Archiv der Kategorie: Evolution – kulturelle

STUNDE DER ENTSCHEIDUNG – Ist irgendwie immer, aber manchmal mehr als sonst

PARIS IST ES NICHT

  1. Dass in dem Augenblick, in dem ich diese Zeilen schreibe, wenige Stunden zuvor wieder einmal Terroranschläge in Paris stattgefunden haben, die vielfach dem sogenannten Islamischen Staat zugerechnet werden (klare Informationen habe ich noch keine), ist eher Zufall. Dennoch gibt es möglicherweise einen Zusammenhang mit dem Thema dieses Blogeintrags. Der Leser möge sein eigenes Urteil bilden.

ENTSCHEIDUNGEN IM GROSSEN

  1. Die Formulierung Stunde der Entscheidung kann pathetisch klingen, je nachdem, wo und wie man solch eine Formulierung benutzt. Meist denkt man wohl an kriegerische Auseinandersetzungen, an Kriege zwischen Völker und Nationen, wenn es für alle Beteiligten um Sein oder Nichtsein ging. Das hatte dann schon etwas von Stunde der Entscheidung.

ENTSCHEIDUNGEN GANZ KLEIN

  1. Wenn man den Blick auf solch eine Sondersituation fokussiert, dann gerät man aber in Gefahr, den Blick für das Ganze zu verlieren. Das Ganze ist der Lebensprozess auf dieser Erde. Wir Menschen – das vergessen wir gerne – sind keine losgelösten Sonderwesen, die alleine auf diesem Planeten leben, die alleine über das Schicksal des Lebens auf diesem Planeten entscheiden. Nein. Nichts falscher als dieses. Wir Menschen, jeder einzelne Menschen, JEDER!, bilden eine Lebensform, die in der Kooperation von ca.37 Billionen (= 10^12) einzelnen Zellen besteht. 37 Billionen! (zum Vergleich, man schätzt, dass die Milchstraße, unsere Heimatgalaxie, ca. 100 Milliarden (= 10^9) Sonnen umfasst). Und das ist noch nicht alles. Man schätzt, dass IN unserem Körper nochmals ca. 100 Milliarden (=10^9) Bakterien leben, und auf unserer Haut ca. 220 Milliarden. Diese alle zusammen bilden eine Lebensgemeinschaft, die dafür sorgt, dass wir Körperfunktionen haben, das wir uns ernähren können, dass wir denken können, dass wir in dieser Welt voller Bakterien überhaupt existenzfähig sind. Ohne diese Bakterien würden wir innerhalb von Stunden zugrunde gehen, elendig, hilflos.

(Anmerkung: Alle Informationen zu den Mikroben habe ich dem Buch von Kegel entnommen (s.u.), das ich hier im Blog auch noch ausführlich besprechen werde).

  1. Jede einzelne dieser Zellen ist so komplex, dass ein modernes Lehrbuch über die Zelle 1342 engbedruckte Seiten umfasst, und man nach der Lektüre von diesen 1342 Seiten wissen kann, dass viele wichtige Fragen – vielleicht sogar die wichtigsten? – noch unbeantwortet sind. Klar ist aber, dass jede einzelne Zelle in jedem Moment der Ort von Entscheidungen ist, von vielen Entscheidungen gleichzeitig, die alle darüber entscheiden, wird das Leben in den nächsten Minuten noch stattfinden oder nicht. Also, in jeder Sekunde, nein, in jeder Millisekunde, haben wir 37*10^12 * 100*10^19 * 220*10^9 Zellen und Bakterienorte, in denen jeweils mehr als eine Entscheidung gefällt wird, was als nächstes geschehen wird. Dort, wo diese Entscheidungen geschehen, sind sie unabhängig voneinander, aber in ihrem Effekt zeigen sie, dass sie auf wunderbare Weise aufeinander abgestimmt sind! Wenn wir sagen, dass wir gesund und leistungsfähig sind, dann sind alle diese 37*100* 220* 10^12 * 10^19 *10^9 = 814*10^43 Entscheidungsbereiche so aufeinander abgestimmt, dass wir subjektiv das Gefühl haben, alles ist OK, alles ist perfekt, alles ist gut.
  2. Zum Vergleich, ein Weltkonzern wie Siemens hatte im März 2015 ca. 342.000 Mitarbeiter, also 342 * 10^3 menschliche Entscheidungsbereiche. Wenn man sieht, wie schwer sich solch ein Weltkonzern mit einer Komplexität von 10^3 Entscheidungsbereichen tut, alles miteinander gut laufen zulassen, welcher Aufwand getrieben wird, wie viel Misskommunikation stattfindet, wie viele Pannen, dann kann man – aber nur sehr schwach und dunkel – erahnen, was es bedeutet, dass jeder einzelne Mensch eine Komplexität von 10^43 aufweist; ehrlicherweise entzieht sich dies unser Vorstellungskraft. Die Menge der Gegenstände, die wir mit unserem Gehirn bewusst gleichzeitig denken können, liegt in der Größenordnung von 4-9 Auch bei einem Nobelpreisträger!!!
  3. Laut dem statistischen Bundesamt waren von allen Arbeitnehmern in Deutschland 2014 offiziell 9,5 Tage krank gemeldet . Bezogen auf 365 Tage im Jahr sind dies 2.6% eines Jahres. Also, unser unvorstellbares Gebilde von 814*10^43 Mikroentscheidungsbereichen unseres Körpers hat eine – bezogen auf die Arbeitsfähigkeit – Ausfallrate von 2.6%. Wenn wir bedenken, dass wir bis heute nicht in er Lage sind, auch nur eine einzige Zelle selbst komplett herzustellen (wir benutzen dafür das Knowhow der Zellen, die sich selbst reproduzieren können), geschweige denn verstehen, wie man solch komplexe Gebilde mit einer Komplexität von 814*10^43 herstellen würde (obwohl jede Zeugung eines Menschen mit Geburt und anschließendem Wachstum den Eindruck erweckt, wir sind zumindest am Geschehen beteiligt), dann erleben wir in jedem Augenblick ein Ereignis-Wunderwerk, das sich unserem wissenschaftlichen Verstehen bislang weitestgehend entzieht. Immerhin gewinnen wir immer mehr erste Einblicke, durch die wir überhaupt merken (wer merkt es wirklich?), mit welch ungeheuerlichen Sache wir es hier zu tun haben.

PLANET DER MIKROBEN

  1. Würde man jetzt anfangen zu rechnen, wie viele Zellen und Bakterien es auf der Erde gibt, mit dem Wissen, das Bakterien sich sowohl viele Kilometer tief im Boden, im Meer, unterm Meer, in der Luft über uns vorfinden (mit vielen Milliarden pro Gramm Boden), dann kann man irgendwie erahnen, dass es eine ungeheuer große Zahl sein muss. Und es gibt keine Lebensform auf der Erde, weder bei den pflanzlichen noch den tierischen, die zu ihren elementaren Funktionen nicht Bakterien benötigt, und zwar immer sehr, sehr viele. Die Erde ist in erster Linie ein Planet der Bakterien, genauer der Mikroben, da man in der heutigen Wissenschaft neben den Bakterien noch die  Archaea kennt.
  2. Alle komplexeren Lebensformen, jene, die wir mit unseren Sinnesorganen direkt wahrnehmen können, sind letztlich Konstruktionen unter Verwendung der einfachen Strukturen (Eukaryoten, Bakterien, Archaea). Selbst das Gehirn, beim Menschen der Sitz von Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Sprechen, Bildverstehen, Emotionen, Gefühlen usw. ist nah besehen nichts anderes als eine Ansammlung von ca. 100 Milliarden Gehirnzellen (plus vieler weiterer Hilfszellen), die jede für sich ist. Die einzeln Zelle weiß in gewisser Weise nichts von all den anderen. Und doch kooperieren diese Zellen im Millisekundenbereich miteinander auf eine Weise, die uns, die wir solch ein Gehirn haben, den Eindruck erwecken, als ob wir Objekte im Raum sehen mit Formen, Farben, verschiedenen Positionen, wir hören Laute, wir betasten Gegenstände, wir haben gerade mal keinen Hunger aber vielleicht Durst, … das Gehirn bietet uns einen Raum des Bewusstseins, angefüllt mit Phänomenen. Und dies leisten diese 100 Milliarden einzelne Zellen, die nichts voneinander wissen. Die Neurowissenschaften, die bislang viele wunderbare Eigenschaften über das Gehirn herausgefunden haben, können bislang aber nicht wirklich erklären, woher und wie diese 100 Milliarden Zellen + X weitere Zellen es wissen, was zu tun ist.

WIE IST DAS MÖGLICH?

  1. Wie gesagt, das was wir sind, jeder einzelne von uns, ist so ungeheuerlich, so unfassbar, dass man sich – aktuell, momentan – kaum vorzustellen vermag, wie es möglich ist, dass es uns (und all die anderen unfassbaren Lebensformen) tatsächlich gibt, so gibt, wie wir uns vorfinden.
  2. Wunderbarerweise hat die Wissenschaft seit ca. der Mitte des 19.Jh immer mehr einzelne Fakten entdeckt, gesammelt, in Beziehung gesetzt, so dass wir heute davon ausgehen müssen, dass die Geschichte dieser Mikroben vor etwa 4 Milliarden Jahren begonnen zu haben scheint. Zu Beginn gab es noch keinen Sauerstoff, der heute so allgegenwärtig erscheint und ohne den die meisten Lebensformen nicht existieren könnten. Alle ersten Lebensformen kamen ohne Sauerstoff aus; es waren di Cyanobakterien, die als erste und einzige ein Verfahren zur Fotosynthese ‚erfunden‘ haben, das als Abfallprodukt Sauerstoff freisetzt. Dies begann vor ca. -3 Milliarden bis – 2.7 Milliarden Jahren, und setzte einen Prozess in Gang, der schrittweise, das Meer und die Atmosphäre nachhaltig veränderte. Die neuen Oxidationsprozesse erzeugten massive Treibhausgase, die u.a. zur Totalvereisung der Erde (Huronische Eiszeit) führten, die mehrere hundert Millionen Jahre gedauert hat.
  3. Vor ca. -1.45 bis -1.85 Milliarden kamen dann die eukaryontischen Zellen ins Spiel, die schon auf der Basis von Sauerstoff operierten. Zwischen -0.6 Milliarden und -0.85 Milliarden finden sich dann die ersten Vielzeller. Sehr trockene Fakten für ein kosmologisches Drama der Sonderklasse. Das biologische Leben als Ganzes hat die Qualität einer kosmologischen Singularität (unter anderem gilt: es funktioniert als Entropiekonverter, für den es keine bekannten physikalischen Gesetze gibt; für deren Auftreten es keinen bekannten Grund gibt; der Vorgang besitzt eine implizite anwachsende Komplexität; er ist irreversibel).

DNA ALS INFORMATION

  1. Sind alle diese Fakten schon atemberaubend, so erleben wir in unserer Gegenwart, seit ca. 50-60 Jahren einen Prozess, der das Zeug dazu hat, zu einem weiteren Meilenstein der Evolution beitragen zu können.
  2. Bislang in den vier Milliarde Jahren Leben auf dem Planet Erde hat das Leben sich dadurch behauptet und weiter entwickelt, dass es in der Lage war, Moleküle (DNA) dazu zu benutzen, um Bauprozesse und Ablaufprozesse in Form von chemischen Verbindungen zu kodieren und wieder zu dekodieren. Diese revolutionäre Erfindung von Information im Vollsinn (zum Vergleich, der heute vielfach benutzte sogenannte Informationsbegriff von Shannon deckt nur einen Teilbereich von Information ab; Shannon selbst war sich dieses Sachverhalts voll bewusst!) war – im Nachhinein betrachtet – mit Abstand die wichtigste aller Innovationen, die das Leben auf diesem Planeten auszeichnet. Denn nur dadurch konnte Evolution überhaupt stattfinden. Was immer der Selbstreproduktionsmechanismus leistete, nur durch die Einbeziehung einer Informationsstruktur, die aktuelle ‚Anweisungen‘ speicherte, konnten sich die verschieden – weitgehend zufällig erzeugten Änderungen – in der Gesamtheit erfolgreicher Bauteine ‚erhalten‘ und damit sich zu den Bauplänen von Leben entwickeln, die wir heute vorfinden und partiell kennen.
  3. Eine Theorie der Welt, die nur die bekannten physikalischen Gesetze berücksichtigen würde, wäre angesichts der biologischen Phänomene, wesentlich unvollständig (wobei die heutige Physik ja auch in sich selbst unvollständig und widersprüchlich ist und bezogen auf bekannte empirische Phänomene wie ‚dunkler Materie‘ bzw. ‚dunkler Energie‘ nicht einmal die leiseste Idee hat, wie sie damit umgehen soll).

JENSEITS DER DNA

  1. Nimmt man die biologischen Phänomene ernst, nimmt man diesen Selbstreproduktionsmechanismus mit dem vollen Informationsmechanismus im Kern ernst, dann erleben wir mit dem Auftreten von Gehirnen generell und mit dem Auftreten spezieller Technologien seit dem letzten Jahrhundert etwas Besonderes.
  2. Mit dem Auftreten der Gehirne, speziell dem Gehirn des homo sapiens (dazu werden wir gezählt), kommt eine neue Qualität ins Spiel. Während die in der DNA kodierte Information im Prinzip ‚fest‘ ist (obgleich wir heute gelernt haben, dass es ’nicht ganz fest‘ ist, Stichwort Epigenetik), können Gehirne ad hoc lernen, speziell können sie von der Wirklichkeit abstrahieren und in Echtzeit Modelle/ Theorien über mögliche Strukturen und Zusammenhänge der Wirklichkeit bauen. Insbesondere können sie mittlerweile auch die Gehirne selbst bzw. die DNA aller Lebewesen untersuchen, modellieren, simulieren, verändern, und experimentell die Veränderungen ausprobieren. Die aktuellen Lebensformen (und hier wieder speziell und ausschließlich der homo sapiens) können also erstmalig nach vier Milliarden Jahren den bisherigen DNA-gesteuerten Evolutionsprozess erweitern zu einem DNA-Gehirn-Computer-gesteuerten Evolutionsprozess, der die Entwicklung begrenzt beschleunigen kann.

EVOLUTIONSSPRUNG?

  1. Dies ist klar ein strukturelles Ereignis im Evolutionsprozess, das markant ist. Neben der Erfindung der DNA als generischem Informationsträger (vor mehr als 4 Milliarden Jahren) und dem Gehirn als erweiterter adaptiver Meta-Informationsstruktur (seit etwa -0.6 Milliarden Jahren) findet diese Rückanwendung von Gehirnerkenntnissen auf die Trägerstrukturen erst jetzt langsam in der Gegenwart statt (vor ca. 0 Jahren). Wenn man will, kann man darin eine Form von Beschleunigung erkennen.
  2. Was sich jetzt aber anzudeuten beginnt, ist ein Problem, das bislang eher verdeckt war, nun aber nicht mehr weiter unter der Decke gehalten werden kann: die Frage nach dem Wohin!

WOHIN?

  1. Solange das biologische Leben nur mit der DNA als steuernder Information gearbeitet hat, gab es zwei Komponenten: (i) Der Mechanismus des Kopierens und (zufälligen) Variierens im Bereich der informatorischen Kombinationsmöglichkeiten und der physikalisch-chemischen Realisierung; (ii) das Referenzsystem Erde, das nur solche ‚Entwicklungen‘ hat überleben lassen, die zu den jeweils aktuellen Lebensbedingungen der Erde (die sich im Laufe der vier Milliarden Jahre z.T. dramatisch geändert hatten) gepasst haben. D.h. alles, was sich bis heute entwickeln konnte, basiert auf den Erfolgen der Vergangenheit unter den Bedingungen der konkreten Erde.
  2. Im Rahmen unseres neuen Erkennens und Verstehens kann man sich aber – zumindest symbolisch-theoretisch – von den gesetzten Bedingungen der Erde frei machen, und die generelle Frage stellen, was das Ganze überhaupt soll? Geht es nur um Optimierung von Energiegewinnung und -nutzung? Geht es nur um immer bessere Kooperation und Koordinierung und damit um immer mehr Komplexität? Geht es nur um ein Leben auf der Erde (bis zur Ausdehnung der Sonne und dem Anstieg der Temperaturen haben wir ca. 1 Milliarde Jahre noch Zeit) oder auch um weitere Räume? Kann es nicht sogar noch ganz andere Lebensformen geben, auch für uns homo sapiens, für alle Zellen?
  3. Viele neue interessante radikale Fragen, die sich jetzt mit neuer Realität, mit neuer Wucht stellen. Fragen, die uns alle betreffen.

WER KANN ANTWORTEN?

  1. Schaut man sich dann Tagesereignisse an, dann erleben wir hier eine bizarre Ungleichzeitigkeit: auf der einen Seite steuert die Evolution durch die Erfolge des homo sapiens real auf einen neuen qualitativen Evolutionssprung zu, auf der anderen Seite erleben wir, wie in vielen Ländern dieser Welt ein Denken neue Macht gewinnt, das weder von der modernen Wissenschaft noch von den kulturellen Entwicklungen der letzten 10.000 Jahren Kenntnis zu haben scheint.
  2. Wenn Mitglieder des IS von sich behaupten, dass sie Muslime sind, dann muss man ernsthaft fragen, was sie überhaupt vom Islam wissen? Mag sein, dass sie Verse aus dem Koran zitieren können (das können heute schon die meisten Roboter), aber daraus folgt nicht, dass sie irgendetwas von dem Islam verstanden haben. Nicht nur hatte der Koran selbst, was man wissen kann, eine eigene dynamische Entstehungsgeschichte, in die unterschiedliche Überlieferungen und Interpretationen mit eingeflossen sind, sondern die Geschichte des Islams ist bunt, reich, vielschichtig und hatte Gesamteuropa in der Zeit 700 – 1400 eine Blütezeit geschenkt, die mit zu dem Größten zählt, was die europäische Kultur damals hervorgebracht hatte. Nicht nur lebte der Islam damals mit allen Religionen friedlich zusammen, sondern der Islam war u.a. die treibende Kraft in den Wissenschaften, und zwar auf allen Gebieten. Die größten Philosophen, Theologen und Wissenschaftler jener Zeit waren Muslime, und es gab für einen Muslim keine größere Ehre, als das Wissen der ganzen Welt zu sammeln, Übersetzungen anfertigen zu lassen, Bibliotheken für alle einzurichten, Schulen für alle, Krankenhäuser, medizinische Forschung und vieles mehr. Zur gleichen Zeit boten die westlichen christlichen Ländern ein Bild des Jammerns, wissenschaftsfeindlich, kein Sinn für das Gemeinwohl, keine Schulen, keine Bibliotheken usw.
  3. So, wie es auch im Christentum zu allen Zeiten unterschiedliche Strömungen gab, und sich nicht unbedingt die durchgesetzt haben, die am meisten christlich waren, so gab und gibt es auch im Islam unterschiedliche Strömungen. Eine sehr starke Strömungen heute, der Wahabismus, nimmt für sich (wie es jede Sekte tut), in Anspruch den wahren Islam zu vertreten. Aber wenn man den Koran und die Geschichte des Islams ernst nimmt, gibt es wenig Grund, warum man diesen Anspruch ernst nehmen sollte, außer, dass Wahabiten alle umbringen, die ihren Anspruch nicht akzeptieren. Eine solche Einstellungen widerspricht allen elementaren Erkenntnissen über den Menschen, über die Welt und widerspricht – soweit ich sehe – den meisten großen islamischen Philosophen und Theologen.
  4. Bedenkt man aber, wie wenig Christen einer Papstkirche widersprechen, wie wenig Juden den orthodoxen Juden in Israel widersprechen, dann sollte es uns auch nicht wundern, dass so wenig Muslime sich gegen den Wahabismus erheben. Eine Religion hat nur drei Wahrheitsquellen: die direkte Begegnung mit Gott, die Liebe zum Leben und die Wissenschaft. Wer eines davon ausschließt (und die Wahabiten schließen – so wie sie sich darstellen – alle drei Quellen aus) kann schwerlich zu einer lebendigen Religion finden, die das Leben von innen heraus liebt und fördert.
  5. Zurück zur Wertefrage: Wohin überhaupt? Die Wissenschaft ist heute an den Punkt gekommen, wo sich mehr und mehr die Wertefrage radikal stellen muss. Die Wissenschaft als solche ist aber nicht auf Ethik und Philosophie oder noch weitergehende Fragen eingestellt. Sie macht ihren Job als Sachklärerin, das macht sie bislang leidlich gut, aber mehr ist nicht drin. Was aber nun? Wenn kann man fragen?
  6. Wir alle sind gefragt.

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QUELLEN

Bernhard Kegel, Die Herrscher der Welt. Wie Mikroben unseer Leben bestimmten, Köln: DuMont, 2015

IST DIE SELBSTVERSKLAVUNG DER MENSCHEN UNTER DIE MASCHINEN EVOLUTIONÄR UNAUSWEICHLICH?

