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ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Teil 11 – Sprache und Höheres Bewusstsein

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 4.Dez. 2018
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Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

BISHER

Für die bisherige Diskussion siehe die kumulierte Zusammenfassung HIER.

KURZFASSUNG

In direkter Fortsetzung zum vorausgehenden Kapitel über das ‚primäre Bewusstsein‘ führt Edelman in diesem Kapitel jene Bewusstseinsformen ein, die ‚höher‘ sind, da ‚komplexer‘, und die auf dem primären Bewusstsein aufbauen. Zugleich deutet er an, wie sich die Entstehung dieser komplexen Bewusstseinsformen im Rahmen seiner Gehirntheorie erklären lässt (Rückverweis auf Kap.6).

KAP.12 Sprache und Höheres Bewusstsein

  1. Im vorausgehenden Kapitel wurde das ‚primäre Bewusstsein‘ beschrieben, das in der ‚unmittelbaren (sinnlichen) Wahrnehmung‘ fundiert ist, angereichert mit ‚Kommentaren‘ aus dem ‚Inneren‘ des Systems bestehend aus ‚Bedürfnissen‘ einerseits und ‚Erinnerungen‘ andererseits. (vgl. S.124)

  2. Obgleich wir Menschen über ein solches primäres Bewusstsein verfügen, ist festzustellen, dass wir Menschen gleichzeitig über ‚mehr‘ verfügen: wir sind nicht nur fundiert in einer primären kommentierten Wahrnehmung des ‚Jetzt‘, der ‚Gegenwart‘, wir verfügen zugleich auch über die Möglichkeit, die ‚Gegenwart‘ explizit in Beziehung zu setzen zur ‚Erinnerung vorausgehender Gegenwarten‘. Diese Erinnerungen sind aber nicht nur strukturiert durch ‚perzeptuelle Kategorien (angereichert mit ‚Werten‘)‘, sondern auch durch ‚konzeptuelle Kategorien‘, die das ‚höhere Bewusstsein‘ mit Blick ‚auf das primäre Bewusstsein und seinen Kontext‘ ausbilden kann. Neben den schon erwähnten Vergleichen von aktueller Gegenwart und erinnerter (kommentierter) Gegenwart können die Qualia als solche adressiert werden, ihre Eigenschaften, ihre zeitlichen-räumlichen Beziehungen, wie auch eine Kodierung von Qualia mit sprachlichen Elementen (auch Qualia) in Form eines ’symbolischen Gedächtnisses‘: sprachliche Zeichen werden assoziiert mit ihrer ‚Bedeutung‘ in Gestalt von Strukturen von Qualia. Ferner sind diese ‚höheren‘ mentalen Leistungen neuronal über Schleifen mit den primären Schaltkreisen so verknüpft, dass damit die primären Prozesse durch die höheren Prozesse ‚kommentiert‘ werden können. Das primäre Bewusstsein ist dadurch ‚eingebettet‘ in das höhere Bewusstsein, ist damit genuiner Teil von ihm. (vgl. S.124f)

  3. Edelman merkt fragend an, ob es der Versuch der Befreiung von all diesen ‚Kommentierungen‘ vielleicht   ist, was manche ‚Mystiker‘ gemeint haben, wenn sie – auf unterschiedliche Weise – von einem ‚reinen Bewusstsein‘ sprechen. (vgl. S.124)

  4. Während also das ‚primäre‘ Bewusstsein in seiner Prozesshaftigkeit leicht ‚diktatorisch‘ wirken kann, eine einfach stattfindende Maschinerie des primären Klassifizierens von dem, was ’stattfindet‘, ist es aber gerade die Einbettung in das ‚höhere‘ Bewusstsein mit der Möglichkeit der sprachlichen Kodierung, einem Prozess-Determinismus ansatzweise zu entkommen, indem aus dem Strom der Ereignisse unterschiedliche Aspekte (Qualia und deren Beziehungen) ’selektiert‘ und ’sprachlich kodiert‘ werden können. Damit entstehen sekundäre (semantische) Strukturen, die ansatzweise eine ‚eigene‘ Sicht des Systems ermöglichen. Die Unterscheidung zwischen ’sich‘ (’self‘) und ’nicht-sich‘ (’non-self‘) wird möglich. Im Unterschied zu ‚dem Anderen‘ (dem ‚Nicht-Selbst‘) wird ‚das Eigene‘, ein ‚Selbst‘ möglich, das sich über die vielen unterscheidenden Eigenschaften ‚definiert“. (vgl. S.125)

  5. Edelman merkt an, dass die Schimpansen im Vergleich zum homo sapiens zwar offensichtlich auch über das Phänomen eines ‚Selbstbewusstseins‘ verfügen, nicht aber über die flexible Sprachfähigkeit. Damit bleiben sie ‚mental eingesperrt‘ in die vordefinierte Phänomenwelt ihres primären und leicht sekundären Bewusstseins. Sie sind aber nicht in der Lage, die stattfindenden Erlebnisstrukturen zu überwinden. (vgl. S.125)

GESPROCHENE SPRACHE: EPIGENETISCH

  1. Im Folgenden konzentriert sich Edelman auf zwei Aspekte: (i) die Entwicklung jener physiologischen Strukturen, die ein ‚Sprechen‘ wie beim homo sapiens erlauben samt den dazu gehörigen Gehirnstrukturen, (ii) die davon unabhängige Entwicklung von ‚konzeptuellen Strukturen (Kategorien)‘, in denen sich Aspekte des Wahrnehmens, Erinnerns und Bewertens zu Strukturen verdichten können, die dann als ‚Bausteine einer mentalen Welt‘ genutzt werden können. (vgl. S.125f)

  2. Mit Blick auf die  Diskussionen im Umfeld von Chomskys Überlegungen zum Spracherwerb deutet Edelman an, dass es nicht ein einzelner Mechanismus gewesen sein kann, der aus sich heraus die ganze Sprachfähigkeit ermöglicht hat, sondern das ‚Ausdrucksmittel‘ Sprache musste mit seinem ganzen symbolischen Apparat im Körper und im Gehirn ‚eingebettet‘ werden, um in direkter ‚Nachbarschaft‘ zu den informationellen Prozessen des primären und des sekundären Bewusstseins an jene ‚Bedeutungsstrukturen‘ andocken zu können, die dann im symbolischen Gedächtnis so kodiert werden, dass ein Gehirn mit seinen sprachlichen Ausdrücken auf solche Bedeutungsstrukturen Bezug nehmen kann. Im Englischen wird diese ‚Einbettung der Sprache in den Körper‘ ‚embodiment‘ genannt. Im Deutschen gibt es kein direktes begriffliches Äquivalent. ‚Einkörperung‘ der Sprache klingt etwas schräg. (vgl. S.126)

  3. Edelman geht davon aus, dass die grundlegende Fähigkeit zu konzeptueller Kategorienbildung der Ausbildung der Sprachfähigkeit voraus ging, da die Sprachfähigkeit selbst genau diese neuronalen Mechanismen benutzt, um Phoneme (Qualia!) bilden zu können, deren Assoziierung zu komplexen Ausdrücken, und dann deren weitere In-Beziehung-Setzung (oder ‚Assoziierung‘) zu nicht-sprachlichen Einheiten.(vgl. S.126)

  4. [Anmerkung: aufgrund dieses Sachverhalts läge es nahe, die Begriffe ‚primäres‚ und ‚höheres‚ Bewusstsein um einen dritten Begriff zu ergänzen: ‚sekundäres‚ Bewusstsein. Das ‚sekundäre‚ Bewusstsein geht über das primäre Bewusstsein durch seine Fähigkeit zur Bildung von komplexen konzeptuellen Kategorien hinaus. Insofern sich auf der Basis des sekundären Bewusstseins dann z.B. die Fähigkeit zur freien symbolischen Kodierung (vergleichbar der Bildung von DNA-Strukturen in Zellen) im Gehirn herausgebildet hat, erweitert sich das sekundäre Bewusstsein zum ‚höheren (= sprachlichen)‘ Bewusstsein.]

  5. ‚Sprache‘ war und ist primär ‚gesprochene Sprache‘ (’speech‘). Damit dies möglich wurde, mussten erhebliche anatomische Änderungen am Körperbau stattfinden, die zudem im Vollzug im Millisekundenbereich (!) aufeinander abgestimmt sein müssen: die Lungen zur Erzeugung eines hinreichenden Luftstroms in Abstimmung mit der Speiseröhre, die Stimmbänder, der Mund- und Rachenraum als Resonatoren und Filter, dazu die Zunge, die Zähne und die Lippen als Modifikatoren des Klangs; dies alles muss zusammenwirken, um das hervor bringen zu können, was wir die Ausdrucksseite der (gesprochenen) Sprache nennen. Entsprechend muss es Zentren im Gehirn geben, die das ‚Hören von Sprache, das ‚Artikulieren‘ von Sprache sowie ihre ’semantische Kodierung‘ ermöglichen, wobei die semantische Kodierung in den Kontext eines umfassenden komplexen kognitiven Prozesses eingebettet sein muss. (vgl. S.126f)

  6. Bei der Ausbildung der ‚Synchronisierung‘ von sprachlichen Ausdrücken mit den diversen Bedeutungsanteilen vermutet Edelman, dass am Anfang die Parallelisierung von ‚Objekten‘ und ‚Gegenstandswörtern‘ (’nouns‘) stand. Danach die Parallelisierung von ‚Veränderungen, Handlungen‘ mit ‚Verben‘. Dann folgten weitere Verfeinerungen der ‚Syntax‘ parallel zu entsprechenden Situationen. (vgl. S.127)

  7. Generell nimmt Edelman also an, dass die primären Mechanismen der Konzeptualisierungen und der zugehörigen anatomischen Ausprägungen ‚genetisch‘ induziert sind, dass aber die Ausbildung von bestimmten symbolischen Strukturen und deren Zuordnung zu möglichen Bedeutungsmustern ‚epigenetisch“ zustande kommt.(vgl. SS.127-131)

  8. Aufgrund der durchgängig rekursiven Struktur der neuronalen Strukturen können alle phonologischen und semantischen Konzepte und deren mögliche Assoziationen wiederum zum Gegenstand von Kategorisierungen einer höheren Ebene werden, so dass es eben Phoneme, Phonemsequenzen, Wörter, Satzstrukturen und beliebig weitere komplexe Ausdrucksstrukturen geben kann, denen entsprechend semantische Strukturen unterschiedlicher Komplexität zugeordnet werden können. Aufgrund einer sich beständig ändernden Welt würde es keinen Sinn machen, diese Kodierungen genetisch zu fixieren. Ihr praktischer Nutzen liegt gerade in ihrer Anpassungsfähigkeit an beliebige Ereignisräume. Ferner ist zu beobachten, dass solche Sequenzen und Kodierungen, die sich mal herausgebildet haben und die häufiger Verwendung finden, ‚automatisiert‘ werden können. (vgl. S.130)

  9. Nochmals weist Edelman auf die Schimpansen hin, die zwar ein primäres und sekundäres Bewusstsein zu haben scheinen (inklusive einem ‚Selbst‘-Konzept), aber eben kein Sprachsystem, das flexible komplexe Kategorisierungen mit einer entsprechenden Syntax erlaubt.(vgl. S.130)

  10. Auch ist es offensichtlich, dass das Erlernen von Sprache bei Kindern aufgrund der parallelen Gehirnentwicklung anders, einfacher, nachhaltiger verläuft als bei Erwachsenen, deren Gehirne weitgehend ‚gefestigt‘ sind. (vgl. S.130f)

  11. Während die gesprochene Sprache evolutionär (und heute noch ontogenetisch) die primäre Form der Sprachlichkeit war, können bei Vorliegen einer grundlegenden Sprachfähigkeit die auch andere Ausdrucksmittel (Gesten, Schrift, Bilder, …) benutzt werden. (vgl. S.130)

HÖHERES BEWUSSTSEIN

  1. Nach all diesen Vorüberlegungen soll die Frage beantwortet werden, wie es möglich ist, dass uns  ‚bewusst‘ ist, dass wir ‚Bewusstsein haben‘?(vgl. S.131)

  2. Generell sieht Edelman die Antwort gegeben in dem Fakt, dass wir die erlebbare ‚Gegenwart‘ (the ‚immediate present‘) in Beziehung setzen können zu ‚Erinnerungen (von vorausgehenden Gegenwarten)‘, eingebettet in eine Vielzahl von komplexen Wahrnehmungen als Konzeptualisierungen auf unterschiedlichen ‚Reflexionsstufen‘, vielfach assoziiert mit sprachlichen Ausdrücken. Das ‚Selbst‘ erscheint in diesem Kontext als ein identifizierbares Konstrukt in Relation zu Anderem, dadurch ein ’soziales Selbst‘. (vgl. S.131)

  3. Ein Teil dieser Konzeptualisierungen hat auch zu tun mit der Assoziierung mit sowohl ‚innersystemischen‘ ‚Kommentaren‘ in Form von Emotionen, Stimmungen, Bedürfnisbefriedigungen usw. generalisiert unter dem Begriff ‚innere Werte‚, ein Teil hat zu tun mit der Assoziierung von Interaktionen mit seiner Umgebung, speziell Personen, von denen auch ‚externe Werte‚ resultieren können.(vgl. S.131f)

  4. Alle diese Konzeptualisierungen inklusive deren ‚Konnotation mit Werten‘ benötigen eine ‚Langzeit-Speicherung‘ (‚long-term storage‘), um ihre nachhaltige Wirkung entfalten zu können. (vgl. S.132)

  5. Ein zentrales Element in diesem höheren Bewusstsein ist die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen der aktuell stattfindenden perzeptuellen Wahrnehmung (‚Gegenwart‘) und der konzeptuell vermittelten ‚Erinnerung‘, die es erlaubt, über die ‚Gegenwart‘, die ‚Vergangenheit‘ und eine ‚mögliche Zukunft‘ ’nachzudenken‘. (vgl. S.133)

  6. Die Konkretheit der aktuellen perzeptuellen Wahrnehmung wird durch die konzeptuell aufbereitete erinnerbare Vergangenheit quasi ‚kommentiert‚, in mögliche Beziehungen eingebettet, die als solche dadurch weitgehend ‚bewertet‚ sind.(vgl. S.133)

  7. Aufgrund der stattfindenden komplexen Prozesse, die dem Gehirn ‚bewusst‘ sind, gibt es so etwas wie ein ‚inneres Leben‚, das aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungskontexte, der unterschiedlichen Lerngeschichten hochgradig ‚individuell‚ ist.(vgl. S.133)

  8. Paläontologische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass die Entwicklung zu solch einem höheren Bewusstsein, wie es sich beim homo sapiens findet, in extrem kurzer Zeit stattgefunden haben müssen. Man geht davon aus, dass die Entstehung eines höheren Bewusstseins zusammenfällt mit der Entstehung des homo sapiens. (vgl. S.133)

  9. Edelman verweist auf sein Kap.6 um zu sagen, dass die bislang verstandenen Mechanismen des Gehirnwachstums es plausibel erscheinen lassen, dass sich diese Strukturen ausbilden konnten. (vgl. S.133)

  10. Edelman stellt dann wieder die Frage nach dem evolutionären ‚Nutzen/ Vorteil‘ der Ausbildung von solchen Bewusstseinsphänomenen.(vgl. S.133)

  11. Für den Fall des primären Bewusstseins sieht er den Vorteil darin, dass schon auf dieser Stufe die Möglichkeit besteht, aus der Vielfalt der Phänomene (realisiert als Qualia) durch die parallel stattfindende ‚Kommentierung‘ der Erlebnisse durch das ‚innere System‘ (sowohl durch die automatisch stattfindende ‚Speicherung‘ wie auch die automatisch stattfindende ‚Erinnerung‘) es möglich ist, jene Aspekte zu ’selektieren/ präferieren‘, die für das System ‚günstiger erscheinen‘. Dies verschafft eine mögliche Verbesserung im Überleben. (vgl. S.133)

  12. Für den Fall des höheren Bewusstseins erweitern sich die Möglichkeiten der ‚In-Beziehung-Setzung‘ zu einer sehr großen Anzahl von unterschiedlichen Aspekten, einschließlich komplexer Modellbildungen, Prognosen, Tests, und die Einbeziehung sozialer Beziehungen und deren ‚Wertsetzungen‘ in die Bewertung und Entscheidung. Ein kurzer Blick in den Gang der Evolution, insbesondere in die Geschichte der Menschheit, zeigt, wie die Komplexität dieser Geschichte in den letzten Jahrzehntausenden gleichsam explodiert ist, [Anmerkung: mit einer exponentiellen Beschleunigung!]. (vgl. S.133-135)

  13. Speziell weist Edelman auch nochmals hin auf das Zusammenspiel von Qualia und Sprache. Während Qualia als solche schon Abstraktionen von perzeptuellen Konkretheiten darstellen sollen, kann ein System im Wechselspiel von Qualia und Sprache ‚Verfeinerungen‘ sowohl in der Wahrnehmung‘ als auch in er ‚Verwendung‘ von Qualia ermöglichen. Gewissermaßen zeigt sich hier die Sprache als eine Art ‚Echoprinzip‘, das Qualia ‚fixiert‘, sie dadurch speziell erinnerbar macht, und einer Verfeinerung ermöglicht, die ohne die sprachliche Kodierung entweder gar nicht erst stattfindet oder aber als ‚flüchtiges Phänomen‘ wieder untergeht. (vgl. S.136)

  14. In den inneren Prozessen des höheren Bewusstseins zeigt sich eine Fähigkeit zum Vorstellen, zum Denken, die durch die impliziten Kategorisierungen und Verallgemeinerungen weit über das ‚Konkrete‘ des primären Bewusstseins hinaus reichen kann. Hierin liegt eine verändernde, kreative Kraft, Fantasie und Mystik. Ob diese zur ‚Verbesserung‘ des Lebens führt oder ‚in die Irre‘, dies lässt sich nicht ‚im Moment‘ erkennen, nur im Nacheinander und in der praktischen ‚Bewährung‘. (vgl. S.136)

DISKUSSION

Zusammenfassend für Kap. 11+12 im nachfolgenden Blogeintrag.

QUELLEN

  • Keine Besonderen

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ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Teil 10 – Primäres Bewusstsein

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 3.Dez. 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

BISHER

Für die bisherige Diskussion siehe die kumulierte Zusammenfassung HIER.

KURZFASSUNG

Edelman stellt zunächst die wichtigsten Anforderungen an die wissenschaftliche Beschreibung des Bewusstseins ganz allgemein zusammen, dann aber auch speziell für das ‚Primäre Bewusstsein‘. Dann gibt er einen Überblick über ein mögliches neuronales Modell, das alle diese Anforderungen erfüllen soll.

KAP.11 Bewussstsein (Consciousness)

THEORIE DES BEWUSSTSEINS: ALLGEMEINE ANNAHMEN

  1. In diesem Kapitel geht es um den Test, ob Edelman mit den bisherigen Überlegungen in der Lage ist, das bekannte Postulat von Descartes über eine ‚denkende Substanz‘ (‚thinking subtance‘) zu überwinden, welche sich dem Zugriff der Wissenschaft entzieht. (vgl. p.111)

  2. Allerdings gibt es die Schwierigkeit, dass das mit ‚Bewusstsein‘ Gemeinte sich bei anderen nur im beobachtbaren Verhalten zeigt, und bei einem selbst ‚ist‘ es ‚einfach da‘, schwer zu erklären.(vgl. p.111)

  3. Nach Zitation von wesentlichen Eigenschaften des Bewusstseins, wie William James sie in seinen ‚Principles of Psychology‚ (1890, Kap.10) anführt, macht Edelman eine Unterscheidung zwischen einem ‚primären Bewusstsein‘ und einem ‚Bewusstsein höherer Ordnung‘.(vgl. p.111f)

  4. Das primäre Bewusstsein bezieht sich ausschließlich auf eine perzeptuell vermittelte Gegenwart von Dingen in der Welt, ohne Vergangenheit und Zukunft. Das Bewusstsein höherer Ordnung übersteigt die perzeptuelle Gegenwart, ist eingebettet in eine Vergangenheit, eine mögliche Zukunft, und ‚weiß von sich selbst‘.(vgl. p.112)

  5. Jedwede ‚Erklärung‘ des Phänomens Bewusstsein muss nach Edelman verträglich sein mit der ‚Evolution‘; sie muss erklären, wie Bewusstsein im Laufe der Evolution ‚entstehen‘ kann, und natürlich auch, wie das Bewusstsein sich zu den anderen ‚mentalen Phänomenen‘ verhält wie z.B. zu ‚Begriffsentwicklung‘, ‚Gedächtnis und Sprache‘.(vgl. p.112f) Natürlich sollen auch die Erkenntnisse der modernen Physik gelten, allerdings ist die Physik aktuell nach Edelman nicht völlig ausreichend, und mögliche ‚Quanteneffekte‘ will er für seinen Erklärungsansatz ausschließen. (vgl. p.113)

  6. Die Annahme, dass das Phänomen ‚Bewusstsein‘ irgendwann in der Evolution sichtbar wird, schließt aus, dass Bewusstsein nur ein ‚Epiphänomen‘ ist. (vgl. p.113)

  7. Im Zustand der ‚Achtsamkeit‘ (?) (‚awareness‘) werden die phänomenalen Zustände von subjektiven Erfahrungen (‚experiences‘), Gefühlen (‚feelings‘) und Empfindungen (’sensations‘) begleitet, die Edelman kollektiv als ‚Qualia‚ bezeichnet. Das ist das, ‚wie es uns erscheint‘ (‚how things seem to us‘). Qualia sind die unterscheidbaren ‚Teile‘ einer ‚mentalen Szene‘, die sich als solche als ‚eine‘ darstellt. Die Qualia können unterschiedlich ‚intensiv‘ und unterschiedlich ‚präzise‘ sein, abhängig von der aktuellen Wahrnehmung (‚perception‘). Im normalen Wachzustand sind die Qualia außerdem begleitet von einer zeitlich-räumlichen Kontinuität, beeinflusst sowohl von einer unmittelbaren Erfahrung wie auch von der individuellen persönlichen Geschichte. Zusätzlich können die Qualia begleitet sein von Gefühlen und Emotionen. (vgl. S.114)

  8. Diese subjektive Natur der Qualia stellt für eine wissenschaftliche Theorie, die eine gemeinsame, objektive, reproduzierbare Datenbasis voraus setzt, ein großes methodisches Problem dar. (vgl. S.114) Es manifestiert sich sogar als ein ‚eindrucksvolles (‚poignant‘) Paradox‚: Jeder Physiker muss in seiner Arbeit sein Bewusstsein, seine subjektiven Wahrnehmungen, seine subjektiven Qualia einsetzen, aber im Reden über die physikalischen Sachverhalte, muss er diese subjektiven Bedingungen ausklammern. (vgl. S.114) Wie lässt sich dieser Befund, dass die phänomenale Erfahrung eine Erste-Person Angelegenheit ist, wissenschaftlich meistern? vgl. S.114f)

  9. Nach Edelman kann man dieses methodische Problem nicht dadurch lösen, dass man von der Fiktion eines qualia-freien Beobachters ausgeht, und er deutet in einem Nebensatz schon an, dass das Problem der sprachlichen Bedeutung nur durch die Einbeziehung des ‚Embodyments‘ von Sprache im Körper verstanden werden kann. (vgl. S.115) Er wird dann sogar noch deutlicher: die Lösung liegt in der hervorstechenden Fähigkeit des Menschen, dass er über ein ‚Selbstbewusstsein‘  gepaart mit einer ‚Sprache‘ verfügt, das ihn in die Lage versetzt, über die pure Gegenwart hinaus Phänomene zu benennen, und Beziehungen herzustellen zwischen den subjektiven Phänomenen und den Erkenntnissen der Physik und Biologie. (vgl. S.115)

  10. Benutzt man die Hypothese, dass Qualia in allen menschlichen Wesen bei ähnlichem Körper und Gehirn verfügbar sind, dann kann man versuchen, auf der Basis der hier vorfindlichen Korrelationen zu einer Theorie der Qualia bzw. des Bewusstseins in Menschen zu kommen. (vgl. S.115)

  11. Allerdings, so Edelman, lässt sich solch eine Theorie des Bewusstseins nur bauen, wenn es neben dem in der Gegenwart verhafteten primären Bewusstsein ein höher-stufiges Bewusstsein gibt, das über die reine Gegenwart hinaus Wahrnehmen und Denken kann und über Sprache verfügt. (vgl. S.115f) Allerdings gilt auch, dass eine ‚qualia-freie Theorie‘ nicht möglich ist. Qualia können von keiner Theorie als ‚Erfahrung‘ einfach so abgeleitet werden; man muss sie als Gegeben annehmen und mit dieser Annahme in kommunikativer Rückkopplung die Theorie des Bewusstseins bauen.(vgl. S.116)

  12. Im Vorblick auf die kommende Darstellung eines höher-stufigen Bewusstseinsmodells merkt Edelman an, dass man Qualia auch verstehen kann als ‚höher-stufige Kategorisierungen‘, die kommunizierbar sind für das ‚Selbst‘, und – etwas schwieriger – für Andere mit ähnlicher mentalen Ausstattung.(vgl. S.116)

THEORIE DES BEWUSSTSEINS: NEURONALES MODELL

Graphische Interprettion von Teilen des Kap.11 von Edelman durch G.Doeben-Henisch
Graphische Interpretation von Teilen des Kap.11 von Edelman durch G.Doeben-Henisch
  1. Nach diesen Überlegungen gibt Edelman nun die erste Version eines neuronalen Modells an, das die von ihm aufgestellten Forderungen an ein primäres Bewusstsein erfüllen soll. (vgl. SS.117-123)

  2. Die Darstellung ist allerdings zu grob, als dass man daraus zu viele Schlüsse ziehen könnte. Klar wird nur, dass er zwei große Pole sieht: (i) die physikalische Außenwelt zum Körper, die über sensorische Signale dem Cortex mit seinen Subsystemen zugeführt wird, parallel, simultan mit vielen primären Kategorisierungen, und dann (ii) das physikalische Innenleben des Organismus, dessen vielfältige Bedürfnislage über das limbische System und über den Thalamus mit den Außenweltereignissen im Rahmen einer weiteren Kategorisierung und zeitlich-räumlichen Aufbereitung als zusammenhängende ‚Szene‘ aufbereitet und ‚bewertet‘ werden kann. Diese Wert-Kategorie-Paare können dann in einem entsprechenden Gedächtnis gespeichert und wieder abgerufen werden. Das Speichern selbst samt der Bewertung gehört aber nicht mehr zum ‚primären Bewusstsein‘; es geschieht außerhalb des Bewusstseins (vgl. S.121, und Schaubild)

  3. In diesem Bild wird das ‚Lernen‘ als ein adaptiver Prozess gesehen, in den die ‚Präferenzen‘ des internen (Selbst-)Systems mit einfließen. (Vgl. S.118)

  4. Das Besondere an der ‚Szene‘ des primären Bewusstseins ist ferner, dass sich hier nicht nur kausale Verknüpfungen finden, sondern auch solche, die durch das Bewertungssystem ‚kommentiert‘ sind. Sie enthalten mögliche Hinweise auf ‚Gefahren‘ oder ‚Belohnung‘. (vgl. S.118, 121)

  5. Evolutionär gilt das ‚innere System‘ (das ‚Selbst-System‘) als älter; es umfasst die primären Erhaltungsfunktionen.(vgl. S.118f)

  6. Generell schätzt Edelman, dass es ein primäres Bewusstsein mit den zugehörigen neuronalen Strukturen ab ca. 300 Mio gibt. (vgl. S.123)

DISKUSSION

Die Diskussion zum Kapitel über das primäre Bewusstsein wird im Anschluss an die Besprechung von Kap.12 zum ‚höherstufigen Bewusstsein‘ geführt, da beide Themen eng zusammen hängen.

QUELLEN

  • James, W. (1890). The Principles of Psychology, in two volumes. New York: Henry Holt and Company.
  • James, W. (1950). The Principles of Psychology, 2 volumes in 1. New York: Dover Publications.
  • James, W. (1983). The Principles of Psychology, Volumes I and II. Cambridge, MA: Harvard University Press (with introduction by George A. Miller).
  • URL: http://psychclassics.yorku.ca/James/Principles/index.htm

 

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KI UND BIOLOGIE. Blitzbericht zu einem Vortrag am 28.Nov.2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
29.Nov. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

LETZTE AKTUALISIERUNG: 1.Dez.2018, Anmerkung 1

KONTEXT

Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung des Fachbereichs 2 ‚Informatik & Ingenieurwissenschaften‘ der Frankfurt University of Applied Sciences am 28.November 2018 mit dem Rahmenthema „Künstliche Intelligenz – Arbeit für Alle?“ hielt Gerd Doeben-Henisch einen kurzen Vortrag zum Thema „Verändert KI die Welt?“ Voraus ging ein Vortrag von Herrn Helmut Geyer „Arbeitsmarkt der Zukunft. (Flyer zur Veranstaltung: FRA-UAS_Fb2_Karte_KI-Arbeit fuer alle_Webversion )

EINSTIEG INS KI-THEMA

Im Kontext der Überlegungen zur Arbeitswelt angesichts des technologischen Wandels gerät die Frage nach der Rolle der Technologie, speziell der digitalen Technologie — und hier noch spezieller der digitalen Technologie mit KI-Anteilen – sehr schnell zwischen die beiden Pole ‚Vernichter von Arbeit‘, ‚Gefährdung der Zukunft‘ einerseits und ‚Neue Potentiale‘, ‚Neue Arbeit‘, ‚Bessere Zukunft‘, wobei es dann auch einen dritten Pol gibt, den von den ‚übermächtigen Maschinen‘, die die Menschen sehr bald überrunden und beherrschen werden.

Solche Positionen, eine Mischungen aus quasi-Fakten, viel Emotionen und vielen unabgeklärten Klischees, im Gespräch sachlich zu begegnen ist schwer bis unmöglich, erst Recht, wenn wenig Zeit zur Verfügung steht.

Doeben-Henisch entschloss sich daher, das Augenmerk zentral auf den Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ zu lenken und die bislang uneinheitliche und technikintrovertierte Begrifflichkeit in einen größeren Kontext zu stellen, der das begrifflich ungeklärte Nebeneinander von Menschen und Maschinen schon im Ansatz zu überwinden sucht.

ANDERE DISZIPLINEN

Viele Probleme im Kontext der Terminologie der KI im technischen Bereich erscheinen hausgemacht, wenn man den Blick auf andere Disziplinen ausweitet. Solche andere Disziplinen sind die Biologe, die Mikrobiologie sowie die Psychologie. In diesen Disziplinen beschäftigt man sich seit z.T. deutlich mehr als 100 Jahren mit komplexen Systemen und deren Verhalten, und natürlich ist die Frage nach der ‚Leistungsfähigkeit‘ solcher Systeme im Bereich Lernen und Intelligenz dort seit langem auf der Tagesordnung.

Die zunehmenden Einsichten in die unfassbare Komplexität biologischer Systeme (siehe dazu Beiträge in diesem Blog, dort auch weitere Links), lassen umso eindrücklicher die Frage laut werden, wie sich solche unfassbar komplexen Systeme überhaupt entwickeln konnten. Für die Beantwortung dieser Frage wies Doeben-Henisch auf zwei spannende Szenarien hin.

KOMMUNIKATIONSFREIE EVOLUTION

Entwicklungslogik vor der Verfügbarkeit von Gehirnen
Entwicklungslogik vor der Verfügbarkeit von Gehirnen

In der Zeit von der ersten Zelle (ca. -3.8 Mrd Jahren) bis zur Verfügbarkeit hinreichend leistungsfähiger Nervensysteme mit Gehirnen (ab ca. -300.000, vielleicht noch etwas früher) wurde die Entwicklung der Lebensformen auf der Erde durch zwei Faktoren gesteuert: (a) die Erde als ‚Filter‘, was letztlich zu einer bestimmten Zeit geht; (b) die Biomasse mit ihrer Reproduktionsfähigkeit, die neben der angenäherten Reproduktion der bislang erfolgreichen Baupläne (DNA-Informationen) in großem Umfang mehr oder weniger starke ‚Varianten‘ erzeugte, die ‚zufallsbedingt‘ waren. Bezogen auf die Erfolge der Vergangenheit konnten die zufälligen Varianten als ’sinnlos‘ erscheinen, als ’nicht zielführend‘, tatsächlich aber waren es sehr oft diese zunächst ’sinnlos erscheinenden‘ Varianten, die bei einsetzenden Änderungen der Lebensverhältnisse ein Überleben ermöglichten. Vereinfachend könnte man also für die Phase die Formel prägen ‚(Auf der dynamischen Erde:) Frühere Erfolge + Zufällige Veränderungen = Leben‘. Da zum Zeitpunkt der Entscheidung die Zukunft niemals hinreichend bekannt ist, ist die Variantenbildung die einzig mögliche Strategie. Die Geschwindigkeit der ‚Veränderung von Lebensformen‘ war in dieser Zeit auf die Generationsfolgen beschränkt.

