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SINN, SINN, und nochmals SINN
Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 20.März 2012
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de
Letzte Änderungen: 16.Februar 2019 (Kontext eingefügt sowie im Text kursive Hervorhebungen)
KONTEXT
Zum Thema ‚Sinn‘ hab es zwei vorausgehende Beiträge mit den Titel „Zur Grammatik des Sinns„ sowie „Weil es Sinn gibt, kann sich Wissen akkumulieren, das Sinn sichtbar macht. Oder: warum die Frage ‚Warum gerade ich?‘ in die Irre führen kann„. Beide Beiträge sind ziemlich grundsätzlich und können den vorliegenden Text weiter vertiefen.
(1) Wie die vorausgehenden Beiträge auf unterschiedliche Weise gezeigt haben, führt die Frage nach dem ‚Sinn‘ (eng verknüpft mit der Frage nach der Wahrheit), wenn man sie ernsthaft stellt, schnell auf allerlei ‚Randbedingungen‘ des ‚Erkennens‘, die nicht nur ‚passiver Natur‘ sind (was ‚uns geschieht‘), sondern zugleich auch vielfältiger ‚aktiver‘ Momente (was ‚wir tun‘), damit wir überhaupt etwas erkennen, ‚wie‘ wir erkennen, ‚wann‘, ‚wo‘, usw. ‚Erkennen‘ zeigt sich somit als ein komplexes Geschehen, eingebettet in eine Vielzahl von Randbedingungen, die eine unüberschaubare Anzahl von Möglichkeiten zulassen.
(2) In jeder dieser unendlich vielen Kombinationen haben wir ein Erkenntniserlebnis, was immer auch die aktuelle Konstellation sein mag (Fernsehen gucken, Lesen, Laufen, reden, arbeiten, Malen, Streiten, Internet surfen, ….). Dieses aktuelle Erlebnis ist als Erlebnis ‚real‘. Wir können uns diesem realen Erleben nicht entziehen. Wir sind ‚mitten drin‘. Und wenn wir über das, was wir erleben, nicht explizit und zusätzlich ’nachdenken‘ (reflektieren…), dann ist die Welt das, was wir aktuell faktisch erleben (Wittgensteins berühmter Satz ‚Die Welt ist, was der Fall ist‘ (der in einem ganz bestimmten Kontext geäußert wurde) würde hier jetzt genau dies bedeuten: die Welt ist, was ich erlebe (was Wittgenstein genau vehement abstreiten würde (das war sein Problem…)). Denn nur das haben wir zur Verfügung (oder, wie zuvor mehrfach ausgeführt, das ist das, was das Gehirn ’sich selbst‘ aufgrund der verfügbaren Signale ‚zubereitet‘ (… wobei ‚Gehirn‘ ein komplexes theoretisches Konzept ist, dessen Anführung in diesem Kontext für viele Leser eher irreführend als zielführend sein kann)).
(3) Was die Sache mit dem Erleben (aus theoretischer Sicht) ’schwierig‘ macht (mit den entsprechenden weitreichenden Folgen für das alltägliche praktische Leben), ist die Tatsache, dass unser Erleben (wie jetzt schon oft besprochen) keine 1-zu-1-Abbildung von ‚Dingen außerhalb des Körpers‘ ist, sondern eine permanente dynamische Konstruktionsleistung unseres Gehirns, das aktuell verfügbare Signale mit schon zuvor ‚erworbenen (gelernten?)‘ Daten (Erinnerung, Gedächtnis) ‚verrechnet‘ und ‚Arbeitshypothesen‘ entwickelt, wie das alles ‚zusammenpassen‘ (Kohärenz, Konsistenz…) kann. Da das Gehirn endlich ist und in knapp bemessener Zeit aus einer Signalflut permanent auswählen muss, fallen beständig Sachen unter den Tisch, werden ausgeklammert, werden Dinge ‚vereinfacht‘ usw. Auf der ‚Habenseite‘ dieses atemberaubenden Geschehens verbleibt aber ein ‚Erkenntniseindruck‘, der ‚uns‘ das Gefühl vermittelt, wir ’sehen‘ etwas, wir ‚hören‘, usw.