  1. In diesem Blog gab es in der Vergangenheit schon mehrere Einträge (z.B. den ersten großen Beitrag Kann es doch einen künstlichen Geist geben?), die sich mit der Frage beschäftigt haben, inwieweit Maschinen die Lernfähigkeit und die Intelligenz von Menschen erreichen oder sogar übertreffen können.
  2. In vielen wichtigen Punkten muss man diese Frage offensichtlich bejahen, obgleich es bis heute keine Maschine gibt, die das technische Potential voll ausnutzt.
  3. Umso bemerkenswerter ist es, welche Wirkungen Maschinen (Computer) auf die Gesellschaft erzielen können, obgleich sie noch weitab von ihrem Optimum agieren.
  4. In einem Blogeintrag anlässlich eines Vortrags Über Industrie 4.0 und Transhumanismus. Roboter als Volksverdummung? Schaffen wir uns selbst ab? hatte ich noch eine grundsätzlich positive Grundstimmung bzgl. dessen, was auf uns zukommt. Ich schrieb damals:
  5. Das Ganze endet in einem glühenden Plädoyer für die Zukunft des Lebens in Symbiose mit einer angemessenen Technik. Wir sind nicht das ‚Endprodukt‘ der Evolution, sondern nur eine Durchgangsstation hin zu etwas ganz anderem!
  6. Mittlerweile beschleicht mich der Verdacht, dass wir aktuellen Menschen die nächste Phase der Evolution möglicherweise unterschätzen.
  7. Auslöser war der persönliche Bericht eines Managers in einem weltweiten IT-Konzern, der – von Natur aus ein Naturwissenschaftler, ‚knochentrocken‘, immer sachlich, effizient – zum ersten Mal nach vielen Jahren Ansätze von Emotionen zeigte, was die Entwicklung seiner Firma angeht. Die Firma (und nicht nur diese Firma, s.u.) entwickelt seit vielen Jahren ein intelligentes Programm, das eine Unzahl von Datenbanken auswerten kann, und zwar so, dass die Anfrage von Menschen ‚interpretiert‘, die Datenbanken daraufhin gezielt abgefragt und dem anfragenden Menschen dann mitgeteilt werden. Das Ganze hat die Form eines passablen Dialogs. Das Verhalten dieses intelligenten Programms ist mittlerweile so gut, dass anfragende Menschen nicht mehr merken, dass sie ’nur‘ mit einer Maschine reden, und dass die Qualität dieser Maschine mittlerweile so gut ist, dass selbst Experten in vielen (den meisten?) Fällen schlechter sind als diese Maschine (z.B. medizinische Diagnose!). Dies führt schon jetzt dazu, dass diese Beratungsleistung nicht nur nach außen als Dienstleistung genutzt wird, sondern mehr und mehr auch in der Firma selbst. D.h. die Firma beginnt, sich von ihrem eigenen Produkt – einem in bestimmtem Umfang ‚intelligenten‘ Programm – ‚beraten‘ (und damit ‚führen‘?) zu lassen.
  8. Wenn man sich in der ‚Szene‘ umhört (man lese nur den erstaunlichen Wikipedia-EN-Eintrag zu deep learning), dann wird man feststellen, dass alle großen global operierenden IT-Firmen (Google, Microsoft, Apple, Facebook, Baidu und andere), mit Hochdruck daran arbeiten, ihre riesigen Datenbestände mit Hilfe von intelligenten Maschinen (im Prinzip intelligenten Algorithmen auf entsprechender Hardware) dahingehend nutzbar zu machen, dass man aus den Nutzerdaten nicht nur möglichst viel vom Verhalten und den Bedürfnissen der Nutzer zu erfahren, sondern dass die Programme auch immer ‚dialogfähiger‘ werden, dass also Nutzer ’natürlich (= menschlich)‘ erscheinende Dialoge mit diesen Maschinen führen können und die Nutzer (= Menschen) dann zufrieden genau die Informationen erhalten, von denen sie ‚glauben‘, dass es die ‚richtigen‘ sind.
  9. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob die Manager dieser Firmen dank ihrer überlegenen Fähigkeiten die Firmen technologisch aufrüsten und damit zum wirtschaftlichen Erfolg führen.
  10. Tatsache ist aber, dass allein aufgrund der Möglichkeit, dass man ein bestimmtes Informationsverhalten von Menschen (den aktuellen ‚Kunden‘!) mit einer neuen Technologie ‚bedienen‘ könnte, und dass derjenige, der dies zu ‚erschwinglichen Preisen‘ als erster schafft, einen wirtschaftlichen Erfolg erzielen kann (zu Lasten der Konkurrenz), diese rein gedachte Möglichkeit einen Manager zwingt (!!!), von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Tut der Manager es nicht läuft er Gefahr, dass die Konkurrenz es tut, und zwar vor ihm, und dass er dadurch möglicherweise auf dem Markt so geschwächt wird, dass die Firma sich davon u.U. nicht mehr erholt. Insofern ist der Manager (und die ganze Firma) ein Getriebener (!!!). Er kann gar nicht anders!
  11. Das, was den Manager ‚treibt‘, das ist die aktuelle technische Möglichkeit, die sich aufgrund der bisherigen technischen Entwicklung ergeben hat. Für die bisherige technische Entwicklung gilt aber für jeden Zeitpunkt die gleiche Logik: als die Dampfmaschine möglich wurde, hatte nur noch Erfolg, wer sie als erster und konsequent eingesetzt hat; als die Elektrizität verfügbar, nicht anders, dann Radio, Fernsehen, Auto, Computer, ….
  12. Die ‚Manager‘ und ‚Unternehmensgründer‘, die wir zurecht bewundern für ihre Fähigkeiten und ihren Mut (nicht immer natürlich), sind trotz all dieser hervorstechenden Eigenschaften und Leistungen dennoch nicht autonom, nicht freiwillig; sie sind und bleiben Getriebene einer umfassenderen Logik, die sich aus der Evolution als Ganzer ergibt: die Evolution basiert auf dem bis heute nicht erklärbaren Prinzip der Entropie-Umkehr, bei dem freie Energie dazu genutzt wird, den kombinatorischen Raum möglicher neuer Zustände möglichst umfassend abzusuchen, und in Form neuer komplexer Strukturen in die Lage zu versetzen, noch mehr, noch schneller, noch effizienter zu suchen und die Strukturen und Dynamiken der vorfindlichen Welt (Universum) darin zu verstehen.
  13. Während wir im Falle von Molekülen und biologischen Zellen dazu tendieren, diese eigentlich ungeheuren Vorgänge eher herunter zu spielen, da sie quasi unter unserer Wahrnehmungsschwelle liegen, wird uns heute vielleicht dann doch erstmalig, ansatzweise, etwas mulmig bei der Beobachtung, dass wir Menschen, die wir uns bislang für so toll halten, dazu ganze riesige globale Firmen, die für Außenstehende beeindruckend wirken und für Firmenmitglieder wie überdimensionale Gefängnisse (? oder Irrenanstalten?), dass wir ‚tollen‘ Menschen also ansatzweise spüren, dass die wahnwitzige Entwicklung zu immer größeren Metropolen und zu immer intelligenteren Maschinen, die uns zunehmen die Welt erklären (weil wir es nicht mehr schaffen!?), uns dies alles tun lassen, weil der einzelne sich machtlos fühlt und die verschiedenen Chefs auf den verschiedenen Hierarchieebenen total Getriebene sind, die ihre Position nur halten können, wenn sie hinreichend effizient sind. Die Effizienz (zumindest in der freien Wirtschaft) wird jeweils neu definiert durch das gerade Machbare.
  14. Politische Systeme haben zwar immer versucht – und versuchen es auch heute – sich ein wenig vor dem Monster der Innovation abzuschotten, aber dies gelingt, wenn überhaupt, in der Konkurrenz der Gesellschaftssysteme nur für begrenzte Zeiten.
  15. Was wir also beobachten ist, dass die immense Informationsflut, die das einzelne Gehirn hoffnungslos überfordert, Lösungen mit intelligente Maschinen auf den Plan ruft, die das Sammeln, Sortieren, Klassifizieren, Aufbereiten usw. übernehmen und uns Menschen dann auf neue Weise servieren. So betrachtet ist es hilfreich für alle, nützlich, praktisch, Lebensfördernd.
  16. Beunruhigend ist einmal die Art und Weise, das Wie: statt dass es wirklich allen hilft, hat man den Eindruck, dass es die globalen Konzerne sind, die einseitig davon Vorteile haben, dass das bisherige Ideal der Privatheit, Freiheit, Selbstbestimmung, Würde usw. aufgelöst wird zugunsten einer völlig gläsernen Gesellschaft, die aber nur für einige wenige gläsern ist. Demokratische Gesellschaften empfinden dies u.U, stärker als nicht-demokratische Gesellschaften.
  17. Beunruhigend ist es auch, weil wir als Menschen erstmalig merken, dass hier ein Prozess in Gang ist, der eine neue Qualität im Verhältnis Mensch – Technik darstellt. In primitiveren Gesellschaften (und auch noch in heutigen Diktaturen) war es üblich , dass wenige Menschen die große Masse aller anderen Menschen quasi ‚versklavt‘ haben. Unter absolutistischen Herrschern hatten alle einem Menschen zu gehorchen, ob der nun Unsinn redete oder Heil verkündete. Nach den verschiedenen demokratischen Revolutionen wurde dieser Schwachsinn entzaubert und man wollte selbst bestimmen, wie das Leben zu gestalten ist.
  18. In der fortschreitenden Komplexität des Alltags merken wir aber, dass das sich selbst Bestimmen immer mehr vom Zugang zu Informationen abhängig ist und von der kommunikativen Abstimmung mit anderen, die ohne erheblichen technischen Aufwand nicht zu leisten sind. Die dazu notwendigen technischen Mittel gewinnen aber im Einsatz, im Gebrauch eine solche dominante Rolle, dass sie immer weniger nur die neutralen Vermittler von Informationen sind, sondern immer mehr ein Eigenleben führen, das sich ansatzweise und dann immer mehr auch von denen abkoppelt, die diese vermittelnden Technologien einsetzen. Kunden und Dienstleister werden werden gleichzeitig abhängig. Wirtschaftlich können die Dienstleister nicht mehr dahinter zurück und lebenspraktisch ist der Verbraucher, der Kunde immer mehr von der Verfügbarkeit dieser Leistung abhängig. Also treiben beide die Entwicklung zu noch größerer Abhängigkeit von den intelligenten Vermittlern voran.
  19. Eine interessante Entwicklung als Teil der übergreifenden Evolution. Wo führt sie uns hin?
  20. Die Frage ist spannend, da die heute bekannten intelligenten Maschinen noch weitab von den Möglichkeiten operieren, die es real gibt. Die Schwelle ist bislang die Abhängigkeit von den begrenzten menschlichen Gehirnen. Unsere Gehirne tun sich schwer mit Komplexität. Wir brauchen Computer, um größere Komplexität bewältigen zu können, was zu noch komplexeren (für uns Menschen) Computern führt, usw. Dabei haben wir noch lange nicht verstanden, wie die etwa 200 Milliarden einzelne Nervenzellen in unserem Gehirn es schaffen, im Millisekundenbereich miteinander so zu reden, dass all die wunderbaren Leistungen der Wahrnehmens, Denkens, Erinnerns, Bewegens usw. möglich sind.
  21. Heutige Computer haben mittlerweile eine begrenzte lokale Lernfähigkeit realisiert, die ihnen den Zugang zu begrenzter Intelligenz erlaubt. Heutige Computer sind aber weder im lokalen wie im strukturellen voll Lernfähig.
  22. Einige meinen, dass die Zukunft im Sinne von technischer-Singularität zu deuten ist, dass die intelligenten Maschinen dann irgendwann alles übernehmen. Ich wäre mir da nicht so sicher. Das Hauptproblem einer vollen Lernfähigkeit ist nicht die Intelligenz, sondern die Abhängigkeit von geeigneten Präferenzsystemen (Werte, Normen, Emotionen, Bedürfnissen, …). Dieses Problem begegnen wir beim Menschen auf Schritt und Tritt. Die vielen Probleme auf dieser Welt resultieren nicht aus einem Mangel an Intelligenz, sondern aus einem Mangel an geeigneten von allen akzeptierten Präferenzsystemen. Dass Computer die gleichen Probleme haben werden ist den meisten (allen?) noch nicht bewusst, da die Lernfähigkeit der bisherigen Computer noch so beschränkt ist, dass das Problem nicht sichtbar wird. Sobald aber die Lernfähigkeit von Computern zunehmen wird, wird sich dieses Problem immer schärfer stellen.
  23. Das einzige wirklich harte Problem ist jetzt schon und wird in der Zukunft das Werteproblem sein. Die bisherigen Religionen haben unsere Blicke mit vielen falschen Bildern vernebelt und uns im Glauben gelassen, das Werteproblem sei ja gelöst, weil man ja an Gott glaubt (jede Religion tat dies auf ihre Weise). Dieser Glaube ist aber letztlich inhaltsleer und nicht geeignet, die realen Wertprobleme zu lösen.
  24. Man kann nur gespannt sein, wie die Menschheit als Teil des umfassenden Lebensphänomens mit einer immer leistungsfähigeren Technik auf Dauer das Werteproblem lösen wird. Die einzige Hoffnung ruht in der Logik des Prozesses selbst. Der Mensch in seiner unfassbaren Komplexität ist ein Produkt der Evolutionslogik; wir selbst sind weit entfernt davon, dass wir etwas Vergleichbares wie uns selbst schaffen könnten. Darf man also darauf vertrauen, dass die in allem Leben innewohnende Logik der Evolution uns Menschen als Werkzeuge benutzt zu noch mehr Komplexität, in der wir alle kleine Rädchen im Ganzen sind (als was erscheint uns  ein einzelner Mensch in einer 30-Millionen Metropole?)

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WEISHEIT ALS REVOLUTIONÄRER BEGRIFF FÜR EINE ZUKUNFTSFÄHIGE WELT? MEMO philosophieWerkstatt v2.0 VOM Sonntag, 8.März 2015, 16:00 – 19:00h IN DER DENKBAR

MEMO zur philosophieWerkstatt v2.0 VOM Sonntag, 8.März 2015, 16:00 – 19:00h IN DER DENKBAR

PROGRAMM

Soundexperiment
Einführung ‚Weisheit‘
Gesprächsrunde

SOUNDEXPERIMENT

Bei diesem philosophisch motivierten Klangexperiment wurde dieses Mal eine Folge von Bildern mit einem Soundtrack korreliert. Aufgrund der knapp bemessenen Zeit wurde das Experiment verkürzt auf die Momente ‚Bilder ohne Klang‘ und dann ‚Bilder zusammen mit einem Soundtrack‘ (Wer es nachhören/-sehen möchte kann dies hier tun: BigBen, Wales, Translation-Wilderness. Der ursprüngliche Titel, der auch in der Philosophiewerkstatt benutzt wurde, hiess ‚Wale und die Ringe des Saturn‘.) Erst im Anschluss an eine Gesprächsrunde stellte dann der Künstler cagentArtist Hintergrundinformationen zu den benutzten Materialien zur Verfügung, den angewendeten Methoden und die ‚Idee der Aussage‘, wie sie sich nach drei Jahren darstellt: Die Wale im Ozean, in einer fremden Klangwelt, die hart, unerbittlich, zerstörerisch ist, eingebettet in die blaue Mystik des Meeres und der Walgesänge. Unsere menschenerzeugten Geräusche bilden für die Wale ein unerträgliches, fremdes, tödliches Chaos. Ein wenig kann man dies rleben, wenn man sich dem Stück tatsächlich aussetzt.

WEISHEIT, EINFÜHRENDE WORTE

Christian Hellwig gab dann eine kurze Einführung zum Thema „Weisheit”, aus seiner Sicht. Neben zahlreichen Gedanken zum Thema, angereichert mit einigen bildreichen Beispielen aus der Literatur, wurde u.a. ein Interview mit Ute Kunzmann in der Zeit (April, 2014), mit verteilten Rollen vorgelesen. Schließlich wurden aus einem Buch von Professor Baltes, dem Direktor des Berliner Max-Planck-Institutes (MPI) für Bildungsforschung, (Quelle muss präzisiert werden) sieben Eigenschaften vorgestellt, die charakteristisch für das Vorliegen von ‚Weisheit‘ sein sollen (hier stark vereinfacht):

1. Es geht um die Lebensführung als ganze
2. Man ist sich der Grenzen des Wissens bewusst
3. Ein beeindruckendes Wissen, allerdings nur in Annäherung an eine regulativ Idee
4. Das Wissen ist eingebunden in eine entsprechende Umsetzung/ Praxis
5. Synergie von Geist und Charakter
6. Sowohl das eigene wie auch das Wohl der anderen ist im Blick
7. Weisheit wird unmittelbar erkannt, wenn sie sich im Vollzug manifestiert

GESPRÄCHSRUNDE

1. Es folgte dann eine sehr angeregte Gesprächsrunde, an deren Anfang sehr viele Fragen standen, bei einigen ausgesprochene Skepsis und Unverständnis: völlig vager Begriff? Wozu nütze? Das ist doch überhaupt nicht wissenschaftlich, usw.

Diagramm Philosophiewerkstatt 8.März 2015 - Strukturelemente von 'Weisheit'
Diagramm Philosophiewerkstatt 8.März 2015 – Strukturelemente von ‚Weisheit‘

2. Im Laufe des Gespräches kristallisierten sich dann aber schrittweise Deutungen heraus, Erklärungen, die mehr und mehr das Interesse weckten. Obwohl keine ausführliche historische Analyse vorgelegt worden war, führten die Bemerkungen der TeilnehmerInnen mehr und mehr zu einem komplexen Bild, das einerseits sowohl wichtige Hauptrichtungen der Philosophiegeschichte widerspiegelte, in manchen Punkten aber sogar darüber hinaus zu gehen scheint.

3. Die Kernidee schien die zu sein, dass das ‚Wesentliche‘ der ‚Weisheit‘ nicht in einzelnen Aspekten für sich zu suchen sei (besonderes Wissen, besondere Erfahrung, besondere Klugheit, besondere Verantwortung, …) sondern in einem besonderen charakteristischen ‚Zusammenspiel‘ aller Momente, ganz im Sinne des geflügelten Wortes, dass die’Summe mehr ist als ihre Teile‘.

4. Als ‚Summe der Teile‘ muss Weisheit etwas sein, was man (im Sinne von Baltes) unmittelbar als solche erkennen kann, da nur Weisheit diese komplexe emergente Qualität besitzt.

5. Für manchen mag dieser emergente komplexe Charakter von Weisheit gegen seine Wissenschaftlichkeit sprechen, das muss aber nicht so sein. Viele wichtige physikalische Größen sind mittlerweile so, dass sie nicht im einzelnen Messwert erkannt werden können, sondern nur unter Voraussetzung einer abstrakten mathematischen Struktur kann jener Zusammenhang sichtbar gemacht werden, der sich zwar in vielen einzelnen Messwerten zeigt, aber nicht aus den einzelnen Messwerten als solchem ‚herausgelesen‘ werden kann. Letztlich sind alle funktionalen Zusammenhänge per Definition Metakonstrukte zu jenen Elementen, die durch sie ‚geordnet‘ werden.

6. Bedenkt man dies, dann hat ein solcher emergenter Weisheitsbegriff nicht nur nichts ‚Anrüchiges‘, sondern eröffnet überhaupt die Möglichkeit, die vielen Teilaspekte eines Menschen in einem größeren Zusammenhang zu betrachten, und dies ganz ‚wissenschaftlich‘, wenn man will.

7. Unter anderem kann man hier auch z.B. den Ansatz der Existenzphilosophie zwanglos einordnen. Dieses ’sich Vorfinden im Sein‘, das in der existentiell erfahrbaren ‚ontologischen Differenz‘ einen weiterverweisenden – transzendenten – Seinshorizont auszumachen meint, wäre interpretierbar als die subjektive Seite der systemischen Situation, dass der einzelne sich innerhalb der biologischen Evolution in einer körperlichen Struktur vorfindet, die ihm Anteil gibt an einer spezifischen endlichen Welterfahrung, die trotz ihrer Endlichkeit eine ‚eingebaute‘ ontologische Differenz enthält, die jedes individuelle System unausweichlich auf einen größeren Zusammenhang verweist, der sich in vielen konkreten Details manifestiert, der aber als solcher niemals ganz einlösbar ist (regulativ Idee).

8. Damit verweist das Ideal einer individuellen Weisheit aber auch unausweichlich auf den je größeren Zusammenhang einer Population, da es nur als Element einer solchen vorkommt und lebensfähig ist.

9. Eine Population ist dann auch wieder – wenn auch auf einer neuen Ebene – mehr als die Summe ihrer Teile = Mitglieder.

10. Im Unterschied zur tierischen Schwarmintelligenz – besonders beeindruckend bei den Insekten – ist aber die ‚Intelligenz der menschlichen Population‘ (hier gedeutet als ‚Weisheit der Population‘) nicht deterministisch wie bei den Insekten, sondern enthält einige Freiheitsgrade zusammen mit adaptiven Lernmechanismen, die keinen reinen Automatismus erlauben. Die Weisheit der Population des homo sapiens funktioniert nur, wenn eine Reihe von Rahmenanforderungen (quasi als ‚transzendentale Bedingungen‘) erfüllt werden. Diese sind sehr herausfordernd.