MIT KOMMUNIKATION ANGEREICHERTE EVOLUTION

Nach einer gewissen ‚Übergangszeit‘ von einer Kommunikationsfreien zu einer mit Kommunikation angereicherte Evolution gab es in der nachfolgenden Zeit die Verfügbarkeit von hinreichend leistungsfähigen Gehirnen (spätestens mit dem Aufkommen des homo sapiens ab ca. -300.000)[1], mittels deren die Lebensformen die Umgebung und sich selbst ‚modellieren‘ und ‚abändern‘ konnten. Es war möglich, gedanklich Alternativen auszuprobieren, sich durch symbolische Kommunikation zu ‚koordinieren‘ und im Laufe der letzten ca. 10.000 Jahren konnten auf diese Weise komplexe kulturelle und technologische Strukturen hervorgebracht werden, die zuvor undenkbar waren. Zu diesen Technologien gehörten dann auch ab ca. 1940 programmierbare Maschinen, bekannt als Computer. Der Vorteil der Beschleunigung in der Veränderung der Umwelt – und zunehmend auch der Veränderung des eigenen Körpers — lies ein neues Problem sichtbar werden, das Problem der Präferenzen (Ziele, Bewertungskriterien…). Während bislang einzig die aktuelle Erde über ‚Lebensfähig‘ ‚oder nicht Lebensfähig‘ entschied, und dies das einzige Kriterium war, konnten die  Lebewesen mit den neuen Gehirnen  jetzt eine Vielzahl von Aspekten ausbilden, ‚partielle Ziele‘, nach denen sie sich verhielten, von denen oft erst in vielen Jahren oder gar Jahrzehnten oder gar noch länger sichtbar wurde, welche nachhaltigen Effekte sie haben.

Anmerkung 1: Nach Edelman (1992) gab es einfache Formen von Bewusstsein mit den zugehörigen neuronalen Strukturen ab ca. -300 Mio Jahren.(S.123) Danach hätte es  also ca. 300 Mio Jahre gedauert, bis   Gehirne, ausgehend von einem ersten einfachen Bewusstsein, zu komplexen Denkleistungen und sprachlicher Kommunikation in der Lage waren.

LERNEN und PRÄFERENZEN

Am Beispiel von biologischen Systemen kann man fundamentale Eigenschaften wie z.B. das ‚Lernen‘ und die ‚Intelligenz‘ sehr allgemein definieren.

Systematisierung von Verhalten nach Lernen und Nicht-Lernen
Systematisierung von Verhalten nach Lernen und Nicht-Lernen

In biologischer Sicht haben wir generell Input-Output-Systeme in einer unfassbar großen Zahl an Varianten bezüglich des Körperbaus und der internen Strukturen und Abläufe. Wie solch ein Input-Output-System intern im Details funktioniert spielt für das konkrete Leben nur insoweit eine Rolle, als die inneren Zustände ein äußerlich beobachtbares Verhalten ermöglichen, das wiederum das Überleben in der verfügbaren Umgebung ermöglicht und bezüglich spezieller ‚Ziele‘ ‚erfolgreich‘ ist. Für das Überleben reicht es also zunächst, einfach dieses beobachtbare Verhalten zu beschreiben.

In idealisierter Form kann man das Verhalten betrachten als Reiz-Reaktions-Paare (S = Stimulus, R = Response, (S,R)) und die Gesamtheit des beobachtbaren Verhaltens damit als eine Sequenz von solchen (S,R)-Paaren, die mathematisch eine endliche Menge bilden.

Ein so beschriebenes Verhalten kann man dann als ‚deterministisch‘ bezeichnen, wenn die beobachtbaren (S,R)-Paare ’stabil‘ bleiben, also auf einen bestimmten Reiz S immer die gleiche Antwort R erfolgt.

Ein dazu komplementäres Verhalten, also ein ’nicht-deterministisches‘ Verhalten, wäre dadurch charakterisiert, dass entweder (i) der Umfang der Menge gleich bleibt, aber manche (S,R)-Paare sich verändern oder (ii) der Umfang der Menge kann sich ändern. Dann gibt es die beiden interessanten Unterfälle (ii.1) es kommen nach und nach neue (S,R)-Paare dazu, die ‚hinreichend lang‘ ’stabil‘ bleiben, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt ‚t‘ sich nicht mehr vermehren (die Menge der stabilen Elemente wird ‚eingefroren‘, ‚fixiert‘, ‚gezähmt‘, …), oder (ii.2) die Menge der stabilen (S,R)-Paare expandiert ohne Endpunkt.

Bezeichnet man diese Expansion (zeitlich ‚befristet‘ oder ‚unbefristet‘) als ‚Lernen‘, dann wird sichtbar, dass die ‚Inhalte des Lernens‘ (die korrespondierenden Repräsentationen der (S,R)-Paare in den internen Zuständen des Systems) einmal davon abhängen, was die Umgebung der Systeme ‚erlaubt‘, zum anderen, was die ‚inneren Zustände‘ des Systems an ‚Verarbeitung ermöglichen‘, sowie – sehr indirekt – über welche welche ‚internen Selektionskriterien‘ ein System verfügt.

Die ‚internen Selektionskriterien‘ werden hier kurz ‚Präferenzen‘ genannt, also Strategien, ob eher ein A oder ein B ’selektiert‘ werden soll. Wonach sich solche Kriterien richten, bleibt dabei zunächst offen. Generell kann man sagen, dass solche Kriterien primär ‚endogen‘ begründet sein müssen, dass sie aber nachgeordnet auch von außen (‚exogen‘) übernommen werden können, wenn die inneren Kriterien eine solche Favorisierung des exogenen Inputs ‚befürworten‘ (Beispiel sind die vielen Imitationen im Lernen bzw. die Vielzahl der offiziellen Bildungsprozesse, durch die Menschen auf bestimmte Verhaltens- und Wissensmuster trainiert (programmiert) werden). Offen ist auch, ob die endogenen Präferenzen stabil sind oder sich im Laufe der Zeit ändern können; desgleichen bei den exogenen Präferenzen.

Am Beispiel der menschlichen Kulturen kann man den Eindruck gewinnen, dass das Finden und gemeinsame Befolgen von Präferenzen ein bislang offenes Problem ist. Und auch die neuere Forschung zu Robotern, die ohne Terminierung lernen sollen (‚developmental robotics‘), hat zur Zeit das Problem, dass nicht ersichtlich ist, mit welchen Werten man ein nicht-terminiertes Lernen realisieren soll. (Siehe: Merrick, 2017)) Das Problem mit der Präferenz-Findung ist bislang wenig bekannt, da die sogenannten intelligenten Programme in der Industrie immer nur für klar definierte Verhaltensprofile trainiert werden, die sie dann später beim realen Einsatz unbedingt einhalten müssen.  Im technischen Bereich spricht man hier oft von einer ’schwachen KI‘. (Siehe: VDI, 2018) Mit der hier eingeführten Terminologie  wären dies nicht-deterministische Systeme, die in ihrem Lernen ‚terminieren‘.

INTELLIGENZ

Bei der Analyse des Begriffs ‚Lernen‘ wird sichtbar, dass das, was gelernt wird, bei der Beobachtung des Verhaltens nicht direkt ’sichtbar‘ ist. Vielmehr gibt es eine allgemeine ‚Hypothese‘, dass dem äußerlich beobachtbaren Verhalten ‚interne Zustände‘ korrespondieren, die dafür verantwortlich sind, ob ein ’nicht-lernendes‘ oder ein ‚lernendes‘ Verhalten zu beobachten ist. Im Fall eines ‚lernenden‘ Verhaltens mit dem Auftreten von inkrementell sich mehrenden stabilen (S,R)-Paaren wird angenommen, das den (S,R)-Verhaltensformen ‚intern‘ entsprechende ‚interne Repräsentationen‘ existieren, anhand deren das System ‚entscheiden‘ kann, wann es wie antworten soll. Ob man diese abstrakten Repräsentationen ‚Wissen‘ nennt oder ‚Fähigkeiten‘ oder ‚Erfahrung‘ oder ‚Intelligenz‘ ist für die theoretische Betrachtung unwesentlich.

Die Psychologie hat um die Wende zum 20.Jahrhundert mit der Erfindung des Intelligenztests durch Binet und Simon (1905) sowie in Weiterführung durch W.Stern (1912) einen Ansatz gefunden, die direkt nicht messbaren internen Repräsentanten eines beobachtbaren Lernprozesses indirekt dadurch zu messen, dass sie das beobachtbare Verhalten mit einem zuvor vereinbarten Standard verglichen haben. Der vereinbarte Standard waren solche Verhaltensleistungen, die man Kindern in bestimmten Altersstufen als typisch zuordnete. Ein Standard war als ein Test formuliert, den ein Kind nach möglichst objektiven Kriterien zu durchlaufen hatte. In der Regel gab es eine ganze Liste (Katalog, Batterie) von solchen Tests. Dieses Vorgehensweisen waren sehr flexibel, universell anwendbar, zeigten allerdings schon im Ansatz, dass die Testlisten kulturabhängig stark variieren konnten. Immerhin konnte man ein beobachtbares Verhalten von einem System auf diese Weise relativ zu vorgegebenen Testlisten vergleichen und damit messen. Auf diese Weise konnte man die nicht messbaren hypothetisch unterstellten internen Repräsentationen indirekt qualitativ (Art des Tests) und quantitativ (Anteil an einer Erfüllung des Tests) indizieren.

Im vorliegenden Kontext wird ‚Intelligenz‘ daher als ein Sammelbegriff für die hypothetisch unterstellte Menge der korrespondierenden internen Repräsentanten zu den beobachtbaren (S,R)-Paaren angesehen, und mittels Tests kann man diese unterstellte Intelligenz qualitativ und quantitativ indirekt charakterisieren. Wie unterschiedlich solche Charakterisierung innerhalb der Psychologie modelliert werden können, kann man in der Übersicht von Rost (2013) nachlesen.

Wichtig ist hier zudem, dass in diesem Text die Intelligenz eine Funktion des Lernens ist, das wiederum von der Systemstruktur abhängig ist, von der Beschaffenheit der Umwelt sowie der Verfügbarkeit von Präferenzen.

Mehrdimensionaler Raum der Intelligenzrpräsentanen
Mehrdimensionaler Raum der Intelligenzrpräsentanen

Aus Sicht einer solchen allgemeinen Lerntheorie kann man statt biologischen Systemen auch programmierbare Maschinen betrachten. Verglichen mit biologischen Systemen kann man den programmierbaren Maschinen ein Äquivalent zum Körper und zur Umwelt spendieren. Grundlagentheoretisch wissen wir ferner schon seit Turing (1936/7), dass programmierbare Maschinen ihr eigenes Programm abändern können und sie prinzipiell lernfähig sind. Was allerdings (siehe zuvor das Thema Präferenz) bislang unklar ist, wo sie jeweils die Präferenzen herbekommen sollen, die sie für eine ’nachhaltige Entwicklung‘ benötigen.

ZUKUNFT VON MENSCH UND MASCHINE

Im Licht der Evolution erscheint die  sich beschleunigende Zunahme von Komplexität im Bereich der biologischen Systeme und deren Populationen darauf hinzudeuten, dass mit der Verfügbarkeit von programmierbaren Maschinen diese sicher nicht als ‚Gegensatz‘ zum Projekt des biologischen Lebens zu sehen sind, sondern als eine willkommene Unterstützung in einer Phase, wo die Verfügbarkeit der Gehirne eine rapide Beschleunigung bewirkt hat. Noch bauen die biologischen Systeme ihre eigenen Baupläne  nicht selbst um, aber der Umbau in Richtung von Cyborgs hat begonnen und schon heute ist der Einsatz von programmierbaren Maschinen existentiell: die real existierenden biologischen Kapazitätsgrenzen erzwingen den Einsatz von Computern zum Erhalt und für die weitere Entwicklung. Offen ist die Frage, ob die Computer den Menschen ersetzen sollen. Der Autor dieser Zeilen sieht die schwer deutbare Zukunft eher so, dass der Mensch den Weg der Symbiose intensivieren wird und versuchen sollte, den Computer dort zu nutzen, wo er Stärken hat und zugleich sich bewusst sein, dass das Präferenzproblem nicht von der Maschine, sondern von ihm selbst gelöst werden muss. Alles ‚Böse‘ kam in der Vergangenheit und kommt in der Gegenwart vom Menschen selbst, nicht von der Technik. Letztlich ist es der Mensch, der darüber entscheidet, wie er die Technik nutzt. Ingenieure machen sie möglich, die Gesellschaft muss entscheiden, was sie damit machen will.

BEISPIEL EINER NEUEN SYMBIOSE

Der Autor dieser Zeilen hat zusammen mit anderen KollegenInnen in diesem Sommer ein Projekt gestartet, das darauf abzielt, dass alle 11.000 Kommunen in Deutschland ihre Chancen haben sollten, ihre Kommunikation und Planungsfähigkeit untereinander dramatisch zu verbessern, indem sie die modernen programmierbaren Maschinen in neuer ‚intelligenter‘ Weise für ihre Zwecke nutzen.

QUELLEN

  • Kathryn Merrick, Value systems for developmental cognitive robotics: A survey, Cognitive Systems Research, 41:38 – 55, 2017
  • VDI, Statusreport Künstliche Intelligenz, Oktober 2018, URL: https://www.vdi.de/vdi-statusbericht-kuenstliche-intelligenz/ (zuletzt: 28.November 2018)
  • Detlef H.Rost, Handbuch der Intelligenz, 2013: Weinheim – Basel, Beltz Verlag
  • Joachim Funke (2006), Kap.2: Alfred Binet (1857 – 1911) und der erste Intelligenztest der Welt, in: Georg Lamberti (Hg.), Intelligenz auf dem Prüfstand. 100 Jahre Psychometrie, Vandenhoek & Ruprecht
  • Alfred Binet, Théodore Simon: Methodes nouvelles pour le diagnostiqc du niveau intellectuel des anormaux. In: L’Année Psychologique. Vol. 11, 1904, S. 191–244 (URL: https://www.persee.fr/doc/psy_0003-5033_1904_num_11_1_3675 )
  • William Stern, Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und deren Anwendung an Schulkinder, 19121: Leipzig, J.A.Barth
  • Alan M. Turing, On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem. Proceedings of the London Mathematical Society, 42(2):230–265, 1936-7
  • Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

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EPISTEMISCHE SCHOCKWELLEN. Die letzten 3500 Jahre

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 20.Sept. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Die Diskussion im Kontext des letzten Textes von Freud zur Psychoanalyse lässt erkennen, wie sich das Bild von uns Menschen über uns selbst dadurch in gewisser Weise ändern kann und letztlich dann ändert, wenn wir uns auf diese Gedanken einlassen. Die Einbeziehung des ‚Unbewussten‘ in das Gesamtbild des Systems homo sapiens verschiebt so manche Beziehungen im Gefüge des menschlichen Selbstbildes, und nicht nur das, es wirkt sich auch aus auf das Gesamtbild der empirischen Wissenschaften, auf ihr Gesamtgefüge. Dies hatte sich ja auch schon angedeutet in der vorausgehenden Diskussion des Buches von Edelman, die noch nicht abgeschlossen ist.

Dies hat mich angeregt, über Freud und Edelman hinausgehenden einige der epistemischen Schockwellen zusammen zu stellen, denen das menschliche Selbstverständnis in den letzten ca. 3500 Jahren ausgesetzt war. Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass es natürlich immer nur eine Minderheit war, die überhaupt an den übergreifenden Erkenntnissen teilhaben konnte, und selbst diese Minderheit zerfällt in unterschiedliche Subgruppen ohne ein kohärentes Gesamtbild.

EPISTEMISCHE SCHOCKWELLEN

Unter ‚Schockwellen‘ werden hier energetische Ereignisse verstanden, die nur gelegentlich auftreten, und die geeignet sind, bestehende Strukturen zumindest zum Schwingen, zum Erbeben zu bringen, wenn nicht gar zu ihrer Zerstörung führen. ‚Epistemisch‘ bezieht sich auf die Dimension des Erkennens, des Verstehens, zu dem Exemplare des Homo sapiens fähig sind. ‚Epistemische Schockwellen‘ sind also Ereignisse, durch die das Selbstverständnis, die Weltbilder der Menschen in Schwingungen versetzt wurden bzw. sich neu aufbauen mussten.

Die folgende Zusammenschau solcher epistemischer Schockwellen ist in keiner Weise vollständig, weitgehend nicht differenziert genug, rechtfertigt sich aber dadurch, dass es darum geht in einer überschaubaren Weise einen Grundeindruck von der Dynamik des Geistes zu vermitteln, die dem Geschehen des biologisch fundierten Lebens innewohnt.

CLUSTER RELIGION

 

Stichworte zu 'Epistemische Schockwellen', Teil 1. ca. -1500 bis ca. 1500
Stichworte zu ‚Epistemische Schockwellen‘, Teil 1. ca. -1500 bis ca. 1500

Zwischen ca. -1500 bis etwa 650 gab mindestens 8 große das Weltverstehen prägende Ereignisse – daneben viele andere, weitere –, die wir im Nachgang als ‚Religionen‘ bezeichnen. Religionen zeichnen sich aus durch ‚Gründer‘, durch ‚Botschaften‘, durch ‚Erfahrungen‘ und dann meistens nachfolgend durch ‚Regeln‘ und Bildung von ‚Organisationsformen‘. Sie erheben einen Anspruch auf ‚Deutung der Welt‘ mit ‚Sinn‘, ‚Werten‘ und ‚Spielregeln‘. Sie versprechen auch den Kontakt zu eine Letzten, Größten, Umfassenden, Endgültigen, dem alles andere unter zu ordnen ist. Vielfach gehen diese Versprechungen auch einher mit speziellen ‚außergewöhnlichen Erlebnissen‘, die im einzelnen stattfinden.

In Vorderasien und Europa waren dies vor allem das Duo Judentum-Christentum und der Islam. Während diese sich explizit auf einen ‚Schöpfer‘ bezogen, kam der indische Subkontinent neben der vielfältigen Götterwelt des Hinduismus in seinem Grundtenor — realisiert im Buddhismus — ohne einen expliziten Schöpfer aus, allerdings nicht ohne eine tiefgreifende Existenzerfahrung des einzelnen Menschen, der sich durch einen geeigneten Lebensstil und Meditation möglichst weitgehend von einem normalen Alltag und seinen vielfältigen Spannungen isolierte.

So verschieden Jugentum-Christentum, Islam auf der einen Seite und Indischer Existentialismus auf der anderen Seite auf den ersten Blick wirken können, kann man aber dennoch auffällige strukturelle Parallelen erkennen.

Die sprachliche Seite der genannten Religionen tendiert dazu, nicht die Weite und Vielfalt der Welt zu kommunizieren, keine weiterreichende Erkenntnisse, sondern die Sprache hat einzig den Zweck, eine bestimmte, abgegrenzte Idee zu kommunizieren, diese abzugrenzen von allem anderen, bis dahin, dass alle Abweichungen diskreditiert werden. Jene Menschen, die sich sprachlich von der ‚Norm‘ entfernen sind Abweichler, Dissidenten, Ungläubige, Verräter, Feinde. Die Sprache wird also nicht gesehen als ein offener, lebendiger, dynamischer Raum von ‚Wahrheit‘, die sich weiter entwickeln kann, sondern als eine symbolische Fessel, eine symbolische Mauer, die einige wenige Ideen abgrenzen sollen. Auch der Buddhismus, der eigentlich sein Fundament in einer schwer beschreibbaren individuellen Existenzerfahrung sieht, praktiziert Sprache überwiegend als Gefängnis.

Betrachtet man sich die Geschichte dieser Religionen bis heute, dann ist diese Starrheit unübersehbar. Alle modernen Erkenntnisse und Entwicklungen prallen an der Sprache dieser Religionen ab.

Neben der sprachlichen Dimension haben alle diese Religionen auch eine ‚Erlebnisdimension‘, oft auch ‚Spiritualität‘ oder ‚Mystik‘ genannt. Einzelne, Gruppierungen, Bewegungen erzähltem davon, schrieben es auf, dass sie ‚besondere, tiefgreifende Erlebnisse‘ hatten, die ihnen ‚klar gemacht haben‘, was wirklich ‚wichtig‘ ist, ‚worin der Sinn des Lebens‘ liegt, Erlebnisse, die ihnen ‚Frieden‘ geschenkt haben, ‚Erfüllung‘, ‚Wahrheit‘. Und diese Erlebnisse waren immer so stark, dass sie diese Menschen aus allen Schichten dazu bewegt haben, ihr Lebens radikal zu ändern und von da an eben ‚erleuchtet‘ zu leben. Diese Menschen gab es nicht nur im Umfeld des Buddhismus, sondern auch zu Tausenden, Zehntausenden im Umfeld des Judentum-Christentums.

Solange diese religiösen Bewegungen sich im Umfeld der etablierten religiösen Überzeugungen und Praktiken bewegen wollten, mussten sie sich – wie immer auch ihre individuellen Erlebnisse waren – diesem Umfeld anpassen. In vielen Fällen führte dies auch zu Absetzbewegungen, zur Entwicklung neuer religiöser Bewegungen. Das Problem dieser erlebnisbasierten Bewegungen war, dass sie entweder nicht die Sprache benutzen durften, die sie zur Beschreibung ihrer Erlebnisse brauchten (da nicht erlaubt), oder aber, sie benutzten eine neue Sprache, und dies führte zum Konflikt mit den etablierten Sprachspielen.

Unter den vielen hunderten Bewegungen allein im Bereich Judentum-Christentum, die z.T. viele tausend, ja zehntausend  Mitglieder hatten und dabei oft auch materiell sehr wohlhabend bis reich wurden, möchte ich zwei kurz erwähnen: die Reformation angefeuert von Martin Luther und den Jesuitenorden, angefeuert von Ignatius von Loyola. Im historischen Klischee werden beide Bewegungen oft als direkte Gegner skizziert, da der Jesuitenorden kurz nach Beginn der Reformationsbewegung gegründet wurde und der katholische Papst gerade diesen Orden auch zur ‚Bekämpfung der Reformation‘ einsetzte. Dieses Bild verdeckt aber die wirklich interessanten Sachverhalte.

Der Jesuitenorden entstand aus den spirituellen Erfahrungen eines baskischen Adligen, deren innere Logik, Beschreibung und Praxis, im Lichte der Erkenntnisse der modernen Psychologie (und Psychoanalyse) stand halten würde. Außerdem war der Orden aufgrund dieser Spiritualität extrem weltoffen, wissenschaftsaffin, und revolutionierte die damals beginnende christliche Missionierung der Welt, indem jeweils die Kultur der verschiedenen Erdteile studiert und übernommen und sogar gegen zerstörerische Praktiken der europäischen Kolonisatoren geschützt wurden. Genau dieses wahre Gesicht des Ordens mit einer radikal individuell-erlebnisbasierten Spiritualität und daraus resultierenden Weltoffenheit und Menschlichkeit führte dann zum Verbot und Aufhebung des Ordens weltweit, verbunden mit Einkerkerungen, Folter und Tod ohne Vorankündigung. Das korrupte Papsttum ließ sich damals von dem portugiesischen und spanischen Hof erpressen, die ihre menschenverachtende Geschäfte in den Kolonien, speziell Südamerika, bedroht sahen. Dies war nicht die einzige Aufhebung und Misshandlung, die der Orden seitens des Papstums erfuhr. Während Luther sich gegen das Papsttum erhob und es auf einen Konflikt ankommen ließ, blieben die Jesuiten dem Papst treu und wurden vernichtet.

Diese Minigeschichte ließe sich aber zu einem großen Thema erweitern, da eben die sprachlich fixierten Religionen generell ein Problem mit Wahrheit und damit mit jeglicher Art von Erfahrung haben. Die Akzeptanz individueller Erfahrung als möglicher Quell von ‚Wahrheit‘, möglicherweise einer weiter reichenden alternativen Wahrheit zu der sprachlich fixierten (und damit eingesperrten) Wahrheit der Religionen, eine solche Akzeptanz würde das Wahrheitsmonopol dieser Religionen aufheben. Bislang hat keine der genannten Religionen es geschafft, von sich aus ihr problematisches Wahrheitsmonopol in Frage zu stellen.

JUDENTUM – CHRISTENTUM – PHILOSOPHIE

In der Zeit vor den modernen empirischen Wissenschaften existierte wissenschaftliches Denken entweder gar nicht oder in enger Verbindung mit dem philosophischen Denken bzw. der Medizin.

In der alten und klassischen Griechischen Philosopie (ca. -800 bis -200) wurde das Weltverstehen in vielen Bereichen erstmalig sehr grundlegend reflektiert, unabhängig von bestimmten religiösen Überzeugungen, obgleich natürlich auch diese Denker nicht im luftleeren Raum lebten sondern in konkreten Kulturen mit einer damals üblichen Moral, Ethik, Spielregeln, Sprachspielen.

Unter den vielen bedeutenden Konzepten war das größte systematische Konzept wohl jenes von Aristoteles, Schüler Platons, und den an ihn anschließenden Schulen. Während dieses griechische Denken nach der Eroberung Griechenlands durch die Römer in Mittel- und Westeuropa bis zum Jahr 1000 mehr oder weniger unbekannt war (Kriege, radikal anti-wissenschaftliche Einstellung der katholischen Kirche) war der damalige Islam sehr offen für Wissen. Das griechische Denken war im Islam weitgehend bekannt, lag entsprechend in arabischen Übersetzungen vor, und durch eine Vielzahl von Schulen, Bildungsstätten und großen Bibliotheken (z.T. mehrere hundert Tausend Bücher!) wurde dieses Wissen gepflegt und weiter entwickelt (welcher Kontrast zum heutigen Islam!). Und nur über diese Umweg über den hochgebildeten Islam mit Übersetzungsschulen in Spanien kam das Wissen der Griechen ab ca. 1000 wieder in das christliche Mittel- und West-Europa.

Mit dem Entstehen eines aufgeschlosseneren Bildungssystem in Europa wanderten die griechischen Gedanken über Bücher und Gelehrte wieder in europäische Bildungsstätten ein. Es gab eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung zwischen bisheriger christlicher Theologie und Aristoteles. Auf dem Höhepunkt der begrifflichen Integration von christlichem Glauben und Aristotelischer Weltsicht gab es aber ‚Abspaltungstendenzen‘ in mehreren Bereichen.

POLITIK – WISSENSCHAFT – SPIRITUALITÄT

Das zunehmend freie und kritische Denken begann mit der Infragestellung der bis dahin waltenden absolutistischen Machtstrukturen.

Das methodisch geschulte universitäre Denken begann, über die aristotelischen Konzepte hinaus zu denken. Anknüpfungspunkte gab es genügend.

Das individuelle Erleben der Menschen, ihre Frömmigkeit, ihre Spiritualität suchte nach neuen Wegen, benutzte eine neue Sprache, um sich besser ausdrücken zu können.

Das neue politische Denken führte später zur französischen Revolution und vielen ähnlichen politischen Erneuerungsbewegungen.

Das neue philosophische Denken führt alsbald zum Bildung der neuen empirischen Wissenschaften mit neuer Logik und Mathematik.

Die neue Spiritualität lies viele neue religiöse Bewegungen entstehen, die quer zu allen etablierten Glaubensformen lagen, u.a. auch zur Reformation.

PHILOSOPHIE – WISSENSCHAFT

Stichworte zu 'Epistemische Schockwellen', Teil2. ca. ca. 1550 bis ca.2018
Stichworte zu ‚Epistemische Schockwellen‘, Teil2. ca. ca. 1550 bis ca.2018

Aus der Vielzahl der philosophischen Denker bieten sich vier besonders an: Descartes, Kant, Wittgenstein und Carnap.

Von heute aus betrachtet markieren diese Vier entscheidende Umbrüche des philosophischen Denkens, das von den Entwicklungen in der Logik, Mathematik,Physik, Geowissenschaften, Biologie und Psychologie zusätzlich profitiert hat und noch immer profitiert.

Descartes versuchte zu klären, inwieweit sich die Wahrheitsfrage nur durch Rekurs auf das eigene Denken lösen ließe. Sein Fixpunkt in der Gewissheit des eigenen Denkens (cogito ergo sum) wurde aber erkauft durch einen fortbestehenden Dualismus zwischen Körper (res extensa) und Denken/ Geist (res cogitans), den er mit einem irrationalen Gedanken zu einer Zirbeldrüse zu kitten versuchte.

Kant führte dieses Forschungsprogramm von Descartes letztlich weiter. Sein Vermittlungsversuch zwischen fehlbarer konkreter empirischer Erfahrung und den allgemeinen Prinzipien der Mathematik und des Denkens (des Geistes) ging über Descartes insoweit hinaus, dass er auf eine Zirbeldrüsen-ähnliche Lösung verzichtete und stattdessen davon ausging, dass der Mensch in seinem Denken von vornherein in abstrakten Kategorien wahrnimmt und denkt. Unsere menschliche Konstitution ist so, dass wir so wahrnehmen und Denken. Er konstatierte damit ein Faktum, das wir heute mit all unseren Erkenntnissen nur bestätigen können. Es blieb bei ihm offen, warum dies so ist. Es zeichnet seine intellektuelle Redlichkeit aus, dass er die offenen Enden seiner erkenntnistheoretischen (epistemischen) Analysen nicht krampfhaft mit irgendwelchen Pseudo-Lösungen versucht hat zu vertuschen.

Wittgenstein war der erste, der sich mit dem Funktionieren der Sprache und ihrer Wechselwirkung mit unserem Denken ernsthaft, ja radikal beschäftigte. Während er in seinem Frühwerk noch der Statik der damaligen modernen Logik huldigte, begann er dann später alle diese statischen formalen Konstruktionen in der Luft zu zerreißen, durchlief weh-tuende detaillierte Analysen der Alltagssprache, machte vor nichts Halt, und hinterließ mit seinem frechen und angstfreien Denken einen Trümmerhaufen, dessen Verdienst es ist, den Raum frei gemacht zu haben für einen echten Neuanfang.

Carnap wirkt in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick wie ein Antipode zu Wittgenstein, und in der Tat hat er ja das vor-wittgensteinsche Sprachverständnis in seinen Studien zu den formalen Sprachen, zur Logik, zur logischen Semantik weiter angewendet. Allerdings hat er dies dann auch im Kontext der empirischen Wissenschaften getan. Und in diesem Kontext hat sein formal-scholastisches Denken immerhin dazu beigetragen, die Grundstrukturen moderner empirische Theorien mit einem formalen Kern frei zu legen und ihre Eigenschaften zu untersuchen.

Alle diese genannten Ansätze (Kant, Wittgenstein, Carnap) wurden später mehrfach kritisiert, abgewandelt, weiter entwickelt, aber es waren diese Ansätze, die die nachfolgenden Richtungen entscheidend beeinflusst haben.

Ein interessanter Grenzfall ist Freud (s.u.). Irgendwie könnte man ihn auch zur Philosophie rechnen.

LOGIK – MATHEMATIK

Aus heutiger Sicht kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass es eine Zeit gegeben hat, in der die moderne Logik und Mathematik nicht verfügbar war. Nahezu alles, was unseren Alltag ausmacht setzt sehr viel Mathematik als beschreibende Sprache, als Berechnung, als Simulation voraus. Dass mathematisches Denken in den Schulen so wenig – und immer weniger – behandelt wird, ist sehr irritierend.

Logik und Mathematik sind einen weiten Weg gegangen.

Ein Meilenstein ist der Übergang von der klassischen aristotelischen Logik (eng an der Alltagssprache, Einbeziehung inhaltlichen Alltagsdenkens) zur modernen formalen Logik seit Frege (formale Sprache, formaler Folgerungsbegriff).

Eng verknüpft mit der Entwicklung der neuen formalen Logik ist auch die Entwicklung der modernen Mathematik, die entscheidend mit der Erfindung der Mengenlehre durch Cantor ihren Durchbruch fand, und dann mit Russel-Whitehead und Hilbert die Neuzeit erreichte. Keine der modernen Arbeiten in Gebieten wie z.B. Algebra, Topologie, Geometrie sind ohne diese Arbeiten denkbar, ganz zu schweigen von der modernen theoretischen Physik.

