen jemals hatte, dass aber die Religionen selbst trotz dieser menschenfreundlichen und zukunftsbejahenden Gesellschaften in einer Geisteshaltung verharren, die rückwärtsgewandt ist, weitgehend menschen- und wissensverachtend. So gesehen sind die modernen Gesellschaften, die sich vom Einfluss der institutionalisierten Religionen freigekämpft haben, in ihrer Substanz ‚religiöser‘ als die, die sich religiös nennen. Schon einem Jesus von Nazareth werden die Worte in den Mund gelegt, dass man die wahren Propheten nicht an ihren Worten erkennt, sondern an ihren Taten. Und er hat durch unmissverständliche Beispiele deutlich gemacht, dass nicht die ‚fromm‘ sind, die ihre Rituale äußerlich verrichten, sondern jene, die den Menschen helfen, die real Hilfe brauchen, egal wer das ist. Man braucht auch keinen speziellen heiligen Ort, um zu beten, sondern man kann überall beten. Man braucht keine besonderen ‚Vermittler‘ (irgendwelche Kleriker, Priester und dergleichen mehr), sondern jeder kann jederzeit überall beten, alleine und zusammen. Gott ist dort, wo ein Mensch sein Herz öffnet und das tut, was jedem hilft, egal wer es ist. Wer in diesem Sinne lebensbejahend, aufrecht, lebt, besitzt deswegen keine besonderen Privilegien, heisst es doch das der ‚Größte‘ der ist, der allen am meisten ‚dient‘. Auch wird man deswegen nicht automatisch befreit von Leiden oder vom Sterben. Jesus von Nazareth ist gestorben wie alle anderen auch, wie jeder von uns sterben wird. Die modernen Gesellschaften haben mit ihren modernen Verfassungen und ihrer Lebensweise weit mehr von dieser fundamentalen Religiosität und den Grundwerten als alle die bekannten historischen Offenbarungsreligionen zusammen. Die wenigstens sind sich dessen allerdings bewusst. Die Wertschätzung für die ‚alten‘ Religionen ist sachlich gesehen sehr unangebracht.
15. [Anmerkung: Nach den obigen Kriterien für ‚rechten Glauben‘ ist der Islam mit Abstand ‚christlicher‘ als es die römische Papstkirche jemals war (was nicht heisst, dass es auch Menschen gibt, die den Begriff ‚Islam‘ missbrauchen können) ]

16. Würde heute ein Abraham, ein Jesus und ein Mohammed gleichzeitig leben, ich bin ziemlich sicher, dass sie den Kopf schütteln würden über das, was aus ihren Deutungsansätzen gemacht wurden, und ich bin sicher, sie würden die modernen demokratischen Lebensformen höher bewerten als alles andere, was da im Namen von Religionen bislang ausgedacht worden ist. Dies heißt nicht, dass die aktuellen demokratischen Lebensformen optimal sind, nein, auch hier beobachten wir, dass die verfügbare Macht heute Menschen genauso korrumpiert, wie sie dies schon in der Vergangenheit getan hat; dass heutige Regierungen und Großkonzerne genauso kontinuierlich gefährdet sind, nur ihre partiellen Interessen zu sehen statt das Gemeinwohl. Aber die demokratische Gesellschaftsform bietet transparenten Ansatzpunkte, mit diesen korrumpierenden Tendenzen offen und menschlich umzugehen, wenn sich alle ihrer Verantwortung als Menschen und für das Leben bewusst sind. Mehr denn je ist heute die Stunde von GANZ Europa, Morgenland und Abendland, und ein demokratisches Europa ist offen für eine wahrheits- und zukunftsfähige Weltgesellschaft.

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ZUM ‚KERNGESCHÄFT‘ VON WEIHNACHTEN

Letzte Änderung: Korrektur in Nr.8, 26.Dez.2013
Letzte Änderung: Neuer RUM-Song zum Thema am Schluss des Artikels