11. ‚Populationsweisheit‘ verlangt u.a.
– eine angemessene Kommunikation aller Teile der Population miteinander
– eine angemessene Politik, die gemeinsam erkannte Richtungen entsprechend umsetzt
– ohne eine angemessenes Wissen wird ein realistisches Überlebensverhalten nicht möglich sein
– ohne eine angemessene Technologie auch nicht
– ohne angemessene ‚Präferenzsysteme‘ (Normen, Vorschriften, Werte, …) wird Kommunikation und Handeln im Chaos versinken (diese Präferenzsysteme müssen aber radikal transparent sein und müssen sich aus den erkennbaren Prozessen der realen Welt und der Lebensnotwendigkeiten ableiten lassen)
– usw.

12. In der Populationsweisheit fließt all dies im optimalen Fall zusammen.

13. Treffen diese Überlegungen aus dem Gespräch zu, dann deutet sich zur Frage nach der Entstehung von Weisheit ein Doppeltes an: einerseits ist der emergente Charakter von Weisheit in der Struktur des biologischen Lebens als Teil des kosmischen Prozesses angelegt; andererseits ist es kein völlig determiniertes Phänomen. Es kann sich in eine bestimmte Richtung weiter entwickeln, es muss aber nicht. In dem Masse, wie es zur ‚Selbststeuerung‘ (individuell, als Population, …) fähig wird, muss es sich selbst und seine Umgebung immer besser verstehen. Dies geht nur über mehr konstruktive Kooperation, über mehr fundiertes Wissen, über bessere Moral, usw. Kann letztlich nur gelingen, wenn man voraussetzt, dass das vorfindliche je größere Ganze (das bekannte Universum, das unbekannte Universum) ‚in sich‘ ‚gut‘ ist. Wäre dem nicht so, hätte Weisheit keine Chance. Dies bedeutet, dass Weisheit nur zur ‚Vollendung‘ kommen kann, wenn sie ‚an sich‘ glaubt‘ und die vorfindliche Welt ‚in sich‘ schon immer auch ‚gut‘ ist.

14. Was hier wie ein Paradox erscheint ist aber nicht so ungewöhnlich, wie es im ersten Moment erscheinen mag: die gesamten Naturwissenschaften leben davon, dass sie zunächst daran glaubt, dass die zu untersuchende Natur ‚in sich‘ ‚gesetzmäßig‘ ist und auf der Basis dieses ‚Glaubens‘ werden Experimente durchgeführt, die mögliche Regelhaftigkeiten enthüllen, die in Form von vorwegnehmenden mathematischen Strukturen auf eine Allgemeinheit hin gedeutet werden, die so niemals beobachtbar ist und auch niemals beobachtbar sein wird. Auch in der Naturwissenschaft ist der Moment des Glaubens konstitutiv. Insofern unterscheidet sich die Erforschung einer übergreifenden ‚Weisheit‘ in nichts von irgend einer anderen naturwissenschaftlichen Erforschung.

15. Der ‚Keim‘ zur ‚Weisheit‘ ist so gesehen quasi bei jedem ‚angeboren‘? Dennoch muss man sie mühsam lernen, so wie wir Menschen alle wichtigen Dinge mühsam lernen müssen. So wie auch sonst die einen eher begabt sind für eines, andere für anderes, so gibt es dann auch sicher unterschiedliche Begabungen für Weisheit. Im Gegensatz zu Spezialbegabungen kann man aber ‚Weisheit‘ nicht so einfach lernen wie eine bestimmte Sprache, Mathematik, Auto fahren, usw., sondern Weisheit als ‚Zusammenspiel‘ aller Komponenten auf einer ‚höheren Ebene‘ folgt einem eher komplexen Bildungsprozesse, der von außen zwar ‚angeregt‘ werden kann, der aber letztlich von jedem ‚eigenständig‘ ‚gefunden‘ und ‚gemeistert‘ werden muss. Es gibt keine Garantien. Ein ‚weiser‘ Mensch dürfte also genauso ein Geschenk an alle sein wie die verschiedenen Sonderbegabungen, die immer wieder herausragen und begeistern.

16. Da ‚Weisheit‘ etwas Einzigartiges ist, kann man es auch nicht durch Verweis auf etwas anderes erklären. Weisheit steht ‚für sich‘; da nach Annahme alle Menschen in Richtung möglicher Weisheit ‚geboren‘ werden, muss man annehmen, dass jeder Mensch eine Art ‚Instinkt für Weisheit‘, eine grundlegende Wahrnehmungsfähigkeit dafür besitzt. Nur dann wäre er in der Lage,Weisheit zu erkennen, sich sich im Verhalten von Menschen, Menschengruppen, biologischen Systemen usw. ‚manifestiert‘. ‚Nichtwissen‘ und ‚Passivität‘ wären klare Verhinderungsfaktoren sowohl für Weisheit wie deren Wahrnehmung.

17. Da wir wissen, dass die Verteilung von geistigen Fähigkeit unter Menschen dem Gesetz der natürlichen Verteilung folgt, scheint es wahrscheinlich, dass dies auch auf die Fähigkeit der Weisheit zutrifft; wirklich weise Menschen oder menschliche Organisationen werden eher rar sein. Und sie sind nicht absolut stabil. Im Laufe der Geschichte sind viele Kulturen zugrunde gegangen, auf die einige der Eigenschaften von ‚Weisheit‘ zutrafen. Nicht selten wurden auch ‚weise‘ Menschen von der Gesellschaft geächtet oder getötet, weil ‚die anderen‘ sie nicht verstanden und abgelehnt haben. Von daher ist die Eigenschaft, als ‚weise‘ zu gelten, nicht unbedingt ‚attraktiv‘.

18. Aus der Natur der Weisheit folgt auch, dass man sie kaum explizit definieren kann. Als emergente Größe, die sich im Laufe des kosmischen Prozesses nur langsam, schrittweise zeigt, und zwar nicht als endgültig erkannte Struktur, sondern als sich schrittweise ‚andeutende‘ Struktur, ist sie eine Größe, die erst im Laufe der Jahrmilliarden langsam bekannt werden wird, sofern man sie überhaupt ’sucht‘.

EINIGE WEITERE FRAGEN

19. Was würde man sich von einem weisen Menschen erwarten?

20. Möchte man selber ‚weise‘ sein? Falls ja: was würde man sich persönlich davon versprechen? Falls nein: wovor hätte man Angst?

23. Was würde man von einer ‚weisen‘ Gesellschaft erwarten? Hätte asozialer globaler Kapitalismus darin einen Platz?

24. Was ist mit einer Politik, die im Namen der Sicherheit die ‚Privatheit‘ immer mehr aushöhlt und damit der notwendigen Spielweise für Weisheit den Raum nimmt: wie würde eine ‚weise Sicherheitspolitik‘ aussehen?

25. Was ist mit gesellschaftlichen Tendenzen, in denen sich Klassen bilden, die sich gegeneinander abschotten: wird damit nicht die Forderung nach gemeinsamer Kommunikation und Kooperation im Kern unmöglich gemacht?

26. Was ist mit der Instrumentalisierung der Medien durch einseitige Machtinteressen: wird damit das notwendige Medium der Öffentlichkeit für eine gemeinsame Kommunikation nicht zerstört?

27. Was ist mit den partikulären, rückwärtsgewandten und wissensfeindlichen Religionen: verhindern sie nicht die notwendige Weiterentwicklung der Weisheit als universalem Gut für Alle?

28. Usw.

THEMENVORSCHLAG NÄCHSTES TREFFEN

Neben der Einladung an jeden, etwas aus eigener küntlerischer Aktivität vorzustellen und es aus philosophischer Sicht zu betrachten, einigte sich die Gruppe auf den Themenvorschlag:

Was hat ein ‚künstlicher‘ Geist mit einem ‚biologischen‘ Geist gemeinsam, und was nicht? Zusatzfragen: Würde auf einen künstlichen Geist der Begriff der ‚Menschenwürde‘ zutreffen‘. Kann ein künstlicher Geist ‚weise‘ sein? Sind künstlicher und biologischer Geist nicht schon längst ’symbiotisch vereint‘?

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge zur Philosophiewerkstatt nach Titeln findet sich HIER.

ENDSPIEL, ENDKAMPF, ODER NEUER EVOLUTIONSSCHUB?

(Letzte Änderungen: 23.Nov.2014, 14:46h)

1. Während der Begriff ‚Endspiel‘ durch seine sportliche Konnotationen noch keinen letzten Schrecken verbreiten muss, klingt ‚Endkampf‘ biblisch-apokalyptisch: Endzeitstimmung; das Böse kämpft gegen das Gute; alles steht auf dem Spiel. ‚Evolutionsschub‘ deutet die Perspektive der Naturwissenschaften an, eine methodische Objektivität eines ‚Strukturwandels‘, der sich ’natürlich‘ aus der ‚Vorgeschichte‘ ergibt. Obwohl ich grundsätzlich der naturwissenschaftlichen Sicht zuneige als Grundlage aller Argumentationen über unsere empirisch erfahrbare Welt und damit bei weitreichenden Veränderungen eher einen ’natürlichen Strukturwandel‘ unterstelle, haben wir es bei dem aktuellen Strukturwandel mit Phänomenen zu tun, in die ’subjektive Anteile‘ von beteiligten Menschen, Gruppierungen, Parteien, Firmen usw. mit eingehen. Die ‚Natur‘ hat zwar aufgrund der Gesamtheit aller beteiligten physikalischen Eigenschaften ‚von sich aus‘ eine — möglicherweise ’spezifische‘ — ‚Tendenz‘ sich zu verändern, aber der weltweite Einfluss biologischer Systeme auf den weiteren Gang mit der ‚biologischen Eigendynamik, die – wir wir wissen – gegen grundlegende physikalische Gesetze (z.B. 2.Hauptsatz der Thermodynamik) gerichtet zu sein scheint, erscheint mittlerweile so stark, dass der biologische Faktor neben den physikalischen Prinzipien ein Gewicht gewonnen hat, welches es verbietet, rein ‚technisch‘ von einem Evolutionsschub als ‚ausrechenbarem Strukturwandel‘ zu sprechen.

2. In diesem globalen Kontext erscheint ein Thema wie Informatik & Gesellschaft auf den ersten Blick eher speziell; auf den zweiten Blick zeigt sich aber gerade in diesem Thema eine der globalen Verwerfungslinien zwischen dem ‚Zustand bisher‘ und dem ‚Zustand, der neu beginnt‘. Das Thema ‚Informatik‘ bzw. ‚Computertechnologie‘ galt eher als Teil der Technologie, die nicht eigentlich der ‚Natur‘ zugeordnet wurde. Wie überhaupt seit Aufkommen der ‚Maschinen‘ die Maschinen als Leitmuster der Technologie immer als Gegensatz zur ‚chemischen und biologischen Evolution‘ gesehen wurden. Neben vielen kulturellen Denkmustern, die solch eine ‚Trennung‘ begünstigten, war es sicher auch die mindestens von der antiken Philosophie herrührenden Trennung von ‚unbelebt‘ (die ‚Stoffe‘, ‚Subtsanzen‘, die ‚Materie‘ als solche sind ‚unbelebt‘) und ‚belebt‘ (‚atmend‘ (pneo), Atem als universelles Lebensprinzip (pneuma)), das seinen Ausdruck im ‚Geist‘ (pneuma‘) findet. Da dieser Gegensatz von ‚unbelebt‘ und ‚belebt‘ mehr als 2000 Jahre nicht wirklich aufgelöst werden konnte, konnte sich eine Art ‚Dualismus‘ ausbilden und durchhalten, der wie eine unsichtbare Trennlinie durch die gesamte Wirklichkeit verlief: alles, was nicht ‚atmete‘ war unbelebt, materiell, un-geistig; alles was atmete, belebt war, befand sich in einer Nähe zum universellen Geistigen, ohne dass man eigentlich näher beschreiben konnte, was ‚Geist‘ denn nun genau war. Nicht verwunderlich, dass sich alle großen Religionen wie ‚Hinduismus‘, ‚Judentum‘, ‚Buddhismus‘, ‚Christentum‘, ‚Islam‘ (trotz z.T. erheblicher Differenzen in den Details), diesem Dualismus ’nachbarschaftlich verbunden fühlten‘. Der intellektuell-begriffliche ‚Ringkampf‘ der christlichen Theologie und Philosophie (und streckenweise des Islam, Avicenna und andere!) mit diesem dualistischen Erbe hat jedenfalls tiefe Spuren in allen theologischen Systemen hinterlassen, ohne allerdings dieses ‚Rätsel des Geistes‘ auch nur ansatzweise aufzulösen.

3. Diesen historischen Kontext muss man sich bewusst machen, um zu verstehen, warum für viele (die meisten? Alle?) die plötzliche ‚Nähe‘ der Technologie im alltäglichen Leben, eine sich immer mehr ‚anschmiegende‘ und zugleich ‚verdrängende‘ Technologie an diesem im Alltagsdenken ‚historisch eingebrannten‘ Dualismus‘ zu kratzen beginnt, zu wachsenden Irritationen führt (andere Technologien wie Nanotechnologie und Gentechnik gehören auch in diesen Kontext, wenn auch anders).

4. Im Ankündigungstext zur erwähnten Veranstaltung Informatik & Gesellschaft (siehe auch den Kurzbericht) wurde bewusst herausgestellt, dass seit den ersten Computern eines Konrad Zuse und dem Eniac-Computer von John Presper Eckert und John William Mauchly (1946) die Computertechnologie mittlerweile nahezu alle Bereiche der Gesellschaft in einer Weise durchdrungen hat, wie wohl bislang keine andere Technologie; dass diese Technologie realer Teil unseres Alltags geworden ist, sowohl im Arbeitsleben wie auch in der Freizeit. Man kann sogar sagen, dass diese Technologie die menschliche Lebensweise schon jetzt (nach ca. 60 Jahren) real und nachhaltig verändert hat. Neue Formen der Kommunikation wurden ermöglicht, Veränderungen der Mobilität, automatisierte flexible Produktion, Computermusik, computergenerierte Bildwelten…

5. Aber diese Durchdringung von nahezu allem – was heißt das? Die neue historische Qualität dieser Technologie besteht darin, dass diese Technologie – bislang immer noch klar erkennbar als ‚Maschinen‘, bislang nicht als ‚biologische‘ Strukturen – ‚Verhaltensweisen‘ zeigt, die denen der Menschen als Prototypen von ‚geistigen‘ Wesen ähneln. Aufgrund dieser ‚Ähnlichkeit‘ werden sie Teil von ‚typisch menschlichen‘ Handlungsabläufen (Kommunizieren, Wissen verwalten, Sport und Kunst machen, Spielen, komplexe Modelle und Prozesse entwerfen und simulieren, dann auch steuern, usw.). Seit den 80iger Jahren des 20.Jahrhunderts – also nach nicht mal ca. 30-40 Jahren — hat sich diese Technologie so mit dem menschlichen Alltag verwoben, dass eine moderne industrielle Gesellschaft komplett zusammenbrechen würde, würde man diese Technologie von jetzt auf gleich abschalten.

6. Befürworter eines noch intensiveren Einsatz dieser neuen Computertechnologien z.B. im Bereich der Industrie unter dem Schlagwort ‚Industrie 4.0‘ (so z.B. Prof. Schocke in seinem Beitrag auf der Veranstaltung Informatik & Gesellschaft – Kurzbericht oder die Autoren Thomas Klein und Daniel Schleidt in der gleichnamigen FAZ Beilage vom 18.Nov.2014 auf den Seiten V2 (Klein) und V6 (Schleidt)) sehen vor allem das Potential zu noch mehr Produktionssteigerungen bei gleichzeitiger Verbesserung der Qualität und besserer Ressourcennutzung. Gleichzeitig betonen die drei Autoren die Notwendigkeit von mehr Computertechnologie in der Industrie wegen des internationalen Wettbewerbs. Von den drei genannten Autoren spricht einzig Thomas Klein auch die Kehrseite des vermehrt ‚menschenähnlichen‘ Einsatzes dieser Maschinen im Kontext von Industrie 4.0 an: das damit möglicherweise auch viele Arbeitsplätze wegfallen werden, die bislang für Menschen Arbeitsmöglichkeiten geboten haben. Klein zitiert Untersuchungen, nach denen 47% der bisherigen Arbeitsplätze in den USA in den nächsten 10 Jahren Kandidaten für eine Substitution durch Computergestützte Technologien sind. Dies sind massive Zahlen. Dalia Marin, Professorin für Volkswirtschaft, versucht diese kommende Arbeitsmarktproblematik weiter zu differenzieren. Ausgehend von der Annahme, dass mehr Automatisierung kommen wird, sieht sie neben dem Rückzug von Hochtechnologieproduktionen in die angestammten Industrieländer dort aber die grundsätzliche Entwicklung zur Vergrößerung der Kapitalquote und zur Verringerung der Lohnquote. Diese Verringerung soll vor allem den Akademikersektor treffen; teure menschliche Arbeitskräfte werden bevorzugt von billigen computerbasierten Technologien ersetzt (FAZ 21.Nov.2014, S.16). Sowohl Klein wie auch Marin betonen aber auch, dass solche Zukunftseinschätzungen problematisch sind; der Prozess ist zu komplex, als dass man ihn einfach hochrechnen könnte.

7. Was bei allen vier genannten Autoren auffällt – auch bei den Autoren der Beilage ‚Innovation‘ (FAZ 20.Nov.2014) – ist, dass sie die ‚intelligente‘ und ’smarte‘ Technologie überwiegend aus einer ‚Außensicht‘ behandeln. Sie lassen die Wirkmechanismen dieser neuen Technologien, ihre maschinelle Logik, das, was sie so leistungsfähig macht, mehr oder weniger im Dunkeln. Smarte, intelligente Technologie erscheint dadurch – ich pointiere jetzt ein wenig — wie ein Naturereignis, das geradezu mystisch über uns hereinbricht, das einfach passiert, das so ist wie es ist, das man einfach hinnehmen muss. Auch fehlt eine historische Einordnung dieser Prozesse in das große Ganze einer Evolution des Lebens im Universum. Die sehr differenzierten Sichten von Daniel Schleidt enthalten zwar ein eigenes Schaubild zur industriellen Entwicklung, aber dieses greift – nach meiner Einschätzung – zu kurz. Es zementiert nur eher den opaken Blick auf das Phänomen, macht es begrifflich unzugänglich, schottet es für die Reflexion ab. Auch die volkswirtschaftliche Ausweitung des Blicks durch Marin geht – nach meiner Einschätzung – nicht weit genug. Sie betrachtet das Problem einer möglichen und wahrscheinlichen Substitution von menschlicher Arbeit durch computerbasierte Technologien in gegebenen historischen Kontexten und hier auch nur in einer kurzen Zeitspanne. Sie thematisiert aber nicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als solche. Sehr wohl kann man die Frage nach dem aktuellen Gesellschaftsmodell stellen. Sehr wohl kann man die Frage aufwerfen, ob es ein gutes Modell ist, wenn einige wenige GFinanz- und Machteliten mit dem Rest der Menschheit nach Belieben spielen. In der Frankfurter Rundschau wird seit vielen Wochen das Thema ‚Gerechtigkeit‘ diskutiert (siehe zuletzt z.B. Mohssen Massarat, Prof. für Wirtschaft und Politik mit seiner Übersicht verschiedener Gerechtigkeitsmodelle, FR 15./16.Nov.2014, S.9) und die Lektüre eines Buches wie ‚Die Abwicklung‘ von George Packer zeigt, dass eine reflexionsfreie oligopolistische Gesellschaft wie die US-Amerikanische mehr Fragen aufwirft als sie befriedigende Antworten liefert.

8. Sieht man nur die bisherigen Diskussionsbeiträge, dann kann einen schon die klamme Frage beschleichen, warum so viele Autoren in den Spiegeln der Gegenwart immer nur noch ‚das Andere‘ sehen, die ‚Maschine‘, während der ‚Mensch‘, die ‚Menschheit‘ als Hervorbringer dieser Technologien in diesem Sichtfeld gar nicht mehr vorkommt. Es ist wie ein intellektueller blinder Fleck, der die leisesten Zuckungen von Maschinen wie eine Neugeburt feiert während das ungeheuerliche Wunder der Entstehung komplexer Lebensstrukturen auf der Erde (das bis heute in keiner Weise wirklich verstanden ist!) nicht einmal eine Randnotiz wert ist. Fokussierung auf spezifische Fragestellung hat seinen Sinn und ist und war ein Erfolgsrezept, aber in einer Zeit, in der disziplinenübergreifend komplexe Phänomene alles mit allem verzahnen, in einer solchen Zeit erscheint diese selbstgenügsame Tugend nicht mehr nur nicht angebracht, sondern geradezu kontraproduktiv zu sein. Eine falsche Fokussierung führt bei komplexen Phänomenen notwendigerweise zu Verzerrungen, zu Verfälschungen, zu falschen Bildern von der Gegenwart und einer sich daraus ergebenden Zukunft (es sei auch an die lange Diskussion in der FAZ erinnert zu den Schwachstellen moderner Betriebs- und Volkswirtschaftstheorien, die nicht nur die letzten Finanzkatastrophen nicht vorhergesehen haben, sondern auch mit ihrem Paradigma des ‚homo oeconomicus‘ empirisch weitgehend gescheitert sind.)