EMPIRISCHE WISSENSCHAFTEN

Erste Ausläufer empirischer Wissenschaft gab es schon vor Galilei (man denke z.B. nur an die bahnbrechenden Forschungen zur Medizin von dem islamischen Gelehrten (und Philosophen, Logiker, Theologen!) Avicenna). Doch an der Person Galileis kristallisiert sich der Konflikt zwischen neuem, offenen wissenschaftlichen Denken und dem alten, geschlossenen christlichen Denken. Zudem hat Galilei eben konsequent sowohl eine experimentelle Messmethode angewendet wie auch eine beginnende mathematische Beschreibung. Mit Newton gelang dann eine Fassung von Experiment und Theorie, die atemberaubend war: die Bewegung der Himmelskörper ließ sich nicht nur mit einfachen mathematischen Formeln beschreiben, sondern auch noch mit bis dahin unbekannter Präzision voraus sagen. Es sollte dann zwar noch fast 300 Jahre dauern, bis die moderne Physik eine erste Theorie zur Entstehung des ganzen Weltalls formulieren konnte samt ersten experimentellen Bestätigungen, aber die Befreiung des Denkens von dogmatischen Sprachbarrieren war geschafft. Die Wissenschaft insgesamt hatte sich freigeschwommen.

Schon im 17.Jahrhundert hatte Niels Stensen entdeckt, dass die unterschiedlichen Ablagerungsschichten der Erde in zeitlicher Abfolge zu interpretieren sind und man daher auf geologische Prozesse schließen kann, die die Erde durchlaufen haben muss.

Zwei Jahrhunderte später, schon im 19.Jahrhundert, wurde diese historische Sicht der Erde ergänzt durch Charles Darwin, der am Beispiel der Pflanzen- und Tierwelt auch Hinweise auf eine Entwicklung der Lebensformen fand. Sowohl die Erde als auch die biologischen Lebensformen haben eine Entwicklung durchlaufen, zudem in enger Wechselwirkung.

Fast parallel zu Darwin machte Freud darauf aufmerksam, dass unser ‚Bewusstsein‘ nicht die volle Geschichte ist. Der viel größere Anteil unseres menschlichen Systems ist ’nicht bewusst‘, also ‚unbewusst‘. Das Bewusstsein ‚erzählt‘ uns nur ‚Bruchstücke‘ jener Geschichten, die weitgehend im ‚Nicht-Bewusstein‘ oder ‚Unbewussten‘ ablaufen.

Die weitere Entwicklung der Biologie lieferte viele Argumente, die das Bild von Freud stützen.

Der Versuch von Watson, 1913, die Psychologie als empirische Verhaltenswissenschaft zu begründen, wurde und wird oft als Gegensatz zu Psychoanalyse gesehen. Das muss aber nicht der Fall sein. Mit der Verhaltensorientierung gelang der Psychologie seither viele beeindruckende theoretische Modelle und Erklärungsleistungen.

Von heute aus gesehen, müsste man ein Biologie – Psychologie – Psychoanalyse Cluster befürworten, das sich gegenseitig die Bälle zuspielt.

Durch die Einbeziehung der Mikro- und Molekularbiologie in die Evolutionsbiologie konnten die molekularen Mechanismen der Evolution entschlüsselt werden.Mittlerweile steht ein fast komplettes Modell der biologischen Entwicklung zur Verfügung. Dies erlaubt es sowohl, Kants (als auch Descartes) Überlegungen von den biologischen Voraussetzungen her aufzuklären (z.B. Edelman!), wie auch die Psychologie samt der Psychoanalyse.

COMPUTER

Als Gödel 1931 die Unentscheidbarkeit anspruchsvoller mathematischer Theorien (das fängt bei der Arithmetik an!) beweisen konnte, wirkte dies auf den ersten Blick negativ. Um seinen Beweis führen zu können, benötigte Gödel aber sogenannte ‚endliche Mittel‘. Die moderne Logik hatte dazu ein eigenes Forschungsprogramm entwickelt, was denn ‚endliche Beweismethoden‘ sein könnten. Als Turing 1936/7 den Beweis von Gödel mit dem mathematischen Konzept eines Büroangestellten wiederholte, entpuppte sich dieses mathematische Konzept später als ein Standardfall für ‚endliche Mittel‘. Turings ‚mathematisches Konzept eines Büroangestellten‘ begründete dann die spätere moderne Automatentheorie samt Theorie der formalen Sprachen, die das Rückgrat der modernen Informatik bildet. Das ‚mathematische Konzept eines Büroangestellten‘ von Turing wurde ihm zu Ehren später ‚Turingmaschine‘ genannt und bildet bis heute den Standardfall für das, was mathematisch ein möglicher Computer berechnen kann bzw. nicht kann.

Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass gerade das Konzept des Computers ein extrem hilfreiches Werkzeug für das menschliche Denken sein kann, um die Grenzen des menschlichen Wahrnehmens, Erinnerns und Denkens auszugleichen, auszuweiten.

Schon heute 2018 ist der Computer zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gesellschaft geworden. Das Wort von der ‚Digitalen Gesellschaft‘ ist keine Fiktion mehr.

ZEITGEIST

Der extrem kurze Rückblick in die Geschichte zeigt, wie schwer sich die Ausbildung und Verbreitung von Ideen immer getan hat. Und wenn wir uns die gesellschaftliche Realität heute anschauen, dann müssen wir konstatieren, dass selbst in den hochtechnisierten Ländern die gesamte Ausbildung stark schwächelt. Dazu kommt das eigentümliche Phänomen, dass das Alltagsdenken trotz Wissenschaft wieder vermehrt irrationale, gar abergläubische Züge annimmt, selbst bei sogenannten ‚Akademikern‘. Die Herrschaft von Dogmatismen ist wieder auf dem Vormarsch. Die jungen Generationen in vielen Ländern werden über mobile Endgeräte mit Bildern der Welt ‚programmiert‘, die wenig bis gar nicht zu wirklichen Erkenntnissen führen. Wissen als solches, ist ‚wehrlos‘; wenn es nicht Menschen gibt, die mit viel Motivation, Interesse und Ausdauer und entsprechenden Umgebungen zum Wissen befähigt werden, dann entstehen immer mehr ‚Wissens-Zombies‘, die nichts verstehen und von daher leicht ‚lenkbar‘ sind…

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DER SPÄTE FREUD UND DAS KONZEPT DER PSYCHOANALYSE. Anmerkung 2

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 18.Sept. 2018

Korrekuren: 18.Sept.2018, 13:20h
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Nachdem ich im vorausgehenden Beitrag den letzten Text von Freud (auf Deutsch) mit dem Englischen Titel (bei Deutschem Text) ‚Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis‘ (GW XVII, 1938-40) in der Rekonstruktion von Jürgen Hardt (1996) diskutiert hatte, hier einige weitere Überlegungen, dieses Mal mit direkter Bezugnahme auf den Text von Freud.

DISKUSSION

Modellvorschlag zu Freuds letztem Text zur Psychoanalyse
BILD: Modellvorschlag zu Freuds letztem Text zur Psychoanalyse

 

MODELL PSYCHOANALYSE

  1. Nach den bisherigen Überlegungen zu Freuds Position bietet es sich an, versuchsweise ein – noch sehr allgemeines – MODELL zu formulieren, das die wichtigen Begriffe von Freud in Beziehung setzt
  2. Im Kern geht es um den Begriff des SEELISCHEN, den Freud in die Komponenten BEWUSSTSEIN (BW) und UNBEWUSSTES (-BW) aufspaltet. In gewisser Weise kann man das Unbewusste als ‚Komplement‘ zum Bewusstsein sehen, da das Bewusstsein der einzige Referenzpunkt für das System homo sapiens darstellt, relativ zu dem alles andere unbewusst ist. Präziser wäre wohl der Ausdruck ’nicht bewusst‘ oder NICHT-BEWUSSTSEIN.
  3. Sowohl das Bewusstsein wie das Nicht-Bewusstsein gehören zum System homo sapiens, der sich in seinem KÖRPER manifestiert.
  4. Generell kann man davon ausgehen, dass das System homo sapiens INPUT-EREIGNISSE realisieren kann, die durch verschiedene STIMULI Ereignisse von außerhalb des Körpers ausgelöst werden können.
  5. Ebenso ist es so, dass bestimmte interne Körperereignisse – hier MOTORISCHE Ereignisse oder OUTPUT Ereignisse genannt – über die Körperoberfläche sich als VERÄNDERUNGEN der Körperoberfläche manifestieren können, die meistens als AKTIONEN klassifiziert werden oder gar als SPEZIFIZIERTE ANTWORTEN, RESPONSES.
  6. Interessant ist die Annahme von Freud, dass sich nur Teile des Nicht-Bewusstseins an das Bewusstsein mitteilen können (im Bild durch einen Pfeil angedeutet). Der Rest des Nicht-Bewusstseins teilt sich nicht dem Bewusstsein mit.
  7. Jetzt wird es spannend: Man könnte jetzt im Modell die weiteren Annahmen machen, dass es zwischen jenem Teil des Nicht-Bewusstseins, das sich dem Bewusstsein mitteilen kann – nennen wir es -BW+ – und jenem Teilen des Nicht-Bewusstseins, das sich nicht mitteilt – nennen wir diesen Teil -BW- –, dennoch eine Wechselwirkung gibt. Dies würde es erklären, warum Anteile des Nicht-Bewusstseins sich indirekt auf das Gesamtsystem auswirken können, ohne zunächst im Bewusstsein aufzutreten, dann aber – z.B. im Verlaufe der Therapie – plötzlich im Bewusstsein ‚greifbar‘ werden.
  8. Dieser Sachverhalt kann durch die weitere Annahme differenziert werden, dass möglicher Input von außen sich simultan beiden Komponenten des Nicht-Bewusstseins (-BW+, -BW-) mitteilen kann, wie auch umgekehrt beide Komponenten ein äußerliches Verhalten verursachen können (z.B. das Fehlverhalten, die Hypnoseexperimente, Arten des Redens und Verhaltens (Stimmfärbung, Form der Bewegung, …)), das als SIGNAL des NICHT-BEWUSSTSEINS fungieren kann. Dies würde z.B. erklären, warum Menschen in der Gegenwart anderer Menschen in ganz unterschiedliche ‚Stimmungen‘ geraten können, obgleich die ausgetauschten Worte keinerlei Hinweise für diese Gestimmtheit liefern. Vom Nicht-Bewusstsein verursachte Signale können im Nicht-Bewusstsein des Anderen innere Prozesse, Zustände verursachen, die sich dann in Form bestimmter Gefühle, Stimmungen, Emotionen äußern. Dies sind – zumindest berichten dies die Psychotherapeuten – sehr oft, fast immer ? – , dann der entscheidende Hinweis auf ‚verdeckt wirkende‘ Faktoren. Ohne das Nicht-Bewusstsein bleiben die objektiven ‚Signale‘ ‚unerkannt‘, sind dann eben keine ‚Signale‘ mit Referenz.
  9. So einfach dieses Modell ist, so weitreichend sind seine möglichen Konsequenzen.
  10. Da dieses Modell eine Arbeitshypothese ist, mit der man empirische Phänomene ‚deuten können soll‘, kann man es überprüfen und bekräftigen oder abschwächen bzw. dann ablehnen.

HIERARCHIE DER GEGENSTANDSBEREICHE

Das Schaubild deutet auch an, dass wir es mit einer impliziten Hierarchie von Gegenstandsbereichen zu tun haben. Der Homo sapiens ist Teil eines umfassenden Phänomens von biologischem Leben, das mit seiner Geschichte (der Evolution) ein Teilprozess auf dem Planet Erde ist, der sich als Teil des Sonnensystems herausgebildet hatte, das wiederum innerhalb der Galaxie Milchstraße entstanden ist, die sich wiederum im Prozess des bekannten Universums herausgebildet hat. Bedenkt man, dass die Anzahl der Galaxien irgendwo im Bereich von 200 Milliarden (2×1011) bis 2 Billionen (2×1012) liegt und eine einzelne Galaxie wiederum zwischen einige hundert Millionen (108) oder gar 100 Billionen (1014) Sterne haben kann (mit noch viel mehr Exoplaneten!), dann ist der Ausschnitt an körperlicher Wirklichkeit, die unser Sonnensystem mit der Erde bietet, atemberaubend ‚klein‘, man möchte sagen ‚winzig‘, so winzig, dass uns dafür die geeigneten Worte fehlen, da unser Alltag für solche Relationen keine direkten Beispiele bietet. Nur unser Denken und die Mathematik kann uns helfen, zumindest ansatzweise eine Vorstellung dazu auszubilden.

Allerdings, diese körperliche Kleinheit kann über etwas anderes hinweg täuschen, das möglicherweise ein noch größeres Wunder sein kann.

Wie die Wissenschaft erst seit wenigen Jahren weiß, besteht ein menschlicher Körper aus ca. 36 Billionen (10^12) Körperzellen, ca. 110 Billionen Bakterien im Darm und ca. 200 Milliarden Bakterien auf der Haut, d.h. ein menschlicher Körper besitzt an Zellen die Komplexität von ca. 700 Galaxien mit jeweils 200 Milliarden Sternen! Noch dramatischer wird der Kontrast, wenn man das Volumen eines menschlichen Körpers zu dem Volumen von 700 Galaxien in Beziehung setzt. Man kommt auf ein Verhältnis von ca. 1 : 10^64 !!! Anders gewendet, das Phänomen des Biologischen stellt eine unfassbare Verdichtung von Komplexität dar, deren Bedeutung und Konsequenz für das Verständnis von ‚Natur‘ bislang kaum so richtig (wenn überhaupt) gewürdigt wird.

Diese mit Worten gar nicht beschreibbare Verdichtung von Komplexität im Phänomen des Biologischen hat auch damit zu tun, dass wir es im Übergang von den ‚vor-biologischen‘ Strukturen zu den biologischen Strukturen mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel zu tun haben. Während wir im Bereich physikalischer Strukturen Materieverdichtungen nur durch das bislang wenig verstandene Phänomen der ‚Gravitation‘ feststellen können (die nach sehr einfachen Regeln ablaufen), präsentiert das ‚Biologische‘ neuartige Prozesse und Strukturen, mit einer konstant zunehmenden ‚Verdichtung‘, die nach völlig neuartigen Regeln ablaufen. Mit Gravitation lässt sich hier nichts mehr erklären. Diese neue Qualität materieller Strukturen und Prozesse auf die einfacheren Gesetze der bekannten Physik zu ‚reduzieren‘, wie es oft gefordert wurde, ist nicht nur grober Unfug, sondern vernichtet gerade die Besonderheit des Biologischen. Der Übergang von Physik zur Astrobiologie und dann zur Biologie ist daher ein qualitativer: im Biologischen finden wir völlig neue Phänomene, die sich an der beobachtbaren Funktionalität manifestieren. ‚Emergenz‘ würde hier bedeuten, dass wir es hier mit qualitativ neuen Phänomenen zu tun haben, die sich nicht auf die Gesetze ihrer Bestandteile reduzieren lassen.

Aufgrund der schier unfassbaren Vielfalt und Komplexität des Biologischen, das in seiner körperlichen Winzigkeit eine universale Komplexität realisiert, die die bekannten astronomischen Größen letztlich sprengt, ist es sicher nicht verwunderlich, dass sich zum Phänomen des Biologischen viele verschiedene Wissenschaften ausgebildet haben, die versuchen, Teilaspekte irgendwie zu verstehen. Da der ‚Kuchen der Komplexität‘ so unfassbar groß ist, findet jeder etwas interessantes. Allerdings sollte man sich bewusst sein, dass diese vielen Disziplinen in ihrer heutigen Zersplitterung etwas auseinanderreißen und zerstückeln, das letztlich zusammen gehört.

So ist auch die Psychologie mit ihrer Spezialdisziplin Psychoanalyse letztlich kein Sonderbereich, wenngleich die hier anfallenden Phänomene tierischer und menschlicher Systeme anscheinend nochmals eine Steigerung an neuen funktionalen Phänomenen bieten.

HIERARCHIE DER WISSENSCHAFTEN

Es wäre die Aufgabe einer modernen Philosophie und Wissenschaftsphilosophie die Einheit der Phänomene und Wissenschaften wieder herzustellen. Sicher ist dies nichts, was eine einzelne Person schaffen kann noch kann dies in wenigen Jahren stattfinden. Vermutlich muss die ganze Wissenschaft neu organisiert werden, sodass letztlich alle kontinuierlich an dem Gesamtbild mitwirken.

Das, was für die Physik vielleicht die dunkle Materie und die dunkle Energie ist, die bislang ein wirkliches Gesamtbild entscheidend verhindert, dies ist für die Wissenschaft überhaupt das Problem, dass die Wissenschaftler und Philosophen, die sich um eine rationale Erklärung der Welt bemühen, letztlich selbst auch Bestandteil eben jener Wirklichkeit sind, die sie erklären wollen. Solange die empirischen Wissenschaften diesen fundamentalen Faktor aus ihrer Theoriebildung ausklammern, solange werden sie sich nur an der Oberfläche von Phänomenen bewegen und die wirklich interessanten Phänomene, die über Biologie, Psychologie und Philosophie ins Blickfeld geraten, werden bis auf weiteres außen vor bleiben.

QUELLEN

Hardt, Jürgen (1996), Bemerkungen zur letzten psychoanalytischen Arbeit Freuds: ‚Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis‘, 65-85, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd.35, Frommann-holzboog

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ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Reflexion auf den Begriff ‚Fitness‘

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 13.Sept. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

LETZTE ÄNDERUNG: 1.Dez.2018, Wiederholung der vorausgehenden Diskussion gestrichen. Kumulierte Zusammenfassungen sind HIER.

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

 

Im Anschluß an Kap.8 von Edelman sei hier hochmals explizit der Aspekt der ‚Fitness‘ herausgegriffen. Da die Mechanismen hinter diesem Begriff in seinem Text etwas unklar bleiben.

ZWISCHENREFLEXION: BEGRIFF ‚FITNESS‘

  1. Außer dem bislang Gesagten (siehe oben Punkte 1-44) ist es vielleicht hilfreich, sich klar zu machen, wie genau das Zusammenspiel zwischen der Fitness biologischer Systeme und den jeweiligen Umgebungen beschaffen ist.
  2. Ein grundlegender Tatbestand ist jener, dass die Umgebung der biologischen Systeme auf der Erde von Anfang an eben die Erde war und ist bzw. das Sonnensystem bzw. unsere Milchstraße bzw. das gesamte bekannte Universum. Diese Vorgabe ist für alle biologische Systeme bislang nicht verhandelbar. Wenn ein biologisches System sich behaupten will, dann in diesem konkreten Ausschnitt des Universums und nirgendwo sonst.
  3. Zugleich wissen wir, dass die Erde seit ihrer Entstehung samt Sonnensystem und dem ganzen Kontext zu allen Zeiten ein hochdynamisches System war und ist, das im Laufe von Milliarden Jahren viele dramatische Änderungen erlebt hat. Sich in dieser Umgebung zu behaupten stellt eine schier unfassbare Leistung dar.
  4. Ob sich im Laufe der Zeit eine bestimmte Lebensform L auf der Erde ‚behaupten‘ oder gar ‚vermehren‘ konnte, hing einzig davon ab, ob diese Lebensform L im Laufe der Generationen in der Lage war, hinreichend viele Nachkommen unter den konkreten Bedingungen der Umgebung zu erzeugen und am Leben zu erhalten. Die Anzahl der Nachkommen einer Generation der Lebensform L kann von daher als Bezugspunkt zur Definition eines ‚Fitness-Wertes‚ bzw. dann der ‚Fitness‘ einer Lebensform genommen werden. Eine häufige Schematisierung dieser Sachverhalte ist die folgende:
  5. POP(t+1) = o(POP(t)), t>0 := Die Population ‚POP‘ zum Zeitpunkt t+1 ist das Ergebnis der Anwendung der Populationsgenerierungsfunktion ‚o‘ auf die Population zum Zeitpunkt ‚t‘, wobei ‚t‘ größer als 0 sein muss. Die Funktion ‚o‘ kann man dann weiter analysieren:
  6. o=e x c := Die Populationsgenerierungsfunktion ‚o‘ ist das Ergebnis der Hintereinanderausführung der beiden Teilfunktionen ‚e‘ (‚earth-function‘) und ‚c‘ (‚change-funtion‘). Diese kann man weiter analysieren:
  7. e : 2^(POP^2) x 2^POP x EARTH —–> POP := Die earth-function e nimmt Paare von Individuen (potentielle Eltern) der Population, zusätzlich kann es beliebig andere Individuen der Population geben (Jäger, Beute, Artgenossen…), und dann die Erde selbst mit ihren Eigenschaften, und transformiert daraus nachfolgende Individuen, Abkömmlinge. Es ist schwer zu sagen, ‚wer‘ hier über Leben und Tod entscheidet: einerseits legen die konkreten Bedingungen der Erde und die Art der Zeitgenossen fest, unter welchen Bedingungen eine Lebensform überleben kann, andererseits hängt ein Überleben auch davon ab, welche ‚Eigenschaften‘ eine Lebensform besitzt; ob diese leistungsfähig genug sind, unter den gegebenen Bedingungen ‚leben‘ zu können. Nimmt man die Population der Lebensformen als ‚Generator‘ neuer Formen (siehe nächsten Abschnitt), dann wirkt die konkrete Erde wie eine Art ‚Filter‘, das nur jene ‚durchlässt‘, die ‚passen‘. ‚Selektion‘ wäre dann ein ‚emergentes‘ Phänomen im radikalen Sinne, da dieses Phänomen nur im Zusammenspiel der beiden Faktoren ‚Erde‘ und ‚Population‘ ’sichtbar‘ wird. Ohne dieses Zusammenspiel gibt es kein Kriterium für ‚Überlebensfähigkeit‘. Ferner wird hier deutlich, dass das Kriterium ‚Fitness‘ bzw. ‚Überlebensfähigkeit‘ kein absolutes Kriterium ist, sondern sich zunächst nur auf den Lebensraum ‚Erde‘ beschränkt. In anderen Bereichen des Universums könnten ganz andere Kriterien gelten und dort müsste die Lebensformen u.U. Einen ganz anderen Zuschnitt haben.
  8. Ferner  wird hier sichtbar, dass der ‚Erfolg‚ einer bestimmten Lebensform als Teil des gesamten Biologischen letztlich sehr ‚partiell‚ ist, weil bei Änderungen der Zustände auf der Erde bislang erfolgreiche Lebensformen (berühmtes Beispiel die Dinosaurier) vollstänig verschwinden können; andere Lebensformen als Teil des Biologischen können dann aber plötzlich neu in den Vordergrund treten. (berühmtes Beispiel die Säugetiere).  Offen ist die Frage, ob es spezielle Lebensformen — wie z.B. den homo sapiens — gibt, die aufgrund ihrer hervorstechenden Komplexität im Kontext des Biologischen eine irgendwie geartete ‚besondere Bedeutung‘ besitzen. Aktuell erwecken die Wissenschaften den Eindruck, als ob es hier keine feste Meinung gibt: die einen sehen im homo sapiens etwas Besonderes, das auf eine spezielle Zukunft verweist, andere sehen im homo sapiens eine von vielen möglichen speziellen Lebensformen, die bald wieder verschwinden wird, weil sie sich der eigenen Lebensgrundlagen beraubt.
  9. c : cross x mut := die ‚change-function‘ c besteht auch aus zwei Teilfunktionen, die hintereinander ausgeführt werden: die erste Teilfunktion ist eine Art Überkreuzung genannt ‚crossover‘ (‚cross‘), die zweite ist eine Art Mutation genannt ‚mutation‘ (‚mut‘).
  10. cross : POP x POP —–> POP := In der Überkreuzfunktion ‚cross‘ werden die Genotypen von zwei verschiedenen Individuen ‚gemischt‘ zu einem neuen Genotyp, aus dem ein entsprechend neuer Phänotyp hervorgehen kann.
  11. mut : POP —–> POP := In der Mutationsfunktion kann eine zufällige Änderung im Genotyp eines Individuums auftreten, die unter Umständen auch zu Änderungen im Phänotyp führt.
  12. Idealerweise kann man die change-function c isoliert von der Umgebung sehen. Realistischerweise kann es aber Wechselwirkungen mit der Umgebung geben, die auf die change-function ‚durchschlagen‘.

  13. Fasst man alle Faktoren dieser – stark vereinfachten – Populationsgenerierungsfunktion ‚o‘ zusammen, dann wird auf jeden Fall deutlich, dass beide Systemedie Erde und das Biologische – einerseits unabhängig voneinander sind, dass sie aber faktisch durch die Gegenwart des Biologischen auf der Erde (und im Sonnensystem, in der Milchstraße, …) in einer kontinuierlichen Wechselwirkung stehen, die sich dahingehend auswirkt, dass das Biologische eine Form annimmt, die zur Erde passt. Grundsätzlich könnte das Biologische aber auch andere Formen annehmen, würde es in einer anderen Umgebung leben.
  14. Um die Populationsgenerierungsfunktion noch zu vervollständigen, braucht man noch eine ‚Bootstrapping Funktion‘ ‚boot-life()‘, mittels der überhaupt das Biologische auf der Erde ‚eingeführt‘ wird:
  15. boot-life : EARTH —–> EARTH x POP (auch geschrieben: POP(t=1) = boot-life(POP(t=0)) ):= wie die allerneuesten Forschungen nahelegen, konnten sich unter bestimmten Bedingungen (z.B. unterseeische Gesteinsformationen, vulkanisches Wasser, …) verschiedene Molekülverbände zu komplexen Molekülverbänden so zusammen schließen, dass irgendwann ‚lebensfähige‘ – sprich: reproduktionsfähige – Zellen entstanden sind, die eine Anfangspopulation gebildet haben. Auf diese Anfangspopulation kann dann die Populationsgenerierungsfunktion ‚o‘ angewendet werden.

Fortsetzung folgt HIER.

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ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Kumulierte Zusammenfassung der Diskussion

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 13.Sept. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Letzte Änderungen: 3.Dez.2018, Hervorhebungen hinzugefügt

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

BISHER

Bislang sind folgende Teile erschienen:

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Teil 6

Teil 7

Einschub: Fitness

Teil 8

Teil 9

Teil 10

Teil 11

Welche Theorie von was?

Teil 13: Fokussierung und Unbewusstes – Teil1

 

POSITION VON EDELMAN

Edelman benutzt die Arbeitshypothese, dass das, was wir ‚Geist‘ nennen, sich nur ab bestimmten Zeitpunkten während der allgemeinen Evolution ‚gezeigt‘ (‚emerged‘) hat, und zwar sehr spät.(vgl. S.41) Und dies setzt die Annahme voraus, dass die fundamentale Basis für alles Verhalten und für die ‚Sichtbarwerdung‘ (‚emergence‘) des Geistes die Anatomie und Morphologie der biologischen Strukturen ist sowie deren Funktionen.(vgl. S.41)

POSITION DES AUTORS ALS DISKUSSIONSPUNKTE

Im Kontext seiner Argumentation kritisiert Edelman viele bekannte Positionen im Bereich Philosophie und Psychologie aus der eingeschränkten Perspektive ihres Bezuges zu den materiellen Strukturen heraus, die von ihm – letztlich wie bei Kant, nur mit anderem Akzent, mehr oder weniger – als ‚Ermöglichung des Geistes‘ gesehen werden. Diese Kritik in dieser speziellen Perspektive ist zum Teil berechtigt, aber auch nur zu einem sehr eingeschränkten Teil, da die kritisierten Personen und Positionen von den neuen Erkenntnissen noch gar nichts wissen konnten. Über diese enge Perspektive des expliziten Bezugs zu materiellen Strukturen hinaus repräsentieren die kritisierten Positionen aber auch Perspektiven, die ‚in sich eine methodische Rechtfertigung‘ besitzen, die Edelman schlicht nicht erkennt. Hier verkürzt zur Erinnerung einige seiner ‚methodischen blinden Flecken‘:

  1. Alternativen sind berechtigt:… zugleich die Arbeitshypothese aufzustellen, dass damit Analyse- und Erklärungsansätze von vornherein zu verurteilen sind, die Verhaltensdaten (Psychologie) bzw. auch introspektive Daten (Philosophie) als solche als Basis nehmen ohne direkt einen Bezug zu den materiellen (anatomischen) Daten herzustellen, ist mindestens problematisch wenn nicht wissenschaftsphilosophisch unhaltbar…
  2. Primär die Funktionen:… denn, wie immer die anatomischen Grundlagen beschaffen sein mögen, wenn ich deren ‚Verhaltensdynamik‘ erforschen will, interessieren mich die Details dieser Anatomie nicht, sondern nur ihre Funktion. Und diese lässt sich nicht durch Rekurs auf Bestandteile beschreiben sondern nur durch Beobachtung des Systemverhaltens …
  3. Daten als solche sind ‚blind‘:… aus materiellen Strukturen als solchen folgt in keiner Weise irgend etwas ‚Geistiges‘ es sei denn, ich habe vorab zur Untersuchung einen Kriterienkatalog G, den ich als Maßstab anlegen kann, um dann bei der Analyse der Beobachtungsdaten konstatieren zu können, das der Eigenschaftskomplex G vorliegt. Habe ich solch einen Kriterienkatalog G nicht, kann ich noch so viele empirische Daten zu irgendwelchen materiellen Strukturen vorweisen; ‚aus sich heraus‘ lassen diese Daten eine solche Eigenschaftszuschreibung nicht zu! …
  4. Konkretisierung und Quantenraum:… ohne die ‚Anhaltspunkte‘ im ‚beobachtbaren Verhalten‘ wäre es praktisch unmöglich, jene bedingenden materiellen Struktureigenschaften zu identifizieren, da die zugrundeliegenden neuronalen und damit letztlich biochemischen Grundlagen rein mathematisch nahezu unbegrenzt viele Funktionen erlauben. Letztlich deuten diese materiellen Strukturen auf einen quantenmechanischen Möglichkeitsraum hin, deren Konkretisierung von Faktoren abhängt, die sich aus den Strukturen selbst nicht so einfach ableiten lassen. …
  5. Phänomene zuerst: Philosophen arbeiten traditionell mit dem subjektiven Erlebnisraum direkt, ohne zugleich die Frage nach den materiellen Bedingungen der so erlebbaren ‚Phänomene‘ zu stellen. In gewisser Weise handelt es sich bei diesen subjektiven (= bewussten) Phänomenen auch um eine Systemfunktion eigener Art mit einer spezifischen Besonderheit, der man nicht gerecht werden würde, würde man sie durch Rekurs auf die bedingenden materiellen Strukturen (Gehirn, Körper, Welt, …) ‚ersetzen‘ wollen. …
  6. Empirie ist abgeleitet:… muss man sich klar machen, dass alle sogenannten ‚empirischen Daten‘ ja nicht ‚außerhalb‘ des ‚bewusstseinsbedingten Phänomenraums‘ vorkommen, sondern auch nur ‚bewusstseinsbedingte Phänomene‘ sind, allerdings eine spezielle Teilmenge, die man mit unterstellten Vorgängen in der Außenwelt in Verbindung bringt. Insofern bildet der subjektive Phänomenraum die Basis für jegliche Denkfigur, auch für die empirischen Wissenschaften. …
  7. Bezugspunkte für die Phänomene des Geistigen: Die Frage, was denn dann die primären Kriterien für das ‚Psychische-Geistige‘ sind, wird durch diese multidisziplinäre Kooperationen nicht einfacher: da die materiellen Strukturen als solche keinerlei Anhaltspunkte für ‚Geistiges‘ liefern, bleibt letztlich als Ausgangspunkt doch nur das ‚Geistige‘, wie biologische Systeme ’sich selbst‘ sehen, weil sie sich so ‚erleben‘. Das ‚Geistige‘ erscheint hier als ‚Dynamik‘ von Systemen, die sich anhand des Auftretens dieser Systeme ‚zeigt‘, ‚manifestiert‘. Aus den einzelnen materiellen Bestandteilen kann man diese Eigenschaften nicht ableiten, nur aus der Gesamtheit in spezifischen Wechselwirkungen. …
  8. wenn ein homo sapiens ’nichts tut‘, dann ist die Dynamik ‚unsichtbar‘ und die durch solch eine Dynamik sichtbar werdenden Eigenschaften sind nicht greifbar. Weiter: wenn ein homo sapiens eine Dynamik erkennen lässt, dann bedarf es einer spezifischen ‚Erkenntnisweise‘, um die spezifischen Eigenschaften von ‚Geist‘ erkennen zu können. …
  9. Das System-Ganze: … Erst durch die Dynamik des Gesamtsystems werden – oft als ‚emergent‘ klassifizierte – Phänomene sichtbar, die von den einzelnen Bestandteilen des materiellen Systems als solchen nicht ableitbar sind, nur eben durch das Verhalten, die Dynamik des Gesamtsystems. …
  10. Begriffliches Mehr: … Es ist weder auszuschließen, dass es zwischen dem empirischen Phänomen der ‚Gravitation‘ und dem empirischen Phänomen ‚Geist‘ einen ‚tieferen‘ Zusammenhang gibt (da ‚Geist‘ als empirisches Phänomen ‚Gravitation‘ voraussetzt‘), noch dass es weit komplexere empirische Phänomene geben kann als den ‚individuell in Populationen‘ sich manifestierenden ‚empirischen Geist‘.
  11. Neues‘ und sein Ursprung:… Da jene geistige Eigenschaften, die den homo sapiens von anderen Lebensformen unterscheiden, erst mit diesem auftreten, kann eine ‚Geschichte der Entwicklung jener Formen, die den homo sapiens auszeichnen‘, nur indirekte Hinweise darauf liefern, wie sich jene ’späten‘ komplexen materiellen Strukturen aus ‚einfacheren, früheren‘ Strukturen entwickelt haben. Damit entsteht dann die interessante Frage, wie sich solche Komplexität aus ’scheinbar einfacheren‘ Strukturen entwickeln konnte? In der logischen Beweistheorie gilt allgemein, dass ich nur etwas ‚ableiten’/ ‚beweisen‘ kann, wenn ich das zu Beweisende letztlich schon in meinen ‚Voraussetzungen’/ ‚Annahmen‘ angenommen habe. Das ’spätere komplexere Neue‘ wäre in dem Sinne dann nicht wirklich ’neu‘, sondern nur eine ‚andere Zustandsform‘ eines Ausgangspunktes, der schon alles hat‘. Dies wäre nicht sehr überraschend, da wir in der Big-Bang-Theorie allgemein von ‚Energie (E)‘ ausgehen, die in Folge von Abkühlungsprozessen unendlich viele konkrete Zustandsformen angenommen hat, von denen wir mit E=mc^2 wissen, dass sie alle ineinander überführbar sind, wie speziell sie auch immer sein mögen.
  12. Rückschlüsse vom Phänotyp auf den Genotyp: …Die komplexen Abbildungsprozesse zwischen Genotypen und Phänotypen als Teil von Populationen in Umgebungen machen eine Zuordnung von im Verhalten fundierten Eigenschaftszuschreibungen von ‚Geist‘ zu vorliegenden materiellen Strukturen schwer bis unmöglich. … Das Entscheidende am Phänomen des Geistes ist ja, dass er nach vielen Milliarden Jahren Entwicklung in einem aktuell hochkomplexen und dynamischen System sich zeigt, und zwar nicht ‚aus sich heraus‘ sondern nur dann, wenn ein anderes System, das ebenfalls ‚Geist‘ hat, diesen Phänomenen ‚ausgesetzt‚ ist. Ein System, das selbst ‚keinen Geist hat‘, kann die beobachtbaren Phänomene nicht als ‚geistige‘ klassifizieren! Dies schließt nicht aus, dass heutige Algorithmen quasi automatisch irgendwelche ‚Muster‘ im beobachtbaren Verhalten identifizieren können, allerdings sind dies Muster wie unendlich viele andere Muster, deren ‚Bewertung‘ in irgendeine Zustandsdimension völlig beliebig ist.
  13. Der ‚Theoriemacher‘ kommt selbst als Gegenstand der Theorie nicht vor: …Von Interesse ist auch, wie sich der Zustandsraum der materiellen Strukturen (die Gesamtheit des aktuellen empirischen Wissens über das Universum und seiner möglichen Zukünfte) und der Zustandsraum von Systemen mit Geist (die Gesamtheit des geistigen Vorstellungsraumes samt seiner möglichen geistigen Zukünfte) unterscheidet. Die Sache wird dadurch kompliziert, dass ja die Systeme mit empirischem Geist letztlich auch zum genuinen Gegenstandsbereich der sogenannten ‚Natur‘-Wissenschaften gehören. Wenn das Empirisch-Geistige Teil der Natur ist, reichen die bisherigen empirischen naturwissenschaftlichen Theorien nicht mehr. Sie müssten entsprechend geändert werden. Der Beobachter muss wesentlicher Bestandteil der Theorie selbst werden. Für diese Konstellation haben wir bislang aber keinen geeigneten empirischen Theoriebegriff.
  14. Die ‚Interpretationsfunktion‘ als Fundament allen biologischen Lebens ungeklärt: Die fundamentale Tatsache, dass es Moleküle gibt, die andere Moleküle als ‚Kode‘ benutzen können, um Transformationsprozesse zwischen einer Sorte von Molekülen (DNA, RNA) in eine andere Sorte von Molekülen (Polypeptide, Proteine) steuern zu können, nimmt Edelman als Faktum hin, thematisiert es selbst aber nicht weiter. Er benennt diese ‚interpretierenden Moleküle‘ auch nicht weiter; sein Begriff ‚cellular device‘ ist eher nichtssagend. Dennoch ist es gerade diese Fähigkeit des ‚Übersetzens’/ ‚Interpretierens‘, die fundamental ist für den ganzen Transformationsprozess von einem Genom in einen Phänotyp bzw. in eine ganze Kette von hierarchisch aufeinander aufbauenden Phänotypen. Setzt man diese Übersetzungsfähigkeit voraus, ist das ganze folgende Transformationsgeschehen – so komplex es im Detail erscheinen mag – irgendwie ‚trivial‘. Wenn ich in mathematischer Sicht irgendwelche Mengen habe (z.B. verschiedene Arten von Moleküle), habe aber keine Beziehungen definiert (Relationen, Funktionen), dann habe ich quasi ‚Nichts‘. Habe ich aber z.B. eine Funktion definiert, die eine ‚Abbildung‘ zwischen unterschiedlichen Mengen beschreibt, dann ist es eine reine Fleißaufgabe, die Abbildung durchzuführen (z.B. die Übersetzung von DNA über RNA in Aminosäuren, dann Polypeptide, dann Proteine). Dass die Biochemie und Mikrobiologie samt Genetik so viele Jahre benötigt hat, die Details dieser Prozesse erkennen zu können, ändert nichts daran, dass diese Transformationsprozesse als solche ‚trivial‘ sind, wenn ich die grundlegende Transformationsfunktion definiert habe. Wo aber kommt diese grundlegende Abbildungsfunktion her? Wie kann es sein, dass ein ordinäres chemisches Molekül ein anderes ordinäres chemisches Molekül als ‚Kode‘ interpretiert, und zwar genau dann so, wie es geschieht? Betrachtet man ’normale‘ Moleküle mit ihren chemischen Eigenschaften isoliert, dann gibt es keinerlei Ansatzpunkt, um diese grundlegende Frage zu beantworten. Offensichtlich geht dies nur, wenn man alle Moleküle als eine Gesamtheit betrachtet, diese Gesamtheit zudem nicht im unbestimmten Molekül-Vorkommens-Raum, sondern in Verbindung mit den jeweils möglichen ‚realen Kontextbedingungen‘, und dann unter Berücksichtigung des potentiellen Interaktionsraumes all dieser Moleküle und Kontexte. Aber selbst dieser Molekül-Vorkommens-Raum repräsentiert im mathematischen Sinne nur Mengen, die alles und nichts sein können. Dass man in diesem Molekül-Vorkommens-Raum eine Funktion implantieren sollte, die dem Dekodieren des genetischen Kodes entspricht, dafür gibt es im gesamten Molekül-Vorkommens-Raum keinerlei Ansatzpunkt, es sei denn, man setzt solch eine Funktion als ‚Eigenschaft des Molekül-Vorkommens-Raumes‘ voraus, so wie die Physiker die ‚Gravitation‘ als Eigenschaft des physikalischen Raumes voraussetzen, ohne irgendeinen Ansatzpunkt im Raum selbst zu haben, als die beobachtbare Wirkung der Gravitation. Die Biologen können feststellen, dass es tatsächlich einen Transformationsprozess gibt, der solch eine Abbildungsbeziehung voraussetzt, sie haben aber keine Chance, das Auftreten dieser Abbildungsbeziehung aus den beobachtbaren materiellen Strukturen abzuleiten!!!
  15. Biologisches Leben als ‚Super-Algorithmus‘, der seine eigenen Realisierungsbedingungen mit organisiert: In der Beschreibung von Edelmans Position habe ich schon angemerkt, dass seine Wortwahl ‚Topobiologie‘ möglicherweise unglücklich ist, da es letztlich nicht der dreidimensionale Raum als solcher ist, der entscheidend ist (wenngleich indirekt die Drei-Dimensionalität eine Rolle spielt) sondern der ‚Kontext in Form von interaktiven Nachbarschaften‘: welche andere Zellen stehen in Interaktion mit einer Zelle; welche Signale werden empfangen. Indirekt spielt dann auch der ‚vorausgehende Prozess‘ eine Rolle, durch den eben Kontexte erzeugt worden sind, die nur in bestimmten Phasen des Prozesses vorliegen. Man hat also eher einen ‚Phasenraum‘, eine Folge typischer Zustände, die auseinander hervorgehen, so, dass der bisherige Prozess die nächste Prozessphase hochgradig determiniert. Dies ähnelt einer ‚algorithmischen‘ Struktur, in der eine Folge von Anweisungen schrittweise abgearbeitet wird, wobei jeder Folgeschritt auf den Ergebnissen der vorausgehenden Abarbeitungen aufbaut und in Abhängigkeit von verfügbaren ‚Parameterwerten‘ den nächsten Schritt auswählt. Im Unterschied zu einem klassischen Computer (der eine endliche Instanz eines an sich unendlichen theoretischen Konzeptes von Computer darstellt!), bei dem die Ausführungsumgebung (normalerweise) festliegt, haben wir es hier mit einem algorithmischen Programm zu tun, das die jeweilige Ausführungsumgebung simultan zur Ausführung ‚mit erschafft‘! Wenn Computermetapher, dann eben so: ein Programm (Algorithmus), das seine Ausführungsumgebung (die Hardware) mit jedem Schritt selbst ‚erschafft‘, ‚generiert‘, und damit seine Ausführungsmöglichkeiten schrittweise ausbaut, erweitert. Dies setzt allerdings voraus, dass das genetische Programm dies alles schon ‚vorsieht‘, ‚vorwegnimmt‘. Die interessante Frage ist dann hier, wie ist dies möglich? Wie kann sich ein genetisches Programm ‚aus dem Nichts‘ entwickeln, das all diese ungeheuer komplexen Informationen bezüglich Ausführung und Ausführungsumgebung zugleich ‚aufgesammelt‘, ’strukturiert‘, ‚verpackt‘ hat, wo die Gesamtheit der modernen Wissenschaft bislang nur Fragmente versteht?
  16. Ein technischer Super-Algorithmus scheint prinzipiell möglich; unklar ist seine ‚inhaltliche Ausgestaltung‘: Während Neurowissenschaftler (Edelman eingeschlossen) oft mit unsinnigen Computervergleichen versuchen, die Besonderheit des menschlichen Gehirns herauszustellen, kann man ja auch mal umgekehrt denken: wenn die Entwicklung des Gehirns (und des gesamten Organismus) Ähnlichkeiten aufweist mit einem Algorithmus, der seine eigene Ausführungsumgebung während der Ausführung (!!!) mit generiert, ob sich solch ein Prozess auch ‚rein technisch‘ denken ließe in dem Sinne, dass wir Maschinen bauen, die aus einer ‚kleinen Anfangsmenge von Materie‘ heraus ausgestattet mit einem geeigneten ‚Kode‘ und einem geeigneten ‚Interpretierer‘ sich analog selbst sowohl materiell als auch kodemäßig entwickeln? Da die biologischen Systeme zeigen, dass es grundsätzlich geht, kann man solch einen technischen Prozess nicht grundsätzlich ausschließen. Ein solches Gedankenexperiment macht aber sichtbar, worauf es wirklich ankommt: eine solche sich selbst mit-bauende Maschine benötigt auch einen geeigneten Kode und Interpretationsmechanismus, eine grundlegende Funktion. Ohne diese Funktion, geht gar nichts. Die Herkunft dieser Funktion ist aber gerade diejenige grundlegende Frage, die die gesamte empirische Wissenschaft bislang nicht gelöst hat. Es gibt zwar neuere Arbeiten zur Entstehung von ersten Zellen aus Molekülen unter bestimmten realistischen Kontexten, aber auch diese Forschungen beschreiben nur Prozesse, die man ‚vorfindet‘, die sich ‚zeigen‘, nicht aber warum und wieso es überhaupt zu diesen Prozessen kommen kann. Alle beteiligten materiellen Faktoren in diesen Prozessen als solchen geben keinerlei Ansatzpunkte für eine Antwort. Das einzige, was wir bislang wissen, ist, dass es möglich ist, weil wir es ‚beobachten können‘. Die ‚empirischen Phänomene‘ sind immer noch die härteste Währung für Wahrheit.
  17. Wissenschaftliche Theorie:… es ist überhaupt das erste Mal, dass Edelman in diesem Buch explizit über eine ‚wissenschaftliche Theorie‘ spricht… Seine Charakterisierung einer ‚wissenschaftlichen Theorie‘ ist … generell sehr fragmentarisch; sie ist ferner in ihrer Ernsthaftigkeit fragwürdig, da er die Forderung der Falsifizierbarkeit mit dem Argument begründt, dass ansonsten Darwins Theorie in ihrer Anfangszeit niemals hätte Erfolg haben können; und sie ist geradezu mystisch, da er eine radikal neue Rolle des Beobachters mit all seinen mentalen Eigenschaften innerhalb der Theoriebildung einfordert, ohne aber irgendwelche Hinweise zu liefern, wie das praktiziert werden soll. … Man stellt sich die Frage, welchen ‚Begriff von Theorie‘ Edelman eigentlich benutzt? In der Geschichte der empirischen Wissenschaften gab es viele verschiedene Begrifflichkeiten, die nicht ohne weiteres kompatibel sind, und seit ca. 100 Jahren gibt es eine eigene Metawissenschaft zu den Wissenschaften mit Namen wie ‚Wissenschaftsphilosophie‘, ‚Wissenschaftstheorie‘, ‚Wissenschaftslogik‘, deren Gegenstandsbereich gerade die empirischen Wissenschaften und ihr Theoriebegriff ist…. Aufgrund seiner bisherigen Ausführungen scheint Edelman nichts vom Gebiet der Wissenschaftsphilosophie zu kennen.
  18. Überprüfbarkeit, Verifizierbarkeit, Theorie: Die Überprüfbarkeit einer Theorie ist in der Tat ein wesentliches Merkmal der modernen empirischen Wissenschaften. Ohne diese Überprüfbarkeit gäbe es keine empirische Wissenschaft. Die Frage ist nur, was mit ‚Überprüfbarkeit‘ gemeint ist bzw. gemeint sein kann. … Wenn Edelman fordert dass für eine Theorie gelten soll, dass nicht (vi) ‚jeder Teil von der Theorie direkt falsifizierbar‘ sein muss, dann geht er offensichtlich davon aus, dass eine Theorie T aus ‚Teilen‘ besteht, also etwa T(T1, T2, …, Tn) und dass im ‚Idealfall‘ jeder Teil ‚direkt falsifizierbar‘ sein müsste. Diese Vorstellung ist sehr befremdlich und hat weder mit der Realität existierender physikalischer Theorien irgend etwas zu tun noch entspricht dies den modernen Auffassungen von Theorie. Moderne Theorien T sind mathematische (letztlich algebraische) Strukturen, die als solche überhaupt nicht interpretierbar sind, geschweige denn einzelne Teile davon. Ferner liegt die Erklärungsfähigkeit von Theorien nicht in ihren Teilen, sondern in den ‚Beziehungen‘, die mittels dieser Teile formulierbar und behauptbar werden. Und ob man irgendetwas aus solch einer Theorie ‚voraussagen‘ kann hängt minimal davon ab, ob die mathematische Struktur der Theorie die Anwendung eines ‚logischen Folgerungsbegriffs‘ erlaubt, mittels dem sich ‚Aussagen‘ ‚ableiten‘ lassen, die sich dann – möglicherweise – ‚verifizieren‘ lassen. Diese Verifizierbarkeit impliziert sowohl eine ‚Interpretierbarkeit‘ der gefolgerten Aussagen wie auch geeignete ‚Messverfahren‘, um feststellen zu können, ob die ‚in den interpretierten Aussagen involvierten entscheidbaren Eigenschaften‘ per Messung verifiziert werden können oder nicht. Der zentrale Begriff ist hier ‚Verifikation‘. Der Begriff der ‚Falsifikation‘ ist relativ zu Verifikation als komplementärer Begriff definiert. Begrifflich erscheint dies klar: wenn ich nicht verifizieren kann, dann habe ich automatisch falsifiziert. In der Praxis stellt sich aber oft das Problem, entscheiden zu können, ob der ganz Prozess des Verifizierens ‚korrekt genug‘ war: sind die Umgebungsbedingungen angemessen? Hat das Messgerät richtig funktioniert? Haben die Beobachter sich eventuell geirrt? Usw. Als ‚theoretischer Begriff‘ ist Falsifikation elegant, in der Praxis aber nur schwer anzuwenden. Letztlich gilt dies dann auch für den Verifikationsbegriff: selbst wenn der Messvorgang jene Werte liefert, die man aufgrund einer abgeleiteten und interpretierten Aussage erwartet, heißt dies nicht mit absoluter Sicherheit, dass richtig gemessen wurde oder dass die Aussage möglicherweise falsch interpretiert oder falsch abgeleitet worden ist.
  19. Rolle des Theoriemachers und Beobachters fundamental: All diese Schwierigkeiten verweisen auf den ausführenden Beobachter, der im Idealfall auch der Theoriemacher ist. In der Tat ist es bislang ein menschliches Wesen, das mit seinen konkreten mentalen Eigenschaften (basierend auf einer bestimmten materiellen Struktur Gehirn im Körper in einer Welt) sowohl Phänomene und Messwerte in hypothetische mathematische Strukturen transformiert, und diese dann wiederum über Folgerungen und Interpretationen auf Phänomene und Messwerte anwendet. Dies in der Regel nicht isoliert, sondern als Teil eines sozialen Netzwerkes, das sich über Interaktionen, besonders über Kommunikation, konstituiert und am Leben erhält. … Edelman hat Recht, wenn er auf die bisherige unbefriedigende Praxis der Wissenschaften hinweist, in der die Rolle des Theoriemachers als Teil der Theoriebildung kaum bis gar nicht thematisiert wird, erst recht geht diese Rolle nicht in die eigentliche Theorie mit ein. Edelman selbst hat aber offensichtlich keinerlei Vorstellung, wie eine Verbesserung erreicht werden könnte, hat er ja noch nicht einmal einen rudimentären Theoriebegriff.
  20. Theorie einer Population von Theoriemachern: Aus dem bisher Gesagten lässt sich zumindest erahnen, dass ein verbessertes Konzept einer Theorie darin bestehen müsste, dass es eine explizite ‚Theorie einer Population von Theoriemachern (TPTM)‘ gibt, die beschreibt, wie solch eine Population überhaupt eine Theorie gemeinsam entwickeln und anwenden kann und innerhalb dieser Theorie einer Population von Theoriemachern würden die bisherigen klassischen Theoriekonzepte dann als mögliche Theoriemodelle eingebettet. Die TPTM wäre dann quasi ein ‚Betriebssystem für Theorien‘. Alle Fragen, die Edelman angeschnitten hat, könnte man dann in einem solchen erweiterten begrifflichen Rahmen bequem diskutieren, bis hinab in winzigste Details, auch unter Einbeziehung der zugrunde liegenden materiellen Strukturen.
  21. Darwin und Theorie: Anmerkung: Darwin hatte nichts was einem modernen Begriff von Theorie entsprechen würde. Insofern ist auch das Reden von einer ‚Evolutionstheorie‘ im Kontext von Darwin unangemessen. Damit wird aber der epochalen Leistung von Darwin kein Abbruch getan! Eher wirkt sein Werk dadurch noch gewaltiger, denn die Transformation von Gedanken, Phänomenen, Fakten usw. in die Form einer modernen Theorie setzt nicht nur voraus, dass man über die notwendigen Formalisierungsfähigkeiten verfügt … sondern man kann erst dann ’sinnvoll formalisieren‘, wenn man überhaupt irgendetwas ‚Interessantes‘ hat, was formalisiert werden soll. Die großen Naturforscher (wie z.B. Darwin) hatten den Genius, die Kreativität, den Mut, die Zähigkeit, das bohrende, systematisierende Denken, was den Stoff für interessante Erkenntnisse liefert. Dazu braucht man keine formale Theorie. Die Transformation in eine formale Theorie ist irgendwo Fleißarbeit, allerdings, wie die Geschichte der Physik zeigt, braucht man auch hier gelegentlich die ‚Genies‘, die das Formale so beherrschen, dass sie bisherige ‚umständliche‘ oder ‚unpassende‘ Strukturen in ‚einfachere‘, ‚elegantere‘, ‚besser passende‘ formale Strukturen umschreiben.
  22. Inkompatible Daten: 1.Person – 3.Person: Schon die erste Überlegung von Edelman, die Theorie des Bewusstseins als Teil einer Theorie des Gehirns zu konzipieren, wirft methodische Fragen auf. Diese resultieren daher, dass ja eine Theorie – was er im nächsten Abschnitt ja auch ausdrücklich feststellt – , im Kern darin besteht, ‚Zusammenhänge‘ einzuführen, durch die die einzelnen, isolierten Fakten kausale, erklärende, prognostische Eigenschaften bekommen können. Nun ist nach bisherigem Kenntnisstand klar, dass jene Fakten, durch die sich für einen menschlichen Beobachter und Theoriemacher das Bewusstsein ‚zeigt‘, und jene Fakten, mittels denen eine Neurobiologie arbeitet, nicht nur einfach ‚unterschiedlich‘ sind, sondern im ersten Anlauf prinzipiell ‚ausschließend‘. Die dritte Person Perspektive im Fall neurobiologischer Theoriebildung und die erste Person Perspektive im Fall von Bewusstseinstheorien sind im ersten Schritt nicht kompatibel miteinander. Jede Form von Beziehungsentwicklung über diesen unterschiedlichen Datenengen – nennen wir sie DAT_NN und DAT_BW – wird vollständig unabhängig voneinander stattfinden müssen. Bei dieser Sachlage zu sagen, dass eine Theorie des Bewusstseins als Teil einer Theorie des Gehirns entwickelt werden soll, klingt spannend, lässt aber jegliche Einsicht in ein mögliches Wie vermissen. Der umgekehrte Fall, eine Theorie des Gehirns als Teil einer Theorie des Bewusstseins hingegen wäre methodisch möglich, da alle empirische Daten abgeleitete Bewusstseinsdaten sind (also: DAT_NN C DAT_BW).
  23. Denken als kreativer Akt – Kein Automatismus: Im übrigen sollte man im Hinterkopf behalten, dass das ‚Einführen von Beziehungen‘ über Datenpunkten in keiner Weise von den Daten selbst her ‚ableitbar‘ ist. Es handelt sich bei solchen Einführungen um ‚kreative Denkakte‘, die aus einem vorgegebenen begrifflichen Denkraum einen möglichen Teilraum aktivieren und diesen ‚an den Daten ausprobieren‘. Insofern handelt es sich bei der Theoriebildung um ein ‚Erkenntnissystem‘ im Sinne von Edelman, das ‚gedachte Varianten von Beziehungen‘ bilden kann, und jene Fakten (ein vom Denken unabhängiger Bereich), die zu irgendwelchen Beziehungsvarianten ‚passen‘, die werden ‚ausgewählt‘ als solche Fakten, die sich im Sinne der ausgewählten Beziehungen ‚erklären‘ lassen. Im Sinne von Edelman könnte man hier von einem ‚bewusstseinsbasierten selektiven System (bsS)‘ sprechen. Es ist an die Lebensdauer des Bewusstseins gebunden, es verfügt über ein ‚Gedächtnis‘, es kann dadurch ‚adaptiv‘ sein, es kann aufgrund von zusätzlichen Kommunikationsprozessen Beziehungsvarianten auf andere Bewusstseine übertragen und durch Übertragung auf bewusstseinsexterne Medien sogar über die Lebensdauer eines individuellen Bewusstseins hinaus gespeichert werden.
  24. Damit deutet sich eine interessante Hierarchie von ‚Erkennungssystemen‘ an: (i) ‚evolutionäre selektive Systeme (esS)‘, (ii) ’somatische selektive Systeme (ssS)‘, (iii) ’neuronale selektive Systeme (nsS)‘, sowie (iv) ‚bewusstseinsbasierte selektive Systeme (bsS)‘.
  25. Kategoriefehler? Während die Hypothese von Edelman, dass die ‚materielle Basis des Geistes‘ in den materiellen Schichten des Gehirns zu suchen sei, möglicherweise Sinn macht, ist seine andere Hypothese, dass eine wissenschaftliche Theorie des Bewusstseins als Teil einer Theorie des Gehirns zu entwickeln sei, aus fundamentalen Gründen nicht nachvollziehbar.
  26. Integrierte Theoriebildung: Greift man Punkt (1) der Diskussion auf, dann könne eine Lösung der Paradoxie von Edelman darin bestehen, dass die Verschränkung der Daten aus der 1ten-Person Perspektive DAT_1Person und die Daten aus der 3ten-Person Perspektive als DAT_3Person C DAT_1Person die Basis für eine mögliche ‚integrierte (philosophische) Theorie des Bewusstseins‘ bilden, die empirische Theorien als Teiltheorien enthält, unter anderem eine Theorie des Gehirns. Wollte man ferner das von Edelman in den ersten Kapiteln mehrfach angesprochene ungelöste Problem der ‚mangelnden Integration des Beobachters‘ in die zugehörige Theorie aufgreifen, dann wäre dies in einer ‚integrierten philosophischen Theorie des Bewusstseins (IPTB)‘ im Prinzip möglich. Folgendes Theorienetzwerk deutet sich damit an:
  27. In einem ersten Schritt (i) könnte man eine ‚Theorie des Bewusstseins‘ T1CS auf Basis der DAT_1Person formulieren; im Rahmen dieser Theorie kann man unter anderem (ii) die empirischen Daten DAT_3Person als eine genuine Teilmenge der Daten DAT_1Person ausweisen. Damit erhält man den Ausgangspunkt dafür, diverse Theorien T3X auf Basis der dritten Person Daten DAT_3Person zu formulieren. Hier gibt es verschiedene Optionen. Eine mögliche wäre die folgende:
  28. In einem ersten Schritt (iii) wird eine ‚Theorie der Evolution der Körper‘ T3EV formuliert. Von hier aus gibt es zwei Fortsetzungen:
  29. Die Interaktion verschiedener Körper einer Population kann in einer (iv) ‚Theorie der Akteure‘ T3A formuliert werden (diese sind u.a. potentielle Beobachter). Diese Theorie T3A beschreibt, welche Verhaltensweisen an Akteuren beobachtbar sind und wie diese sich miteinander verschränken können (z.B. bekannt aus Psychologie und Soziologie).
  30. Eine ‚Theorie der Körper‘ T3BD beschreibt (v) die innere Struktur jener Körper, die den Akteuren zugrunde liegt. Dazu kann es Teil-Theorien geben (vi) wie eine ‚Theorie des Gehirns‘ T3BR (mit all seinen Schichten ) oder (vii) eine ‚Theorie des Immunsystems‘ T3IM.
  31. Brückentheorien: Es ist dann eine eigene theoretische Leistung diese verschiedenen Teil-Theorien und Theorien miteinander in Beziehung zu setzen. Dies ist keinesfalls trivial. Während die Theorie der Evolution eine Zeitkomponente umfasst, in der sich Strukturen komplett ändern können, sind Strukturtheorien des Körpers, des Gehirns und des Immunsystems tendenziell an ’statischen‘ Strukturen orientiert. Dies ist aber unrealistisch: Körper, Gehirn und Bewusstsein sind dynamische Systeme, die sowohl durch ‚Wachstum‘ wie auch durch ‚Lernen‘ kontinuierlich ihre Strukturen ändern. Ferner ist die Interaktion der verschiedenen Theorien ein eigenständiges Problem: Gehirn und Immunsystem sind ja nur zwei Komponenten von vielen anderen, die zusammen einen Körper ausmachen. Wenn man die neuen Erkenntnisse zur Komponente ‚Darm‘ ernst nimmt, dann kann diese Komponenten das gesamte Rest-System vollständig dominieren und steuern (auch das Gehirn). Die genauen Details dieser Interaktion sind noch weitgehend unerforscht. Schließlich ist auch die Rückkopplung der diversen empirischen Theorien T3X zur primären Theorie des Bewusstseins T1CS zu lösen. Dies wäre eine ‚Brückentheorie‘ T1CS3BD mit Anbindung sowohl an die Theorie der Evolution T3EV als auch an die diversen Teiltheorien wie T3BR und T3IM. Bislang ist weltweit kein einziger Kandidat für solch eine Brückentheorie T1CS3BD bekannt, zumal es bislang auch keine ernsthafte Theorie des Bewusstseins T1CS gibt (wohl aber sehr viele Texte, die inhaltlich zum Begriff ‚Bewusstsein‘ etwas schreiben).
  32. Beginn Kap.8: Zu Beginn des Kap. 8 wiederholt Edelman seine These, dass er die ‚Sache des Geistes‘ (‚matter of mind‘) aus einem ‚biologischen Blickwinkel‘ heraus angehen will. Wie schon oben angemerkt, stellen sich hier grundlegende methodische Probleme, die hier jetzt nicht wiederholt werden sollen. Er stellt dann die sachlich unausweichliche Frage, wie man denn dann einen Zusammenhang zwischen ‚Geist‘ und ‚Materie‘ – hier Materie fokussiert auf ‚Gehirn‘ – herstellen kann.
  33. Populationsdenken und Erkennungssystem: Ohne weitere Begründung führt er dann den Begriff ‚Populationsdenken‘ ein, den er sodann überführt in den Begriff ‚Erkennungssystem‘ (‚recogntion system‘). Anschließend bringt er mit der ‚Evolution‘, ‚mit dem Immunsystem‘ und dann mit dem ‚Gehirn‘ drei Beispiele von Erkennungssystemen in seinem Sinne.
  34. Begriff ‚Geist‘ methodisch unbestimmt: Dieses ganze begriffliche Manöver von Edelmann leidet von Anbeginn an dem Umstand, dass er bislang weder genau erklärt hat, was er unter dem Begriff ‚Geist‘ versteht noch mit welchen Methoden man diesen ‚Geist‘ erforschen kann. Der Begriff ‚Geist‘ bildet also bislang nur eine ‚abstrakte Wortmarke ohne definierte Bedeutung‘ und ohne jeglichen Theorie- und Methodenbezug. Zugleich wird ‚Geist‘ streckenweise mit dem Begriff ‚Bewusstsein‘ gleichgesetzt, für den die gleichen Unwägbarkeiten gelten wie für den Begriff ‚Geist‘. Unter diesen Umständen die These aufzustellen, dass sich eine Theorie des Bewusstseins als Teil einer Theorie des Gehirns formulieren lässt ist mindestens kühn (siehe die vorausgehende Diskussion). Für die soeben von Edelman aufgeworfene Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dem mit ‚Geist‘ Gemeinten und dem mit ‚Materie‘ – sprich: Gehirn – Gemeinten ist damit alles offen, da die Begriffe ‚Geist‘ und ‚Bewusstsein‘ letztlich auch ‚offen‘ sind, da sie nicht definiert sind. Es bleibt dann nur, abzuwarten und zu schauen, ob sich aus den von Edelman eingeführten Begriffen ‚Populationsdenken‘ bzw. ‚Erkennungssystem‘ etwas ableiten lässt, was die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis zwischen ‚Geist‘ und ‚Materie‘ etwas erhellt.
  35. Das Populationsdenken basiert auf Mengen von Individuen, die sich ‚verändern‘ können; man kann diese veränderte Individuen als ‚Varianten‘ auffassen‘, die damit eine ‚Vielfalt‘ in einer Population repräsentieren. Wichtig ist hier, sich klar zu machen, dass in der Perspektive eines einzelnen Individuums dieses weder ‚weiß‘, was vorher war noch was kommen wird noch aus sich heraus abschätzen kann, ob das, was es repräsentiert bzw. das, was es tut, in irgendeiner Weise ’sinnvoll‘ ist! Das einzelne Individuum ‚lebt sich aus‘ unter den Bedingungen, die die Umgebung ‚vorgibt‘ Zu sagen, dass ein einzelnes Individuum ‚erfolgreich‘ ist (‚fit‘), setzt voraus, dass man auf das Gesamtsystem schauen kann und man ein Meta-Kriterium hat, das definiert, wann ein Individuum in einer Population ‚erfolgreich‘ ist oder nicht. Unter Evolutionsbiologen hat sich eingebürgert, als ein Erfolgskriterium die ‚Zahl der Nachkommen‘ zu nehmen. Individuen mit den meisten Nachkommen gelten als erfolgreich. Dieser ‚äußerliche‘ Befund, der sich nur mit Blick auf mehrere Generationen definieren lässt und im Vergleich zu allen anderen Individuen, wird dann zusätzlich verknüpft mit der Hypothese, dass die äußerlich beobachtbare Gestalt, der Phänotyp, letztlich auf eine ‚tiefer liegende Struktur‘ verweis, auf den Genotyp. Der äußerlich beobachtbare Erfolg eines bestimmten Phänotyps wird dann auf die angenommene tiefer liegende Struktur des Genotyps übertragen. In dieser komplexen metatheoretischen Betrachtungsweise verantworten also Genotypen die Phänotypen, die dann in einer bestimmten Umgebung über die Zeit die meisten Nachkommen ermöglichen.
  36. In diesem Kontext von ‚Selektion‘, ‚Auswahl‘ zu sprechen ist ziemlich problematisch, da kein eigentlicher Akteur erkennbar ist, der hier ’selektiert‘. Das einzelne Individuum für sich selektiert sicher nicht, da es nichts hat zum Selektieren. Die Population als solche selektiert auch nicht, da die Population keine handelnde Einheit bildet. ‚Population‘ ist ein ‚Meta-Begriff‘, der einen externen Beobachter voraussetzt, der die Gesamtheit der Individuen beobachten und darüber sprechen kann. Eine Population als ‚existierende‘ ist nur eine Ansammlung von Individuen, von denen jedes einzelne ‚vor sich hin agiert‘. Nur bei externer Beobachtung über die Zeit lässt sich erkennen, dass sich Varianten von Phänotypen bilden von denen einige größere Anzahlen bilden als andere oder einige sogar aussterben. Weder das einzelne Individuum noch die Gesamtheit der Individuen ’selektieren‘ hier irgend etwas. Wohl findet zwischen Individuen ein ‚Genmix‘ (oft als ‚crossover‘ bezeichnet) statt, der neue Genotypen ermöglicht, z.T. Ergänzt durch zufällige Änderungen (Mutationen) des Genotyps, mit nachfolgend neuen Phänotypen.
  37. Beobachter mit Theorie: Wenn man dennoch am Begriff ‚Selektion‘ festhalten will, dann nur dann, wenn man tatsächlich einen ‚externen Beobachter‘ voraussetzt, der alle diese variierenden Phänotypen in ihren jeweiligen Umgebungen in der Zeit ‚beobachten‘ kann und der eine ‚Theorie‘ formuliert (also eine systematische Beschreibung von den Beobachtungsdaten), in der die Veränderung der Phänotypen samt ihren ‚Anzahlen‘ in Beziehung gesetzt werden zu den verschiedenen Umgebungen. Wenn bestimmte Phänotypen in einer bestimmten Umgebung E aussterben während andere Phänotypen bei der gleichen Umgebung nicht aussterben, sich vielleicht sogar vermehren, dann könne man in dieser Theorie den Begriff ‚Selektion‘ so definieren, dass die ‚zahlenmäßig erfolgreichen‘ Phänotypen zur Umgebung E ‚besser passen‘ als die anderen. Es sind dann die ‚Umstände der Umgebung‘, die ‚Eigenschaften der Umgebung‘, die darüber entscheiden, welcher Phänotyp ‚bleibt‘ und welcher ’nicht bleibt‘. Die Umgebung wäre dann das ‚harte Kriterium‘, an dem die Leistungsfähigkeit eines Phänotyps (und indirekt damit des ermöglichenden Genotyps), ‚gemessen‘ werden kann. ‚Messen‘ heißt ‚Vergleichen‘: passt ein Phänotyp in eine bestehende Umgebung oder nicht.
  38. Erfolgskriterium nicht absolut: Da die Umgebung ‚Erde‘ nach heutigem Wissensstand sich beständig verändert hat, ist das Erfolgskriterium ‚Passen‘ sehr relativ. Was heute ‚gut passt‘ kann morgen ‚unpassend‘ sein.
  39. Akteure als Teil der Umgebung: Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass Phänotypen (i) sowohl mit der Umgebung wechselwirken können und dadurch diese so stark verändern können, dass sie damit ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören (etwas ‚Passendes‘ wird ‚unpassend‘ gemacht), als auch (ii) dass die Vielzahl von Phänotypen untereinander ‚zur Umgebung wird‘ (z.B. in Räuber-Beute Beziehungen). Dann besteht die Umgebung nicht nur aus der Erde wie sie ist (sehr veränderlich), sondern andere Phänotypen einer anderen ‚Art‘ müssen entweder als Feinde abgewehrt werden oder als potentielle Beute gefangen oder es muss mit ‚Artgenossen‘ kooperiert werden. Das erfolgreiche Überleben wird damit zu einer Gleichung mit sehr vielen dynamischen Variablen. Das theoretische Kriterium der ‚Selektion‘ erscheint daher als ein sehr abstraktes Kriterium in der Beschreibung von Erfolg, hat sich aber historisch als Minimalanforderung durchgesetzt.
  40. Fähigkeit zur Variationsbildung im Dunkeln: Interessant ist der Punkt – auf den auch Edelman zentral abhebt – dass die Genotypen überhaupt in der Lage sind, immer komplexere Phänotypen zu bilden, ohne dass erkennbar ist, dass ihnen von der Umgebung aus irgendwelche Vorab-Informationen übermittelt würden. Dies scheitert allein auch schon daran, dass die Erde – und das Sonnensystem, und die Milchstraße, und … — als ‚Umgebung‘ keinen geschlossenen Akteur mit eigener ‚Absicht‘ darstellt. Vielmehr handelt es sich – nach heutigem Kenntnisstand – um ein System, das ‚aus sich heraus‘ Ereignisse erzeugt, die als Ereignisse dieses System manifestieren. Biologische Systeme können diese Ereignismengen nur ‚aufnehmen‘, ’sortieren‘, auf unterschiedliche Weise ‚erinnern‘, und auf der Basis dieser ‚Erfahrungen‘ Strukturen ausbilden, die dieser Ereignismenge möglichst ‚optimal‘ gerecht werden. Und da im Moment der ‚reproduktiven‘ Strukturbildung zwar einige Erfolge aus der Vergangenheit ‚bekannt‘ sind, aber ’nichts aus der Zukunft‘, bleibt den biologischen Systemen nichts anderes übrig, als , im Rahmen ihrer genetischen und phänotypischen Variationsbildung möglichst viele Variationen ‚ins Blaue hinein‘ zu bilden. Nach 3.8 Milliarden Jahren kann man konstatieren, es hat bislang irgendwie funktioniert. Daraus kann man aber leider nicht zweifelsfrei ableiten, dass dies auch in der Zukunft so sein wird.
  41. Selektion als sekundärer Effekt: Also, ‚Selektion‘ ist keine Eigenleistung eines Individuums oder einer Population, sondern Selektion ist der Effekt, der entsteht, wenn Populationen mit Umgebungen wechselwirken müssen und die Umgebung festlegt, unter welchen Bedingungen etwas zu ‚passen‘ hat. Erst ’nach‘ der Reproduktion und ’nach einiger Zeit‘ zeigt sich für ein Individuum, ob ein bestimmter Genotyp einen ‚erfolgreichen‘ Phänotyp hervorgebracht hat. Zu dem Zeitpunkt, wo ein Individuum diese Information bekommt, hat es aber keine Gestaltungsmacht mehr: einmal weil seine Reproduktionsaktivität dann schon vorbei ist und zum anderen, weil es bei Erfolg ‚alt‘ ist oder gar schon ‚gestorben‘.
  42. Begriff ‚Erkennen‘ unglücklich: Dass Edelman diese Populationsdynamik als ‚Erkennungssystem‘ (‚recognition system‘) verstanden wissen will, ist nicht ganz nachvollziehbar, da, wie schon angemerkt, kein eigentlicher Akteur erkennbar ist, der dies alles ’steuert‘. Dass im Fall der Evolution die Gesamtheit der Genotypen zu einem bestimmten Zeitpunkt einen gewissen ‚Informationsbestand‘, einen gewissen ‚Erfahrungsbestand‘ repräsentieren, der sich aus den vorausgehenden Reproduktions- und aufgezwungenen Selektionsereignissen ‚angesammelt‘ hat, lässt sich theoretisch fassen. Dass aber hier ein identifizierbarer Akteur etwas ‚erkennt‘ ist wohl eine starke Überdehnung des Begriffs ‚Erkennen‘. Das gleiche gilt für das Beispiel mit dem Immunsystem. Das ‚Herausfiltern‘ von bestimmten ‚passenden Eigenschaften‘ aus einer zuvor produzierten Menge von Eigenschaften ist rein mathematisch eine Abbildung, die so zuvor nicht existierte. Aber es gibt keinen bestimmten Akteur, der für die Konstruktion dieser Abbildung verantwortlich gemacht werden kann.
  43. Netzwerke lernen ohne eigentlichen Akteur: Dennoch arbeitet Edelman hier einen Sachverhalt heraus, der als solcher interessant ist. Vielleicht sollte man ihn einfach anders benennen. Interessant ist doch, dass wir im Bereich der biologischen Systeme beobachten können, dass eine Menge von unterscheidbaren Individuen, von denen jedes für sich genommen keinerlei ‚Bewusstsein‘ oder ‚Plan‘ hat, als Gesamtheit ‚Ereignismengen‘ so ’speichern‘, dass ‚metatheoretisch‘ eine ‚Abbildung‘ realisiert wird, die es so vorher nicht gab und die Zusammenhänge sichtbar macht, die eine gewisse ‚Optimierung‘ und auch eine gewisse ‚Logik‘ erkennen lassen. Nennen wir diese Herausbildung einer Populationsübergreifenden Abbildung ’strukturelles Lernen‘ was zu einer ’strukturellen Erkenntnis‘ führt, dann habe wir dadurch zwar noch keinen eigentlichen ‚Akteur‘, aber wir haben ein interessantes Phänomen, was die Entwicklung von großen Mengen von biologischen Systemen charakterisiert. Das
    ‚Biologische‘ erscheint als ein Netzwerk von vielen Systemen, Teilsystemen, bei dem die einzelnen Komponenten keinen ‚Plan des Ganzen‘ haben, aber durch ihre individuelle Manifestationen indirekt an einem ‚größeren Ganzen‘ mitwirken.
  44. Homo sapiens: Erst mit dem Aufkommen des Homo sapiens, seiner Denk- und Kommunikationsfähigkeit, seinen Technologien, ist es möglich, diese impliziten Strukturen, die alle einzelnen Systeme bestimmen, dirigieren, filtern, usw. auf neue Weise zu ‚erfassen‘, zu ‚ordnen‘, zu ‚verstehen‘ und auf diese Weise mit einem angenäherten ‚Wissen um das Ganze‘ anders handeln zu können als ohne dieses Wissen.