1) Kommen wir gleich zur Sache. Was immer wir heute mit ‚Weihnachten‘ verknüpfen (Familienfeste, Geschenke einkaufen, Gänsebraten, Weihnachtsmusik, Christbaum, Weihnachtsmann, Weihnachtspost, Christkind, Christmette, …..) alles geht irgendwie — und nicht immer klar nachvollziehbar — zurück auf die biblischen Texte über die Geburt Jesu.
2) In zwei Texten der sogenannten ‚Evangelien‘ (Lukas- und Matthäusevangelium) finden sich Abschnitte, die wie eine einheitliche ‚Geschichte‘ daherkommen.
3) Nach heutigem Wissenstand (Ausschnitt) wurden diese Texte viele Jahrzehnte NACH dem Tode des Menschen Jesus von Nazareth aufgeschrieben und noch viel später zur Sammlung der Texte des sogenannten ‚Neuen Testaments‘ hinzugefügt.
4) Aus den bisherigen wissenschaftlichen Analysen zu den sogenannten Weihnachtsgeschichten (Eine kleine Zusammenfassung findet sich hier) legt sich die Interpretation nahe, dass „… es sich um literarische Fiktionen handelt, mit denen die Gottessohnschaft Christi und sein Kommen in die Welt historisch und prophetisch glaubhaft gemacht werden sollen. Es solle vermittelt werden, dass es sich bei dem Gottessohn auf Erden ihrer Ansicht nach nicht um eine mythische Gestalt, sondern um eine wahrhaftig historische Gestalt gehandelt habe.“ (Wikipedia (DE)).
5) In den heutigen historisch-wissenschaftlich geschulten Ohren mag dies im ersten Moment ‚abwertend‘ klingen: ’nicht historisch‘, muss es aber nicht. Im Gegenteil, wenn deutlich wird, dass sich in diesen Formulierungen ein ‚Glaube‘ ausspricht, eine ’spezielle Sichtweise‘ auf die (höchst wahrscheinliche) historische Gestalt Jesus von Nazareth, dann wird dieser Glaube ’sichtbar‘, ‚anfaßbar‘, diskutierbar.
6) Dieser Glaube an Jesus als ‚Gottes Sohn‘ resultiert ja zunächst aus dem Leben und Sterben Jesu und den Erlebnissen, die die Menschen nach seinem Tod mit ihm verknüpft haben (Beispiel: das sogenannte ‚Bekehrungserlebnis‘ von Saulus zu Paulus). In den Jahrzehnten nach seinem Tode entstand und verbreitete sich die Überzeugung, dass er nicht nur ein Mensch gewesen ist, sondern zugleich auch der ‚Sohn Gottes‘. Im Lichte dieses entstehenden Glaubens wurden die Geburtstexte den Textsammlungen des Matthäus- und Lukasevangeliums hinzugefügt, quasi als ‚Erklärungen des Glaubens‘ zu den historischen Fakten. Dabei wurde — so erscheint es im Nachhinein — recht freizügig von allen möglichen historischen und alttestamentlichen Überlieferungen Gebrauch gemacht.
7) Dieser Glaube an die Gottesohnschaft Jesu von Nazareth wurde aber nicht nur in den Texten der Evangelien interpretierend eingebracht, sondern prägte die Diskussion in der damaligen Welt bis zum Konzil von Chalcedon 451. Auf diesem Konzil kam es dann zu einer Lehrentscheidung, die bis heute für die katholische, die orthodoxe, die evangelische und die anglikanische Kirche gleichermaßen ein Fundament des offiziellen kirchlichen Glaubens zur Person Jesu von Nazareth darstellt. Es finden sich darin Aussagen wie die, dass Jesus „wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch“ war, „derselbe, aus Vernunftseele und Leib, wesensgleich dem Vater der Gottheit nach, wesensgleich uns derselbe der Menschheit nach, in allem uns gleich außer der Sünde, vor Weltzeiten aus dem Vater geboren der Gottheit nach, in den letzten Tagen derselbe für uns und um unseres Heiles willen [geboren] aus Maria, der jungfräulichen Gottesgebärerin, der Menschheit nach“.(vgl. Wikipedia (DE)).
8) Der einzige Begriff in diesen Formulierungen, dem man eine fassbare Bedeutung geben könnte, wäre der einer ‚Geburt durch eine Jungfrau‘; da aber die sogenannten Geburtsgeschichten im Lichte der heutigen Erkenntnis einen späten, nicht-historischen Eintrag in die Texte über Jesus bilden, der mit starken Symbolen versucht, die Sicht des Glaubens in der realen Welt aufleuchten zu lassen, ist die Aussage über die Jungfräulichkeit der Mutter Jesu tendenziell eher theologisch interpretierend zu sehen und nicht historisch. Denn, ob die Mutter Jesu bei der Geburt tatsächlich Jungfrau war, wissen wir historisch nicht wirklich und würde eigentlich der Annahme des Dogmas, von Jesus als ‚ganzem Menschen (außer der Sünde)‘ eher weniger gerecht (außerdem kann die heutige Medizintechnik eine quasi Jungfrauengeburt vollbringen, so dass die Betonung einer Jungfrauengeburt ein Detail ist, was den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu eher behindert als befördert).