9. Wenn nun also Menschen selbst das Andere ihrer selbst anpreisen und sich selbst dabei ‚wegschweigen‘, ist damit die Geschichte des biologischen Lebens im Universum automatisch zu Ende oder unterliegen wir als menschlich Denkende hier nicht wieder einmal einem grundlegenden Denkfehler über die Wirklichkeit, wie andere Generationen vor uns auch schon in anderen Fragen?

10. Die Verabschiedung der UN-Menschenrechtskonvention von 1948, damals als ein Lichtblick angesichts der systematischen Greueltaten gegen die Juden (aber aber nicht nur dieser!) und der Beginn vieler anderer daran anknüpfenden Erklärungen und Initiativen erscheint vor den aktuellen gesellschaftlichen Prozessen weltweit fast schon seltsam. Dass ein totalitäres Regime wie das chinesische die Menschenrechte grundsätzlich nicht anerkennt (wohl aber chinesische Bürger, siehe die Charta 2008) ist offiziell gewollt, dass aber selbst demokratische Länder – allen voran die USA – mit den Menschenrechten scheinbar ’nach Belieben‘ umgehen, sozusagen, wie es ihnen gerade passt, dass wirkt wenig ermutigend und gibt Nahrung für Spekulationen, ob die Menschenrechte und die Mitgliedschaft in der UN nur davon ablenken sollen, was die Finanz- und Machteliten tatsächlich wollen. Die Zerstörung ganzer Gesellschaftsbereiche, die Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung, die unbeschränkte Aufhebung der Privatsphäre ohne alle Kontrollen, die globale Ausbeutung der Schwachen durch Handelsabkommen … nur wenige Beispiele die eine andere Sprache sprechen, als jene, die in den Menschenrechten vorgezeichnet ist.

11. Noch einmal, was auffällt, ist die ‚Oberflächlichkeit‘ all dieser Bilder im wahrsten Sinn des Wortes: die schier unfassbare Geschichte der Evolution des Lebens im Universum existiert eigentlich nicht; das Wunder des Geistes inmitten materiell erscheinender Strukturen ist weitgehend unsichtbar oder ist eingesperrt in eine gesellschaftliche Enklave genannt ‚Kultur‘, die nahezu kontaktlos ist mit dem Rest des Wirtschaftens, Produzierens und Denkens; eine ‚Kultur der Sonntagsreden‘ und der ‚Belustigungen‘, ein Medium für die Eitelkeit der Reichen und der Unterhaltungsindustrie.

12. Innovation entsteht nie nur aus der Wiederholung des Alten, sondern immer auch aus der Veränderung des Alten, entsteht aus dem gezielt herbeigeführten ‚Risiko‘ von etwas ‚tatsächlich Neuem‘, dessen Eigenschaften und Wirkungen per se nicht vollständig vorher bekannt sein können.

13. Die, die aktuell neue Technologien hervorbringen und einsetzen wollen, erscheinen ‚innovativ‘ darin, dass sie diese hervorbringen, aber in der Art und Weise, wie sie das biologische Leben – speziell die Menschen – damit ‚arrangieren‘, wirken die meisten sehr ‚alt‘, ‚rückwärtsgewandt‘, …. Innovationen für das Menschliche stehen ersichtlich auf keiner Tagesordnung. Das Menschliche wird offiziell ‚konserviert‘ oder schlicht wegrationalisiert, weggeworfen, ‚entsorgt‘; hier manifestiert sich ein seltsamer Zug dazu, sich selbst zu entsorgen, sich selbst zu vernichten. Die Quelle aller Innovationen, das biologische Leben, hat in Gestalt der Menschheit einen ‚blinden Fleck‘: sie selbst als Quelle.

14. Der Mangel an Wissen war zu allen Zeiten ein Riesenproblem und Quelle vieler Notlagen und Gräueltaten. Dennoch hat die Menschheit trotz massiver Beschränkungen im Wissen neues Wissen und neue Strukturen entwickelt, die mehr Teilhabe ermöglichen, mehr Einsichten vermitteln, mehr Technologie hervorgebracht haben, ohne dass ein ‚externer Lehrer‘ gesagt hat, was zu tun ist… wie ja auch alle Kinder nicht lernen, weil wir auf sie einreden, sondern weil sie durch den bisherigen Gang der Evolution für ein kontinuierliches Lernen ausgestattet sind. … Der Geist geht dem Denken voraus, die Logik der Entwicklung liegt ‚in‘ der Materie-Energie.

15. So großartig Innovationen sein können, das größte Mirakel bleibt die Quelle selbst. Wunderbar und unheimlich zugleich.

QUELLEN

George Packer (3.Aufl. 2014), Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika. Frankfurt am Main: S.Fischer Verlag GmbH (die engl. Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel ‚The Unwinding. An Inner History of the New America‘. New York: Farrar, Strauss and Giroux).

Einen Überblic über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 5

VORGESCHICHTE

1. In einem ersten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 1 hatte ich geschildert, wie ich zur Lektüre des Textes von Avicenna gekommen bin und wie der Text grob einzuordnen ist.
2. In einem zweiten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 2 ging es um die Frage, warum überhaupt Logik? Avicenna führt erste Unterscheidungen zu verschiedenen Wissensformen ein, lässt aber alle Detailfragen noch weitgehend im Dunkeln.
3. Im Teil AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 3 ging es um einfache und zusammengesetzte Begriffe, und bei den einfachen Begriffen um ‚individuelle‘ und ‚universelle‘. Schon hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der antiken und der modernen-formalen Logik. In der antiken Logik wird die Ausdrucksebene E – und einer sich daran manifestierenden Folgerungslogik – immer in Verbindung mit einer zugehörigen Bedeutungsstruktur gesehen, die sich an einer Objektstruktur O festmacht. Die moderne formale Logik kennt zwar auch ‚Semantiken‘ und ‚Ontologien‘, diese sind aber ’sekundär‘, d.h. es werden nur solche ‚formalen Semantiken‘ betrachtet, die zum vorausgesetzten syntaktischen Folgerungsbegriff ‚passen‘. Dies sollte dann später an konkreten Beispielen diskutiert werden. Hier liegt der Fokus auf der antiken Logik im Sinne Avicennas.
4. Im nächsten Abschnitt VICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 4 knüpft Avicenna an den zuvor eingeführten Begriff des ‚universellen‘ Begriffs an und betrachtet jetzt solche als ‚universell‘ bezeichneten Ausdrücke in einem Ausdruckskontext von aufeinanderfolgenden Ausdrücken . Alle diese Ausdrücke könnte man im Sinne der antiken Logik auch als ‚Urteile‘ bezeichnen, durch die einem bestimmten Ausdruck durch andere Ausdrücke bestimmte Bedeutungen (Eigenschaften) zu- oder abgesprochen werden. Hier unterscheidet er die Fälle eines ‚wesentlichen‘ Zusammenhanges zwischen zwei Begriffen und eines ’nicht wesentlichen‘ – sprich ‚akzidentellen‘ – Zusammenhangs.

BEGRIFFSINFLATION

5. Im nächsten Abschnitt führt er mindestens fünf neue technische Begriffe ein, deren Erklärung partiell unvollständig bleibt. Dies ist sehr schade. Aber, versuchen wir zu verstehen, was noch verstehbar ist.
6. Es sind die Begriffe ‚Genus‘ (Gattung?), ‚Spezies‘ (Art?), Differenz, allgemeine und spezielle Akzidens, und den Begriff ‚Kategorie(n)‘.
7. Er beginnt die Diskussion mit der ‚universellen Bedeutung‘, von der er behauptet, man könne hier 5 Typen unterscheiden (ohne sie direkt anzugeben). Drei Typen von universellen Bedeutungen seien ‚wesentlich‘ und zwei ’nicht-wesentlich‘, also ‚akzidentell‘.
8. Seine Erklärungen zu den ‚wesentlich universellen‘ Bedeutungen wiederholt in gewisser Weise das bislang Gesagte, indem er das Klassifizierungsmerkmal als Frage formuliert: ‚Zu welcher Art Y von Dingen gehört eine Entität X‘? Die Antwort wäre allgemein: ‚X ist ein Y‘, eventuell noch ergänzt um charakteristische Eigenschaften wie ‚Y ist/ hat/kann … Z‘. Letztlich ist dies, wie Avicenna feststellt, eine Definition, bei der etwas Neues (das X) durch Bezugnahme auf etwas schon Bekanntes (Y) erklärt wird. Y ist eine notwendige Voraussetzung für X.
9. Als Beispiel führt er u.a. an, Frage: ‚Was ist ein X=Mensch?‘, Antwort: ‚X=Mensch ist ein Y=Lebewesen‘ (‚animal‘).
10. Allerdings benutzt er auch Beispiele, die von dem ‚üblichen‘ Konzept eines Dings (einer ‚Entität‘ (engl.: ‚entity‘)) abweichen. Statt von ‚Mensch‘, ‚Kuh‘ und ‚Pferd‘ spricht er auch von ‚Schwarzheit‘, ‚Rotheit‘ und ‚Weisheit‘ bzw. auch von ‚Drei‘, ‚Fünf‘ und ‚Zehn‘.
11. Bedeutungen X = {‚Schwarzheit‘, ‚Rotheit‘, ‚Weisheit‘} beantwortet er mit Y=Qualitäten. Bedeutungen X = {‚Drei‘, ‚Fünf‘, ‚Zehn‘} beantwortet er mit Y=Zahlen.
12. Etwas später benutzt der die Bedeutungen ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ als universelle Begriffe für die ersten Beispiele, so dass man lesen kann/ muss Wenn X= {‚Mensch‘, ‚Kuh‘ und ‚Pferd‘}, dann Y= ‚Substanz‘, wenn X = {‚Schwarzheit‘, ‚Rotheit‘, ‚Weisheit‘} dann Y=Qualität, wenn X = {‚Drei‘, ‚Fünf‘, ‚Zehn‘} dann Y=Quantität.
13. Von den ‚wesentlichen universellen‘ Begriffen ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ sagt Avicenna, dass sie sich nicht weiter verallgemeinern lassen, d.h. wenn X=Substanz, dann gibt es kein allgemeineres Y, auf das sich dieser universelle Begriff zurückführen lässt (und entsprechend für X=Qualität‘ und X=Quantität). Deshalb nennt Avicenna diese universellen Begriffe, die wesentlich keinen anderen universellen Begriff mehr ‚über sich‘ haben, ‚Kategorien‘, ohne dass er diesen Zusammenhang explizit benennt; er tut es einfach.
14. Als Beispiele für ‚akzidentelle universelle‘ Begriffe führt er an, dass ‚fest‘ (engl.: ’solid‘) allgemeiner sei als ‚Lebewesen‘, aber spezieller als ‚Substanz‘; entsprechend sei ‚Zahl‘ allgemeiner als ‚gleich‘ (engl.: ‚even‘), aber spezieller als ‚Quantität‘. ‚Gleichheit (engl.: ‚eveness‘) sei allgemeiner als ‚vier‘, doch spezieller als ‚Quantität‘.
15. Dann führt er die Begriffe ‚Genus‘ und ‚Spezies‘ ein mit der Formulierung, dass dasjenige, das allgemeiner ist, die speziellere Spezies sei, und umgekehrt, dass dasjenige, was das speziellere Universelle ist, ist die allgemeinere Spezies. Diese Formulierungen sind nicht eindeutig.
16. Später sagt er noch, dass es Dinge gibt, die sowohl Genus und Spezies sein können oder Dinge, die nur Genus sind, und nicht unter irgendeiner Spezies sind.
17. Dann folgt die Feststellung, dass die Begriffe ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ kein Genus einer Spezies seien; unter ihnen befinden sich nur Instanzen wie ‚Mensch‘, ‚Schwarzheit‘ und ‚vier‘.
18. Aus diesen Beispielen folge die Natur einer Spezies, die kein Genus sein kann, sondern nur Spezies von allen Spezies, die ‚unter‘ ihr kommen.
19. Instanzen eines wesentlichen universellen Begriffs können sich durch akzidentelle Eigenschaften unterscheiden (z.B. angenommen {X1, X2} sind beide Y und X1 ist ’schwarz‘ und X2 ‚weiß‘ und ’schwarz‘. Dann ist die Eigenschaft ’schwarz‘ allgemeiner als X1 und X2, ’schwarz‘ kommt X1 und X2 nicht wesentlich, sondern akzidentell zu, kann aber differenzierend wirken.
20. Abschließend führt Avicenna noch folgende Beispiele an: Jeder universelle Begriff ist entweder Genus, so wie ‚Lebewesen‘, oder Spezies, so wie ‚Mensch‘, oder Differenz, so wie ‚die Fähigkeit zu Sprechen‘, oder ‚allgemein akzidentell‘ so wie ‚Bewegung‘, ‚Schwarzheit‘, ‚Weisheit‘.

INTERPRETATION- ANMERKUNGEN

21. War die Re-Lektüre und einsetzende Interpretation von Avicennas Text bis zu dieser Stelle relativ einfach, so zeigen sich jetzt erste Problemstellungen, die man nicht mehr so einfach ‚verworten‘ kann.
22. Einmal gibt es das Phänomen, dass er Begriffe einführt und benutzt, die nicht – zumindest auf einen ersten Blick – direkt erklärbar sind. Dann werden Zusammenhänge thematisiert, wo man sich die Frage stellen kann, ob er dies wirklich ‚gemeint‘ haben kann oder, falls ja, wie man damit umgehen will.
23. Dies gibt Gelegenheit, kurz ein paar Worte zum ‚Interpretieren‘ zu sagen. Ich werde dabei nicht auf die sehr umfangreiche Literatur zu diesem Thema eingehen (im Bereich Philosophie, Literatur und wissenschaftliche Bibelauslegung gibt es dazu nicht hunderte, sondern sicher tausende von Artikeln und Büchern. Einiges davon musste ich zu früheren Zeiten durcharbeiten). Ich beschränke mich hier auf jene Grundprinzipien, die ich hier anwenden möchte.
24. Die philologischen Fragen, ob die englische Übersetzung hier den arabischen Text korrekt wiedergibt, oder ob gar der arabische Text Überlieferungsfehler aufweist, kann ich hier nicht behandeln. Ich muss den Text nehmen, wie ich ihn vorfinde, und wenn sich für mich Unklarheiten ergeben, kann ich sie nur benennen und versuchen sie zu interpretieren.
25. Was die ‚Interpretation‘ (Auslegung, Deutung, …) des Textes angeht, so gibt es ja mindestens zwei verschiedene Ansprüche: (i) man will die ‚Bedeutung‘ rekonstruieren, die der Autor selbst mit dem verknüpft hatte (also eine Art ‚konservierende‘ Interpretation), oder (ii) man will die Bedeutung des Autors (des Textes) in einem anderen/ neuen Bedeutungsrahmen ‚rekonstruieren‘, ihn quasi von Bedeutungsraum R_Autor in den Bedeutungsraum R_Leser ‚übersetzen‘.
26. Beide Vorgehensweisen haben ihr Recht. Die ‚konservierende‘ Rekonstruktion ist idealerweise eigentlich der erste Schritt und die Voraussetzung für die ‚Neuinterpretation‘. Es ist aber eine offene Frage, ob ein Leser immer und überall über genau die Voraussetzungen in seinem Denken verfügt, dass er den ursprünglichen Bedeutungsraum R_Autor überhaupt eins-zu-eins rekonstruieren kann. Nach ca. 1000 Jahren, die uns von Avicenna trennen, ist es sogar ziemlich unwahrscheinlich, dass wir dies überhaupt noch können.
27. Hier, in dieser Rekonstruktion, werde ich erst gar nicht versuchen, den ursprünglichen Bedeutungsraum R_Autor zu rekonstruieren, da ich niemals wüsste, ob ich mit meinen Überlegungen ‚richtig‘ liege oder nicht. Dies Referenzproblem haben alle wissenschaftlichen Rekonstruktionen alter Texte (dies gilt natürlich auch für das hebräische Alte Testament, das griechische Neue Testament und den arabischen Koran).
28. Im weiteren Verlauf werde ich also die bisherigen Rekonstruktionsannahmen weiter verfolgen. Letztlich ist es eine Art ‚Test‘, ob und wie sich der Text von Avicenna in einem modernen erkenntnistheoretischen Modell ’neu lesen‘ lässt.

DISKUSSION

29. Bisher haben wir folgende allgemeine Annahmen bei der Rekonstruktion des Textes von Avicenna getroffen:
30. Die Ausdruckselemente E einer Sprache L sind nur ‚Zeiger‘, die auf irgendwelche kognitiven Objekte O hindeuten, die im Rahmen der generierten Zeigebeziehung M für die Ausdruckselemente E zu dem werden, was wir ihre Bedeutung nennen.
31. Die kognitiven Objekte O entstehen in einem Erzeugungsprozess, der Eigenschaften X der umgebenden Welt W über sinnliche Wahrnehmungsprozesse perc() und interne Abstraktionsprozesse $latex \alpha$ als irgendwelche Objekte O klassifiziert. Man könnte von daher auch sagen $latex \kappa = perc \otimes \alpha$, oder $latex \kappa(X, O) = O$.
32. Wir hatten ferner noch unterschieden zwischen ‚echten‘ Objekten, d.h. solchen Bündelungen von Objekten, die als solche in der umgebenden Welt W ‚vorkommen‘ und und solchen ‚unechten‘ Objekten, die zwar gebildet werden können, die aber immer nur ‚als Teil anderer Objekte‘ auftreten können. Die Definition von ‚wesentlich universellen Objekten‘ von Avicenna deckt sich mit dem Konzept ‚echter Objekte‘ und Avcennas Definition von ‚akzidentellen universellen‘ Objekten deckt sich mit den unechten Objekten, die anderen Objekten zukommen können, aber nicht müssen.

DISKUSSION – KATEGORIEN

33. Avicenna führt dann indirekt das Konzept von ‚(wesentlichen universellen) Kategorien‘ ein, die ich indirekt rekonstruiert habe als solche ‚wesentlich universellen Objekte‘, ‚über die‘ es keine weiteren Verallgemeinerungen mehr gibt. Da er es nur bei einzelnen Beispielen belässt ohne wirkliche Argumentationen bleibt hier einiges offen.
34. Die genannten drei Kategorien erscheinen wie eine Art ‚Meta-Klassifikation‘ über allen möglichen Objekten, so eine Art ‚Typisierung‘ der verschiedenen möglichen Objektbildungen. Versucht man im Bereich der Objektklassifikationen kriterien zu finden, welches Objekt zu welcher Kategorie gehört, wird es aber schnell schwierig.
35. Kategorie ‚Substanz‘: Wann ist ein Objekt eine ‚Substanz‘ und wann ‚Qualität‘ oder ‚Quantität‘? Ein erster Ansatzpunkt wäre zu sagen, dass alle ‚echten‘ Objekte ‚Substanzen‘ sind und alle ‚unechten‘ Objekte ‚Qualitäten‘. Was aber wäre dann mit den ‚Quantitäten‘? Die ‚Anzahl‘ von Objekten (echten wie unechten) ist ja keine ‚Eigenschaft an sich‘, sondern ist eher eine ‚Metaeigenschaft‘, die man vorhandenen (real oder gedachten) Objekten zuordnen kann. Im Vergleich zu Farben, Formen, Tönen usw., die auf Sinneseigenschaften aufsetzen, ist ‚Quantität‘ als Metaeigenschaft eine abgeleitete, sekundäre, abstrakte Eigenschaft, so wie z.B. auch ‚größer/ kleiner‘, ‚vorher/ nachher‘, ‚vorne/ hinten, ‚oben/ unten‘, usw. In allen genannten Fällen gibt es schon irgendwelche Objekte, zwischen denen räumliche, zeitliche – oder sonstige – allgemeine Beziehungen erkennbar sind. Diese indirekten, sekundären, abgeleiteten Beziehungen bilden dann eine eigene Klasse von ‚abstrakten‘ Eigenschaften, von denen die ‚Quantitäten‘ nur eine Teilmenge wären. Wenn also Avicenna schon die Kategorie ‚Quantität‘ bemüht, warum nicht auch ‚Raum‘ und ‚Zeit‘?
36. Alle diese Überlegungen zu ‚Kategorien‘ als zusätzliche Meta-Klassifikationen der generierbaren Objekte setzen allerdings voraus, dass es möglich ist, im Bereich der Objekthierarchie für alle Objekte O solche ‚Kontexte‘ annehmen zu können, durch die sie bzgl. ‚Substanz‘, ‚Qualität‘, ‚Quantität‘, ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ charakterisierbar werden. Im bisher verfolgten Modell würde dies bedeuten, dass Objekte nicht nur über ihre ‚direkten‘ sensorischen Eigenschaften $latex K_{s}$ generiert werden, sondern sie werden von vornherein auch mit minimalen ‚Raumanteilen‘ bzw. in bestimmten ‚Abfolgen‘ ‚gespeichert‘ bzw. sind sensitiv bzgl. Abfolgen ‚erinnerbar‘.