ZWISCHENREFLEXION FITNESS VORGEGEBEN

  1. Außer dem bislang Gesagten (siehe oben Punkte 1-44) ist es vielleicht hilfreich, sich klar zu machen, wie genau das Zusammenspiel zwischen der Fitness biologischer Systeme und den jeweiligen Umgebungen beschaffen ist.
  2. Ein grundlegender Tatbestand ist jener, dass die Umgebung der biologischen Systeme auf der Erde von Anfang an eben die Erde war und ist bzw. das Sonnensystem bzw. unsere Milchstraße bzw. das gesamte bekannte Universum. Diese Vorgabe ist für alle biologische Systeme bislang nicht verhandelbar. Wenn ein biologisches System sich behaupten will, dann in diesem konkreten Ausschnitt des Universums und nirgendwo sonst.
  3. Zugleich wissen wir, dass die Erde seit ihrer Entstehung samt Sonnensystem und dem ganzen Kontext zu allen Zeiten ein hochdynamisches System war und ist, das im Laufe von Milliarden Jahren viele dramatische Änderungen erlebt hat. Sich in dieser Umgebung zu behaupten stellt eine schier unfassbare Leistung dar.
  4. Ob sich im Laufe der Zeit eine bestimmte Lebensform L auf der Erde ‚behaupten‚ oder gar ‚vermehren‚ konnte, hing einzig davon ab, ob diese Lebensform L im Laufe der Generationen in der Lage war, hinreichend viele Nachkommen unter den konkreten Bedingungen der Umgebung zu erzeugen und am Leben zu erhalten. Die Anzahl der Nachkommen einer Generation der Lebensform L kann von daher als Bezugspunkt zur Definition eines ‚Fitness-Wertes‚ bzw. dann der ‚Fitness‚ einer Lebensform genommen werden. Eine häufige Schematisierung dieser Sachverhalte ist die folgende:
  5. POP(t+1) = o(POP(t)), t>0 := Die Population ‚POP‘ zum Zeitpunkt t ist das Ergebnis der Anwendung der Populationsgenerierungsfunktion ‚o‘ auf die Population zum Zeitpunkt ‚t‘, wobei ‚t‘ größer als 0 sein muss. Die Funktion ‚o‘ kann man dann weiter analysieren:
  6. o=e x c := Die Populationsgenerierungsfunktion ‚o‘ ist das Ergebnis der Hintereinanderausführung der beiden Teilfunktionen ‚e‘ (‚earth-function‘) und ‚c‘ (‚change-funtion‘). Diese kann man weiter analysieren:
  7. e : 2^(POP^2) x 2^POP x EARTH —–> POP := Die earth-function e nimmt Paare von Individuen (potentielle Eltern) der Population, zusätzlich kann es beliebig andere Individuen der Population geben (Jäger, Beute, Artgenossen…), und dann die Erde selbst mit ihren Eigenschaften, und transformiert daraus nachfolgende Individuen, Abkömmlinge. Es ist schwer zu sagen, ‚wer‘ hier über Leben und Tod entscheidet: einerseits legen die konkreten Bedingungen der Erde und die Art der Zeitgenossen fest, unter welchen Bedingungen eine Lebensform überleben kann, andererseits hängt ein Überleben auch davon ab, welche ‚Eigenschaften‘ eine Lebensform besitzt; ob diese leistungsfähig genug sind, unter den gegebenen Bedingungen ‚leben‘ zu können. Nimmt man die Population der Lebensformen als ‚Generator‘ neuer Formen (siehe nächsten Abschnitt), dann wirkt die konkrete Erde wie eine Art ‚Filter‘, das nur jene ‚durchlässt‘, die ‚passen‘. ‚Selektion‘ wäre dann ein ‚emergentes‘ Phänomen im radikalen Sinne, da dieses Phänomen nur im Zusammenspiel der beiden Faktoren ‚Erde‘ und ‚Population‘ ’sichtbar‘ wird. Ohne dieses Zusammenspiel gibt es kein Kriterium für ‚Überlebensfähigkeit‘. Ferner wird hier deutlich, dass das Kriterium ‚Fitness‘ bzw. ‚Überlebensfähigkeit‘ kein absolutes Kriterium ist, sondern sich zunächst nur auf den Lebensraum ‚Erde‘ beschränkt. In anderen Bereichen des Universums könnten ganz andere Kriterien gelten und dort müsste die Lebensformen u.U. Einen ganz anderen Zuschnitt haben.
  8. Ferner  wird hier sichtbar, dass der ‚Erfolg‚ einer bestimmten Lebensform als Teil des gesamten Biologischen letztlich sehr ‚partiell‚ ist, weil bei Änderungen der Zustände auf der Erde bislang erfolgreiche Lebensformen (berühmtes Beispiel die Dinosaurier) vollstänig verschwinden können; andere Lebensformen als Teil des Biologischen können dann aber plötzlich neu in den Vordergrund treten. (berühmtes Beispiel die Säugetiere).  Offen ist die Frage, ob es spezielle Lebensformen — wie z.B. den homo sapiens — gibt, die aufgrund ihrer hervorstechenden Komplexität im Kontext des Biologischen eine irgendwie geartete ‚besondere Bedeutung‘ besitzen. Aktuell erwecken die Wissenschaften den Eindruck, als ob es hier keine feste Meinung gibt: die einen sehen im homo sapiens etwas Besonderes, das auf eine spezielle Zukunft verweist, andere sehen im homo sapiens eine von vielen möglichen speziellen Lebensformen, die bald wieder verschwinden wird, weil sie sich der eigenen Lebensgrundlagen beraubt.
  9. c : cross x mut := die ‚change-function‘ c besteht auch aus zwei Teilfunktionen, die hintereinander ausgeführt werden: die erste Teilfunktion ist eine Art Überkreuzung genannt ‚crossover‘ (‚cross‘), die zweite ist eine Art Mutation genannt ‚mutation‘ (‚mut‘).
  10. cross : POP x POP —–> POP := In der Überkreuzfunktion ‚cross‘ werden die Genotypen von zwei verschiedenen Individuen ‚gemischt‘ zu einem neuen Genotyp, aus dem ein entsprechend neuer Phänotyp hervorgehen kann.
  11. mut : POP —–> POP := In der Mutationsfunktion kann eine zufällige Änderung im Genotyp eines Individuums auftreten, die unter Umständen auch zu Änderungen im Phänotyp führt.
  12. Idealerweise kann man die change-function c isoliert von der Umgebung sehen. Realistischerweise kann es aber Wechselwirkungen mit der Umgebung geben, die auf die change-function ‚durchschlagen‘.

  13. Fasst man alle Faktoren dieser – stark vereinfachten – Populationsgenerierungsfunktion ‚o‘ zusammen, dann wird auf jeden Fall deutlich, dass beide Systemedie Erde und das Biologische – einerseits unabhängig voneinander sind, dass sie aber faktisch durch die Gegenwart des Biologischen auf der Erde (und im Sonnensystem, in der Milchstraße, …) in einer kontinuierlichen Wechselwirkung stehen, die sich dahingehend auswirkt, dass das Biologische eine Form annimmt, die zur Erde passt. Grundsätzlich könnte das Biologische aber auch andere Formen annehmen, würde es in einer anderen Umgebung leben.
  14. Um die Populationsgenerierungsfunktion noch zu vervollständigen, braucht man noch eine ‚Bootstrapping Funktion‘ ‚boot-life()‘, mittels der überhaupt das Biologische auf der Erde ‚eingeführt‘ wird:
  15. boot-life : EARTH —–> EARTH x POP (auch geschrieben: POP(t=1) = boot-life(POP(t=0)) ):= wie die allerneuesten Forschungen nahelegen, konnten sich unter bestimmten Bedingungen (z.B. unterseeische Gesteinsformationen, vulkanisches Wasser, …) verschiedene Molekülverbände zu komplexen Molekülverbänden so zusammen schließen, dass irgendwann ‚lebensfähige‘ – sprich: reproduktionsfähige – Zellen entstanden sind, die eine Anfangspopulation gebildet haben. Auf diese Anfangspopulation kann dann die Populationsgenerierungsfunktion ‚o‘ angewendet werden.

DISKUSSION FORTSETZUNG: HIER KAP.9

  1. Die Verwendung des Ausdrucks ‚Erkennung/ Erkennen‘ (‚recogniton‘) in Nr. 2 erscheint mir sehr gewagt, da die übliche Verwendungsweise des Ausdrucks ‚Erkennung‘ ein menschliches Subjekt voraussetzt, das im Rahmen seines Bewusstseins und dem zugehörigen – weitgehend unbewussten – ‚Kognitiven System‘ die wahrgenommenen – äußerliche (Sinnesorgane) wie innerliche (Körpersensoren) – Ereignisse ‚interpretiert‘ auf der Basis der ‚bisherigen Erfahrungen‘ und im Rahmen der spezifischen Prozeduren des ‚kognitiven Systems‘. Das von Edelman unterstellte ’selektive System‘ bezieht sich primär auf Strukturen, die sich ‚evolutiv‘ ausbilden oder aber ’somatisch‘ auf die Arbeitsweise des Gehirns, wie es sich im ‚laufenden Betrieb‘ organisiert. Das somatische System ist aber Teil des weitgehend ‚unbewussten kognitiven Systems‘, das in der alltäglichen Verwendung des Begriffs ‚Erkennung‘ ohne jegliche Bezugnahme auf die Details der Maschinerie einfach voraussetzt wird. Im Alltag liegt hier die Aufspaltung der Wirklichkeit in den bewussten Teil und den unbewussten vor, dessen wir uns – normalerweise – im alltäglichen ‚Vollzug‘ nicht bewusst sind (daher ja ‚unbewusst‘). Wenn Edelman also hier einen Ausdruck wie ‚Erkennung‘ aus dem ‚bewussten Verwendungszusammenhang‘ einfach so, ohne Kommentar, für einen ‚unbewussten Verwendungszusammenhang‘ benutzt, dann kann dies nachfolgend zu nachhaltigen Verwirrungen führen.

  2. Der Punkt (3) von Edelman ist absolut fundamental. An ihm hängt alles andere.

  3. Der Punkt (4) spiegelt ein anderes fundamentales Verhältnis wieder, das Edelman immer und immer wieder thematisiert: das Verhältnis von Psychologie (die Wissenschaft vom Verhalten) und Physiologie (die Wissenschaft vom Körper, speziell vom Gehirn). Alle Eigenschaftszuschreibungen, die die Psychologie vornimmt (wie z.B. mit dem Ausdruck ‚Intelligenz‘, ‚Intelligenzquotient‘, ‚Reflex‘, usw.), basieren auf empirischen Beobachtungen von realem Verhalten von realen Menschen, die dann im Rahmen expliziter (formaler = mathematischer) Modelle/ Theorien in Beziehungen eingebracht werden. Die Psychologie schaut nicht (!) in das ‚Innere‘ des Systems. Das tut die Physiologie. Die Physiologie untersucht die Struktur und die Dynamik des Körpers; dazu gehört auch das Gehirn. Und auch die Physiologie sammelt empirische Daten von den Körperprozessen (z.B. wie ein Neuron zusammengesetzt ist, wie es physikalisch, chemisch, mikrobiologisch usw. funktioniert) und versucht diese empirische Daten in explizite Modelle/ Theorien einzubauen. Im Idealfall haben wir dann eine psychologische Theorie T_psych über beobachtbares Verhalten mit theoretisch unterstellten möglichen Faktoren ‚hinter‘ dem Verhalten, und parallel eine physiologische Theorie T_phys über körperinterne Prozesse, die die verschiedenen Einzelbeobachtungen in einen ‚Zusammenhang‘ bringen. Was wir aber NICHT haben, das ist eine Erklärung des Zusammenhangs ZWISCHEN beiden Theorien! Die Gegenstandsbereiche ‚beobachtbares Verhalten‘ und ‚beobachtbare Körperprozesse‘ sind zunächst voneinander völlig abgeschottet. Spontan vermutet man natürlich, dass es zwischen Gehirnprozessen, hormonellen Prozessen, Atmung usw. und dem beobachtbaren Verhalten einen Zusammenhang gibt, aber diesen Zusammenhang EXPLIZIT zu machen, das ist eine eigenständige Leistung mit einer ‚Brückentheorie‘ T_physpsych(T_phys, T_psych), in der dieser Zusammenhang ausdrücklich gemacht wird. Es gibt dazu sogar Ausdrücke wie ‚Psychosomatik‘, ‚Neuropsychologie‘, aber die dazu gehörigen Texte kommen bislang nicht als explizite ‚Brückentheorie‘ daher. Und wenn Edelman hier ausdrücklich die Ausdrücke ‚Wahrnehmung, ‚Gedächtnis‘, ‚Bewusstseins‘, ‚Sprache‘ nennt, dann handelt es sich ausnahmslos um hochkomplexe Sachverhalte, zu denen es bislang keine hinreichende psychologische Theorien gibt, wenngleich beeindruckende Forschungen und Forschungsansätze. Festzustellen, dass eine physiologische Theorie des Gehirns Erklärungsansätze liefern müsse, wie diese psychologischen Phänomene zu ‚erklären‘ seien ist folgerichtig, aber aktuell schwierig, da die Psychologie diese Phänomene noch keineswegs zweifelsfrei abklären konnte. Am weitesten fortgeschritten sind  möglicherweise die psychologischen Forschungen zur ‚Wahrnehmung‘, zum ‚Gedächtnis‘, und irgendwie zu ‚Sprache‘, kaum zu ‚Bewusstsein‘ und dem Verhältnis zum ‚Unbewussten‘.

  4. Die beiden in (5) aufgeführten metatheoretischen (= wissenschaftsphilosophischen) Postulate sind so, wie sie Edelman formuliert, mindestens missverständlich und darum Quelle möglicher gravierender Fehler. Die Verortung von wissenschaftlichen Aussagen in der ‚physikalischen‘ Welt und von speziell psychologischen Aussagen in den ‚physiologischen Prozessen des Körpers‘ sind als solche sicher kompatibel mit dem bisherigen Verständnis von empirischer Wissenschaft generell. Allerdings, wie gerade im vorausgehenden Punkt (C) dargelegt, gibt es empirische Datenbereiche (hier: Verhaltensdaten, Körperprozesse), die direkt zunächst nichts miteinander zu tun haben. Die auf diesen unterschiedlichen Datenbereichen beruhenden Modell-/ Theoriebildungen sind von daher zunächst UNABHÄNGIG voneinander und haben ihre wissenschaftliche Daseinsberechtigung. Zu wünschen und zu fordern, dass zwei zunächst methodisch unabhängige Modelle/ Theorien T_psych und T_phys miteinander in Beziehung gesetzt werden, das liegt ‚in der Natur des wissenschaftlichen Verstehenwollens‘, aber dies wäre eine zusätzliche Theoriedimension, die die beiden anderen Teiltheorien VORAUSSETZT. Dieser methodisch-logische Zusammenhang wird in der Formulierung von Edelmann nicht sichtbar und kann dazu führen, dass man eine wichtige Voraussetzung der gewünschten Erklärungsleistung übersieht, übergeht, und damit das Ziel schon im Ansatz verfehlt.

  5. Dass – wie in (6) behauptet – die ‚Theorie der neuronalen Gruppen Selektion (TNGS)‘ jene Erklärung liefere, die die psychologischen Theorien ‚erklärt‘ ist von daher methodisch auf jeden Fall falsch. Allerdings kann man die Position von Edelman dahingehend verstehen, dass die TNGS ein physiologisches Modell liefere (was die große Schwäche besitzt, dass weder der übrige Körper, von dem das Gehirn nur ein verschwindend kleiner Teil ist, noch die jeweilige Umgebung einbezogen sind), das im Rahmen einer T_physpsych-Brückentheorie entscheidende Beiträge für solche einen Zusammenhang liefern könnte. Letzteres scheint mir in der Tat nicht ganz ausgeschlossen.

  6. In den Punkten (7) – (12) beschreibt Edelman drei Phasen der Strukturbildung, wie es zu jenen physiologischen Strukturen kommen kann, die dann – unterstellt – dem beobachtbaren Verhalten ‚zugrunde‘ liegen. Allerdings, für das aktuell beobachtbare Verhalten spielen die verschiedenen Entstehungsphasen keine Rolle, sondern nur der ‚Endzustand‘ der Struktur, die dann das aktuelle Verhalten – unterstellt – ‚ermöglicht. Der Endzustand ist das Gehirn mit seinen neuronalen Verschaltungen, seinen Versorgungsstrukturen und seiner anhaltenden ‚Plastizität‘, die auf Ereignismengen reagiert. Aus den Punkten (7) – (12) geht nicht hervor, wo und wie diese Strukturen das ‚Bewusstsein erklären‘ können.

  7. Wenn Edelman in (13) meint, dass seine neuronalen Karten mit den reziproken Verbindungen eine Grundlage für das psychologische Konzept des Gedächtnisses liefern können, dann ist dies sicher eine interessante Arbeitshypothese für eine mögliche Brückentheorie, aber die müsste man erst einmal formulieren, was wiederum eine psychologische Theorie des Gedächtnisses voraussetzt; eine solche gibt es bislang aber nicht.

  8. Der Punkt (14) adressiert mögliche Details seiner Modellvorstellung von neuronalen Karten mit reziproken Verbindungen.

  9. Der Punkt (15) greift das Thema von Punkt (13) nochmals auf. Die ‚Kategorisierung von Wahrnehmungsereignissen‘ ist letztlich nicht von dem Thema ‚Gedächtnis isolierbar. Er zitiert im Postskript auch viele namhafte PsychologenInnen, die dazu geforscht haben. Die Kerneinsicht dieser empirischen Forschungen geht dahin, dass sich solche Strukturen, die wir ‚Kategorien‘ nennen, ‚dynamisch‘ herausbilden, getriggert von konkreten Wahrnehmungsereignissen, die bei jedem individuell verschieden sind. Natürlich liegt hier die Vermutung nahe, dass entsprechend dynamische Strukturen im Körper, im Gehirn, vorhanden sein müssen, die dies ermöglichen. Dass hier Psychologie und Physiologie Hand-in-Hand arbeiten können, liegt auch auf der Hand. Aber dies stellt erhebliche methodische Herausforderungen, die Edelman kaum bis gar nicht adressiert.

  10. In Punkt (16 – 18) beschreibt Edelman auf informelle Weise, wie er sich das Zusammenspiel von psychologischen Eigenschaften (die eine explizite psychologische Theorie T_psych voraussetzen) und seinem neuronalen Modell (für das er eine physiologische Theorie T_phys beansprucht) vorstellt. Auf dieser informellen Ebene wirkt seine Argumentation zunächst mal ‚plausibel‘.

  11. Ab Punkt (19) berührt Edelman jetzt einen weiteren Fundamentalpunkt, der bis heute generell ungeklärt erscheint. Es geht um die Frage der ‚Werte‘, die ein Verhalten in einem gegeben Möglichkeitsraum in eine bestimmte ‚Richtung‘ anregen/ drängen …. (es gibt dafür eigentlich kein richtiges Wort!), so dass das System einem neuen Zustandsraum erreicht, der für es ‚günstiger‘ ist als ein anderer, auf jeden Fall ‚das Leben ermöglicht‘. Die Evolutionstheorie hat über das Phänomen der hinreichenden ‚Nachkommen‘ ein ‚operationales Kriterium‘ gefunden, mit dem sich der Ausdruck ‚Fitness‘ mit Bedeutung aufladen lässt. Über das ‚Überleben‘ bzw. ‚Nicht-Überleben‘ wirkt sich dies indirekt auf den Genotyp aus: die ‚günstigen‘ Genotypen überleben und die ’nicht günstigen‘ sterben aus. Ein ‚überlebender‘ Genotyp – einen, den man ‚fit‘ nennt – triggert dann den embryonalen Prozess und den darin gründenden ‚Entwicklungsprozess‘, der in einer ’nicht-deterministischen‘ Weise Körper- und damit Gehirnstrukturen entstehen lässt, die auf individueller Ebene immer verschieden sind. Jene Gehirnstrukturen, die für lebenserhaltende Systeme wichtig sind (letztlich die gesamte Körperarchitektur und das Zusammenspiel aller Komponenten untereinander) werden aber – trotz des nicht-deterministischen Charakters – offensichtlich dennoch herausgebildet. In all diesem lässt sich kein ‚geheimnisvoller Faktor‘ erkennen und er erscheint auch nicht notwendig. Das System ‚als Ganzes‘ repräsentiert ein ‚Erfolgsmodell‘. Hier jetzt – wie Edelman es versucht – im konkreten Details nach ‚Orten von Präferenzen‘ zu suchen erscheint unplausibel und seine Argumentation ist auch nicht schlüssig. Wenn Edelman ‚interne Kriterien für werthaftes Verhalten‘ postuliert, die genetisch bedingt sein sollen, dann postuliert er hier Eigenschaften, die sich nicht aus der Biochemie der Prozesse herauslesen lassen. Was er hier postuliert ist so eine Art   ‚genetischer Homunculus‘. Damit widerspricht er letztlich seinen eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen. Letztlich ist es nur ein ‚Genotyp als ganzer‘, der ein ‚bislang erfolgreichen Phänotyp‘ repräsentiert. Scheiter er irgendwann – was auf lange Sicht der Normalfall ist, da die Erde sich ändert –, dann verschwindet der Genotyp einfach; jener, der ‚überlebt‘, verkörpert als ‚Ganzer‘ ein Erfolgsmodell, nicht ein einzelner, isolierter Aspekt. Mit dieser empirisch-wissenschaftlichen Sicht verschwinden die ‚Werte‘ zwar ‚aus dem System‘, aber das übergeordnete ’system-transzendente‘ Verhältnis zwischen System und Umwelt bleibt weiter erhalten und es ist dieses Verhältnis, das alleine darüber entscheidet, ob etwas ‚Leben-Ermöglichendes‘ ist oder nicht. Damit erweitert sich die Fragestellung nach der ‚Verortung möglicher Präferenzen‘ deutlich, wenn man das empirisch neue Phänomen des Bewusstseins einbezieht (das nur in Kombination mit einem Unbewussten auftritt!). Während die Umwelt-System-Beziehung primär über das Überleben entscheidet, ermöglicht das Bewusstsein in Kombination mit dem Unbewussten (z.B. dem Gedächtnis) eine ‚Extraktion‘ von Eigenschaften, Beziehungen, Dynamiken und mit kombinatorischen Varianten von dieser Umwelt-System-Beziehung, so dass eine kommunizierende Gruppe von Homo sapiens Exemplaren von nun an mögliche Zukünfte schon in der Gegenwart bis zu einem gewissen Graf ‚voraus anschauen‘ und auf ‚Lebensfähigkeit‘ ‚testen‘ kann. Insofern stellt das Bewusstsein und die Kommunikation eine radikale Erweiterung der Überlebensfähigkeit dar, nicht nur für den Homo sapiens selbst, sondern auch für die Gesamtheit des biologischen Lebens auf der Erde! Mit dem Ereignis Homo sapiens tritt das biologische Leben auf der Erde (und damit im ganzen Universum!?) in eine radikal neue Phase. Edelmans Versuch, ‚Werte‘ in einzelnen genetischen Strukturen und dann in einzelnen Strukturen des Gehirns zu finden wirken von daher unlogisch und abwegig. Edelmans Beispiele in den Punkten (20) – (23) können nicht klarmachen, wie diese interne Präferenzsystem funktionieren soll (ich werde diesen Punkt an konkreten Systemen nochmals selbst durchspielen).