9) Alle anderen Begriffe wie z.B. ‚Gott‘, ‚Vernunftseele‘, ‚Vater der Gottheit‘, ‚Sünde‘ haben keinerlei fassbare Bedeutung (was kein Widerspruch zur Tatsache ist, dass es in diesen Jahrhunderte Texte gab, die diese Begriffe verwendet haben). Die ‚Formel von Chalcedon‘ ist daher als Ganze eher nichtssagend, es sei denn, man macht sich die Mühe, darüber nachzudenken und zu prüfen, ob man diesen Worthülsen irgendeinen ‚Sinn‘ verleihen könnte.
10) Für uns Menschen mit einem konkreten Körper bleiben zur Konstruktion möglicher Bedeutungen nur die Mittel, die wir haben. Hier beginnt dann Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Spiritualität.
11) Heute, 2013, wissen wir Anderes und denken wir Anders als in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung, bei aller Konstanz der zugrundeliegenden Prinzipien von Natur, Körper und Denken.
12) Während das Gespräch zur Frage, was der ‚Mensch‘ sei oder wer ‚Gott‘ sein könnte, in den vergangenen Zeiten mangels Wissen schnell zum Stillstand kommen musste, können wir heute deutlich mehr sagen, wenngleich vermutlich auch nur ein ‚Fragment‘, aber ein Fragment was erheblich umfangreicher, detaillierter ist und zudem eingebettet in eine historische Dimension, die vom ‚Beginn‘ der Entstehung des heute bekannten Universums bis in die Gegenwart reicht; aber nicht nur das, wir können sogar in bestimmten Punkten begründet über die Gegenwart hinaus ’schauen‘. Die biblischen Bilder der beiden alttestamentlichen Schöpfungsberichte wirken dagegen blass, naiv, irgendwie ‚kindlich‘, und können ihr ‚Nichtwissen‘ über die Welt, das Leben auf der Erde und ‚Gott‘ in keiner Weise verbergen. Dennoch sind sie Zeugnisse vom Willen der Menschen, in ‚Allem‘ einen möglichen ‚Zusammenhang‘ sehen zu können.
13) Die Summe des heutigen Wissens hat u.a. den eigentümlichen Effekt, dass wir unser eigenes individuelles Wissen, das im Gehirn stattfindet, mittlerweile nicht nur als ’subjektives Erleben‘ anschauen können, sondern mehr und mehr auch in seiner körperlichen Bedingtheit (das Gehirn berechnet aus den Körperdaten ein ‚Modell‘ des eigenen Körpers in einer räumlichen Welt) wie auch in seinem biologischen Gewordensein (biologische Evolution, dazu chemische Evolution, dazu physikalische Evolution…).
14) Wenn wir also heute über ‚Mensch‘ und ‚Gott‘ (und auch ‚Seele‘) sprechen wollen, dann können wir dies innerhalb des überwältigenden zeitlich-materiellen Prozessgeschehens, wo sich immer mehr alle Gegensätze aufzuheben scheinen: Materie ist eine Zustandsform von Energie, Geist ist eine Funktion von energetischen Zuständen, alles kommuniziert mit allem im quantenphysikalischen Raum, usw.
15) Der scheinbare ‚Ausverkauf‘ der alten Begriffe, ihr scheinbarer ‚Bedeutungsverlust‘, ist nur so lange ein Problem, als man sich an die alten Worthülsen wie ein Schiffbrüchiger des Verstehens klammert, anstatt den Blick hinzuwenden zu dem nahen Ufer des überbordenden Wissens eines werdenden Ganzen von unermesslichem Reichtum. Die Begriffe des Konzils von Chalcedon sind ‚leer‘ (Worthülsen), das heutige Wissen ist überbordend an möglichen Bedeutungen, nicht nur rein ‚begrifflich‘, sondern auch als ‚Realität‘, auch im möglichen ‚Erleben‘.
16) Dass es keinen wirklichen ‚Tod‘ geben kann, dass alles Leben Teil des großen Ganzen ist, dass ‚Gott‘ allem jederzeit ’nahe‘ ist, ‚erfahrbar‘ usw., ergibt sich heute aus der modernen Wissenschaft quasi als ‚Abfallprodukt‘; nur, wer will es wissen? Ist es nicht viel einfacher und schöner, seinen eigenen Lieblingsideen zu huldigen? Die kennt man, die sind ‚beherrschbar‘, die kann man nach Belieben manipulieren, die kann man nicht wirklich widerlegen…. Die große Angst, die Sicherheit sucht, scheint bereit zu sein, lieber Un-Sinn zu glauben, als in einer umfassenden Wahrheit die eigene Existenz neu zu finden. Ein Effekt von ‚Spiritualität‘ besteht darin, jenes existentielle Vertrauen in einem Menschen zu ermöglichen, das man benötigt, um aus der eigenen Lüge auszuziehen und in dem Haus der Wahrheit eine neue Wohnung zu finden.

Hier ist ein Song mit dem Titel Jesus and God. Dieser Song entstand auch nach der Methode ‚Radically Unplugged‘.

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