DENKEN ALS KOGNITIVE EVOLUTION

37. Oder, wenn schon, dann noch allgemeiner: der gesamte Objekterzeugungsprozess $latex \kappa$ mus so beschaffen sein, dass er die fundamentalen Eigenschaften X der umgebenden Welt so in die Objekthierarchie übersetzt, dass (i) echte und unechte Objekteigenschaften hinreichend erhalten bleiben können, dass (ii) räumliche und zeitliche Verhältnisse hinreichend repräsentiert werden können, dass (iii) quantitative Verhältnisse erzeugt werden können (z.B. Aufzählungen und Äquivalenzklassen), dass (iv) neben den Eigenschaften, die ‚gegeben‘ sind (IST, real), auch ’neue‘ Kombinationen erzeugt werden können (Möglichkeit, Potenz, kombinatorischer Raum), und dass (v) neue Kombinationen (Möglichkeiten) mit dem ‚realen Raum‘ verglichen werden können.
38. Sofern dies möglich ist (und alles, was wir über das menschliche Denken heute wissen, bestätigt dies), kann man dann diese Art von Denken als Fortsetzung der biologischen Evolution im Bereich des Denkens (quasi als kognitive Evolution) betrachten, d.h. die biologische Evolution hat – mit ihrem kombinatorischen genetischen Mechanismus – Strukturen geschaffen (Körper mit Gehirn), die in der Lage sind, die an die materiellen Strukturen gebundene Kombinatorik neuer Lebensformen über die Neuronennetze zu dynamisieren, zu beschleunigen, zu flexibilisieren. Mit der Kombinatorik des neuronalen Denkens konnte die biologische Evolution der Entwicklung neuer, leistungsfähigerer Lebensformen einen gewaltigen Schub im einzelnen Organismus verleihen; durch die Möglichkeit symbolischer Kombination können sich die neurologisch erzeugbaren neuen Denkräume zusätzlich direkt miteinander verschränken und die Entwicklung neuer Lebensformen in bis dahin ungeahnte Dimensionen katapultieren.
39. Doch zurück zur vorliegenden Interpretationsaufgabe.

GENUS – SPEZIES

40. Bislang haben wir ansatzweise eine Rekonstruktion des Konzeptes von ‚Kategorien‘ als Meta-Klassifikationen im Bereich der dynamischen Objekthierarchie.
41. Unklar, da widersprüchlich, bleibt bei Avicenna die Verwendung der Begriffe ‚Genus‘ und Spezies‘. Eine erste, einfache, und nachvollziehbare Interpretation wäre die, jedes Objekt als ein ‚Genus‘ zu bezeichnen, das ‚Instanzen‘ besitzt, denen ‚differenzierende‘ Eigenschaften zukommen (wie auch die verschiedenen Genus-Objekte sich voneinander durch Eigenschaften unterscheiden). ‚Spezies‘ wären dann jene voneinander abgrenzbaren Instanzen (vgl. auch Carl von Linné (1707 – 1778), sein Werk ‚Systema Naturae‘), die einem Genus ‚untergeordnet‘ wären. Allerdings kommen die Begriffe ‚Genus‘ und ‚Spezies‘ im Text mehrfach in Verwendungen vor (z.B. auch als ‚Spezies der Spezies‘), die sich – aus meiner Sicht – einer schlüssigen Interpretation entziehen.

ALLGEMEINE UND SPEZIELLE AKZIDENZ

42. Mit den Begriffen ‚allgemeine‘ und ’speziellen‘ Akzidenzien verhält es sich ähnlich: es gäbe eine einfache, nachvollziehbare Interpretation, aber diese deckt nicht alle Verwendungsweisen dieser Begriffe ab.
43. Ausgangspunkt sind ja nicht-zusammengesetzte Ausdrücke mit einer universellen Bedeutung, bei der zwischen ‚wesentlichen‘ und ‚akzidentellen‘ unterschieden wurde. Die ‚akzidentellen universellen Begriffe wurden zuvor schon als ‚unechte Objekte‘ rekonstruiert, die niemals isoliert auftreten können, sondern immer nur als Teile von echten (wesentlichen universellen) Objekten. Insofern sind sie ‚akzidentell‘ und eine informelle abkürzende Redeweise könnte sie als ‚Akzidentien‘ bezeichnen, verstanden als Eigenschaften, die bei einem Objekt auftreten können, aber nicht müssen.
44. Wäre zu klären, was ‚allgemeine‘ von ’speziellen‘ Akzidenzien unterscheidet. Hier nochmals die Beispiele aus dem Text, wonach ‚fest‘ (engl.: ’solid‘) allgemeiner sei als ‚Lebewesen‘, aber spezieller als ‚Substanz‘; entsprechend dass ‚Zahl‘ allgemeiner sei als ‚gleich‘ (engl.: ‚even‘), aber spezieller als ‚Quantität‘, und schließlich dass ‚Gleichheit (engl.: ‚eveness‘) allgemeiner sei als ‚vier‘, doch spezieller als ‚Quantität‘.
45. Die Eigenschaft ‚fest‘ ist nach bisheriger Rekonstruktion klar ein unechtes Objekt, d.h. eine akzidentelle Eigenschaft, die als Teil von echten Objekten auftreten kann. Zu sagen, dass diese akzidentelle Eigenschaft allgemeiner sei als ‚Lebewesen‘, aber spezieller als ‚Substanz‘, macht nicht unbedingt Sinn, genauso wenig wie es Sinn machen würde, Hühner mit Grashalmen zu vergleichen. Es sei denn, es gäbe einen ‚übergreifenden Aspekt‘, auf den sich beide, die Hühner und die Grashalme, beziehen lassen würden.
46. Ich kann in diesem Zusammenhang keinen solchen übergreifenden Gesichtspunkt erkennen. Bestimmte akzidentelle Eigenschaften können bei Objekten auf verschiedenen Stufen der Objekthierarchie auftreten. Hier ein Beziehungsgeflecht zwischen den Eigenschaften konstruieren zu wollen überzeugt mich nicht.

ALLGEMEINE EINSCHÄTZUNG

47. Schon an dieser Stelle der Relektüre von Avicennas Logik deutet es sich an, dass Avicenna viele seiner technischen Begriffe nur unzulänglich erklärt und voneinander abgrenzt. Ein Grund dafür kann sein, dass er die das Konzept der Objekterstehung und der Objekthierarchie als Gegenpol zu den Ausdrücken offenbar nicht als eigenständiges System systematisch entwickelt. In anderen Interpretationsprojekten (z.B. bei Nicolai Hartmann) musste ich die Rekonstruktion irgendwann einfach abbrechen, da der Text in sich irgendwann so widersprüchlich war, dass ein sinnvolles Weiterlesen nicht mehr möglich erschien.

Fortsetzung folgt …

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

FREIHEIT DIE ICH MEINE – ÜBERLEGUNGEN ZU EINER PARTEIINTERNEN DISKUSSION DER GRÜNEN

1. Bevor ich gleich ein wenig auf die wichtigsten Beiträge der Mitgliederzeitschrift ‚Schrägstrich‘ (Ausgabe Juli 2014) der Grünen eingehe, hier einige Vorüberlegungen zu den gedanklichen Koordinaten, innerhalb deren ich diese Beiträge rezipiere. Im wesentlichen handelt es sich bei diesen gedanklichen Koordinaten um jene, die ich hier im Blog bislang ansatzweise skizziert habe. Hier in einer komprimierten Form wichtige Elemente, die dann im weiteren Verlauf nach Bedarf präzisiert werden:

Aus Sicht des einzelnen: Woher? Was tun? Wohin?
Aus Sicht des einzelnen: Woher? Was tun? Wohin?

2. Ausgangspunkt des Koordinatensystem ist jeder einzelne von uns, der sich täglich konkret die Frage stellen muss, was an diesem Tag zu tun ist. Die Frage, woher man selbst kommt spielt bei den meisten in der Regel keine Rolle, höchstens soweit, dass aus der unmittelbaren Vergangenheit irgendwelche ‚Verpflichtungen‘ erwachsen sind, die in die Gegenwart hineinwirken (negatives oder positives Vermögen, erlernte Fähigkeiten, erworbenes Wissen, gewachsene Beziehungen, …). Wohin wir gehen wollen ist bei den meisten auch nur schwach ausgeprägt (Die Alltagsnotwendigkeiten stehen im Vordergrund: seine Verpflichtungen erfüllen, die Arbeitsanforderungen, den Unterhalt für das tägliche Leben, persönliche und soziale Erwartungen durch Beziehungen und Zugehörigkeiten, ein Ausbildungsziel erreichen, eine höhere Position in der Karriereleiter, …..). Übergreifende Ziele wie Erhaltung bestimmter Systeme (Ausbildung, Gesundheit, Infrastrukturen, …) sind meistens ‚delegiert‘ an Institutionen, die dafür ‚zuständig‘ sind, auf die man nur sehr begrenzt Einfluss nehmen kann. Dennoch gibt es nicht wenige, die sich in Vereinigungen engagieren, die spezifische soziale Räume aufspannen (Sport, Kleingärtner, Chöre, Parteien, Gewerkschaften, …), in denen sie ihr individuelles Handeln mit anderen verbünden.

Jeder nur als Teil einer Population in einem physikalischen Rahmen mit chemischer, biologischer und kultureller Evolution. Erfolg ist kurzfristig oder nachhaltig
Jeder nur als Teil einer Population in einem physikalischen Rahmen mit chemischer, biologischer und kultureller Evolution. Erfolg ist kurzfristig oder nachhaltig

3. Beginnt man seine eigene Situation zu analysieren, dann wird man nicht umhin kommen, festzustellen, dass man als einzelner als Mitglied einer größeren Population von Menschen vorkommt, die über unterschiedlichste Kommunikationsereignisse miteinander koordiniert sind. Das tägliche Leben erweist sich als eingebettet in einen gigantischen realen Raum, von dem man unter normalen Umständen nur einen winzigen Ausschnitt wahrnimmt. Schaut man genauer hin, dann sind wir das Produkt einer komplexen Geschichte von Werden im Laufe von vielen Milliarden Jahren. Eingeleitet durch die chemische Evolution kam es vor ca. 3.8 Milliarden Jahren zur biologischen Evolution, die dann vor – schwierig zu definieren, wann Kultur und Technik genau anfing – sagen wir ca. 160.000 Jahren mit einer kulturellen Evolution erweitert wurde. Technik sehe ich hier als Teil der kulturellen Leistungen. Eine Erfolgskategorie ist die des schieren Überlebens. Innerhalb dieser Kategorie macht es einen Unterschied wie ‚lange‘ eine Population überhaupt lebt (‚kurz‘ oder ‚lang‘). Die Frage ist nur, welche ‚Zeiteiheiten‘ man hier anlegen will, um ‚kurz‘ oder ‚lang‘ zu definieren. Aus der Perspektive eines einzelnen Menschen können ‚Jahre‘ schon sehr lang sein und ‚Jahrzehnte‘ können wie eine Ewigkeit wirken. Aus Sicht einer ‚Generation‘ sind 30 Jahre ’normal‘, 10 Generationen (also ca. 300 Jahre) sind eine Zeiteinheit, die für einzelne schon unvorstellbar sein mögen, die aber gemessen an dem Alter so mancher Arten von Lebewesen mit vielen Millionen oder gar hunderten von Millionen Jahren (die Dinosaurier beherrschten das Ökosystem von -235 bis -65 Mio, also 170 Mio Jahre lang!) nahezu nichts sind.

4. Das komplexeste bis heute bekannte Lebewesen, der homo sapiens, jene Art, zu der wir gehören, ist bislang ca. 160.000 Jahre alt (natürlich mit langer Vorgeschichte). Biologisch betrachtet ist diese Zeitspanne nahezu ein ‚Nichts‘. Insofern sollte man nicht zu früh sagen ‚Wer‘ bzw. ‚Was‘ der ‚Mensch‘ als ‚homo sapiens‘ ist. Wir leben in einem Wimpernschlag der Geschichte und wenn wir sehen, welche Veränderungen die Art homo sapiens in kürzester Zeit über die Erde gebracht hat, dann sollten wir genügend biologische Fantasie entwickeln, um uns klar zu machen, dass wir eher ganz am Anfang einer Entwicklung stehen und nicht an deren Ende.

Mensch als Teil des Biologischen hat Technik als Teil von Kultur hervorgebracht: Generisch oder arbiträr. Technik ist effizient oder nicht
Mensch als Teil des Biologischen hat Technik als Teil von Kultur hervorgebracht: Generisch oder arbiträr. Technik ist effizient oder nicht

5. Der homo sapiens ist ganz wesentlich Teil eines größeren komplexen biologischen Systems von unfassbarer ‚Tiefe‘, wo alles ineinander greift, und wo der homo sapiens aufgrund seiner Leistungsfähigkeit aktuell dabei zu sein scheint, trotz seiner kognitiven Möglichkeiten seine eigenen biologischen Voraussetzungen zu zerstören, ohne die er eigentlich nicht leben kann (Umweltverschmutzung, Ausrottung vieler wichtiger Arten, Vernichtung der genetischen Vielfalt, …).

6. Die erst langsame, dann immer schneller werdende Entwicklung von leistungsfähigen und immer ‚effizienteren‘ Technologien eingebettet in einen ‚kulturellen Raum‘ von Zeichen, Formen, Interpretationen, Normen, Regelsystemen und vielerlei Artefakten zeigt eine immense Vielfalt z.T. ‚arbiträrer‘ Setzungen, aber auch einen harten Kern von ‚generischen‘ Strukturen. ‚Generisch‘ wäre hier die Ausbildung von gesprochenen und geschriebenen Sprachen; ‚arbiträr‘ wäre die konkrete Ausgestaltung solcher Sprachen: welche Zeichensysteme, welche Laute, welche Anordnung von Lauten oder Zeichen, usw. So sind ‚Deutsch‘, ‚Arabisch‘, ‚Russisch‘ und ‚Chinesisch‘ alles Sprachen, mithilfe deren sich Menschen über die Welt verständigen können, ihre gesprochene und geschriebene Formen weichen aber extrem voneinander ab, ihre Akzent- und Intonationsstrukturen, die Art und Weise, wie die Zeichen zu Worten, Sätzen und größeren sprachlichen Strukturen verbunden werden, sind so verschieden, dass der Sprecher der einen Sprache in keiner Weise in der Lage ist, ohne größere Lernprozesse die andere Sprache zu verstehen.

7. Bei der Entwicklung der Technologie kann man die Frage stellen, ob eine Technologie ‚effizienter‘ ist als eine andere. Nimmt man den ‚Output‘ einer Technologie als Bezugspunkt, dann kann man verschiedene Entwürfe dahingehend vergleichen, dass man z.B. fragt, wie viele Materialien (erneuerbar, nicht erneuerbar) sie benötigt haben, wie viel Energie und Arbeitsaufwand in welcher Zeit notwendig war, und ob und in welchem Umfang die Umwelt belastet worden ist. Im Bereich der Transporttechnologie wäre der Output z.B. die Menge an Personen oder Gütern, die in einer bestimmten Zeit von A nach B gebracht würden. Bei der Technologie Dampfeisenbahn mussten Locks und Wagen hergestellt werden, Gleise mussten hergestellt und verlegt werden; dazu mussten zuvor geeignete Trassen angelegt werden; ein System von Signalen und Überfahrtregelungen muss für den reibungslosen Ablauf sorgen; dazu benötigt man geeignet ausgebildetes Personal; zum Betrieb der Locks benötigte man geeignete Brennstoffe und Wasser; die Züge selbst erzeugten deutliche Emissionen in die Luft (auch Lärm); durch den Betrieb wurden die Locks, die Wagen und die Schienen abgenutzt. usw.

8. Ein anderes Beispiel wäre die ‚Technologie des Zusammenwohnens auf engem Raum‘, immer mehr Menschen können heute auf immer kleineren Räumen nicht nur ‚überleben‘, sondern sogar mit einem gewissen ‚Lebensstandard‘ ‚leben‘. Das ist auch eine Effizienzsteigerung, die voraussetzt, dass die Menschen immer komplexere Systeme der Koordinierung und Interaktion beherrschen können.

Das Herz jeder Demokratie ist eine funktionierende Öfentlichkeit. Darüber leitet sich die Legislative ab, von da aus die Exekutive und die Judikative. Alles muss sich hier einfügen.
Das Herz jeder Demokratie ist eine funktionierende Öfentlichkeit. Darüber leitet sich die Legislative ab, von da aus die Exekutive und die Judikative. Alles muss sich hier einfügen.

9. Im Rahmen der kulturellen Entwicklung kam es seit ca. 250 Jahren vermehrt zur Entstehung von sogenannten ‚demokratischen‘ Staatsformen (siehe auch die z.T. abweichenden Formulierungen der englischen Wikipedia zu Democracy). Wenngleich es nicht ‚die‘ Norm für Demokratie gibt, so gehört es doch zum Grundbestand, dass es als primäre Voraussetzung eine garantierte ‚Öffentlichkeit‘ gibt, in der Meinungen frei ausgetauscht und gebildet werden können. Dazu regelmäßige freie und allgemeine Wahlen für eine ‚Legislative‘ [L], die über alle geltenden Rechte abstimmt. Die Ausführung wird normalerweise an eine ‚Exekutive‘ [E] übertragen, und die Überwachung der Einhaltung der Regeln obliegt der ‚Judikative‘ [J]. Die Exekutive gewinnt in den letzten Jahrzehnten immer mehr Gewicht im Umfang der Einrichtungen/ Behörden/ Institutionen und Firmen, die im Auftrag der Exekutive Aufgaben ausführen. Besonderes kritisch waren und sind immer Sicherheitsbehörden [SICH] und das Militär [MIL]. Es bleibt eine beständige Herausforderung, das Handeln der jeweiligen Exekutive parlamentarisch hinreichend zu kontrollieren.

Oberstes Ziel ist es, eine Demokratie zu schüzen; was aber, wenn die Sicherheit zum Selbstzweck wird und die Demokratie im Innern zerstört?
Oberstes Ziel ist es, eine Demokratie zu schüzen; was aber, wenn die Sicherheit zum Selbstzweck wird und die Demokratie im Innern zerstört?

10. Wie es in vielen vorausgehenden Blogeinträgen angesprochen worden ist, erweckt das Beispiel USA den Eindruck, dass dort die parlamentarische Kontrolle der Exekutive weitgehend außer Kraft gesetzt erscheint. Spätestens seit 9/11 2001 hat sich die Exekutive durch Gesetzesänderungen und Verordnungen weitgehend von jeglicher Kontrolle unabhängig gemacht und benutzt das Schlagwort von der ’nationalen Sicherheit‘ überall, um sowohl ihr Verhalten zu rechtfertigen wie auch die Abschottung des Regierungshandelns durch das Mittel der auswuchernden ‚Geheimhaltung‘. Es entsteht dadurch der Eindruck, dass die Erhaltung der nationalen Sicherheit, die als solche ja etwas Positives ist, mittlerweile dazu missbraucht wird, das eigene Volk mehr und mehr vollständig zu überwachen, zu kontrollieren und die Vorgänge in der Gesellschaft nach eigenen machtinternen Interessen (auf undemokratische Weise) zu manipulieren. Geheimdienstaktionen gegen normale Bürger, sogar gegen Mitglieder der Legislative, sind mittlerweile möglich und kommen vor. Der oberste Wert in einer Demokratie kann niemals die ‚Sicherheit‘ als solche sein, sondern immer nur die parlamentarische Selbstkontrolle, die in einer funktionierenden Öffentlichkeit verankert ist.

GRÜNES GRUNDSATZPROGRAM VON 2002

11. Bei der Frage nach der genaueren Bestimmung des Freiheitsbegriffs verweist Bütikofer auf SS.7ff auf das Grüne Grundsatzprogramm von 2002, das in 3-jähriger Arbeit alle wichtigen Gremien durchlaufen hatte, über 1000 Änderungsanträge verarbeitet hat und einer ganzen Vielzahl von Strömungen Gehör geschenkt hat. Schon die Präambel verrät dem Leser, welch großes Spektrum an Gesichtspunkten und Werteinstellungen Berücksichtigung gefunden haben.

12. Im Mittelpunkt steht die Würde des Menschen, der sehr wohl auch als Teil einer umfassenderen Natur mit der daraus resultierenden Verantwortung gesehen wird; der Aspekt der Nachhaltigkeit allen Handelns wird gesehen. Grundwerte und Menschenrechte sollen Orientierungspunkte für eine demokratische Gesellschaft bilden, in der das Soziale neben dem Ökonomischen gleichberechtigt sein soll. Diese ungeheure Spannweite des Lebens impliziert ein Minimum an Liberalität, um der hier waltenden Vielfalt gerecht zu werden.