  12. Zusammenfassend würde ich für mich den Text von Edelman so interpretieren, dass (i) seine Skizze der neuronalen Maschinerie mit den reziproken Verbindungen und den unterschiedlichen Verschaltungen ganzer Karten ein interessanter Ansatzpunkt ist, für ein neuronales Modell, das in einer psychologisch-physiologischen Brückentheorie getestet werden könnte und sollte, sein Versuch aber (ii), die Wertefrage in biochemische Prozesse verorten zu wollen, ist in mehrfachem Sinne unplausibel, methodisch unklar und führt vom Problem eher weg.

DISKUSSION FORTSETZUNG: KAP.10

  1. Aus wissenschaftsphilosophischer Sicht ist das Kapitel 10 sehr aufschlussreich. Der in den vorausgehenden Kapiteln immer wieder angedeutete Brückenschlag zwischen Physiologie (mit Gehirnforschung) und Psychologie (verhaltensorientiert) wird in diesem Kapitel ein wenig ‚anfassbarer‘. Allerdings nicht in dem Sinne, dass der Brückenschlag nun explizit erklärt wird, aber so, dass einerseits die Begrifflichkeit auf psychologischer Seite und andererseits die Begrifflichkeit auf physiologischer Seite etwas ausdifferenziert wird. Die Beschreibung der Beziehung zwischen beiden Begrifflichkeiten verbleibt im Bereich informeller Andeutungen bzw. in Form von Postulaten, dass die zuvor geschilderte physiologische Maschinerie in der Lage sei, die angedeuteten psychologischen Strukturen in ihrer Dynamik zu ‚erklären‘.

  2. Am Ende des Kapitels 10, mehr nur in Form einer kurzen Andeutung, in einer Art Fußnote, bringt Edelman noch die Begriffe ‚Intentionalität‘ und ‚Bewusstsein‘ ins Spiel, allerdings ohne jedwede Motivation, ohne jedwede Erklärung. Diese Begriffe entstammen einen ganz anderen Sprachspiel als dem zuvor besprochenen physiologischen oder psychologischem Sprachspiel; sie gehören zum philosophischen Sprachspiel, und die Behauptung Edelmans, dass man auch diese Wortmarken aus dem philosophischen Sprachspiel in ein Erklärungsmuster einbeziehen könnte, das seine Grundlage in dem physiologischen Modell Begriffe_NN habe, ist an dieser Stelle ein reines Postulat ohne jeglichen Begründungsansatz.

  3. Wissenschaftsphilosophisch kann man hier festhalten, dass man drei Sprachspiele unterscheiden muss:

    1. Ein psychologisches Sprachspiel, das von Verhaltensdaten DAT_B ausgeht, und relativ zu diesen Begriffsnetzwerke Begriffe_B einführt (Modelle, Theorien), um die Verhaltensdaten zu erklären.

    2. Ein physiologisches Sprachspiel, das von physiologischen Daten DAT_NN ausgeht, und relativ zu diesen Begriffsnetzwerke Begriffe_NN einführt (Modelle, Theorien), um die Prozesse der physiologischen Strukturen (Gehirn) zu erklären.

    3. Ein phänomenologisches Sprachspiel (Teilbereich der Philosophie), das von phänomenologischen Daten DAT_PH ausgeht, und relativ zu diesen Begriffsnetzwerke Begriffe_PH einführt (Modelle, Theorien), um die Prozesse der phänomenologischen Strukturen (Bewusstsein) zu erklären.

  4. Diese Sprachspiele kann man isoliert, jedes für sich betreiben. Man kann aber auch versuchen, zwischen den verschiedenen Sprachspielen ‚Brücken‘ zu bauen in Form von ‚Interpretationsfunktionen‘, also:

    1. Zwischen Psychologie und Physiologie: Interpretationsfunktion Interpretation_B_NN : Begriffe_B <—> Begriffe_NN

    2. Zwischen Psychologie und Phänomenologie: Interpretationsfunktion Interpretation_B_PH : Begriffe_B <—> Begriffe_PH

    3. Zwischen Phänomenologie und Physiologie: Interpretationsfunktion Interpretation_PH_NN : Begriffe_PH <—> Begriffe_NN

  5. Man muss festhalten, dass es bis heute (2018) solche Interpretationsfunktionen als explizite Theorien noch nicht gibt; genauso wenig gibt es die einzelnen Theorien Begriffe_X (X=B, PH, NN) als explizite Theorien, obgleich es unfassbare viele Daten und partielle (meist informelle) Beschreibungen gibt.

Fortsetzung folgt

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ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Teil 7

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 5.Sept. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

(Einige Korrekturen: 6.Sept.2018, 08:00h)

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

BISHER

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Teil 6

WICHTIGE POSITIONEN

Zur Erinnerung, einige der wichtigen Positionen, auf die bislang hingewiesen wurde:

EDELMAN

Edelman benutzt die Arbeitshypothese, dass das, was wir ‚Geist‘ nennen, sich nur ab bestimmten Zeitpunkten während der allgemeinen Evolution ‚gezeigt‘ (‚emerged‘) hat, und zwar sehr spät.(vgl. S.41) Und dies setzt die Annahme voraus, dass die fundamentale Basis für alles Verhalten und für die ‚Sichtbarwerdung‘ (‚emergence‘) des Geistes die Anatomie und Morphologie der biologischen Strukturen ist sowie deren Funktionen.(vgl. S.41)

ASPEKTE DER DISKUSSION BISHER

Im Kontext seiner Argumentation kritisiert Edelman viele bekannte Positionen im Bereich Philosophie und Psychologie aus der eingeschränkten Perspektive ihres Bezuges zu den materiellen Strukturen heraus, die von ihm – letztlich wie bei Kant, nur mit anderem Akzent, mehr oder weniger – als ‚Ermöglichung des Geistes‘ gesehen werden. Diese Kritik in dieser speziellen Perspektive ist zum Teil berechtigt, aber auch nur zu einem sehr eingeschränkten Teil, da die kritisierten Personen und Positionen von den neuen Erkenntnissen noch gar nichts wissen konnten. Über diese enge Perspektive des expliziten Bezugs zu materiellen Strukturen hinaus repräsentieren die kritisierten Positionen aber auch Perspektiven, die ‚in sich eine methodische Rechtfertigung‘ besitzen, die Edelman schlicht nicht erkennt. Hier verkürzt zur Erinnerung einige seiner ‚methodischen blinden Flecken‘:

  1. Alternativen sind berechtigt:… zugleich die Arbeitshypothese aufzustellen, dass damit Analyse- und Erklärungsansätze von vornherein zu verurteilen sind, die Verhaltensdaten (Psychologie) bzw. auch introspektive Daten (Philosophie) als solche als Basis nehmen ohne direkt einen Bezug zu den materiellen (anatomischen) Daten herzustellen, ist mindestens problematisch wenn nicht wissenschaftsphilosophisch unhaltbar…

  2. Primär die Funktionen:… denn, wie immer die anatomischen Grundlagen beschaffen sein mögen, wenn ich deren ‚Verhaltensdynamik‘ erforschen will, interessieren mich die Details dieser Anatomie nicht, sondern nur ihre Funktion. Und diese lässt sich nicht durch Rekurs auf Bestandteile beschreiben sondern nur durch Beobachtung des Systemverhaltens …

  3. Daten als solche sind ‚blind‘:… aus materiellen Strukturen als solchen folgt in keiner Weise irgend etwas ‚Geistiges‘ es sei denn, ich habe vorab zur Untersuchung einen Kriterienkatalog G, den ich als Maßstab anlegen kann, um dann bei der Analyse der Beobachtungsdaten konstatieren zu können, das der Eigenschaftskomplex G vorliegt. Habe ich solch einen Kriterienkatalog G nicht, kann ich noch so viele empirische Daten zu irgendwelchen materiellen Strukturen vorweisen; ‚aus sich heraus‘ lassen diese Daten eine solche Eigenschaftszuschreibung nicht zu! …

  4. Konkretisierung und Quantenraum:… ohne die ‚Anhaltspunkte‘ im ‚beobachtbaren Verhalten‘ wäre es praktisch unmöglich, jene bedingenden materiellen Struktureigenschaften zu identifizieren, da die zugrundeliegenden neuronalen und damit letztlich biochemischen Grundlagen rein mathematisch nahezu unbegrenzt viele Funktionen erlauben. Letztlich deuten diese materiellen Strukturen auf einen quantenmechanischen Möglichkeitsraum hin, deren Konkretisierung von Faktoren abhängt, die sich aus den Strukturen selbst nicht so einfach ableiten lassen. …

  5. Phänomene zuerst: Philosophen arbeiten traditionell mit dem subjektiven Erlebnisraum direkt, ohne zugleich die Frage nach den materiellen Bedingungen der so erlebbaren ‚Phänomene‘ zu stellen. In gewisser Weise handelt es sich bei diesen subjektiven (= bewussten) Phänomenen auch um eine Systemfunktion eigener Art mit einer spezifischen Besonderheit, der man nicht gerecht werden würde, würde man sie durch Rekurs auf die bedingenden materiellen Strukturen (Gehirn, Körper, Welt, …) ‚ersetzen‘ wollen. …

  6. Empirie ist abgeleitet:… muss man sich klar machen, dass alle sogenannten ‚empirischen Daten‘ ja nicht ‚außerhalb‘ des ‚bewusstseinsbedingten Phänomenraums‘ vorkommen, sondern auch nur ‚bewusstseinsbedingte Phänomene‘ sind, allerdings eine spezielle Teilmenge, die man mit unterstellten Vorgängen in der Außenwelt in Verbindung bringt. Insofern bildet der subjektive Phänomenraum die Basis für jegliche Denkfigur, auch für die empirischen Wissenschaften. …

  7. Bezugspunkte für die Phänomene des Geistigen: Die Frage, was denn dann die primären Kriterien für das ‚Psychische-Geistige‘ sind, wird durch diese multidisziplinäre Kooperationen nicht einfacher: da die materiellen Strukturen als solche keinerlei Anhaltspunkte für ‚Geistiges‘ liefern, bleibt letztlich als Ausgangspunkt doch nur das ‚Geistige‘, wie biologische Systeme ’sich selbst‘ sehen, weil sie sich so ‚erleben‘. Das ‚Geistige‘ erscheint hier als ‚Dynamik‘ von Systemen, die sich anhand des Auftretens dieser Systeme ‚zeigt‘, ‚manifestiert‘. Aus den einzelnen materiellen Bestandteilen kann man diese Eigenschaften nicht ableiten, nur aus der Gesamtheit in spezifischen Wechselwirkungen. …

  8. … wenn ein homo sapiens ’nichts tut‘, dann ist die Dynamik ‚unsichtbar‘ und die durch solch eine Dynamik sichtbar werdenden Eigenschaften sind nicht greifbar. Weiter: wenn ein homo sapiens eine Dynamik erkennen lässt, dann bedarf es einer spezifischen ‚Erkenntnisweise‘, um die spezifischen Eigenschaften von ‚Geist‘ erkennen zu können. …

  9. Das System-Ganze: … Erst durch die Dynamik des Gesamtsystems werden – oft als ‚emergent‘ klassifizierte – Phänomene sichtbar, die von den einzelnen Bestandteilen des materiellen Systems als solchen nicht ableitbar sind, nur eben durch das Verhalten, die Dynamik des Gesamtsystems. …

  10. Begriffliches Mehr: … Es ist weder auszuschließen, dass es zwischen dem empirischen Phänomen der ‚Gravitation‘ und dem empirischen Phänomen ‚Geist‘ einen ‚tieferen‘ Zusammenhang gibt (da ‚Geist‘ als empirisches Phänomen ‚Gravitation‘ voraussetzt‘), noch dass es weit komplexere empirische Phänomene geben kann als den ‚individuell in Populationen‘ sich manifestierenden ‚empirischen Geist‘.

  11. Neues‘ und sein Ursprung:… Da jene geistige Eigenschaften, die den homo sapiens von anderen Lebensformen unterscheiden, erst mit diesem auftreten, kann eine ‚Geschichte der Entwicklung jener Formen, die den homo sapiens auszeichnen‘, nur indirekte Hinweise darauf liefern, wie sich jene ’späten‘ komplexen materiellen Strukturen aus ‚einfacheren, früheren‘ Strukturen entwickelt haben. Damit entsteht dann die interessante Frage, wie sich solche Komplexität aus ’scheinbar einfacheren‘ Strukturen entwickeln konnte? In der logischen Beweistheorie gilt allgemein, dass ich nur etwas ‚ableiten’/ ‚beweisen‘ kann, wenn ich das zu Beweisende letztlich schon in meinen ‚Voraussetzungen’/ ‚Annahmen‘ angenommen habe. Das ’spätere komplexere Neue‘ wäre in dem Sinne dann nicht wirklich ’neu‘, sondern nur eine ‚andere Zustandsform‘ eines Ausgangspunktes, der schon alles hat‘. Dies wäre nicht sehr überraschend, da wir in der Big-Bang-Theorie allgemein von ‚Energie (E)‘ ausgehen, die in Folge von Abkühlungsprozessen unendlich viele konkrete Zustandsformen angenommen hat, von denen wir mit E=mc^2 wissen, dass sie alle ineinander überführbar sind, wie speziell sie auch immer sein mögen.

  12. Rückschlüsse vom Phänotyp auf den Genotyp: …Die komplexen Abbildungsprozesse zwischen Genotypen und Phänotypen als Teil von Populationen in Umgebungen machen eine Zuordnung von im Verhalten fundierten Eigenschaftszuschreibungen von ‚Geist‘ zu vorliegenden materiellen Strukturen schwer bis unmöglich. … Das Entscheidende am Phänomen des Geistes ist ja, dass er nach vielen Milliarden Jahren Entwicklung in einem aktuell hochkomplexen und dynamischen System sich zeigt, und zwar nicht ‚aus sich heraus‘ sondern nur dann, wenn ein anderes System, das ebenfalls ‚Geist‘ hat, diesen Phänomenen ‚ausgesetzt‚ ist. Ein System, das selbst ‚keinen Geist hat‘, kann die beobachtbaren Phänomene nicht als ‚geistige‘ klassifizieren! Dies schließt nicht aus, dass heutige Algorithmen quasi automatisch irgendwelche ‚Muster‘ im beobachtbaren Verhalten identifizieren können, allerdings sind dies Muster wie unendlich viele andere Muster, deren ‚Bewertung‘ in irgendeine Zustandsdimension völlig beliebig ist.

  13. Der ‚Theoriemacher‘ kommt selbst als Gegenstand der Theorie nicht vor: …Von Interesse ist auch, wie sich der Zustandsraum der materiellen Strukturen (die Gesamtheit des aktuellen empirischen Wissens über das Universum und seiner möglichen Zukünfte) und der Zustandsraum von Systemen mit Geist (die Gesamtheit des geistigen Vorstellungsraumes samt seiner möglichen geistigen Zukünfte) unterscheidet. Die Sache wird dadurch kompliziert, dass ja die Systeme mit empirischem Geist letztlich auch zum genuinen Gegenstandsbereich der sogenannten ‚Natur‘-Wissenschaften gehören. Wenn das Empirisch-Geistige Teil der Natur ist, reichen die bisherigen empirischen naturwissenschaftlichen Theorien nicht mehr. Sie müssten entsprechend geändert werden. Der Beobachter muss wesentlicher Bestandteil der Theorie selbst werden. Für diese Konstellation haben wir bislang aber keinen geeigneten empirischen Theoriebegriff.

  14. Die ‚Interpretationsfunktion‘ als Fundament allen biologischen Lebens ungeklärt: Die fundamentale Tatsache, dass es Moleküle gibt, die andere Moleküle als ‚Kode‘ benutzen können, um Transformationsprozesse zwischen einer Sorte von Molekülen (DNA, RNA) in eine andere Sorte von Molekülen (Polypeptide, Proteine) steuern zu können, nimmt Edelman als Faktum hin, thematisiert es selbst aber nicht weiter. Er benennt diese ‚interpretierenden Moleküle‘ auch nicht weiter; sein Begriff ‚cellular device‘ ist eher nichtssagend. Dennoch ist es gerade diese Fähigkeit des ‚Übersetzens’/ ‚Interpretierens‘, die fundamental ist für den ganzen Transformationsprozess von einem Genom in einen Phänotyp bzw. in eine ganze Kette von hierarchisch aufeinander aufbauenden Phänotypen. Setzt man diese Übersetzungsfähigkeit voraus, ist das ganze folgende Transformationsgeschehen – so komplex es im Detail erscheinen mag – irgendwie ‚trivial‘. Wenn ich in mathematischer Sicht irgendwelche Mengen habe (z.B. verschiedene Arten von Moleküle), habe aber keine Beziehungen definiert (Relationen, Funktionen), dann habe ich quasi ‚Nichts‘. Habe ich aber z.B. eine Funktion definiert, die eine ‚Abbildung‘ zwischen unterschiedlichen Mengen beschreibt, dann ist es eine reine Fleißaufgabe, die Abbildung durchzuführen (z.B. die Übersetzung von DNA über RNA in Aminosäuren, dann Polypeptide, dann Proteine). Dass die Biochemie und Mikrobiologie samt Genetik so viele Jahre benötigt hat, die Details dieser Prozesse erkennen zu können, ändert nichts daran, dass diese Transformationsprozesse als solche ‚trivial‘ sind, wenn ich die grundlegende Transformationsfunktion definiert habe. Wo aber kommt diese grundlegende Abbildungsfunktion her? Wie kann es sein, dass ein ordinäres chemisches Molekül ein anderes ordinäres chemisches Molekül als ‚Kode‘ interpretiert, und zwar genau dann so, wie es geschieht? Betrachtet man ’normale‘ Moleküle mit ihren chemischen Eigenschaften isoliert, dann gibt es keinerlei Ansatzpunkt, um diese grundlegende Frage zu beantworten. Offensichtlich geht dies nur, wenn man alle Moleküle als eine Gesamtheit betrachtet, diese Gesamtheit zudem nicht im unbestimmten Molekül-Vorkommens-Raum, sondern in Verbindung mit den jeweils möglichen ‚realen Kontextbedingungen‘, und dann unter Berücksichtigung des potentiellen Interaktionsraumes all dieser Moleküle und Kontexte. Aber selbst dieser Molekül-Vorkommens-Raum repräsentiert im mathematischen Sinne nur Mengen, die alles und nichts sein können. Dass man in diesem Molekül-Vorkommens-Raum eine Funktion implantieren sollte, die dem Dekodieren des genetischen Kodes entspricht, dafür gibt es im gesamten Molekül-Vorkommens-Raum keinerlei Ansatzpunkt, es sei denn, man setzt solch eine Funktion als ‚Eigenschaft des Molekül-Vorkommens-Raumes‘ voraus, so wie die Physiker die ‚Gravitation‘ als Eigenschaft des physikalischen Raumes voraussetzen, ohne irgendeinen Ansatzpunkt im Raum selbst zu haben, als die beobachtbare Wirkung der Gravitation. Die Biologen können feststellen, dass es tatsächlich einen Transformationsprozess gibt, der solch eine Abbildungsbeziehung voraussetzt, sie haben aber keine Chance, das Auftreten dieser Abbildungsbeziehung aus den beobachtbaren materiellen Strukturen abzuleiten!!!

  15. Biologisches Leben als ‚Super-Algorithmus‘, der seine eigenen Realisierungsbedingungen mit organisiert: In der Beschreibung von Edelmans Position habe ich schon angemerkt, dass seine Wortwahl ‚Topobiologie‘ möglicherweise unglücklich ist, da es letztlich nicht der dreidimensionale Raum als solcher ist, der entscheidend ist (wenngleich indirekt die Drei-Dimensionalität eine Rolle spielt) sondern der ‚Kontext in Form von interaktiven Nachbarschaften‘: welche andere Zellen stehen in Interaktion mit einer Zelle; welche Signale werden empfangen. Indirekt spielt dann auch der ‚vorausgehende Prozess‘ eine Rolle, durch den eben Kontexte erzeugt worden sind, die nur in bestimmten Phasen des Prozesses vorliegen. Man hat also eher einen ‚Phasenraum‘, eine Folge typischer Zustände, die auseinander hervorgehen, so, dass der bisherige Prozess die nächste Prozessphase hochgradig determiniert. Dies ähnelt einer ‚algorithmischen‘ Struktur, in der eine Folge von Anweisungen schrittweise abgearbeitet wird, wobei jeder Folgeschritt auf den Ergebnissen der vorausgehenden Abarbeitungen aufbaut und in Abhängigkeit von verfügbaren ‚Parameterwerten‘ den nächsten Schritt auswählt. Im Unterschied zu einem klassischen Computer (der eine endliche Instanz eines an sich unendlichen theoretischen Konzeptes von Computer darstellt!), bei dem die Ausführungsumgebung (normalerweise) festliegt, haben wir es hier mit einem algorithmischen Programm zu tun, das die jeweilige Ausführungsumgebung simultan zur Ausführung ‚mit erschafft‘! Wenn Computermetapher, dann eben so: ein Programm (Algorithmus), das seine Ausführungsumgebung (die Hardware) mit jedem Schritt selbst ‚erschafft‘, ‚generiert‘, und damit seine Ausführungsmöglichkeiten schrittweise ausbaut, erweitert. Dies setzt allerdings voraus, dass das genetische Programm dies alles schon ‚vorsieht‘, ‚vorwegnimmt‘. Die interessante Frage ist dann hier, wie ist dies möglich? Wie kann sich ein genetisches Programm ‚aus dem Nichts‘ entwickeln, das all diese ungeheuer komplexen Informationen bezüglich Ausführung und Ausführungsumgebung zugleich ‚aufgesammelt‘, ’strukturiert‘, ‚verpackt‘ hat, wo die Gesamtheit der modernen Wissenschaft bislang nur Fragmente versteht?

  16. Ein technischer Super-Algorithmus scheint prinzipiell möglich; unklar ist seine ‚inhaltliche Ausgestaltung‘: Während Neurowissenschaftler (Edelman eingeschlossen) oft mit unsinnigen Computervergleichen versuchen, die Besonderheit des menschlichen Gehirns herauszustellen, kann man ja auch mal umgekehrt denken: wenn die Entwicklung des Gehirns (und des gesamten Organismus) Ähnlichkeiten aufweist mit einem Algorithmus, der seine eigene Ausführungsumgebung während der Ausführung (!!!) mit generiert, ob sich solch ein Prozess auch ‚rein technisch‘ denken ließe in dem Sinne, dass wir Maschinen bauen, die aus einer ‚kleinen Anfangsmenge von Materie‘ heraus ausgestattet mit einem geeigneten ‚Kode‘ und einem geeigneten ‚Interpretierer‘ sich analog selbst sowohl materiell als auch kodemäßig entwickeln? Da die biologischen Systeme zeigen, dass es grundsätzlich geht, kann man solch einen technischen Prozess nicht grundsätzlich ausschließen. Ein solches Gedankenexperiment macht aber sichtbar, worauf es wirklich ankommt: eine solche sich selbst mit-bauende Maschine benötigt auch einen geeigneten Kode und Interpretationsmechanismus, eine grundlegende Funktion. Ohne diese Funktion, geht gar nichts. Die Herkunft dieser Funktion ist aber gerade diejenige grundlegende Frage, die die gesamte empirische Wissenschaft bislang nicht gelöst hat. Es gibt zwar neuere Arbeiten zur Entstehung von ersten Zellen aus Molekülen unter bestimmten realistischen Kontexten, aber auch diese Forschungen beschreiben nur Prozesse, die man ‚vorfindet‘, die sich ‚zeigen‘, nicht aber warum und wieso es überhaupt zu diesen Prozessen kommen kann. Alle beteiligten materiellen Faktoren in diesen Prozessen als solchen geben keinerlei Ansatzpunkte für eine Antwort. Das einzige, was wir bislang wissen, ist, dass es möglich ist, weil wir es ‚beobachten können‘. Die ‚empirischen Phänomene‘ sind immer noch die härteste Währung für Wahrheit.

  17. Wissenschaftliche Theorie:… es ist überhaupt das erste Mal, dass Edelman in diesem Buch explizit über eine ‚wissenschaftliche Theorie‘ spricht… Seine Charakterisierung einer ‚wissenschaftlichen Theorie‘ ist … generell sehr fragmentarisch; sie ist ferner in ihrer Ernsthaftigkeit fragwürdig, da er die Forderung der Falsifizierbarkeit mit dem Argument begründt, dass ansonsten Darwins Theorie in ihrer Anfangszeit niemals hätte Erfolg haben können; und sie ist geradezu mystisch, da er eine radikal neue Rolle des Beobachters mit all seinen mentalen Eigenschaften innerhalb der Theoriebildung einfordert, ohne aber irgendwelche Hinweise zu liefern, wie das praktiziert werden soll. … Man stellt sich die Frage, welchen ‚Begriff von Theorie‘ Edelman eigentlich benutzt? In der Geschichte der empirischen Wissenschaften gab es viele verschiedene Begrifflichkeiten, die nicht ohne weiteres kompatibel sind, und seit ca. 100 Jahren gibt es eine eigene Meta-Wissenschaft zu den Wissenschaften mit Namen wie ‚Wissenschaftsphilosophie‘, ‚Wissenschaftstheorie‘, ‚Wissenschaftslogik‘, deren Gegenstandsbereich gerade die empirischen Wissenschaften und ihr Theoriebegriff ist…. Aufgrund seiner bisherigen Ausführungen scheint Edelman nichts vom Gebiet der Wissenschaftsphilosophie zu kennen.

  18. Überprüfbarkeit, Verifizierbarkeit, Theorie: Die Überprüfbarkeit einer Theorie ist in der Tat ein wesentliches Merkmal der modernen empirischen Wissenschaften. Ohne diese Überprüfbarkeit gäbe es keine empirische Wissenschaft. Die Frage ist nur, was mit ‚Überprüfbarkeit‘ gemeint ist bzw. gemeint sein kann. … Wenn Edelman fordert dass für eine Theorie gelten soll, dass nicht (vi) ‚jeder Teil von der Theorie direkt falsifizierbar‘ sein muss, dann geht er offensichtlich davon aus, dass eine Theorie T aus ‚Teilen‘ besteht, also etwa T(T1, T2, …, Tn) und dass im ‚Idealfall‘ jeder Teil ‚direkt falsifizierbar‘ sein müsste. Diese Vorstellung ist sehr befremdlich und hat weder mit der Realität existierender physikalischer Theorien irgend etwas zu tun noch entspricht dies den modernen Auffassungen von Theorie. Moderne Theorien T sind mathematische (letztlich algebraische) Strukturen, die als solche überhaupt nicht interpretierbar sind, geschweige denn einzelne Teile davon. Ferner liegt die Erklärungsfähigkeit von Theorien nicht in ihren Teilen, sondern in den ‚Beziehungen‘, die mittels dieser Teile formulierbar und behauptbar werden. Und ob man irgendetwas aus solch einer Theorie ‚voraussagen‘ kann hängt minimal davon ab, ob die mathematische Struktur der Theorie die Anwendung eines ‚logischen Folgerungsbegriffs‘ erlaubt, mittels dem sich ‚Aussagen‘ ‚ableiten‘ lassen, die sich dann – möglicherweise – ‚verifizieren‘ lassen. Diese Verifizierbarkeit impliziert sowohl eine ‚Interpretierbarkeit‘ der gefolgerten Aussagen wie auch geeignete ‚Messverfahren‘, um feststellen zu können, ob die ‚in den interpretierten Aussagen involvierten entscheidbaren Eigenschaften‘ per Messung verifiziert werden können oder nicht. Der zentrale Begriff ist hier ‚Verifikation‘. Der Begriff der ‚Falsifikation‘ ist relativ zu Verifikation als komplementärer Begriff definiert. Begrifflich erscheint dies klar: wenn ich nicht verifizieren kann, dann habe ich automatisch falsifiziert. In der Praxis stellt sich aber oft das Problem, entscheiden zu können, ob der ganz Prozess des Verifizierens ‚korrekt genug‘ war: sind die Umgebungsbedingungen angemessen? Hat das Messgerät richtig funktioniert? Haben die Beobachter sich eventuell geirrt? Usw. Als ‚theoretischer Begriff‘ ist Falsifikation elegant, in der Praxis aber nur schwer anzuwenden. Letztlich gilt dies dann auch für den Verifikationsbegriff: selbst wenn der Messvorgang jene Werte liefert, die man aufgrund einer abgeleiteten und interpretierten Aussage erwartet, heißt dies nicht mit absoluter Sicherheit, dass richtig gemessen wurde oder dass die Aussage möglicherweise falsch interpretiert oder falsch abgeleitet worden ist.

  19. Rolle des Theoriemachers und Beobachters fundamental: All diese Schwierigkeiten verweisen auf den ausführenden Beobachter, der im Idealfall auch der Theoriemacher ist. In der Tat ist es bislang ein menschliches Wesen, das mit seinen konkreten mentalen Eigenschaften (basierend auf einer bestimmten materiellen Struktur Gehirn im Körper in einer Welt) sowohl Phänomene und Messwerte in hypothetische mathematische Strukturen transformiert, und diese dann wiederum über Folgerungen und Interpretationen auf Phänomene und Messwerte anwendet. Dies in der Regel nicht isoliert, sondern als Teil eines sozialen Netzwerkes, das sich über Interaktionen, besonders über Kommunikation, konstituiert und am Leben erhält. … Edelman hat Recht, wenn er auf die bisherige unbefriedigende Praxis der Wissenschaften hinweist, in der die Rolle des Theoriemachers als Teil der Theoriebildung kaum bis gar nicht thematisiert wird, erst recht geht diese Rolle nicht in die eigentliche Theorie mit ein. Edelman selbst hat aber offensichtlich keinerlei Vorstellung, wie eine Verbesserung erreicht werden könnte, hat er ja noch nicht einmal einen rudimentären Theoriebegriff.

  20. Theorie einer Population von Theoriemachern: Aus dem bisher Gesagten lässt sich zumindest erahnen, dass ein verbessertes Konzept einer Theorie darin bestehen müsste, dass es eine explizite ‚Theorie einer Population von Theoriemachern (TPTM)‘ gibt, die beschreibt, wie solch eine Population überhaupt eine Theorie gemeinsam entwickeln und anwenden kann und innerhalb dieser Theorie einer Population von Theoriemachern würden die bisherigen klassischen Theoriekonzepte dann als mögliche Theoriemodelle eingebettet. Die TPTM wäre dann quasi ein ‚Betriebssystem für Theorien‘. Alle Fragen, die Edelman angeschnitten hat, könnte man dann in einem solchen erweiterten begrifflichen Rahmen bequem diskutieren, bis hinab in winzigste Details, auch unter Einbeziehung der zugrunde liegenden materiellen Strukturen.

  21. Darwin und Theorie: Anmerkung: Darwin hatte nichts was einem modernen Begriff von Theorie entsprechen würde. Insofern ist auch das Reden von einer ‚Evolutionstheorie‘ im Kontext von Darwin unangemessen. Damit wird aber der epochalen Leistung von Darwin kein Abbruch getan! Eher wirkt sein Werk dadurch noch gewaltiger, denn die Transformation von Gedanken, Phänomenen, Fakten usw. in die Form einer modernen Theorie setzt nicht nur voraus, dass man über die notwendigen Formalisierungsfähigkeiten verfügt … sondern man kann erst dann ’sinnvoll formalisieren‘, wenn man überhaupt irgendetwas ‚Interessantes‘ hat, was formalisiert werden soll. Die großen Naturforscher (wie z.B. Darwin) hatten den Genius, die Kreativität, den Mut, die Zähigkeit, das bohrende, systematisierende Denken, was den Stoff für interessante Erkenntnisse liefert. Dazu braucht man keine formale Theorie. Die Transformation in eine formale Theorie ist irgendwo Fleißarbeit, allerdings, wie die Geschichte der Physik zeigt, braucht man auch hier gelegentlich die ‚Genies‘, die das Formale so beherrschen, dass sie bisherige ‚umständliche‘ oder ‚unpassende‘ Strukturen in ‚einfachere‘, ‚elegantere‘, ‚besser passende‘ formale Strukturen umschreiben.

KAP. 8 DIE WISSSENSCHAFTEN DES ERKENNENS (The Sciences of Recognition)

Vorab zum Kapitel 8 (und einigen weiteren nachfolgenden Kapiteln) positioniert Edelman sich wie folgt:

  1. Nach den bisherigen Vorüberlegungen sieht sich Edelman in die Lage versetzt, eine ‚Theorie des Bewusstseins‘ zu postulieren als wesentliche Komponente einer ‚Theorie über das Funktionieren des Gehirns‘.(vgl. S.71)

  2. Edelman begründet dieses Vorgehen in Richtung von ‚expliziten Theorien‘ damit, dass Fakten alleine nichts nützen. Vielmehr müssen Fakten in Zusammenhänge eingebracht werden (’synthesizing ideas‘), die sich dann experimentell testen lassen. Diese Experimente bestätigen (‚amend‘) dann die bisherigen Synthesen oder widerlegen sie (‚knock down‘).(vgl. S.71)

  3. Er präzisiert seine Forderung nach einer Synthese der Fakten dahingehend, dass letztlich eine ‚wissenschaftliche Theorie‘ erstellt werden sollte, die möglichst alle ‚bekannten Fakten‘ über Gehirne und ‚Geist‘ integriert. Für Edelman ist klar, dass solch eine Theorie sehr viele ‚Schichten des Gehirns‘ beschreiben muss. (vgl. S.71)

  4. Diese Schichten des Gehirns bilden die ‚materielle Basis des Geistes‘ und in einer wissenschaftlichen Theorie des Bewusstseins als Teil einer Theorie des Gehirns werden bekannte Begriffe wie ‚Gedächtnis‘, ‚Konzept‘, ‚Bedeutung‘, ‚Bewusstsein als ein Tier‘, ‚Bewusstsein als ein menschliches Wesen‘ eine neue Bedeutung gewinnen.

Es folgt dann das Kap.8 als erstes Kapitel um dieses Programm zu erläutern.

  1. Edelman beginnt mit der These, dass er die ‚Sache des Geistes‘ (‚matter of mind‘) aus einem ‚biologischen Blickwinkel‘ heraus angehen will, also einer Blickrichtung, die sich auf ‚biologische Konzepte‘ stützt. (vgl. S.73)

  2. Eines der grundlegendsten (‚most fundamental‘) biologischen Konzepte ist für ihn der Begriff des ‚Denkens in Populationen‘ (‚population thinking‘), das für ihn historisch mit den Arbeiten von Darwin beginnt. (vgl. S.73)

  3. Das Denken in Populationen betrachtet die unterschiedlichen individuellen ‚Varianten‘ in einer Populationen als die Quelle von ‚Vielfalt‘. Diese Vielfalt ist der Angriffspunkt für eine ‚Auswahl‘ von jenen Arten, die erfolgreich sind. (vgl. S.73)

  4. Innerhalb einer kurzen Zeitspanne mögen diese Varianten kaum auffallen, über viele, sehr viele Generationen können sich die Unterschiede aber zu markant anderen Lebensformen auswirken, die dann als unterschiedliche ‚Arten‘ nebeneinander existieren. (vgl. S.73)

  5. Mit der Einführung des Begriffs ‚Denken in Populationen‘ stellt sich die Frage, wie denn hier eine Beziehung zum Begriff ‚Geist‘ hergestellt werden kann.

  6. Edelman wählt als potentielles Bindeglied den Begriff ‚Erkennen/ Wiedererkennen‘ (‚recognition‘). Er definiert diesen Begriff ‚Erkennen‘ zunächst sehr abstrakt, klassisch mathematisch, als eine ‚Abbildung‘ zwischen zwei ‚physikalischen Bereichen‘ (‚physical domains‘) A und B derart, dass die Elemente aus Bereich A in eine Menge A+ abgebildet werden, die zu den Ereignissen aus dem Bereich B ‚besser passen‘ (‚fit‘) als zuvor, sogar dann, wenn der Bereich B als B+ ’neue‘ Ereignisse umfasst. Er betont zusätzlich, dass diese Abbildung ‚ohne vorausgehende Instruktionen‘ (‚without prior instructions‘) stattfindet! Eine überaus starke These. (vgl. S.74)

  7. Um dieser noch sehr abstrakten Definition etwas mehr Bedeutung zu verleihen führt er ein Beispiel an, nämlich die ‚biologische Evolution‘: der eine Bereich A ist hier gegeben durch die Menge der biologischen Systeme (BIOS), der andere Bereich B durch die Menge der Ereignisse, die die Umgebung manifestieren (EVENTS). Durch die ‚Reproduktion‘ bildet der Bereich A neue Varianten, die zur Menge A+ führen. Der Bereich der Ereignisse B kann sich ändern, muss aber nicht. Wenn sich B so ändert, dass es neue Ereignisse gibt, dann liegt der Bereich B+ vor. Die Eigenschaft ‚fit zu sein‘ wird assoziiert mit dem Anteil der Nachkommen einer bestimmten Lebensform in einer Population. Je mehr Nachkommen eine Lebensform ermöglicht, um so ‚fitter‘ soll sie sein. Edelman legt Wert auf die Feststellung, dass die Herausbildung der ’nachkommensstarken‘ (‚fitten‘) Lebensformen A+ nicht durch eine ‚Instruktion seitens der Umwelt‘ zustande kam (‚does not require prior explicit information (‚instruction‘)), sondern dass die Herausbildung jener Varianten, die nachkommensstark sind, auf endogene Prozesse in den biologischen Systemen selbst zurück zu führen sei. Ebenso sind auch die Änderungen in der Umgebung B+ nach Edelman weitgehend unabhängig von den individuellen Variantenbildungen in der Population. Edelman geht hier noch weiter indem er postuliert, dass aus dieser wechselseitigen Unabhängigkeit folgt, dass es hier keine ‚finale Ursache‘, ‚keine Teleologie‘, ‚keine alles leitende Absicht‘ gibt. (vl. S.74)

  8. Als weiteres — eher spezielleres – Beispiel führt er das ‚Immunsystem‘ an. Das Immunsystem ist für Edelman ein ’somatisches selektives System (ssS)‘ das während der Lebenszeit eines biologischen Systems in einem Körper wirkt, während die Evolution ein ‚evolutionäres selektives System (esS)‘ repräsentiert, das über viele Generationen über viele Körper wirkt, innerhalb deren jeweils ein somatisches selektives System am Wirken ist. (vgl. 74)

  9. Edelman äußert hier die Vermutung, dass auch das ‚Gehirn‘ ein ’selektives somatisches System‘ ist. In diesem Fall wäre die ‚Neurowissenschaft‘ auch eine ‚Wissenschaft des Erkennens‘.(vgl. S.75)

  10. Das Immunsystem besitzt als wirkende Komponenten ‚Moleküle, Zellen‘ und ’spezialisierte Organe‘, wobei es sich bei den Molekülen und Zellen letztlich um alle Moleküle und Zellen des Körpers handelt. Letztlich operiert es ‚auf allen Molekülen‘, da es in der Lage ist zu ‚unterscheiden‘ (‚distinguishing‘) zwischen den ‚genuinen Molekülen/ Zellen‘ des eigenen Körpers (= das ‚Selbst‘) und ‚fremden Molekülen/ Zellen‘ (= ‚Nicht-Selbst‘). Diese Unterscheidungsfähigkeit ist extrem ’sensibel‘, da es selbst geringfügige Änderungen in der räumliche Anordnung von Atomen in einem Molekül erkennen kann. Zudem kann das Immunsystem solche Eigenschaften ‚erinnern‘, es hat ein ‚Gedächtnis‘ (‚memory‘).(vgl. S.75)

  11. Wenn ein körperfremdes Molekül (ein Protein) – auch ‚Antigen‘ genannt – auftritt, dann erzeugen spezialisierte Zellen des Körpers – die Lymphozyten – Moleküle, die sich an bestimmte charakteristische Eigenschaften des fremden Moleküls ‚anheften‘ können (sie binden sich an, ‚bind‘). Diese körpereigenen Identifizierungsmoleküle werden ‚Antikörper‘ (‚antibodies‘) genannt. (vgl. S.75)

  12. Die aktuelle Erklärung für diese beeindruckende Fähigkeit des Immunsystems solche Antikörper zu bilden, selbst bei völlig neuartigen Molekülen, wird als ‚Theorie der klonalen Selektion‘ gehandelt, die nach Edelman zurückgeht auf Sir Frank MacFarlant Burnet. (vgl. S.77)

  13. Die Grundidee dieser Theorie ist wie folgt: (i) Das körpereigene Immunsystem produziert ‚auf Vorrat‘ eine große Menge von Antikörpern mit unterschiedlichen Schnittstellen zum Anbinden. (ii) Treten dann körperfremde Moleküle auf (Viren, Bakterien), dann treffen diese auf eine Population von Lymphozyten mit ganz unterschiedlichen Antikörpern. Die eindringenden Zellen binden sich dann an jene Antikörper, die mit ihren Schnittstellen ‚am beste‘ zu ihnen ‚passen‘. Dies bringt die Lymphozyten, die diese Antikörper an sich tragen, dazu, sich durch Bildung von Klonzellen zu vermehren, so dass im Laufe der Zeit immer mehr Eindringlinge ‚gebunden‘ werden. (iii) Die Veränderung und Vermehrung der Lymphozyten einer bestimmten Art geschieht damit durch – nach Edelman – durch ‚Selektion‘ aufgrund von Ereignissen in der Umgebung. (vgl. S.75)

  14. Edelman unterstreicht auch hier, dass die Ausbildung der vielen Varianten von Antikörpern ’nicht von außen instruiert wurde‘, sondern innerhalb der Lebenszeit eines Körpers in den Lymphozyten, also ’somatisch‘ (’somatically‘). (vgl. S.75) Für ihn ist das Immunsystem daher eine wirkliche Instanz des allgemeinen Konzepts eines ‚Erkennungssystems‘ (‚recognition system‘): unabhängig von dem potentiellen Ereignisraum der fremden Moleküle produziert das Immunsystem ‚aus sich heraus‘ eine Menge von Antikörpern, die dann im Nachhinein (‚ex post facto‘) aufgrund der fremden Ereignisse ‚ausgewählt‘ (’selected‘) werden. Diese Produktionen ‚im voraus‘ und dann ‚Auswahlen im Moment‘ geschehen kontinuierlich, beinhalten ein retardierendes Moment (Gedächtnis) und erlauben eine ‚Anpassung‘ an die auftretenden neuen Moleküle (‚adaptively‘). Diese ‚zellulare Form eines Gedächtnisses‘ beruht auf der Tatsache, dass Mengen von Lymphozyten mit bestimmten Antikörpern meistens erhalten bleiben und aufgrund ihrer Zahl zukünftig auch schneller reagieren können. (vgl. S.78)

  15. Anhand der beiden Instanzen eines ‚Erkennungssystems‘ (‚evolutionäres selektives System‘ in Gestalt der Evolution und ’somatisches selektives System‘ in Gestalt des Immunsystems) macht Edelman darauf aufmerksam dass man zwischen dem ‚Prinzip der Auswahl‘ und den dazu eingesetzten ‚konkreten Mechanismen der Realisierung‘ unterscheiden muss. Das ‚Auswahlprinzip‘ wird sowohl von der ‚Evolution‘ benutzt wie auch vom ‚Immunsystem‘, aber die konkreten Mechanismen, wie dies umgesetzt wird, sind verschieden. (vgl. S.78) Beide Systeme brauchen aber auf jeden Fall eine Form von ‚Gedächtnis‘ jener Varianten, die eine ‚verbesserte Anpassung‘ ermöglichen. (vgl. S.79)

  16. Edelman nennt ‚Evolution‘ und ‚Immunologie‘ ‚Wissenschaften‘ (’sciences‘), ebenso die ‚Neurobiologie‘. (vgl. S.79)

  17. Edelman wiederholt seine Vermutung, dass das Gehirn ein ’somatisches selektives System‘ ist und ergänzt, dass nach seinen Forschungen die ‚Adhäsionsmoleküle der neuronalen Zellen‘ die ‚evolutionären Vorläufer‘ des gesamten Immunsystems waren. (vgl. S.79) Im folgenden Kapitel will er diese seine Hypothese, dass das Gehirn ein ’somatisches selektives System‘ sei, weiter erläutern.

DISKUSSION FORTSETZUNG

  1. Inkompatible Daten: 1.Person – 3.Person: Schon die erste Überlegung von Edelman, die Theorie des Bewusstseins als Teil einer Theorie des Gehirns zu konzipieren, wirft methodische Fragen auf. Diese resultieren daher, dass ja eine Theorie – was er im nächsten Abschnitt ja auch ausdrücklich feststellt – , im Kern darin besteht, ‚Zusammenhänge‘ einzuführen, durch die die einzelnen, isolierten Fakten kausale, erklärende, prognostische Eigenschaften bekommen können. Nun ist nach bisherigem Kenntnisstand klar, dass jene Fakten, durch die sich für einen menschlichen Beobachter und Theoriemacher das Bewusstsein ‚zeigt‘, und jene Fakten, mittels denen eine Neurobiologie arbeitet, nicht nur einfach ‚unterschiedlich‘ sind, sondern im ersten Anlauf prinzipiell ‚ausschließend‘. Die dritte Person Perspektive im Fall neurobiologischer Theoriebildung und die erste Person Perspektive im Fall von Bewusstseinstheorien sind im ersten Schritt nicht kompatibel miteinander. Jede Form von Beziehungsentwicklung über diesen unterschiedlichen Datenengen – nennen wir sie DAT_NN und DAT_BW – wird vollständig unabhängig voneinander stattfinden müssen. Bei dieser Sachlage zu sagen, dass eine Theorie des Bewusstseins als Teil einer Theorie des Gehirns entwickelt werden soll, klingt spannend, lässt aber jegliche Einsicht in ein mögliches Wie vermissen. Der umgekehrte Fall, eine Theorie des Gehirns als Teil einer Theorie des Bewusstseins hingegen wäre methodisch möglich, da alle empirische Daten abgeleitete Bewusstseinsdaten sind (also: DAT_NN C DAT_BW).

  2. Denken als kreativer Akt – Kein Automatismus: Im übrigen sollte man im Hinterkopf behalten, dass das ‚Einführen von Beziehungen‘ über Datenpunkten in keiner Weise von den Daten selbst her ‚ableitbar‘ ist. Es handelt sich bei solchen Einführungen um ‚kreative Denkakte‘, die aus einem vorgegebenen begrifflichen Denkraum einen möglichen Teilraum aktivieren und diesen ‚an den Daten ausprobieren‘. Insofern handelt es sich bei der Theoriebildung um ein ‚Erkenntnissystem‘ im Sinne von Edelman, das ‚gedachte Varianten von Beziehungen‘ bilden kann, und jene Fakten (ein vom Denken unabhängiger Bereich), die zu irgendwelchen Beziehungsvarianten ‚passen‘, die werden ‚ausgewählt‘ als solche Fakten, die sich im Sinne der ausgewählten Beziehungen ‚erklären‘ lassen. Im Sinne von Edelman könnte man hier von einem ‚bewusstseinsbasierten selektiven System (bsS)‘ sprechen. Es ist an die Lebensdauer des Bewusstseins gebunden, es verfügt über ein ‚Gedächtnis‘, es kann dadurch ‚adaptiv‘ sein, es kann aufgrund von zusätzlichen Kommunikationsprozessen Beziehungsvarianten auf andere Bewusstseine übertragen und durch Übertragung auf bewusstseinsexterne Medien sogar über die Lebensdauer eines individuellen Bewusstseins hinaus gespeichert werden.

  3. Damit deutet sich eine interessante Hierarchie von ‚Erkennungssystemen‘ an: (i) ‚evolutionäre selektive Systeme (esS)‘, (ii) ’somatische selektive Systeme (ssS)‘, (iii) ’neuronale selektive Systeme (nsS)‘, sowie (iv) ‚bewusstseinsbasierte selektive Systeme (bsS)‘.

  4. Kategoriefehler? Während die Hypothese von Edelman, dass die ‚materielle Basis des Geistes‘ in den materiellen Schichten des Gehirns zu suchen sei, möglicherweise Sinn macht, ist seine andere Hypothese, dass eine wissenschaftliche Theorie des Bewusstseins als Teil einer Theorie des Gehirns zu entwickeln sei, aus fundamentalen Gründen nicht nachvollziehbar.

  5. Integrierte Theoriebildung: Greift man Punkt (1) der Diskussion auf, dann könne eine Lösung der Paradoxie von Edelman darin bestehen, dass die Verschränkung der Daten aus der 1ten-Person Perspektive DAT_1Person und die Daten aus der 3ten-Person Perspektive als DAT_3Person C DAT_1Person die Basis für eine mögliche ‚integrierte (philosophische) Theorie des Bewusstseins‘ bilden, die empirische Theorien als Teiltheorien enthält, unter anderem eine Theorie des Gehirns. Wollte man ferner das von Edelman in den ersten Kapiteln mehrfach angesprochene ungelöste Problem der ‚mangelnden Integration des Beobachters‘ in die zugehörige Theorie aufgreifen, dann wäre dies in einer ‚integrierten philosophischen Theorie des Bewusstseins (IPTB)‘ im Prinzip möglich. Folgendes Theorienetzwerk deutet sich damit an:

  6. In einem ersten Schritt (i) könnte man eine ‚Theorie des Bewusstseins‘ T1CS auf Basis der DAT_1Person formulieren; im Rahmen dieser Theorie kann man unter anderem (ii) die empirischen Daten DAT_3Person als eine genuine Teilmenge der Daten DAT_1Person ausweisen. Damit erhält man den Ausgangspunkt dafür, diverse Theorien T3X auf Basis der dritten Person Daten DAT_3Person zu formulieren. Hier gibt es verschiedene Optionen. Eine mögliche wäre die folgende:

  7. In einem ersten Schritt (iii) wird eine ‚Theorie der Evolution der Körper‘ T3EV formuliert. Von hier aus gibt es zwei Fortsetzungen:

  8. Die Interaktion verschiedener Körper einer Population kann in einer (iv) ‚Theorie der Akteure‘ T3A formuliert werden (diese sind u.a. potentielle Beobachter). Diese Theorie T3A beschreibt, welche Verhaltensweisen an Akteuren beobachtbar sind und wie diese sich miteinander verschränken können (z.B. bekannt aus Psychologie und Soziologie).

  9. Eine ‚Theorie der Körper‘ T3BD beschreibt (v) die innere Struktur jener Körper, die den Akteuren zugrunde liegt. Dazu kann es Teil-Theorien geben (vi) wie eine ‚Theorie des Gehirns‘ T3BR (mit all seinen Schichten ) oder (vii) eine ‚Theorie des Immunsystems‘ T3IM.

  10. Brückentheorien: Es ist dann eine eigene theoretische Leistung diese verschiedenen Teil-Theorien und Theorien miteinander in Beziehung zu setzen. Dies ist keinesfalls trivial. Während die Theorie der Evolution eine Zeitkomponente umfasst, in der sich Strukturen komplett ändern können, sind Strukturtheorien des Körpers, des Gehirns und des Immunsystems tendenziell an ’statischen‘ Strukturen orientiert. Dies ist aber unrealistisch: Körper, Gehirn und Bewusstsein sind dynamische Systeme, die sowohl durch ‚Wachstum‘ wie auch durch ‚Lernen‘ kontinuierlich ihre Strukturen ändern. Ferner ist die Interaktion der verschiedenen Theorien ein eigenständiges Problem: Gehirn und Immunsystem sind ja nur zwei Komponenten von vielen anderen, die zusammen einen Körper ausmachen. Wenn man die neuen Erkenntnisse zur Komponente ‚Darm‘ ernst nimmt, dann kann diese Komponenten das gesamte Rest-System vollständig dominieren und steuern (auch das Gehirn). Die genauen Details dieser Interaktion sind noch weitgehend unerforscht. Schließlich ist auch die Rückkopplung der diversen empirischen Theorien T3X zur primären Theorie des Bewusstseins T1CS zu lösen. Dies wäre eine ‚Brückentheorie‘ T1CS3BD mit Anbindung sowohl an die Theorie der Evolution T3EV als auch an die diversen Teiltheorien wie T3BR und T3IM. Bislang ist weltweit kein einziger Kandidat für solch eine Brückentheorie T1CS3BD bekannt, zumal es bislang auch keine ernsthafte Theorie des Bewusstseins T1CS gibt (wohl aber sehr viele Texte, die inhaltlich zum Begriff ‚Bewusstsein‘ etwas schreiben).

  11. Beginn Kap.8: Zu Beginn des Kap. 8 wiederholt Edelman seine These, dass er die ‚Sache des Geistes‘ (‚matter of mind‘) aus einem ‚biologischen Blickwinkel‘ heraus angehen will. Wie schon oben angemerkt, stellen sich hier grundlegende methodische Probleme, die hier jetzt nicht wiederholt werden sollen. Er stellt dann die sachlich unausweichliche Frage, wie man denn dann einen Zusammenhang zwischen ‚Geist‘ und ‚Materie‘ – hier Materie fokussiert auf ‚Gehirn‘ – herstellen kann.

  12. Populationsdenken und Erkennungssystem: Ohne weitere Begründung führt er dann den Begriff ‚Populationsdenken‘ ein, den er sodann überführt in den Begriff ‚Erkennungssystem‘ (‚recogntion system‘). Anschließend bringt er mit der ‚Evolution‘, ‚mit dem Immunsystem‘ und dann mit dem ‚Gehirn‘ drei Beispiele von Erkennungssystemen in seinem Sinne.

  13. Begriff ‚Geist‘ methodisch unbestimmt: Dieses ganze begriffliche Manöver von Edelmann leidet von Anbeginn an dem Umstand, dass er bislang weder genau erklärt hat, was er unter dem Begriff ‚Geist‘ versteht noch mit welchen Methoden man diesen ‚Geist‘ erforschen kann. Der Begriff ‚Geist‘ bildet also bislang nur eine ‚abstrakte Wortmarke ohne definierte Bedeutung‘ und ohne jeglichen Theorie- und Methodenbezug. Zugleich wird ‚Geist‘ streckenweise mit dem Begriff ‚Bewusstsein‘ gleichgesetzt, für den die gleichen Unwägbarkeiten gelten wie für den Begriff ‚Geist‘. Unter diesen Umständen die These aufzustellen, dass sich eine Theorie des Bewusstseins als Teil einer Theorie des Gehirns formulieren lässt ist mindestens kühn (siehe die vorausgehende Diskussion). Für die soeben von Edelman aufgeworfene Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dem mit ‚Geist‘ Gemeinten und dem mit ‚Materie‘ – sprich: Gehirn – Gemeinten ist damit alles offen, da die Begriffe ‚Geist‘ und ‚Bewusstsein‘ letztlich auch ‚offen‘ sind, da sie nicht definiert sind. Es bleibt dann nur, abzuwarten und zu schauen, ob sich aus den von Edelman eingeführten Begriffen ‚Populationsdenken‘ bzw. ‚Erkennungssystem‘ etwas ableiten lässt, was die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis zwischen ‚Geist‘ und ‚Materie‘ etwas erhellt.

  14. Das Populationsdenken basiert auf Mengen von Individuen, die sich ‚verändern‘ können; man kann diese veränderte Individuen als ‚Varianten‘ auffassen‘, die damit eine ‚Vielfalt‘ in einer Population repräsentieren. Wichtig ist hier, sich klar zu machen, dass in der Perspektive eines einzelnen Individuums dieses weder ‚weiß‘, was vorher war noch was kommen wird noch aus sich heraus abschätzen kann, ob das, was es repräsentiert bzw. das, was es tut, in irgendeiner Weise ’sinnvoll‘ ist! Das einzelne Individuum ‚lebt sich aus‘ unter den Bedingungen, die die Umgebung ‚vorgibt‘ Zu sagen, dass ein einzelnes Individuum ‚erfolgreich‘ ist (‚fit‘), setzt voraus, dass man auf das Gesamtsystem schauen kann und man ein Meta-Kriterium hat, das definiert, wann ein Individuum in einer Population ‚erfolgreich‘ ist oder nicht. Unter Evolutionsbiologen hat sich eingebürgert, als ein Erfolgskriterium die ‚Zahl der Nachkommen‘ zu nehmen. Individuen mit den meisten Nachkommen gelten als erfolgreich. Dieser ‚äußerliche‘ Befund, der sich nur mit Blick auf mehrere Generationen definieren lässt und im Vergleich zu allen anderen Individuen, wird dann zusätzlich verknüpft mit der Hypothese, dass die  äußerlich beobachtbare Gestalt, der Phänotyp, letztlich auf eine ‚tiefer liegende Struktur‘ verweis, auf den Genotyp. Der äußerlich beobachtbare Erfolg eines bestimmten Genotyps wird dann auf die angenommene tiefer liegende Struktur des Genotyps übertragen. In dieser komplexen metatheoretischen Betrachtungsweise verantworten also Genotypen die Phänotypen, die dann in einer bestimmten Umgebung über die Zeit die meisten Nachkommen ermöglichen.

  15. In diesem Kontext von ‚Selektion‘, ‚Auswahl‘ zu sprechen ist ziemlich problematisch, da kein eigentlicher Akteur erkennbar ist, der hier ’selektiert‘. Das einzelne Individuum für sich selektiert sicher nicht, da es nichts hat zum Selektieren. Die Population als solche selektiert auch nicht, da die Population keine handelnde Einheit bildet. ‚Population‘ ist ein ‚Meta-Begriff‘, der einen externen Beobachter voraussetzt, der die Gesamtheit der Individuen beobachten und darüber sprechen kann. Eine Population als ‚existierende‘ ist nur eine Ansammlung von Individuen, von denen jedes einzelne ‚vor sich hin agiert‘. Nur bei externer Beobachtung über die Zeit lässt sich erkennen, dass sich Varianten von Phänotypen bilden von denen einige größere Anzahlen bilden als andere oder einige sogar aussterben. Weder das einzelne Individuum noch die Gesamtheit der Individuen ’selektieren‘ hier irgend etwas.

  16. Beobachter mit Theorie: Wenn man dennoch am Begriff ‚Selektion‘ festhalten will, dann nur dann, wenn man tatsächlich einen ‚externen Beobachter‘ voraussetzt, der alle diese variierenden Phänotypen in ihren jeweiligen Umgebungen in der Zeit ‚beobachten‘ kann und der eine ‚Theorie‘ formuliert (also eine systematische Beschreibung von den Beobachtungsdaten), in der die Veränderung der Phänotypen samt ihren ‚Anzahlen‘ in Beziehung gesetzt werden zu den verschiedenen Umgebungen. Wenn bestimmte Phänotypen in einer bestimmten Umgebung E aussterben während andere Phänotypen bei der gleichen Umgebung nicht aussterben, sich vielleicht sogar vermehren, dann könne man in dieser Theorie den Begriff ‚Selektion‘ so definieren, dass die ‚zahlenmäßig erfolgreichen‘ Phänotypen zur Umgebung E ‚besser passen‘ als die anderen. Es sind dann die ‚Umstände der Umgebung‘, die ‚Eigenschaften der Umgebung‘, die darüber entscheiden, welcher Phänotyp ‚bleibt‘ und welcher ’nicht bleibt‘. Die Umgebung wäre dann das ‚harte Kriterium‘, an dem die Leistungsfähigkeit eines Phänotyps (und indirekt damit des ermöglichenden Genotyps), ‚gemessen‘ werden kann. ‚Messen‘ heißt ‚Vergleichen‘: passt ein Phänotyp in eine bestehende Umgebung oder nicht.

  17. Erfolgskriterium nicht absolut: Da die Umgebung ‚Erde‘ nach heutigem Wissensstand sich beständig verändert hat, ist das Erfolgskriterium ‚Passen‘ sehr relativ. Was heute ‚gut passt‘ kann morgen ‚unpassend‘ sein.

  18. Akteure als Teil der Umgebung: Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass Phänotypen (i) sowohl mit der Umgebung wechselwirken können und dadurch diese so stark verändern können, dass sie damit ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören (etwas ‚Passendes‘ wird ‚unpassend‘ gemacht), als auch (ii) dass die Vielzahl von Phänotypen untereinander ‚zur Umgebung wird‘ (z.B. in Räuber-Beute Beziehungen). Dann besteht die Umgebung nicht nur aus der Erde wie sie ist (sehr veränderlich), sondern andere Phänotypen einer anderen ‚Art‘ müssen entweder als Feinde abgewehrt werden oder als potentielle Beute gefangen oder es muss mit ‚Artgenossen‘ kooperiert werden. Das erfolgreiche Überleben wird damit zu einer Gleichung mit sehr vielen dynamischen Variablen. Das theoretische Kriterium der ‚Selektion‘ erscheint daher als ein sehr abstraktes Kriterium in der Beschreibung von Erfolg, hat sich aber historisch als Minimalanforderung durchgesetzt.

  19. Fähigkeit zur Variationsbildung im Dunkeln: Interessant ist der Punkt – auf den auch Edelman zentral abhebt – dass die Genotypen überhaupt in der Lage sind, immer komplexere Phänotypen zu bilden, ohne dass erkennbar ist, dass ihnen von der Umgebung aus irgendwelche Vorab-Informationen übermittelt würden. Dies scheitert allein auch schon daran, dass die Erde – und das Sonnensystem, und die Milchstraße, und … — als ‚Umgebung‘ keinen geschlossenen Akteur mit eigener ‚Absicht‘ darstellt. Vielmehr handelt es sich – nach heutigem Kenntnisstand – um ein System, das ‚aus sich heraus‘ Ereignisse erzeugt, die als Ereignisse dieses System manifestieren. Biologische Systeme können diese Ereignismengen nur ‚aufnehmen‘, ’sortieren‘, auf unterschiedliche Weise ‚erinnern‘, und auf der Basis dieser ‚Erfahrungen‘ Strukturen ausbilden, die dieser Ereignismenge möglichst ‚optimal‘ gerecht werden. Und da im Moment der ‚reproduktiven‘ Strukturbildung zwar einige Erfolge aus der Vergangenheit ‚bekannt‘ sind, aber ’nichts aus der Zukunft‘, bleibt den biologischen Systemen nur, im Rahmen ihrer genetischen und phänotypischen Variationsbildung möglichst viele Variationen ‚ins Blaue hinein‘ zu bilden. Nach 3.8 Milliarden Jahren kann man konstatieren, es hat bislang irgendwie funktioniert. Daraus kann man aber leider nicht zweifelsfrei ableiten, dass dies auch in der Zukunft so sein wird.