13. Die Freiheit des einzelnen soll einerseits so umfassend wie möglich unterstützt werden, indem die gesellschaftlichen Verhältnisse immer ein Maximum an Wahlmöglichkeiten bereit halten sollten, zugleich muss die Freiheit aber auch mit hinreichend viel Verantwortung gepaart sein, um die jeweiligen aktuellen Situationen so zu gestalten, dass Lebensqualität und Nachhaltigkeit sich steigern.

ENGAGIERTE POLITIK vs. LIBERALISMUS UND FREIHEIT?

14. Reinhard Loske wirft auf SS.10ff die Frage auf, ob und wie sich eine ökologisch verpflichtete Politik mit ‚Liberalismus‘ vereinbaren könnte. Natürlich wäre ein unbeschränkter ‚wertfreier‘ Liberalismus ungeeignet, da sich dann keinerlei Art von Verantwortung und einer daraus resultierenden nachhaltigen Gestaltung ableiten ließe. Doch muss man dem Begriff des Liberalismus historisch gerecht werden – was Loske im Beitrag nicht unbedingt tut – , denn in historischer Perspektive war ein liberales Denken gerade nicht wertfrei, sondern explizit orientiert am Wert des Individuums, der persönlichen Würde und Freiheit, das es gegenüber überbordenden staatlichen Ansprüchen zu schützen galt, wie auch übertragen auf das wirtschaftliche Handeln, das hinreichend stark zu schützen sei gegenüber ebenfalls überbordenden staatlichem Eingriffshandeln das tendenziell immer dazu neigt, unnötig viel zu reglementieren, zu kontrollieren, ineffizient zu sein, Verantwortung zu nivellieren, usw.

15. Zugleich ist bekannt, dass wirtschaftliches Verhalten ohne jegliche gesellschaftliche Bindung dazu tendiert, die Kapitaleigner zu bevorteilen und die abhängig Beschäftigten wie auch die umgebende Gesellschaft auszubeuten (man denke nur an das Steuerverhalten von Konzernen wie z.B. google, amazon und Ikea).

16. Es muss also in der Praxis ein ‚Gleichgewicht‘ gefunden werden zwischen maximaler (wertgebundener) Liberalität einerseits und gesellschaftlicher Bindung andererseits. Doch, wie gerade die hitzigen Debatten um die richtige Energiepolitik in Deutschland und Europa zeigen, sind die Argumente für oder gegen bestimmte Maßnahmen nicht völlig voraussetzungslos; je nach verfügbarem Fachwissen, je nach verfügbaren Erfahrungen, ja nach aktueller Interessenslage kommen die Beteiligten zu unterschiedlichen Schlüssen und Bewertungen.

17. Loske selbst erweckt in seinem Beitrag den Eindruck, als ob man so etwas wie einen ‚ökologisch wahren Preis‘ feststellen kann und demzufolge damit konkret Politik betreiben kann. Angesichts der komplexen Gemengelage erscheint mir dies aber als sehr optimistisch und nicht wirklich real zu sein. Wenn man in einer solch unübersichtlichen Situation unfertige Wahrheiten zu Slogans oder gar Handlungsmaximen erhebt und gar noch versucht, sie politische durchzudrücken, dann läuft man Gefahr, wie es im letzten Bundeswahlkampf geschehen ist, dass man vor dem Hintergrund einer an sich guten Idee konkrete Maßnahmen fordert, die nicht mehr gut sind, weil sie fachlich, sachlich noch nicht so abgeklärt und begründet sind, wie es der Fall sein müsste, um zu überzeugen. Dann besteht schnell die Gefahr, mit dem Klischee der ‚Ideologen‘, ‚Fundamentalisten‘, ‚Oberlehrer‘ assoziiert zu werden, obgleich man doch so hehre Ziele zu vertreten meint.

OBERLEHRER DER NATION – NEIN DANKE

18. Im Eingangsartikel SS.4ff stellt Katharina Wagner genau diese Frage, ob verschiedene während des Wahlkampfs angekündigten konkrete Maßnahmen nicht genau solch einen Eindruck des Oberlehrerhaften erweckt haben, als ob die Grüne Partei trotz ihrer großen Werte und Ziele letztlich grundsätzlich ‚anti-liberal‘ sei. Doch bleibt ihre Position unklar. Einerseits sagt sie sinngemäß, dass sich das grüne Programm auf Freiheit verpflichtet weiß, andererseits verbindet sie die ökologische Verantwortung mit der Notwendigkeit, auch entsprechend konkrete und verpflichtende Maßnahmen zu ergreifen. So hält sie z.B. Verbote im Kontext der Gentechnik für unumgänglich. Müssen die Verbote nur besser kommuniziert werden? Gibt es verschiedene ‚Formen‘ von Regeln in einer Skala von ‚gusseisern‘ bis ‚freundliche Einladung‘?

19. Ich finde diese Argumentation unvollständig. Ihr mangelt der Aspekt – genauso wie im Beitrag von Loske –, dass das Wissen um das ‚ökologisch Angemessene‘ in der Regel höchst komplex ist; unser Wissen um die Natur, die komplexen Technologien ist in der Regel unfertig, kaum von einzelnen alleine zu überschauen und in ständiger Weiterentwicklung. Absolut klare und endgültige Aussagen hier zu treffen ist in der Regel nicht möglich. Zwar ist es verständlich, dass das politische Tagesgeschäft griffige Formeln benötigt, um Abstimmungsmehrheiten zu erzeugen, aber dieser Artefakt unseres aktuellen politischen Systems steht im direkten Widerspruch zur Erkenntnissituation und zu den Erfordernissen einer seriösen Forschung ( Mittlerweile gibt es viele Fälle, wo die Politik erheblichen Druck auf die Wissenschaft ausgeübt hat und ausübt, damit auch genau die Ergebnisse geliefert werden, die politisch gewünscht sind; das ist dann nicht nur kontraproduktiv sondern sogar wissenschaftsfeindlich, anti-liberal und auf Dauer eine massive Gefährdung unser Wissensbasis von der Welt, in der wir leben).

20. Eine politische Partei wie die der Grünen, die sich der ökologischen Dimension unserer Existenz verpflichtet wissen will, muss meines Erachtens, um ihre Glaubwürdigkeit zu wahren, weniger darauf bedacht sein, umfassende Vereinfachung durchzudrücken, sondern gerade angesichts der Verpflichtung für das Ganze massiv die wissenschaftlichen Erforschung der Phänomene unterstützen und den sich daraus ergebenden Ansätzen in ihrer ganzen Breite und Vielfalt Raum geben. Dazu müssten viel mehr Anstrengungen unternommen werden, das relevante Wissen öffentlich transparent zu sammeln und so aufzubereiten, dass es öffentlich diskutiert werden könnte. Alle mir bekannten Texte greifen immer nur Teilaspekte auf, betrachten kurze Zeiträume, vernachlässigen Wechselwirkungen, geben sich zu wenig Rechenschaften über Unwägbarkeiten und Risiken. So vieles z.B. an den Argumenten gegen Kernenergie und Gentechnik richtig ist, so fatal ist es aber, dass damit oft ganze Gebiete tabuisiert werden, die als solche noch viele andere Bereiche enthalten, die für eine ökologische Zukunft der Menschheit möglicherweise überlebenswichtig sind.

21. Kurzum, das ‚Oberlehrerhafte‘ und ‚Anti-Liberale‘ erwächst nicht automatisch aus einer Maßnahme als solcher, sondern daraus, wie sie zustande kommt und wie sie sachlich, wissensmäßig begründet ist. In einer komplexen Welt wie der unsrigen, wo die Wissenschaften selbst momentan eine akute Krise der Konsistenz und Qualität durchlaufen, erscheint es nicht gut, mangelndes Wissen durch übertriebenen Dogmatismus ersetzen zu wollen.

FREIHEIT UND GERECHTIGKEIT

22. Die zuvor schon angesprochene Komplexität findet sich ungebremst auch in dem Gespräch zwischen Dieter Schnaas, Kerstin Andreae und Rasmus Andresen (vgl. SS.8f). Hier geht es um maximal komplexe Sachverhalte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, Beschäftigungsverhältnissen, Einkommensstrukturen, Besteuerungssystemen, Versorgungssystemen, Umverteilung, Bildungsprozessen, Wirtschaft im allgemeinen wie auch unterschiedlichen Unternehmensformen und Wirtschaftsbereichen. Diese komplexen Begriffe auf nur zwei Seiten zu diskutieren erscheint mir unangemessen. Schon eine einigermaßen Definition jedes einzelnen dieser Begriffe würde Seiten benötigen.

23. In diesem Bereich griffige Parolen zu formulieren ist zwar eine anhaltende Versuchung und Herausforderung für jeden Politiker, aber dies ist in meinen Augen zum Scheitern verurteilt. Was immer man parolenhaft vereinfachend propagieren möchte, man wird mehr Kollateralschäden anrichten als wenn man das System zunächst einmal sich selbst überlassen würde. Beteiligte Bürger sind in der Regel in der Lage, Schwachstellen des gesellschaftlichen Systems zu erkennen, vorausgesetzt, man lässt diese zu Wort kommen. Und in der Regel wissen auch alle Beteiligte recht gut, in welche Richtung Lösungsansätze gesucht werden müssten, vorausgesetzt, man führt einen realen Dialog, transparent, undogmatisch, mit den notwendigen unterstützenden wissenschaftlichen Exkursen. Die ‚herrschenden‘ Parteien zeichnen sich hingegen bislang überwiegend dadurch aus, dass sie im Kern Lobbypolitik machen, die sie nur notdürftig mit allgemeinen Floskeln kaschieren. Im Prinzip hat die Partei der Grünen sehr gute strukturelle – und motivationale – Voraussetzungen, eine solche transparente, basisdemokratische, wissenschaftlich unterstütze Lösungsfindung zu propagieren und zu praktizieren, wenn sie etwas weniger ‚Oberlehrer‘ sein würde und etwas mehr ‚passionierter Forscher‘ und ‚kreativer Lösungsfinder‘.

WIDER DIE KONTROLLGESELLSCAFT

24. Das Thema ‚Abhören‘ ist zwar seit dem Sommer 2013 mehr und mehr im Munde aller, aber selten übersteigt die Diskussion den rein technischen Charakter des Abhörens oder führt über das bloße Lamentieren hinaus. Selbst die Bundesregierung zusammen mit den einschlägigen Behörden hat bis zu den neuesten Äußerungen der Bundeskanzlerin zum Thema wenig Substanzielles gesagt; im Gegenteil, die politische Relevanz wurde extrem herunter gespielt, die Brisanz für eine zukünftige demokratische Gesellschaft in keiner Weise erkannt.

25. Vor diesem Hintergrund hebt sich der Beitrag von Jan Philipp Albrecht (vgl. SS.6f) wohltuend ab. Er legt den Finger sehr klar auf die Versäumnisse der Bundesregierung, macht den großen Schaden für die deutsche und europäische Industrie deutlich, und er macht u.a. auch auf das bundesweite Sicherheitsleck deutlich, dass durch die Verwendung von US-amerikanischer Software in allen wichtigen Behörden und Kommunen besteht, von der man mittlerweile weiß, dass diese Software schon beim Hersteller für die US-amerikanische Geheimdienste geschützte Zugänge bereit halten. Albrecht macht die Konsequenzen für die Idee einer demokratisch selbstbestimmten Gesellschaft deutlich.

26. Was auch Albrecht nicht tut, ist, einen Schritt weiter zu gehen, und den demokratischen Zustand jenes Landes zu befragen – die USA –, aus dem heraus weltweit solche massenhaft undemokratischen Handlungen bewusst und kontinuierlich geplant und ausgeführt werden. Sind die USA noch minimal demokratisch? Müssen wir uns in Deutschland (und Europa) als Demokraten nicht auch die Frage stellen, inwieweit wir eine Verantwortung für die US-Bevölkerung haben, wenn ihre Regierung sich anscheinend schrittweise von allem verabschiedet, was man eine demokratische Regierung nennen kann? Wie können wir über Demokratie in Deutschland nachdenken, wenn unsere Partner Demokratie mindestens anders auslegen, wie wir? Diese – und weitergehende – transnationale politische Überlegungen fehlen mir in der Debatte der Grünen völlig. Wir leben nicht auf einer Insel der Seeligen. Was heißt ökologische Verantwortung auf einem Planeten, der zu mehr als 50% aus Staaten besteht, die nicht als demokratisch gelten, wobei ja selbst die sogenannten demokratischen Staaten vielfache Mängel aufweisen. Wie sollen wir z.B. die Umwelt schützen, wenn die meisten anderen Staaten keinerlei Interesse haben? usw.

FAZIT

27. Klar, die vorausgehenden Überlegungen sind sehr kursorisch, fragmentarisch. Dennoch, so unvollkommen sie sind, will man sich heute in der kaum überschaubaren Welt als einzelner eine Meinung bilden, hat man keine andere Möglichkeit, als die verschiedenen Gesprächsangebote aufzugreifen und sie mit den eigenen unvollkommenen Mitteln für sich versuchen, durchzubuchstabieren. Am Ende steht gewöhnlich keine neue Supertheorie, sondern – vielleicht – ein paar zusätzliche Querbeziehungen, ein paar neue Eindrücke, der eine der andere neue Aspekt, an dem es sich vielleicht lohnt, weiter zu denken.

28. Jeder, der heute nicht alleine vor sich hin werkeln will, braucht Netzwerke, in denen er ‚Gleichgesinnte‘ findet. Ich selbst bin zwar seit vielen Jahren offizielles Mitglied der Grünen, habe aber bislang – aus Zeitgründen – nahezu nichts gemacht (außer dass ich viele meiner FreundeInnen bewundert habe, die auf kommunaler Ebene konkrete Arbeit leisten). In den nächsten Jahren kann ich mich möglicherweise politisch mehr bewegen. Dies sind erste Annäherungsversuche, um zu überprüfen, ob und wieweit die Partei der Grünen ein geeignetes Netzwerk sein könnte, um politisch ein klein wenig mehr ‚zu tun‘. Allerdings verstehe ich mich primär als Philosoph und Wissenschaftler und ich würde den Primat des Wissens niemals aufgeben, nur um ‚irgendetwas zu tun‘ ….

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SASCHA LOBO: DIE DIGITALE KRÄNKUNG DES MENSCHEN – Eine Nachbemerkung

1) Am 12.Januar2014 erschien im Feuilleton der FAZ auf S.37 ein Beitrag von Sascha Lobo mit der Überschrift ‚Die digitale Kränkung des Menschen‘. Im Kern läuft sein Beitrag auf die Aussage hinaus — hierin Freud folgend –, dass nach den drei großen Kränkungen der Menschheit durch Kopernikus (1473-1543) (Erde nicht im Zentrum), Darwin (1809-1882)(Mensch ist Teil der allgemeinen biologischen Entwicklung), und Freud (1856-1939)(Abhängigkeit des Menschen vom Nicht-Bewussten) nun eine vierte große Kränkung stattgefunden hat, nämlich die ‚digitale Kränkung‘ durch die Entdeckung, dass das Internet, der vermeintlich freie Inkubationsraum einer neuen, globalen freien Gesellschaft, von den Wurzeln her und in all seinen Verästlungen einer vollständigen Überwachung (und auch möglicher Manipulation) durch die NSA — und anderer Geheimdienste — unterliegt.
2) Das Ganze bekommt eine sehr persönliche Note, da er sich damit ‚outet‘, dass er dies nicht nur persönlich als Kränkung empfindet, sondern dass er in diesen Erkenntnissen zugleich auch bei sich selbst eine totale Fehleinschätzung der Situation einräumen muss. Er, der Netzerklärer, fühlt sich vorgeführt, getäuscht, missbraucht. Er unterlässt es nicht, sich als Netzerklärer der Avantgarde zuzurechnen, die es liebt, sich vom ‚durchschnittlichen Bildungsbürger‘ abzugrenzen; zugleich räumt er in der Öffentlichkeit einen Irrtum ein (ein Dritter könnte bei ihm möglicherweise auch eine besondere Spielart von ‚Bildungsbürgertum‘ erkennen, das gerne über Voraussetzungen und Hintergründe hinwegsieht):
3) Denn, dies ist auffällig, bei allem Aufschrei über eine Kränkung, vermisst man eine wirkliche Analyse. Wieso konnte es denn zu solch einem Irrtum kommen? Warum ist das Internet nicht die schöne, heile Welt der Freigeister sondern der Kampfplatz der Geheimdienste?
4) Anstatt Freud einfach nur zu zitieren mit den drei Kränkungen könnte Lobo ja auch diese vorausgegangenen sogenannten ‚Kränkungen‘ hinterfragen. Lobo hätte ja fragen können, ob denn die neuen Erkenntnisse von Kopernikus (und der anderen Wissenschaftler in seinem Gefolge) wirklich eine ‚Kränkung‘ waren oder nicht eher doch eine ‚Befreiung aus der Dunkelheit eines Nichtwissens‘, das sich der Naivität eines Alltagsbewusstseins verdankt, das alles nimmt, wie es ist, anstatt nachzufragen, warum das so ist (und darin ein beliebiger Spielball der aktuell Mächtigen).
5) Ferner hätte Lobo fragen können, ob die Einsichten von Darwin (und vieler anderer) nicht ebenfalls eine Befreiung aus einer tiefen Finsternis von Unkenntnis waren, indem er (mit vielen anderen) aufdecken konnte, dass es zwischen den Lebensformen zu unterschiedlichen Zeitpunkten kausale Verbindungen gibt, die bis in die frühesten Zeiten des Lebens auf dem Planeten Erde zurückweisen. Wiederum waren es Unwissenheit, durch Religionen motivierte Vorurteile und Machtinteressen, die diese Einsichten ‚unpassend‘ fanden, ’störend‘, ‚gefährlich‘, ein Abwehrverhalten, das bis heute anhält (in den USA halten im Jahr 2014 28% der Männer und 38% der Frauen die Evolutionstheorie für falsch).
6) Die Einsichten von Freud in die Abhängigkeit des Bewussten vom Nichtbewussten, heute mehr und mehr vertieft durch das Zusammenwirken von Neurowissenschaften und Psychologie, sind auch nur solange eine Kränkung, als man einem falschen Bild vom Körper, dem Gehirn, dem Psychischen, dem Erkennen anhing. Für Wissenschaftler, Aufklärer und alle ’normalen‘ Menschen kann es wiederum nur eine Befreiung von falschen Bildern über die Welt, insbesondere über den Menschen, sein. Auch das hätte Sascha Lobo hinterfragen können.
7) Würde Lobo den Spuren der Evolutionstheorie folgen, dann würde er u.a. feststellen können, dass die biologische Evolution nur die Fortsetzung einer kosmologischen und chemischen Evolution ist, die sich zu einer kulturellen und technologischen Evolution erweitert haben, innerhalb deren das Internet nur ein kleiner Ausschnitt der Entwicklung darstellt.
8) Ein anderer Ausschnitt wird gebildet von den Systemen der Machtregulierung, die mit den Systemen der neuzeitlichen Demokratien eine sehr innovative und hochkomplexe Form gefunden haben, die sich in einem permanenten ‚Gleichgewichtskampf‘ befinden. Am Beispiel der US-amerikanischen Demokratie kann man beobachten, wie diese seit dem 2.Weltkrieg dabei ist, von ‚innen‘ heraus, von der Exekutive aus, ‚ausgehöhlt‘ bzw. fast ganz ’neutralisiert‘ zu werden. Unter dem alles erschlagenden Motto ‚Nationale Sicherheit‘ wurden und werden nahezu alle Gesetze und Kontrollinstanzen ausgehebelt und parallel wurde ein weltumspannendes imperiales System aufgebaut, das systemisch keinen Spielraum mehr kennt. Dass die USA noch nicht in eine völlige Diktatur abgeglitten sind ist systembedingt nicht zu erklären; irgendwie müssen es viele wunderbare Menschen sein, die das letzte Umkippen aktuell noch verhindern. Die Exekutive selbst lässt nur eine Richtung erkennen: noch mehr Kontrolle ‚von innen‘ und noch weniger Kontrolle ‚von außerhalb‘ des Systems.
9) Diese Vorgänge in den USA sind öffentlich zugänglich und erklären, warum das Internet vor diesem Hintergrund nicht das Internet sein kann, was sich Sascha Lobo wünscht. Warum denkt Lobo darüber nicht nach? Warum interessiert ihn das demokratische System als solches nicht? Das bundesrepublikanische demokratische System hat in den letzten Monaten dramatische Schwachstellen offenbart. Alle zuständigen Stellen — einschließlich der Kanzlerin — haben sich nicht nur einer echten Aufklärung verweigert, sie haben sich selbst auch als radikal anti-demokratisch verhalten. In Sonntagsreden wird vor rechten, linken und muslimischen Fundamentalisten gewarnt, im konkreten Alltag wird aber die demokratische Öffentlichkeit von den gleichen Politikern und politischen Beamten (einschließlich Bundesstaatsanwalt) massiv für Dumm verkauft und geradezu zynisch belogen. So zerstört man eine demokratische Öffentlichkeit und damit auf Dauer nachhaltig eine Demokratie. In Sonntagsreden werden Menschen wie Gandhi, Martin Luther King oder Mandela wegen ihrem Widerstand gegen einen unmenschlichen Staat gefeiert; mit einem Edward Snowden will man aber niemand reden (Lob für Ströbele, der es dennoch tat). So zerstört man Demokratie.
10) Sascha Lobo trauert um den Verlust seiner Unschuld. Immerhin scheint er zu merken, dass seine Spielwiese Internet etwas mit dem Funktionieren oder nicht Funktionieren der Demokratie zu tun hat. Vielleicht führt diese Krise ihn ja dazu, dass er für uns alle künftig für unsere gemeinsame Demokratie mitkämpft. Dann hätte diese Krise ein Gutes. Einer mehr für eine gemeinsame demokratische Zukunft, und damit für ein freies Internet.