  20. Selektion als sekundärer Effekt: Also, ‚Selektion‘ ist keine Eigenleistung eines Individuums oder einer Population, sondern Selektion ist der Effekt, der entsteht, wenn Populationen mit Umgebungen wechselwirken müssen und die Umgebung festlegt, unter welchen Bedingungen etwas zu ‚passen‘ hat. Erst ’nach‘ der Reproduktion und ’nach einiger Zeit‘ zeigt sich für ein Individuum, ob ein bestimmter Genotyp einen ‚erfolgreichen‘ Phänotyp hervorgebracht hat. Zu dem Zeitpunkt, wo ein Individuum diese Information bekommen könnte, hat es aber keine Gestaltungsmacht mehr: einmal weil seine Reproduktionsaktivität dann schon vorbei ist und zum anderen, weil es bei Erfolg ‚alt‘ ist oder gar schon ‚gestorben‘.

  21. Begriff ‚Erkennen‘ unglücklich: Dass Edelman diese Populationsdynamik als ‚Erkennungssystem‘ (‚recognition system‘) verstanden wissen will, ist nicht ganz nachvollziehbar, da, wie schon angemerkt, kein eigentlicher Akteur erkennbar ist, der dies alles ’steuert‘. Dass im Fall der Evolution die Gesamtheit der Genotypen zu einem bestimmten Zeitpunkt einen gewissen ‚Informationsbestand‘, einen gewissen ‚Erfahrungsbestand‘ repräsentieren, der sich aus den vorausgehenden Reproduktions- und aufgezwungenen Selektionsereignissen ‚angesammelt‘ hat, lässt sich theoretisch fassen. Dass aber hier ein identifizierbarer Akteur etwas ‚erkennt‘ ist wohl eine starke Überdehnung des Begriffs ‚Erkennen‘. Das gleiche gilt für das Beispiel mit dem Immunsystem. Das ‚Herausfiltern‘ von bestimmten ‚passenden Eigenschaften‘ aus einer zuvor produzierten Menge von Eigenschaften ist rein mathematisch eine Abbildung, die so zuvor nicht existierte. Aber es gibt keinen bestimmten Akteur, der für die Konstruktion dieser Abbildung verantwortlich gemacht werden kann.

  22. Netzwerke lernen ohne eigentlichen Akteur: Dennoch arbeitet Edelman hier einen Sachverhalt heraus, der als solcher interessant ist. Vielleicht sollte man ihn einfach anders benennen. Interessant ist doch, dass wir im Bereich der biologischen Systeme beobachten können, dass eine Menge von unterscheidbaren Individuen, von denen jedes für sich genommen keinerlei ‚Bewusstsein‘ oder ‚Plan‘ hat, als Gesamtheit ‚Ereignismengen‘ so ’speichern‘, dass ‚metatheoretisch‘ eine ‚Abbildung‘ realisiert wird, die es so vorher nicht gab und die Zusammenhänge sichtbar macht, die eine gewisse ‚Optimierung‘ und auch eine gewisse ‚Logik‘ erkennen lassen. Nennen wir diese Herausbildung einer Populationsübergreifenden Abbildung ’strukturelles Lernen‘ was zu einer ’strukturellen Erkenntnis‘ führt, dann habe wir dadurch immer noch keinen eigentlichen ‚Akteur‘, aber wir haben ein interessantes Phänomen, was die Entwicklung von großen Mengen von biologischen Systemen charakterisiert. Das Biologische erscheint als ein Netzwerk von vielen Systemen, Teilsystemen, bei dem die einzelnen Komponenten keinen ‚Plan des Ganzen‘ haben, aber durch ihre individuelle Manifestationen indirekt an einem ‚größeren Ganzen‘ mitwirken.

  23. Homo sapiens: Erst mit dem Aufkommen des Homo sapiens, seiner Denk- und Kommunikationsfähigkeit, seinen Technologien, ist es möglich, diese impliziten Strukturen, die alle einzelnen Systeme bestimmen, dirigieren, filtern, usw. zu ‚erfassen‘, zu ‚ordnen‘, zu ‚verstehen‘ und auf diese Weise mit einem angenäherten ‚Wissen um das Ganze‘ anders handeln zu können als in den zurückliegenden Zeiten.

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ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Teil 6

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 29.August 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

LETZTE ÄNDERUNG: 1.Dez.2018, Wiederholung der vorausgehenden Diskussion gestrichen. Kumulierte Zusammenfassungen sind HIER.

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

KAP.7 DIE PROBLEME NEU ÜBERLEGT

  1. Nach den ersten Analysen in Kap.1-6 stellt Edelman eine ‚Zwischenreflexion‘ an. Angesichts der entdeckten Komplexität und Dynamik im Fall des Gehirns und seiner Entwicklung stellt sich die Frage, wie man den Zusammenhang zwischen den vorfindlichen materiellen Strukturen und ihren Funktionen miteinander in Beziehung setzen (‚to relate‘) kann.(vgl. S.65f)
  2. Und um seine mögliche neue Position zu bestimmen wiederholt er summarisch nochmals seine zuvor geäußerte Kritik an der ‚falschen Objektivität‘ der Physik, an der zu eng gefassten Kognitionswissenschaft, und er wiederholt auch wieder die unsinnigen Vergleiche mit einem falschen Begriff von Computer, der weder theoretisch noch praktisch Sinn macht.(vgl. SS.66-69)
  3. Grundsätzlich hält er an der Forderung fest, (i) eine ‚Theorie‘ zu bauen (‚to construct), die (ii) ‚wissenschaftlich‘ ist. ‚Wissenschaftlich sein‘ macht er an der Eigenschaft fest (iii), dass die Theorie ‚überprüfbar‘ sein soll. Allerdings muss die Theorie (iv) ’nicht immer‘ zu (v) ‚Voraussagen auf allen Ebenen führen‘, noch muss (vi) ‚jeder Teil von der Theorie direkt falsifizierbar‘ sein.(vgl. S.66)
  4. Aufgrund seiner massiven Kritik an der unterdrückten Rolle des Beobachters speziell in der Physik (vgl. S.66f) muss man indirekt folgern, dass (a) der Beobachter in einer ‚kritischen Wissenschaft‘ im Zusammenspiel mit der Theorie ‚anders integriert wird als bisher‘. Dies bedeutet, man muss berücksichtigen, (b) dass es ‚mentale Ereignisse‘ gibt (‚Bewusstsein‘, ‚Intentionalität‘) gibt, die (c) nur durch ‚Introspektion‘ oder (d) nur durch indirekte Schlüsse aufgrund des beobachtbaren Verhaltens von anderen‘ zugänglich sind.(vgl. S.67)

DISKUSSION FORTSETZUNG

  1. Das Kapitel 7 ist sehr kurz und bringt weitgehend nur Wiederholungen ausgenommen der Punkt mit der Theorie. Der ist neu. Und es ist überhaupt das erste Mal, dass Edelman in diesem Buch explizit über eine ‚wissenschaftliche Theorie‘ spricht, obgleich er sich selbst ja als Wissenschaftler versteht und  er seine eigenen Überlegungen gleichwohl als wissenschaftlich verstanden wissen will (wenngleich er das aktuelle Buch in seiner Form nicht streng als wissenschaftliche Theorie verfasst hat).
  2. Seine Charakterisierung einer ‚wissenschaftlichen Theorie‘ ist interessant. Sie ist generell sehr fragmentarisch; sie ist ferner in ihrer Ernsthaftigkeit fragwürdig, da er die Forderung der Falsifizierbarkeit mit dem Argument einschränkt, dass ansonsten Darwins Theorie in ihrer Anfangszeit niemals hätte Erfolg haben können; und sie ist geradezu mystisch, da er eine radikal neue Rolle des Beobachters mit all seinen mentalen Eigenschaften innerhalb der Theoriebildung einfordert, ohne aber irgendwelche Hinweise zu liefern, wie das praktiziert werden soll.
  3. Man stellt sich die Frage, welchen ‚Begriff von Theorie‘ Edelman eigentlich benutzt? In der Geschichte der empirischen Wissenschaften gab es viele verschiedene Begrifflichkeiten, die nicht ohne weiteres kompatibel sind, und seit ca. 100 Jahren gibt es eine eigene Meta-Wissenschaft zu den Wissenschaften mit Namen wie ‚Wissenschaftsphilosophie‘, ‚Wissenschaftstheorie‘, ‚Wissenschaftslogik‘, deren Gegenstandsbereich gerade die empirischen Wissenschaften und ihr Theoriebegriff ist. Obgleich das Gebiet der Wissenschaftsphilosophie, wie ich es hier nenne, bislang immer noch keinen geschlossenen begrifflichen Raum darstellt, gibt es doch eine Reihe von grundlegenden Annahmen, die die meisten Vertreter dieses Feldes einer Metawissenschaft zu den Wissenschaften teilen. Aufgrund seiner bisherigen Ausführungen scheint Edelman nichts vom Gebiet der Wissenschaftsphilosophie zu kennen.
  4. Die Überprüfbarkeit einer Theorie ist in der Tat ein wesentliches Merkmal der modernen empirischen Wissenschaften. Ohne diese Überprüfbarkeit gäbe es keine empirische Wissenschaft. Die Frage ist nur, was mit ‚Überprüfbarkeit‘ gemeint ist bzw. gemeint sein kann.
  5. Wenn Edelman fordert dass für eine Theorie gelten soll, dass nicht (vi) ‚jeder Teil von der Theorie direkt falsifizierbar‘ sein muss, dann geht er offensichtlich davon aus, dass eine Theorie T aus ‚Teilen‘ besteht, also etwa T(T1, T2, …, Tn) und dass im ‚Idealfall‘ jeder Teil ‚direkt falsifizierbar‘ sein müsste. Diese Vorstellung ist sehr befremdlich und hat weder mit der Realität existierender physikalischer Theorien irgend etwas zu tun noch entspricht dies den modernen Auffassungen von Theorie. Moderne Theorien T sind mathematische (letztlich algebraische) Strukturen, die als solche überhaupt nicht interpretierbar sind, geschweige den einzelne Teile davon. Ferner liegt die Erklärungsfähigkeit von Theorien nicht in ihren Teilen, sondern in den ‚Beziehungen‘, die mittels dieser Teile formulierbar und behauptbar werden. Und ob man irgendetwas aus solch einer Theorie ‚voraussagen‘ kann hängt minimal davon ab, ob die mathematische Struktur der Theorie die Anwendung eines ‚logischen Folgerungsbegriffs‘ erlaubt, mittels dem sich ‚Aussagen‘ ‚ableiten‘ lassen, die sich dann – möglicherweise – ‚verifizieren‘ lassen. Diese Verifizierbarkeit impliziert sowohl eine ‚Interpretierbarkeit‘ der gefolgerten Aussagen wie auch geeignete ‚Messverfahren‘, um feststellen zu können, ob die ‚in den interpretierten Aussagen involvierten entscheidbaren Eigenschaften‘ per Messung verifiziert werden können oder nicht. Der zentrale Begriff ist hier ‚Verifikation‘. Der Begriff der ‚Falsifikation‘ ist relativ zu Verifikation als komplementärer Begriff definiert. Begrifflich erscheint dies klar: wenn ich nicht verifizieren kann, dann habe ich automatisch falsifiziert. In der Praxis stellt sich aber oft das Problem, entscheiden zu können, ob der ganz Prozess des Verifizierens ‚korrekt genug‘ war: sind die Umgebungsbedingungen angemessen? Hat das Messgerät richtig funktioniert? Haben die Beobachter sich eventuell geirrt? Usw. Als ‚theoretischer Begriff‘ ist Falsifikation elegant, in der Praxis aber nur schwer anzuwenden. Letztlich gilt dies dann auch für den Verifikationsbegriff: selbst wenn der Messvorgang jene Werte liefert, die man aufgrund einer abgeleiteten und interpretierten Aussage erwartet, heißt dies nicht mit absoluter Sicherheit, dass richtig gemessen wurde oder dass die Aussage möglicherweise falsch interpretiert oder falsch abgeleitet worden ist.
  6. All diese Schwierigkeiten verweisen auf den ausführenden Beobachter, der im Idealfall auch der Theoriemacher ist. In der Tat ist es bislang ein menschliches Wesen, das mit seinen konkreten mentalen Eigenschaften (basierend auf einer bestimmten materiellen Struktur Gehirn im Körper in einer Welt) sowohl Phänomene und Messwerte in hypothetische mathematische Strukturen transformiert, und diese dann wiederum über Folgerungen und Interpretationen auf Phänomene und Messwerte anwendet. Dies in der Regel nicht isoliert, sondern als Teil eines sozialen Netzwerkes, das sich über Interaktionen, besonders über Kommunikation, konstituiert und am Leben erhält.
  7. Edelman hat Recht, wenn er auf die bisherige unbefriedigende Praxis der Wissenschaften hinweist, in der die Rolle des Theoriemachers als Teil der Theoriebildung kaum bis gar nicht thematisiert wird, erst recht geht diese Rolle nicht in die eigentliche Theorie mit ein. Edelman selbst hat aber offensichtlich keinerlei Vorstellung, wie eine Verbesserung erreicht werden könnte, hat er ja noch nicht einmal einen rudimentären Theoriebegriff.
  8. Aus dem bisher Gesagten lässt sich zumindest erahnen, dass ein verbessertes Konzept einer Theorie darin bestehen müsste, dass es eine explizite ‚Theorie einer Population von Theoriemachern (TPTM)‘ gibt, die beschreibt, wie solch eine Population überhaupt eine Theorie gemeinsam entwickeln und anwenden kann und innerhalb dieser Theorie einer Population von Theoriemachern würden die bisherigen klassischen Theoriekonzepte dann als mögliche Theoriemodelle eingebettet. Die TPTM wäre dann quasi ein ‚Betriebssystem für Theorien‘. Alle Fragen, die Edelman angeschnitten hat, könnte man dann in einem solchen erweiterten begrifflichen Rahmen bequem diskutieren, bis hinab in winzigste Details, auch unter Einbeziehung der zugrunde liegenden materiellen Strukturen.
  9. Das, was Edelman als Theorie andeutet, ist vollständig unzulänglich und sogar in wesentlichen Punkten falsch.
  10. Anmerkung: Darwin hatte nichts was einem modernen Begriff von Theorie entsprechen würde. Insofern ist auch das Reden von einer ‚Evolutionstheorie‘ im Kontext von Darwin unangemessen. Damit wird aber der epochalen Leistung von Darwin kein Abbruch getan! Eher wirkt sein Werk dadurch noch gewaltiger, denn die Transformation von Gedanken, Phänomenen, Fakten usw. in die Form einer modernen Theorie setzt nicht nur voraus, dass man über die notwendigen Formalisierungsfähigkeiten verfügt (selbst bei den theoretischen Physikern ist dies nicht unbedingt vollständig gegeben) sondern man kann erst dann ’sinnvoll formalisieren‘, wenn man überhaupt irgendetwas ‚Interessantes‘ hat, was man formalisieren kann. Die großen Naturforscher (wie z.B. Darwin) hatten den Genius, die Kreativität, den Mut, die Zähigkeit, das bohrende, systematisierende Denken, was den Stoff für interessante Erkenntnisse liefert. Dazu braucht man keine formale Theorie. Die Transformation in eine formale Theorie ist irgendwo Fleißarbeit, allerdings, wie die Geschichte der Physik zeigt, braucht man auch hier gelegentlich die ‚Genies‘, die das Formale so beherrschen, dass sie bisherige ‚umständliche‘ oder ‚unpassende‘ Strukturen in ‚einfachere‘, ‚elegantere‘, ‚besser passende‘ formale Strukturen umschreiben.

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ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Teil 5

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 28.August 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

KAP.6 TOPOBIOLOGIE: WAS MAN VOM EMBRYO LERNEN KANN

  1. Der Ausgangspunkt ist weiterhin die Frage, welche materiellen Prozesse zu jenen materiellen Strukturen geführt haben, die für uns den homo sapiens repräsentieren. Diese materiellen Strukturen des homo sapiens zeigen eine Fülle von Verhaltenseigenschaften (Dynamiken), die wir als Hinweise auf ‚Geist‘ klassifizieren. Bisher wurden diese vorausgehenden formierenden Prozesse schon begrenzt auf die beiden Pole ‚Genotyp‘ und ‚Phänotyp‘ mit der Arbeitshypothese, dass die Eigenschaften des Genotyps weitgehend (wie weitgehend eigentlich? Kann man das quantifizieren?) die Eigenschaften des Phänotyps festlegen. Edelman selbst konkretisiert diese beiden Pole noch weitergehender mit der Frage, wie ein ‚ein-dimensionaler genetischer Kode‘ letztlich ein ‚drei-dimensionales Lebewesen‘ definieren kann.(vgl. S.63)
  2. Die Redeweise vom ‚genetischen Kode‘ setzt voraus, dass es eine Instanz gibt, die die Eigenschaften des Moleküls, das als ‚genetischer Kode‘ angesehen wird, als ‚Kode‘ ‚interpretieren‘ kann, d.h. diese Kode-erkennende-und-interpretierende Instanz (letztlich wieder ein Molekül) ist in der Lage, zwischen den materiellen Eigenschaften des Gen-Repräsentierenden Moleküls (normalerweise als DNA-Molekül vorliegend) und einer möglichen Proteinstruktur eine ‚Abbildung‘ vorzunehmen, die aus dem Bereich des ‚abstrakten Kodes‘ hinaustritt in den Bereich realer, 3-dimensionaler materieller Strukturen und Prozesse.
  3. Edelman beschreibt die konkreten Details des Gen-repräsentierenden-Moleküls M_gen (als DNA-Molekül; spezielle Abschnitte eines DNA-Moleküls repräsentieren ‚Gene‘), beschreibt die einzelnen Kode-Elemente (genannt ‚Kodons‘, ‚codons‘), die den späteren Transformationsprozess in materielle Strukturen steuern. Dieser Transformationsprozess geschieht aber nicht direkt, sondern über einen Zwischenschritt, in dem das Gen-repräsentierenden-Molekül M_gen in ein spiegel-identisches Gen-repräsentierendes-Molekül M_gen* (als RNA-Moleküle) übersetzt wird, das den Zellkern einer Zelle verlässt und dort dann von einer Kode-erkennende-und-interpretierende Instanz (‚cellular device‘) schrittweise in Aminosäuren übersetzt wird, die aneinander gekettet lange Moleküle (Polypeptide) bilden, die sich weiter als drei-dimensionale Strukturen ausformen, die schließlich Proteine repräsentieren. Aufgrund ihrer drei-dimensionalen Struktur kommen den Proteinen ‚Formen‘ (’shapes‘) zu, mit denen sich charakteristische ‚Eigenschaften‘, ‚Funktionen‘ verbinden. Schon diese Proteinformen kann man als Zwischenstufen zu einem Phänotyp ansehen. Unter anderem können sich Proteine zu komplexen ‚Zellen‘ zusammen finden (einem weiteren, komplexen Phänotyp), die ihren eigenen Zellkern haben mit einem spezifischen Genotyp. Verschiedene Proteine können ganz verschiedene Zellen bilden! (vgl. SS.52-57)
  4. Schon dieser Transformationsprozess von einem Gen-repräsentierenden-Molekül M_gen zu einer Zelle deutet in den einzelnen Phasen vielfältige Möglichkeiten der Variation, der Veränderung an. Doch, eine einzelne Zelle macht noch kein Lebewesen. Eine Lebensform wie der homo sapiens besteht – wie wir heute wissen – aus vielen Billionen (10^12) einzelnen Zellen, allein das Gehirn aus ca. 90 Milliarden neuronalen Zellen (ohne Glia-Zellen). Wie muss man sich diesen Weg von einer (!) befruchteten Zelle zu vielen Billionen Zellen in Form eines Lebewesens vorstellen?
  5. Dieser Transformationsprozess von einer befruchteten Eizelle ‚Zygote‘ genannt (‚zygote‘) zum ausgewachsenen Lebewesen wird von der Teilwissenschaft der ‚Embryologie‘ (‚embryology‘) behandelt. Die befruchtete Zelle (eine Vereinigung einer ‚Samenzelle‘ (’sperm cell‘) und einer ‚Eizelle‘ (‚egg cell‘) unterläuft eine lange Serie von Teilungen. Zellen können aber noch mehr als sich nur teilen: sie können ‚migrieren‘ (‚migrate‘), ‚absterben‘, ‚anhaften aneinander‘, und sich ‚differenzieren‘ (‚differentiate‘), d.h. abhängig von bestimmten chemischen Signalen in ihrer Umgebung werden unterschiedliche Gene aktiviert, um ganz spezifische Proteine zu erzeugen. Dadurch können Zellen (das Phänotyp) ganz unterschiedliche Dynamiken, unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen. Differentiation von Zellen ist somit kontextabhängig, d.h. setzt die Nähe zu bestimmten anderen Molekülen (die als Signale fungieren) voraus, wobei die Signale Sender voraussetzen, die in Form von Zellen auftreten.(vgl. S.57f)
  6. Aufgrund dieser grundlegenden Fähigkeit der Differentiation (also eines signalabhängigen Verhaltens (Edelman spricht hier von ‚Ortsabhängigkeit‘; mit dem griechischen Wort ‚topos‘ für Ort spricht er dann auch von ‚Topobiologie‘; diese Wortwahl ist aber gefährlich, da sie primär Raumstrukturen nahelegt, obgleich der Prozess selbst nur Signale kennt (natürlich in einem Raum)) können Zellen, selbst wenn sie sich im Verlaufe des Transformationsprozesses zu unterschiedlichen ‚Schichten‘ (‚layer‘) anordnen, über Entfernungen hinweg ‚Signale senden‘, die kontextbedingt ausgelöst werden. Die schrittweise ‚Gestaltwerdung‘ von immer komplexeren Strukturen wird damit ‚aus sich selbst‘ gesteuert. Je nach aktueller Anordnung bestehen spezifische Kontexte, die spezifische neue Signale auslösen, die die ’nächsten Schritte‘ einleiten. Dabei spielen offensichtlich zwei Faktoren ineinander: (i) das in den Genen hinterlegte ‚Programm‘ konstituiert ein allgemeines ‚Schema‘, ein ‚Template‘, das einen grundlegenden Bauplan, eine grundlegende Architektur skizziert, und (ii) die jeweils konkreten individuellen Zellen, die assoziiert mit unterschiedlichen Kontexten durch den Raum wandern, bilden ein konkretes ‚Bedingungsgefüge‘, eine aktuelle ‚Selektionsmatrix‘, die darüber entscheidet, wann und wie Teile des generellen Bauplans konkretisiert werden. Der Möglichkeitsraum des genetischen Programms wird über die Konkretheit der selektierenden Zellen eingeschränkt, auf konkrete Punkte ‚herunter spezifiziert‘. Dieser Vorgang bietet zahlreiche Variationsmöglichkeiten. Mittlerweile hat man entdeckt, dass der Signalprozess stark hierarchisch sein kann insofern es ‚homöotische‘ (‚homeotic‘) Gene gibt, die die Proteinproduktion bestimmter Gene kontrollieren. (vgl. SS.58-63)
  7. Edelman benutzt den Begriff ‚Epigenetik‘ in den geschilderten Kontexten als jene Faktoren, Ereignisse, Prozesse, die zusätzlich zu den Genen selbst für die Umsetzung der Transformation von Genen in Proteinen, in Zellen, in Zellverbände verantwortlich sind.(vgl. S.62)
  8. Nach diesem embryologischen Einblick in die Entwicklungsdynamik eines Organismus kann Edelman skizzieren, wie die charakteristischen Strukturen des Gehirns eines homo sapiens sich gebildet haben können und warum diese Strukturen artspezifisch sind, d.h. diese Strukturen sind typisch für den homo sapiens; alle Exemplare der Lebensform ‚homo sapiens‘ haben die gleiche Struktur. Zugleich gilt aber auch, dass selbst eineiige Zwillinge sich im Detail dieser Strukturen unterscheiden können und tatsächlich unterscheiden. Das Zusammenspiel von allgemeinem genetischen Programm und den ‚konkreten individuellen Zellen‘ in ihren jeweils ’spezifischen Kontexten‘ bietet solch ungeheure Variationsmöglichkeiten, dass das gleiche artspezifische genetische Programm sich im Detail immer unterscheiden wird. Diese in der Art des Transformationsprozesses angelegte Variabilität ist aber eben nur die eine Seite. Die andere Seite ist die arttypische Struktur, die einen Organismus, ein Gehirn spezifiziert, wodurch eine ‚Architektur‘ definiert wird, die unterschiedlichste Funktionen an unterschiedliche ‚Komponenten‘ bindet, die zudem typische ‚Interaktionsmuster‘ zeigen. Exemplare des homo sapiens haben daher alle eine typische Weise des ‚Wahrnehmens‘, des ‚Erinnerns‘, des ‚Denkens‘, des ‚Fühlens‘, usw.(vgl. S.63f)

DISKUSSION FORTSETZUNG

  1. Die fundamentale Tatsache, dass es Moleküle gibt, die andere Moleküle als ‚Kode‘ benutzen können, um Transformationsprozesse zwischen einer Sorte von Molekülen (DNA, RNA) in eine andere Sorte von Molekülen (Polypeptide, Proteine) steuern zu können, nimmt Edelman als Faktum hin, thematisiert es selbst aber nicht weiter. Er benennt diese ‚interpretierenden Moleküle‘ auch nicht weiter; sein Begriff ‚cellular device‘ ist eher nichtssagend. Dennoch ist es gerade diese Fähigkeit des ‚Übersetzens’/ ‚Interpretierens‘, die fundamental ist für den ganzen Transformationsprozess von einem Genom in einen Phänotyp bzw. in eine ganze Kette von hierarchisch aufeinander aufbauenden Phänotypen. Setzt man diese Übersetzungsfähigkeit voraus, ist das ganze folgende Transformationsgeschehen – so komplex es im Detail erscheinen mag – irgendwie ‚trivial‘. Wenn ich in mathematischer Sicht irgendwelche Mengen habe (z.B. verschiedene Arten von Moleküle), habe aber keine Beziehungen definiert (Relationen, Funktionen), dann habe ich quasi ‚Nichts‘. Habe ich aber z.B. eine Funktion definiert, die eine ‚Abbildung‘ zwischen unterschiedlichen Mengen beschreibt, dann ist es eine reine Fleißaufgabe, die Abbildung durchzuführen (z.B. die Übersetzung von DNA über RNA in Aminosäuren, dann Polypeptide, dann Proteine). Das die Biochemie und Mikrobiologie samt Genetik so viele Jahre benötigt hat, die Details dieser Prozesse erkennen zu können, ändert nichts daran, dass diese Transformationsprozesse als solche ‚trivial‘ sind, wenn ich die grundlegende Transformationsfunktion definiert habe. Wo aber kommt diese grundlegende Abbildungsfunktion her? Wie kann es sein, dass ein ordinäres chemisches Molekül ein anderes ordinäres chemisches Molekül als ‚Kode‘ interpretiert, und zwar genau dann so, wie es geschieht? Betrachtet man ’normale‘ Moleküle mit ihren chemischen Eigenschaften isoliert, dann gibt es keinerlei Ansatzpunkt, um diese grundlegende Frage zu beantworten. Offensichtlich geht dies nur, wenn man alle Moleküle als eine Gesamtheit betrachtet, diese Gesamtheit zudem nicht im unbestimmten Raum, sondern in Verbindung mit den jeweils möglichen ‚realen Kontextbedingungen‘, und dann unter Berücksichtigung des potentiellen Interaktionsraumes all dieser Moleküle und Kontexte. Aber selbst diese Raum repräsentiert im mathematischen Sinne nur Mengen, die alles und nichts sein können. Dass man in diesem Raum eine Funktion implantieren sollte, die dem Dekodieren des genetischen Kodes entspricht, dafür gibt es im gesamten Raum keinerlei Ansatzpunkt, es sei denn, man setzt solche eine Funktion als ‚Eigenschaft des Raumes‘ voraus, so wie die Physiker die ‚Gravitation‘ als Eigenschaft des Raumes voraussetzen, ohne irgendeinen Ansatzpunkt im Raum selbst zu haben, als die beobachtbare Wirkung der Gravitation. Die Biologen können feststellen, dass es tatsächlich einen Transformationsprozess gibt, der solch eine Abbildungsbeziehung voraussetzt, sie haben aber keine Chance, das Auftreten dieser Abbildungsbeziehung aus den beobachtbaren materiellen Strukturen abzuleiten!!!
  2. In der Beschreibung von Edelmans Position habe ich schon angemerkt, dass seine Wortwahl ‚Topobiologie‘ möglicherweise unglücklich ist, da es letztlich nicht der dreidimensionale Raum als solcher ist, der entscheidend ist (wenngleich indirekt die Drei-Dimensionalität eine Rolle spielt) sondern der ‚Kontext in Form von interaktiven Nachbarschaften‘: welche andere Zellen stehen in Interaktion mit einer Zelle; welche Signale werden empfangen. Indirekt spielt dann auch der ‚vorausgehende Prozess‘ eine Rolle, durch den eben Kontexte erzeugt worden sind, die nur in bestimmten Phasen des Prozesses vorliegen. Man hat also eher einen ‚Phasenraum‘, eine Folge typischer Zustände, die auseinander hervorgehen, so, dass der bisherige Prozess die nächste Prozessphase hochgradig determiniert. Dies ähnelt einer ‚algorithmischen‘ Struktur, in der eine Folge von Anweisungen schrittweise abgearbeitet wird, wobei jeder Folgeschritt auf den Ergebnissen der vorausgehenden Abarbeitungen aufbaut und in Abhängigkeit von verfügbaren ‚Parameterwerten‘ den nächsten Schritt auswählt. Im Unterschied zu einem klassischen Computer, bei dem die Ausführungsumgebung (normalerweise) festliegt, haben wir es hier mit einem algorithmischen Programm zu tun, das die jeweilige Ausführungsumgebung simultan zur Ausführung ‚mit erschafft‘! Wenn Computermetapher, dann eben so: ein Programm (Algorithmus), das seine Ausführungsumgebung (die Hardware) mit jedem Schritt selbst ‚erschafft‘, ‚generiert‘, und damit seine Ausführungsmöglichkeiten schrittweise ausbaut, erweitert. Dies setzt allerdings voraus, dass das genetische Programm dies alles schon ‚vorsieht‘, ‚vorwegnimmt‘. Die interessante Frage ist dann hier, wie ist dies möglich? Wie kann sich ein genetisches Programm ‚aus dem Nichts‘ entwickeln, das all diese ungeheuer komplexen Informationen bezüglich Ausführung und Ausführungsumgebung zugleich ‚aufgesammelt‘, ’strukturiert‘, ‚verpackt‘ hat, wo die Gesamtheit der modernen Wissenschaft bislang nur Fragmente versteht?
  3. Während Neurowissenschaftler (Edelman eingeschlossen) oft mit unsinnigen Computervergleichen versuchen, die Besonderheit des menschlichen Gehirns herauszustellen, kann man ja auch mal umgekehrt denken: wenn die Entwicklung des Gehirns (und des gesamten Organismus) Ähnlichkeiten aufweist mit einem Algorithmus, der seine eigene Ausführungsumgebung während der Ausführung (!!!) mit generiert, ob sich solch ein Prozess auch ‚rein technisch‘ denken ließe in dem Sinne, dass wir Maschinen bauen, die aus einer ‚kleinen Anfangsmenge von Materie‘ heraus ausgestattet mit einem geeigneten ‚Kode‘ und einem geeigneten ‚Interpretierer‘ sich analog selbst sowohl materiell als auch kodemäßig entwickeln? Da die biologischen Systeme zeigen, dass es grundsätzlich geht, kann man solch einen technischen Prozess nicht grundsätzlich ausschließen. Ein solches Gedankenexperiment macht aber sichtbar, worauf es wirklich ankommt: eine solche sich selbst mit-bauende Maschine benötigt auch einen geeigneten Kode und Interpretationsmechanismus, eine grundlegende Funktion. Ohne diese Funktion, geht gar nichts. Die Herkunft dieser Funktion ist aber gerade diejenige grundlegende Frage, die die gesamte empirische Wissenschaft bislang nicht gelöst hat. Es gibt zwar neuere Arbeiten zur Entstehung von ersten Zellen aus Molekülen unter bestimmten realistischen Kontexten, aber auch diese Forschungen beschreiben nur Prozesse, die man ‚vorfindet‘, die sich ‚zeigen‘, nicht aber warum und wieso es überhaupt zu diesen Prozessen kommen kann. Alle beteiligten materiellen Faktoren in diesen Prozessen als solchen geben keinerlei Ansatzpunkte für eine Antwort. Das einzige, was wir bislang wissen, ist, dass es möglich ist, weil wir es ‚beobachten können‘. Die ‚empirischen Phänomene‘ sind immer noch die härteste Währung für Wahrheit.

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