DIE WAHRHEIT ERSCHEINT IM BETRACHTER – Oder: WARUM WIR NUR GEMEINSAM DAS ZIEL ERREICHEN KÖNNEN

1) In diesem Blog wurde schon oft über die Wahrheit geschrieben, von ganz unterschiedlichen Perspektiven (und es wird eigentlich Zeit, die Inhalte auf der Übersichtsseite auch mal nach Themen zu gruppieren). Dabei wird deutlich, dass es einerseits um etwas sehr Grundsätzliches, Einfaches geht, das zugleich aber doch für viele, letztlich alle, nicht so einfach fassbar ist.
2) Nicht umsonst gab es in der Geschichte der Ideen seit mehr als 2000 Jahren so viele und immer wieder neue Versuche von großen Denkern, Philosophen, aber auch Schriftstellern, Wissenschaftlern, Künstlern, selbst Theologen, dieses viel schillernde Phänomen zu packen.
3) Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke (oder genauer: ‚Es‘ ‚in mir‘ denkt, nämlich mein Gehirn), entdecke ich immer neue Aspekte oder bestimmte, schon bedachte, Aspekte vertiefen sich irgendwie. So geschehen in den letzten Wochen.
4) Während ich noch versuche, das ungeheuer anregende Buch von T.Engelhardt (ed), „The World Acording to TomDispatch. America in the New Age of Empire“, London-New York: Verso, 2008 (siehe auch die Webseite tomdisptach.com) zu verstehen und zu verarbeiten (es ist vor allem eine Zeitfrage, da unser Denken nun mal Zeit braucht und Zeit ist generell knapp und muss immer wieder neu ‚eingeteilt‘ werden), gibt es parallel natürlich den Gedankenprozess im Alltag, der weiter geht. Und hier tauchte der Gedanke nach der ‚Wahrheit‘ immer wieder auf, insbesondere in einigen Gesprächen mit Freunden, wie man sie nur führen kann, wenn man abends zusammen sitzt, sich Zeit nimmt, und redet.
5) Da ich hier keine Zeit habe, große Abhandlungen zu schreiben, sondern nur spontan einige Gedanken notieren kann, hier also einige Gedanken ohne den ganzen Kontext auszubreiten.
6) Der Kerngedanke von ‚Wahrheit‘ ist, dass es tatsächlich etwas gibt, das da ist vorab und unabhängig von unserem eigenen Denken und Wollen.
7) Für uns, die wir als biologische Wesen ‚Wahrnehmen‘ — man beachte dieses deutsche Wort! im Englischen würde man ‚perceive‘ sagen, und das ist etwas ganz anderes! — können, Fühlen, Erinnern und Denken, ist aber all das, was es unabhängig von uns als Einzelwesen gibt, nur ‚gegenwärtig‘ im ‚Medium‘ unseres Körpers, im Medium der elektrochemischen Prozesse der Zellen, die die ungeheure Masse an elektrochemischen Ereignissen ’strukturieren‘, ‚ordnen‘ und uns als als ‚erlebbare‘ ‚Objekte mit Eigenschaften im Raum‘ zugänglich machen. Die 100 Milliarden Gehirnzellen zusammen mit den ca. 14 Billionen Körperzellen organisieren ‚in uns‘ ein ‚Erlebnis von Welt‘, das unser Bewusstheit und Denken primär ermöglicht, gestaltet, prägt.
8) Nun ‚lernen‘ wir im Laufe des Lebens, dass dieses ‚Bild im Innern des Körpers‘ bei jedem Menschen ‚verschieden‘ sein kann. Kinder, junge Leute, Erwachsene, Ältere, Kranke, im Bewusstsein ‚Gestörte’…. haben unterschiedlichste Anschauungen, können die gleiche Situation unterschiedlich wahrnehmen. Veränderungen der elektrochemischen Prozesse im Körper, z.B. durch Wassermangel, durch chemische Substanzen, durch Verletzungen, können das Wahrnehmen, Erinnern, Fühlen, Denken erheblich beeinflussen.
9) Nachdem sich viele tausend Jahre die unterschiedlichsten Denker (prominent z.B. Platon, Aristoteles, Descartes, Hume, Kant, Hegel…..) intensiv Gedanken gemacht hatten über die Grundlagen, die Struktur und den Prozess unseres Denkens (einschließlich der Wahrheitsfrage) war es der empirischen Wissenschaft vergönnt das Rätsel der ‚Struktur‘ unseres Denkens ein wenig mehr aufzuhellen: unser Denken als Eigenschaft unseres biologischen Körpers hat quasi ’sich selbst‘ ergründet, indem es aufgedeckt hat, dass und wie unsere biologischen Körper seit der ersten biologischen Zelle vor ca. 3.8 Milliarden Jahren sich mit der Entwicklung der körperlichen Strukturen ‚mit entwickeln‘ konnte (eine Form von Koevolution). Und natürlich muss man über die erste biologische Zelle noch hinausgehen und auch den Prozess einbeziehen, der überhaupt zur ersten Zelle geführt hat. Man nennt dies die chemische Evolution, die wiederum nur möglich war, weil es eine noch umfassendere kosmologische Evolution gab (und gibt).,
10) Also in der Tatsache und in der Art und Weise unseres Denkens spiegelt sich indirekt ein Prozess wieder, der all unserem Fühlen und Denken voraus liegt und davon gänzlich unabhängig ist. Die Geschichte des menschlichen Denkens erscheint somit als eine Geschichte der schrittweisen Entdeckung dieses Zusammenhanges, dieses Sachverhaltes.
11) Und hier kommt das ‚Problem der Wahrheit‘ ins Spiel: je besser wir lernen, unser Denken zu verstehen (es ist allerdings nicht so, dass Menschen im Alltagsbetrieb lernen, wer sie wirklich sind, da sie normalerweise gezwungen sind, zum wirtschaftlichen Existieren ‚funktionieren‘ zu müssen, d.h. in der Regel ‚Dinge zu tun‘, die wir nicht eigentlich wollen; und wenn man dann mal Zeit hätte, etwas ‚anderes‘ zu tun, als zu ‚funktionieren‘ weiß man dann in der Regel nicht, wie man das anstellt, etwas ‚anderes‘ zu tun, was Erkenntnisse vermittelt…), umso mehr lernen wir, die Abhängigkeit unseres Denkens nicht nur von den Eigenheiten unseres Körpers zu erkennen, sondern auch von der Art unseres Handelns und unserer Kommunikation. Wenn wir Pech haben, reden wir immer nur mit den ‚falschen‘ Leuten, lesen die ‚falschen‘ Bücher, sehen wir die ‚falschen‘ Filme, usw. was zur Folge hat, dass das ‚Bild‘ in unserem Kopf von der Welt heillos ‚falsch‘ ist. Da die ‚Falschheit‘ im Kopf nicht riecht, nicht schmeckt, aus sich heraus nicht weh tut, merkt ein Mensch in der Regel nicht so ohne weiteres, dass der ‚Inhalt seines Kopfes‘ ‚falsch‘ ist.
12) Und hier wird deutlich, dass wir unausweichlich voneinander abhängen: wenn ein Mensch ‚richtig‘ denken will, dann kann er dies nicht isoliert, nicht ohne ein ‚Umfeld‘, welches das ‚richtiges‘ Erkennen ermöglicht und unterstützt. Wenn es keine anderen gibt, die sich um ‚wahre‘ Erkenntnis bemühen (d.h. um ein ‚inneres Bild‘ von der ‚Welt‘ da draußen, wie sie ist unabhängig von meinem Denken und Wollen), die ihre Erkenntnisse aufschreiben, weiter erzählen, sich untereinander austauschen, sich gegenseitig korrigieren und anregen, dann ist man im Augenblick gefangen wie ein Hamster in seinem Käfig; man kann noch so lange rennen, die Welt ändert sich nicht wirklich, der eigene Zustand führt nur zur Erschöpfung, das ‚innere Bild‘ der Welt bleibt unverändert.
13) Denn das ist eine der größten Herausforderungen jeden Weltbildes: nicht der Augenblick, nicht der einzelne Moment, nicht die einzelne Eigenschaft ‚für sich‘ ‚enthüllt‘ die ‚Wahrheit‘, sondern nur die ‚Zusammenhänge‘ und ‚Regelhaftigkeiten‘ vieler einzelner Augenblicke. Ohne ‚Erinnern‘ jener Ereignisse, die ‚wichtige‘ Zusammenhänge enthüllen, kann es keine Erkenntnis von Wahrheit geben (von daher ist es nicht verwunderlich, dass egoistische Machthaber alles daran setzen, ‚Geschichte‘ in ihrem Sinne schreiben oder umschreiben zu lassen, dass überhaupt nur geschrieben werden darf, was ihnen ‚passt‘, dass nur sie selbst ‚deuten‘ dürfen, wie man die Welt zu sehen hat). Und, leicht unterschätzt, um Zusammenhänge sichtbar machen zu können braucht man eine Sprache‘, eine Sprache die ausdrucksstark genug ist, um all jene Aspekte der Wahrnehmung repräsentieren zu können, auf die es ankommt. Ein Teil der modernen ‚Sprache von der Wahrheit‘ ist die moderne Mathematik; ohne deren Erfindung und Entwicklung würden wir weiter im Chaos der Augenblicke verharren.
14) Wenn wir also heute ein bisschen mehr über die Struktur und Entstehung der empirischen Welt (von der wir und unser Denken ein Teil sind), dann nur Dank der empirischen Wissenschaften seit ca. 500 Jahren, in der viele 10000 Männer und Frauen in eigener Verantwortung und oft unter Einsatz ihres Lebens Eigenschaften der Welt ’sichtbar‘ gemacht haben, die uns hervorgebracht hat.
15) Wie zu allen Zeiten versuchen auch heute jene, die in irgendeiner Form Macht haben, diese forschenden Männer und Frauen ‚unter Kontrolle‘ zu bringen, sie für ihre privaten Zwecke zu missbrauchen (die forschenden Männer und Frauen können natürlich auch ihren eigenen Machtgelüsten verfalle…). Es bleibt ein offener Prozess, wieweit wir mit dem Projekt der ‚Wahrheit‘ kommen werden.
16) Auch haben wir gelernt, dass die verschiedenen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen dem Projekt der Wahrheit unterschiedlich gut tun (wie auch umgekehrt das Projekt der Wahrheit bestimmte Gesellschafts- und Wirtschaftsformen begünstigt).
17) Wer also überhaupt irgendwie ‚Wahrheit erkennt‘ der weiß, dass er alleine nichts vermag. Entweder wir ALLE ZUSAMMEN arbeiten am Projekt der Wahrheit oder wir werden es als Menschen nicht erreichen. Der aktuelle Zustand der Welt ist vor diesem Hintergrund einerseits erfreulich, dass wir überhaupt Ansätze zu einer wahrheitsfreundlichen Welt vorfinden, aber die Bereiche des ‚Wahrheitsfeindlichen‘ (die nicht rein zufällig auch ‚menschenfeindlich‘ sind) erscheinen doch noch sehr groß, fast erdrückend.
18) Unsere einzige Hoffnung besteht darin, dass die umfassende Wahrheit VOR all unserem Denken und Handeln gegeben war, dass WIR Produkte dieser Wahrheit sind, und dass wir letztlich nur deshalb in der aktuellen biologischen Form existieren, weil wir uns schrittweise der Wahrheit angenähert haben, nicht (!) weil wir dies ‚wollten‘, sondern weil die Wahrheit in allen Strukturen ‚wirkt‘ und den Prozess durch ihre umfassende Vorgabe indirekt ’steuert‘. Darin liegt der einzige Kern von Hoffnung. Und hierzu gäbe es natürlich viel zu sagen (was z.T. schon in vorausgehenden Blogeinträgen geschehen ist).
19) Die innere ‚Logik‘ all dieser Prozesse enthüllt sich z.T. auch in der ‚Spiritualität‘, von der alle Religionen dieser Welt mehr oder weniger leben. Dies bedeutet aber nicht, dass die aktuellen institutionellen Formen dieser Religionen dem entsprechend bzw. es bedeutet nicht automatisch, dass die aktuellen institutionellen Formen der Religionen einen Zugang zu dieser tiefliegenden alles Leben betreffenden Spiritualität unterstützen. Ich bin so frei zu behaupten, dass keine der aktuellen institutionellen Formen der Religionen die Spiritualität unterstützt, die die innere Logik der allumfassenden Wahrheit bildet. Wir sitzen alle im gleichen Boot und die Wahrheit ist für uns alle die gleiche. Wahrheit ist ganz und gar nicht käuflich!!!

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ZWISCHENREFLEXION: DEMOKRATIE – MEHR ALS NUR EIN WORT!

Letzte Änderungen (als Kommentar): 9.Sept.2013

1) In den letzten Wochen der Lektüre und Reflexionen zum Thema USA – Demokratie – Missbrauch von Demokratie – emergente Komplexität – Zukunft des Lebens auf der Erde habe ich nicht nur eine neue Nähe zu diesem alten Thema bekommen, sondern — vielleicht muss ich dies so direkt sagen — fast habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt zum ersten Mal meine zu erahnen, welch ungeheuerliche Errungenschaft demokratische Gesellschaftsformen im Laufe der Evolution waren.
2) Für alle, die in Demokratien leben oder gar darin aufgewachsen sind, besteht allerdings immer die Gefahr, sich an das Wunderbare so zu gewöhnen, dass man es irgendwie gar nicht mehr wahrnimmt, es wird zum Alltag, ein Grau in Grau, in dem alltägliche Ereignisse die Wahrnehmung anfüllen und die ermöglichende Hintergründe verschwinden, verblassen, unwirklich werden, bis dahin, dass irgendwann niemand mehr so richtig weiß, dass man tatsächlich in einer Demokratie lebt; dass man noch versteht, was es bedeutet, in einer Demokratie zu leben, und welch ungeheure Prozesse in der Vergangenheit notwendig waren, dass es dazu kommen konnte.
3) Und es ist genau der Alltag, in dem sich einerseits der ‚Sinn von Demokratie‘ ‚erfüllt‘, indem die Menschen in einer Demokratie in einer Weise frei leben können, wie sie es in keinem anderen Gesellschaftssystem können; zum anderen ist es aber auch diese Freiheit — gerade dann, wenn sie zur ‚Normalität‘ wird — die in gewisser Weise Ertauben und Erblinden lässt für das Kostbare an ihr. Solange man genug zu Essen und zu Trinken hat wird man sich kaum darum kümmern, wo Essen und Trinken herkommt; erst wenn das Wasser knapp wird, wenn Essen ausbleibt, fängt man an, danach zu suchen. Dann kann es zu spät sein. Ohne Wasser kein Essen, ohne Essen kein Leben. Dann fehlt auch die Kraft zu allem anderen.
4) Neben der ‚Gewohnheit‘ schlechthin, die alle Gehirne einlullt (ob Reich oder Arm, ob ‚einfach‘ oder ‚gebildet‘, ob ‚machtfern‘ oder ‚machtvoll‘), sind es die Eigenart von Institutionen, die jedes Mitglied durch ihre Rollen und Regeln in ihren Bann ziehen. Davor ist keine Institution gefeit. Selbst eine ’staatliche‘ Einrichtung, die von ihrer juristischen Begründung her, dem ‚Staat dienen‘ soll, kann einem Staat nur in dem Masse dienen, wie ihre Mitglieder auch in der Weise ‚denken‘ und ‚fühlen‘, wie sie ihrem staatlichen Auftrag entspricht. Wie die Geschichte uns lehrt, gibt es zwischen dem ‚Auftrag‘ und dem ‚Denken‘ und ‚Fühlen‘ keinen Automatismus; das Handeln und das Selbstverständnis von Mitgliedern jeder Institution kann sich sehr weit von dem entfernen, was mit dem Auftrag gemeint ist. Und wenn die Leiter oder ‚Chefs‘ von Institutionen schon ’schiefliegen‘ (was sehr schnell der Fall sein kann), dann kann dies eine Institution sehr direkt und sehr schnell ‚prägen‘.
5) Da alle Institutionen diese Sollbruchstelle ‚Irrtum‘, ‚Fehlinterpretation‘, ‚unkritische Gewohnheiten‘ usw. besitzen, würde eine Demokratie versuchen, eine maximale Transparenz zwischen allen Institutionen herzustellen, Verfahren einrichten, die bewusst mit Irrtümern rechnen und die es erlauben, Irrtümer zu korrigieren. Dem steht die ’natürliche Eigentendenz‘ von Institutionen und ihren ‚Gewohnheiten‘ entgegen, sich ‚abzuschotten‘, da die Mitglieder von Institutionen ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt genau der Existenz dieser Institution verdanken. Je weniger Alternativen sie für sich sehen, umso mehr werden sie ‚ihre‘ Institution ’schützen‘. Alle ‚Abweichler‘ sind bedrohlich, alle ‚Neuerer‘ gefährlich! Transparenz und Erfolgskontrollen werden als ‚feindlich‘ interpretiert.
6) Diese ‚Selbstverliebtheit‘ von Institutionen ist unabhängig von ethnischen, ideologischen, politischen oder sonstigen Randbedingungen; es sind wir Menschen selbst mit unseren Bedürfnissen und Ängsten, die wir uns mit Institutionen ’solidarisieren‘, wenn wir den Eindruck haben, sie helfen uns.
7) In einer Demokratie braucht es genauso Institutionen wie in jeder anderen Gesellschaftsform. Während aber in einer Nicht-Demokratie Institutionen ausschließlich an den jeweiligen ‚Machthabern‘ und ‚Geldgebern‘ ausgerichtet sind (bei Beachtung der starken Eigeninteressen), ist in einer Demokratie eine Institution zwar auch dem ‚juristischen Auftraggeber‘ verpflichtet, daneben aber auch und nicht zuletzt der Bevölkerung, dem diese Institution ‚dienen‘ soll. Das schafft eine höhere Verantwortung, stellt eine größere Herausforderung dar, verlangt mehr von allen Beteiligten. Demokratische Gesellschaften setzen immer und überall ‚freie Bürger‘ voraus, die sich den grundlegenden Werten verpflichtet fühlen.
8) Und damit wird deutlich, wo die primäre Schwachstelle jeder Demokratie — wie aber auch letztlich jeder menschlichen Vereinigung — liegt: der ‚freie‘ und ‚wertebewusste‘ Bürger fällt nicht einfach so vom Himmel, er muss ‚entstehen‘ durch langwierige Lernprozesse, die nie aufhören. Er muss lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden, die wirklichkeitsbezogen (= wahr) ist und zugleich ‚kritisch‘ in dem Sinne, dass er/sie weiß, warum er/sie das so sieht; er/sie hat Begründungen, kann begründen, kann Fragen stellen und kann Antworten finden.
9) Doch im Alltagsgeschäft — siehe die vielen früheren Blogeinträge –, in dem jeder um seinen Lebensunterhalt kämpfen muss, ist der Raum und die Zeit für notwendige Informations-, Kommunikations- und Denkprozesse mehr als knapp. Faktisch lässt jeder auf irgendeine Weise vieles ‚von anderen Denken‘ im Vertrauen, dass diese es schon richtig machen…. und das erscheint fast unausweichlich angesichts der — selbst erzeugten — wachsenden Komplexität der Umwelt.
10) Und in dem Masse, wie jeder auf den anderen angewiesen ist, muss er darauf vertrauen können, dass der andere das ‚Richtige‘ meint und tut. Vertrauen ist eine Grundkategorie in modernen komplexen Gesellschaften — auch wenn Vertrauen per se keine Korrektheit oder Richtigkeit garantiert. Selbst wenn der andere, dem man vertraut, beste Absichten hat, kann er irren.
11) Und hier wird wiederum deutlich, dass eine funktionierende, transparente, qualitativ hochwertige Öffentlichkeit die wichtigste Schlagader jeder lebendigen Demokratie ist. Beginnt diese zu leiden, wird diese geschwächt, wird sie verzerrt und manipuliert, dann zerbricht eine Demokratie quasi an ‚inneren Blutungen‘. Alle Mitglieder einer Demokratie — einschließlich ihrer Institutionen — werden desintegriert und partikuläre Interessen gewinnen die Oberhand (vorzugsweise Geheimdienste und Militär verbunden mit jenen Unternehmen, die dadurch profitieren (Paradebeispiel der zweit Irakkrieg)).
12) In solchen ‚verzerrten‘ undemokratischen Situationen können nur außergewöhnliche Maßnahmen (wie z.B. die von Martin Luther King oder anderen politischen Bewegungen) helfen, das allgemeine Bewusstsein so zu beeinflussen, dass eine Mehrheit sich für die notwendigen demokratischen Werte bereit findet. Demokratie ohne entsprechenden Einsatz kann es auf Dauer nie geben. Ein demokratisches Bewusstsein entsteht nicht von selbst. Es muss sich anlässlich von Fragestellungen aktiv und öffentlich formen (in diesem Kontext sind z.B. Polizeikräfte, die Demonstranten nicht mehr als ‚Bürger‘ wahrnehmen und nicht als solche behandeln, keine ‚demokratischen‘ Kräfte mehr, genauso wenig jene, die sie befehligen).
13) Doch zurück zum Grundsätzlichen: wenn die biologische Evolution nun mal diese exponentiell wachsende Komplexität aus sich heraus gesetzt hat und wir wissen, dass es ein ‚Optimum‘ nur geben kann, wenn alle Beteiligten sich dem Prozess — letztlich auf ‚demokratische‘ Weise !!! — nicht ‚unterwerfen‘, sondern sich bewusst und verstehend und motiviert ‚einordnen‘, dann ist Demokratie nicht nur ein polit-technisches Problem der hinreichenden Kommunikation, sondern auch ein Problem der ‚Motivation‘, der ‚Werte‘, ja sicher auch eines der geeigneten ‚Spiritualität‘. Woher soll all die Motivation kommen? Wie soll jemand sich für eine ‚gemeinsame Sache‘ einsetzen, wenn viele wichtige Vertreter in der Öffentlichkeit — meist aus Dummheit — ‚Egoismus‘ predigen, ‚Gewalt‘ verherrlichen, ‚Misstrauen‘ sähen, und Ähnliches mehr.
14) Nah betrachtet kann man ja niemanden zu einer ‚demokratischen Gesinnung‘ zwingen; noch so viele Anregungen und Lernprozesse bleiben ‚unvollendet‘, wenn die betreffende Person ‚von sich aus‘ ’nicht will‘. Umgekehrt heißt dies, eine demokratische Überzeugung und ein bewusstes demokratisches Verhalten sind Persönlichkeitsmerkmale von großem Wert, die einem ‚Geschenk‘ an die Gesellschaft gleich kommen. Die Menschen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die vielen Menschen und Bewegungen weltweit, die sich für die Rechte der Menschen und eine menschliche Gesellschaft einsetzen, sind alle nicht ‚Geschickte‘, sondern aus eigenem Antrieb ‚Berufene‘ für eine bessere menschliche Gesellschaft, letztlich für uns alle. ‚Demokraten‘ sind Menschen, die sich ihrer ‚Menschlichkeit‘ im Kontext aller anderen Menschen — auf die eine oder andere Weise — ‚bewusst‘ geworden sind und die mit ihrem Leben dazu beitragen wollen, dass wir ‚gemeinsam‘ eine Zukunft als ‚Menschen auf dieser Erde‘ haben.
15) Alle wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass wir den aktuellen Komplexitätssprung der Evolution nur in dem Umfang werden bewältigen können, in dem wir es schaffen, möglichst viele Bereiche der Menschheit ‚von innen her‘ dazu zu befähigen, die alltäglichen Prozesse entsprechend zu gestalten. Die Zukunft ist in diesem Sinne nicht nur eine technologische Herausforderung, sondern auch — und vielleicht je länger um so mehr — eine ‚personale‘, ’spirituelle‘ Herausforderung. Die Moral, Ethiken, Verhaltensmuster, Machtspiele der Vergangenheit werden nicht ausreichen, um die nächste Hürde zu nehmen. Bislang haben wir ‚Heilige‘ und ‚Helden‘ gern ins Museum gestellt als die großen Ausnahmen, auf möglichst hohe Podeste, dass nur ja niemand auf die Idee kommen könnte, solches Verhalten mit dem Alltag zu nahe in Verbindung zu bringen. Aber die Wahrheit ist, wir brauchen dieses ‚Heroisch-Heilige‘ für jeden von uns, letztlich. Es ist nur nicht ganz klar, wie wir diese ‚von innen getriebene‘ Bewegung wirksam fördern können. Möglicherweise müssen wir das auch gar nicht, weil jeder von uns dies ja letztlich verkörpert. Er muss sich seiner nur ‚bewusst werden‘. Der ‚freie Mensch‘ ist etwas ‚Unverfügbares‘, ein Stück ‚wahrhafter Offenbarung‘, und jede Religion, jedes politische System muss sich daran messen lassen. Ein am Leben interessiertes System kann nur in dem Masse ‚gut‘ sein, als es ‚freie Menschen‘ zulässt und fördert.

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DONALD A.NORMAN, THINGS THAT MAKE US SMART – Teil 5

Diesem Beitrag ging voraus Teil 4.

BISHER

In den vorausgehenden Teilen wurden bislang zwei Aspekte sichtbar: einmal die ‚Menschenvergessenheit‘ in der Entwicklung und Nutzung von Technologie sowie die Einbeziehung von ‚wissensunterstützenden Dingen‘ sowohl außerhalb des Körpers (physisch) wie auch im Denken selber (kognitiv). Ferner hatte Norman die Vielfalt des Denkens auf zwei ‚Arbeitsweisen‘ reduziert: die ‚erfahrungsorientierte‘ Vorgehensweise, ohne explizite Reflexion (die aber über ‚Training‘ implizit in die Erfahrung eingegangen sein kann), und die ‚reflektierende‘ Vorgehensweise. Er unterschied ferner grob zwischen dem Sammeln (‚accretion‘) von Fakten, einer ‚Abstimmung‘ (‚tuning‘) der verschiedenen Parameter für ein reibungsloses Laufen, Schreiben, Sprechen, usw., und einer Restrukturierung (‚restructuring‘) vorhandener begrifflicher Konzepte. Ferner sieht er in der ‚Motivation‘ einen wichtigen Faktor. Diese Faktoren können ergänzt werden um Artefakte, die Denkprozesse unterstützen. In diesem Zusammenhang führt Norman die Begriffe ‚Repräsentation‘ und ‚Abstraktion‘ ein, ergänzt um ‚Symbol‘ (nicht sauber unterschieden von ‚Zeichen‘) und ‚Interpreter‘. Mit Hilfe von Abstraktionen und Symbolen können Repräsentationen von Objekten realisiert werden, die eine deutliche Verstärkung der kognitiven Fähigkeiten darstellen.

PROBLEMZUGANG DURCH INTERFACE VERBESSERN

1) Auf den S.77-113 widmet sich Norman dem Thema, wie Artefakte die Behandlung einer Aufgabe ändern können. Er geht dabei aus von der fundamentalen Einsicht, dass die Benutzung eines Artefaktes nicht die kognitiven Eigenschaften des Benutzers als solchen ändert, sondern – bestenfalls – den Zugang zum Problem. (vgl. S.77f).
2) [Anmerkung: Wir haben also zwei Situationen Sit1= und Sit2= mit ‚P‘ für ‚Problem=Aufgabe‘, ‚Int‘ für ‚Interface = Artefakt‘ und ‚U‘ für ‚User = Benutzer‘. Während in Situation 1 der Benutzer mit seinen ‚angeborenen kognitiven Strukturen‘ das Problem verarbeiten muss, kann er in Situation 2 auf ein Interface Int zurückgreifen, das idealerweise alle jene Aspekte des Problems, die für ihn wichtig sind, in einer Weise ‚aufbereitet‘, die es ihm ‚leichter‘ macht, mit seinen ‚angeborenen‘ kognitiven Fähigkeiten damit umzugehen. Nehmen wir zusätzlich an, dass der Benutzer U ein lernfähiges System ist mit der minimalen Struktur U= und fu: I x IS —> IS x O, dann würde man annehmen, dass das Interface eine Art Abbildung leistet der Art Int: P —> I und Int: O —> P. Wie ‚gut‘ oder ’schlecht‘ ein Interface ist, könnte man dann einfach daran überprüfen, wieweit der Benutzer U dadurch seine Aufgaben ’schneller‘, ‚leichter‘, ‚mit weniger Fehlern‘, mit ‚mehr Zufriedenheit‘ usw. leisten könnte.]
3) Norman macht dann auf den Umstand aufmerksam, dass zwischen den wahrnehmbaren Eigenschaften eines Artefakts und den korrelierenden ‚Zuständen‘ bei der heutigen stark integrierten Technologie oft kein Zusammenhang mehr erkennbar ist. Dies führt zu Unklarheiten, Belastungen und Fehlern. Er spricht sogar von dem ‚Oberflächen‘- (’surface‘) und dem ‚Internen‘- (‚internal‘) Artefakt. (vgl. S.70-81).
4) [Anmerkung: Die Unterscheidung von ‚Oberfläche‘ und ‚Intern‘ halte ich für problematisch, da natürlich jedes Artefakt, das als Interface einen Benutzerbezug hat letztlich nur über sein äußerlich beobachtbares Verhalten definierbar und kontrollierbar ist. Die jeweiligen internen Strukturen sind eher beliebig. Allerdings macht die Unterscheidung von ‚Oberflächeneigenschaften‘ und ‚Funktionszustand‘ Sinn. Wenn also ein Drehknopf die Lautstärke reguliert, dann wäre der Drehknopf mit seiner ‚Stellung‘ die Oberflächeneigenschaft und die jeweilige Lautstärke wäre ein davon abhängiger ‚Funktionszustand‘ oder einfach ‚Zustand‘. Der Zustand wäre Teil der Aufgabenstellung P. Das, was ein Benutzer U kontrollieren möchte, sind die verschiedenen Zustände {…,p_i.1, …, pi.n,…} von P. Nimm man also an, dass das Interface Int auch eine Menge von Oberflächeneigenschaften {ui_i.1, …, ui_i.m} umfasst, dann würde ein Interface eine Abbildung darstellen der Art Int: {…,ui_i.j, …} —> {…,p_r.s,…}. Nehmen wir an, die Menge P enthält genau die Zustände des Problems P, die ‚wichtig‘ sind, dann wäre es für einen Benutzer U natürlich um so ‚einfacher‘, P zu ‚kontrollieren‘, (i) um so direkter die Menge dom(Int) = {ui_i.1, …, ui_i.m} bestimmten Problemzuständen entsprechen würde und (ii) um so mehr die Menge dom(Int) den kognitiven Fähigkeiten des Benutzers entsprechen würde. ]
5) Auf den SS.82-90 illustriert Norman diesen grundlegenden Sachverhalt mit einer Reihe von Beispielen (Türme von Hanoi, Kaffeetassen).

COMPUTER KEIN MENSCH
FORMALE LOGIK vs. ALLTAGS-LOGIK

6) Norman wiederholt dann die Feststellung, dass die Art wie das menschliche Gehirn ‚denkt‘ und wie Computer oder die mathematische Logik Probleme behandeln, grundlegend verschieden ist. Er unterstreicht auch nochmals, dass die Qualität von psychologischen Zuständen (z.B. im Wahrnehmen, Denken) oft keine direkten Rückschlüsse auf die realen Gegebenheiten zulassen. (vgl. S.90-93)
7) [Anmerkung1: Die Tatsache, dass die ‚formale Logik‘ Logik der Neuzeit nicht der ‚Logik des Gehirns‘ entspricht, wird meines Erachtens bislang zu wenig untersucht. Alle Beweise in der Mathematik und jenen Disziplinen, die es schaffen, mathematische Modelle = Theorien zu ihren empirischen Fakten zu generieren, benutzen als offizielle Methode der Beweisführung die formale Logik. Diese formale Logik arbeitet aber anders als die ‚Logik des Alltags‘, in der wir mit unserem Gehirn Abstrahieren und Schlüsse ziehen. In meiner Ausbildung habe ich erlebt, wie man vom ‚alltäglichen‘ Denken in ein ‚formales‘ Denken quasi umschalten kann; man muss bestimmte Regeln einhalten, dann läuft es quasi ‚wie von selbst‘, aber das Umschalten selbst, die Unterschiede beider Denkweisen, sind meines Wissens bislang noch nie richtig erforscht worden. Hier täte ein geeignetes Artefakt = Interface wirklich Not. Während man im Bereich der formalen Logik genau sagen kann,was ein Beweis ist bzw. ob eine bestimmte Aussage ‚bewiesen‘ worden ist, kann man das im alltäglichen denken nur sehr schwer bis gar nicht. Dennoch können wir mit unserem alltäglichen Denken Denkleistungen erbringen, die sich mit einem formalen Apparat nur schwer bis (zur Zeit) gar nicht erbringen lassen. (Auf den SS.128f ergänzt Norman seine Bemerkungen zum Unterschied von formaler Logik und dem menschlichen Denken.)]
8) [Anmerkung2: Daraus folgt u.a., dass nicht nur die Ausgestaltung von konkreten Artefakten/ Schnittstellen sehr ausführlich getestet werden müssen, sondern auch der Benutzer selbst muss in all diesen Tests in allen wichtigen Bereichen vollständig einbezogen werden.]
9) Auf den SS.93-102 diskutiert Norman diesen allgemeinen Sachverhalt am Beispiel von graphischen Darstellungen, Für und Wider, beliebte Fehlerquellen, gefolgt von einigen weiteren allgemeinen Überlegungen. vgl. S.102-113)
10) Auf den Seiten 115-121 trägt Norman viele Eigenschaften zusammen, die für Menschen (den homo sapiens sapiens) charakteristisch sind und die ihn nicht nur von anderen Lebewesen (einschließlich Affen) unterscheiden, sondern vor allem auch von allen Arten von Maschinen, insbesondere Computer, einschließlich sogenannter ‚intelligenter‘ Maschinen (Roboter). Im Prinzip sind es drei Bereiche, in denen sich das Besondere zeigt: (i) der hochkomplexe Körper, (ii) das hochkomplexe Gehirn im Körper, (iii) die Interaktions- und Kooperationsmöglichkeiten, die soziale Strukturen, Kultur und Technologie ermöglichen. Die Komplexität des Gehirns ist so groß, dass im gesamten bekannten Universum nichts Vergleichbares existiert. Die Aufzählung von charakteristischen Eigenschaften auf S.119 ist beeindruckend und lässt sich sicher noch erweitern.
11) [Anmerkung: Im Bereich Mench-Maschine Interaktion (MMI)/ Human-Machine Interaction (HMI) – und ähnlich lautenden Bezeichnungen – geht es – wie der Name schon sagt – primär um die Beziehungen zwischen möglichen technischen Systemen und den spezifischen Eigenschaften des Menschen. In der Regel wird aber der Mensch ‚als Mensch‘, die besondere Stellung des Menschen nicht so thematisiert, wie es hier Norman tut. Die MMI/ HMI Literatur hat immer den Hauch einer ‚Effizienz-Disziplin‘: nicht die Bedürfnisse des Menschen als Menschen stehen im Mittelpunkt, sondern (unterstelle ich jetzt) ein übergeordneter Produktionsprozess, für dessen Funktionieren und dessen Kosten es wichtig ist, dass die Mensch-Maschine Schnittstellen möglichst wenig Fehler produzieren und dass sie mit möglichst geringem Trainingsaufwand beherrschbar sind. In gewissem Sinne ist diese Effizienzorientierung legitim, da der Mensch ‚als Mensch‘ in sich eine Art ‚unendliches Thema‘ ist, das kaum geeignet ist für konkrete Produktionsprozesse. Wenn ich aber einen konkreten Produktionsprozess verantworten muss, dann bin ich (unter Voraussetzung dieses Prozesses) gezwungen, mich auf das zu beschränken, was notwendig ist, um genau diesen Prozess zum Laufen zu bringen. Allgemeine Fragen nach dem Menschen und seiner ‚Bestimmung‘ können hier nur stören bzw. sind kaum behandelbar. Andererseits, wo ist der Ort, um über die Besonderheiten des Menschen nachzudenken wenn nicht dort, wo Menschen real vorkommen und arbeiten müssen? Philosophie im ‚Reservat des gesellschaftlichen Nirgendwo‘ oder dort, wo das Leben stattfindet?]

EVOLUTIONÄRE HERLEITUNG DES JETZT

12) Mit Bezugnahme auf Mervin Donald (1991) macht Norman darauf aufmerksam dass die auffälligen Eigenschaften des Menschen auch einen entsprechenden evolutionären Entwicklungsprozess voraussetzen, innerhalb dessen sich die heutigen Eigenschaften schrittweise herausgebildet haben. Das Besondere am evolutionären Prozess liegt darin, dass er immer nur ‚weiterbauen‘ kann an dem, was schon erreicht wurde. Während moderne Ingenieure immer wieder auch mal einen kompletten ‚Neuentwurf‘ angehen können (der natürlich niemals radikal ganz neu ist), kann die biologische Evolution immer nur etwas, was gerade da ist, geringfügig modifizieren, also ein System S‘ zum Zeitpunkt t+1 geht hervor aus einem System S zum Zeitpunkt t und irgendwelchen Umgebungseigenschaften (E = environmental properties): S'(t+1) = Evol(S(t),E). Die Details dieses Prozesses, so wie Donald sie herausarbeitet, sind sicher diskutierbar, aber das Grundmodell sicher nicht.(vgl. SS.121-127)
13) [Anmerkung: Obwohl die Wissenschaft heute die Idee einer evolutionären Entwicklung als quasi Standard akzeptiert hat ist doch auffällig, wie wenig diese Erkenntnisse in einer theoretischen Biologie, theoretischen Psychologie und auch nicht in einer Künstlichen Intelligenzforschung wirklich angewendet werden. Eine ‚Anwendung‘ dieser Einsichten würde bedeuten, dass man relativ zu bestimmten phäomenalen Verhaltenseigenschaften nicht nur ein Strukturmodell S'(t) angibt, das diese Leistungen punktuell ‚erklären‘ kann, sondern darüber hinaus auch ein evolutionäres (prozessurales) Modell, aus dem sichtbar wird, wie die aktuelle Struktur S'(t) aus einer Vorgängerstruktur S(t-1) hervorgehen konnte. In der künstlichen Intelligenzforschung gibt es zwar einen Bereich ‚evolutionäre Programmierung‘, aber der hat wenig mit der bewussten theoretischen Rekonstruktion von Strukturentstehungen zu tun. Näher dran ist vielleicht das Paradigma ‚Artificial Life‘. aber da habe ich aktuell noch zu wenig Breitenwissen.]

GESCHICHTEN

14) Nach kurzen Bemerkungen zur Leistungsfähigkeit des Menschen schon mit wenig partiellen Informationen aufgrund seines Gedächtnisses Zusammenhänge erkennen zu können, was zugleich ein großes Fehlerrisiko birgt (vgl. S.127f), verlagert er dann den Fokus auf die erstaunliche Fähigkeit des Menschen, mit großer Leichtigkeit sowohl komplexe Geschichten (’stories‘) erzeugen, erinnern, und verstehen zu können. Er verweist dabei vor allem auf die Forschungen von Roger Schanck.(vgl. 129f)

TYPISCHE MENSCHLICHE FEHLER

15) Norman erwähnt typische Fehler, die Menschen aufgrund ihrer kognitiven Struktur machen: Flüchtigkeitsfehler (’slips‘) und richtige Fehler (‚mistakes‘). Fehler erhöhen sich, wenn man nicht berücksichtigt, dass Menschen sich eher keine Details merken, sondern ‚wesentliche Sachverhalte‘ (’substance and meaning‘); wir können uns in der Regel nur auf eine einzige Sache konzentrieren, und hier nicht so sehr ‚kontinuierlich‘ sondern punktuell mit Blick auf stattfindende ‚Änderungen‘. Dementsprechend merken wir uns eher ‚Neuheiten‘ und weniger Wiederholungen von Bekanntem.(vgl. S.131) Ein anderes typisches Fehlerverhalten ist die Fixierung auf eine bestimmte Hypothese. Es ist eine gewisse Stärke, einen bestimmten Erklärungsansatz durch viele unterschiedliche Situation ‚durchzutragen‘, ihn unter wechselnden Randbedingungen zu ‚bestätigen‘; zugleich ist es aber auch eine der größten Fehlerquellen, nicht genügend Alternativen zu sehen und aktiv zu überprüfen. Man nennt dies den ‚Tunnelblick‘ (‚tunnel vision‘). (vgl. SS.31-138)

Fortsetzung folgt mit Teil 6

LITERATURVERWEISE

Merlin Donald, „Origins of the Modern Mind: Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition“, Cambridge (MA): Harvard University Press,1991

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