(4) Dieser permanente Rückgriff auf ’schon Bekanntes‘ hat den großen Vorteil, dass die meist unvollkommenen Daten durch den Bezug auf ‚Ähnliches‘ ‚ergänzt‘ (interpretiert, gedeutet…) werden können und damit der ‚Entscheidungsprozess‘ während der ‚Berechnung‘ der ‚möglichen Strukturen in den Signalströmen‘ in Richtung des ’schon Bekannten‘ geleitet und damit abgekürzt werden kann (in Experimenten im Rahmen der Phonetik konnte man zeigen, dass Menschen bei der Identifizierung von akustischen Signalen ohne ‚Kontextwissen‘ deutlich schlechter waren, als mathematische Algorithmen für die Signalerkennung. Sobald die Menschen aber nur ein wenig Kontextwissen besaßen, waren sie den Algorithmen (nachvollziehbarerweise) deutlich überlegen. Andererseits konnte man sie dadurch aber auch gezielter ‚manipulieren‘: wenn man weiß, welches Kontextwissen bei einem bestimmten Menschen ‚dominant‘ ist, dann kann man ihm Daten so servieren, dass er diese Daten ’spontan‘ (wenn er nicht kritisch nachdenkt) im Sinne seines Kontextwissens interpretiert und damit zu ‚Schlüssen‘ kommt, die mit der tatsächlich auslösenden Situation gar nichts mehr zu tun haben).
(5) Diese ambivalente Rückwirkung des ’schon Bekannten‘ wird noch komplexer, wenn man berücksichtigt, dass mit dem Erlernen einer Sprache die ‚Gegenstandswelt‚ erweitert wird um eine ‚Welt der Zeichen‚, die auf diese Gegenstandswelt (und auf sich selbst!) auf vielfältige Weise ‚verweisen‘ kann. Ein sprachlicher Ausdruck als solcher ist auch ein reales Erlebnis, das aber – im Normalfall – von sich weg auf etwas ‚Anderes‘, auf seine ‚Bedeutung‘ ‚verweist‘. Jede mögliche Bedeutung ist letztlich immer erst mal wieder nur ein Erlebnis, das irgendwann einmal stattgefunden hat, und sei es als bloß ‚Imaginiertes/ Vorgestelltes/…‘. D.h. die Verwendung der Sprache als solche führt nicht grundsätzlich über den Bereich des Erlebbaren hinaus. Ein Denken mit Hilfe von sprachlichen Ausdrücken ist nur ’strukturierter‘, ‚berechenbarer‘, ‚handhabbarer‘ als ein Denken ohne sprachliche Ausdrücke. Sprache erlaubt die ‚wunderbare Vermehrung der Dinge‘, ohne dass real die Dinge tatsächlich vermehrt oder verändert werden (ein Roman von vielen hundert oder gar über tausend Seiten kann für den Leser ein sehr intensives ‚Erlebnis‘ erzeugen, gestiftet von einem bunten Strauss von sprachlich induzierten ‚Vorstellungen‘, die als solche real sind, ohne dass diesen Vorstellungen irgendetwas in der Außenwelt entsprechen muss.
(6) Mit den modernen Medien (Film, Fernsehen, Video, Computeranimation…) wird die Erzeugung von ‚Vorstellungen‘ nach ‚außen‘ verlagert in ein Medium, das Erlebnisse erzeugt ’scheinbar wie die Außenwelt‘, die aber ‚willkürlich erzeugt‘ wurden und die mit der empirisch-realen Welt nichts zu tun haben müssen. Dem ‚Erlebnis als solchem‘ kann man dies u.U. Nicht mehr ansehen, sofern man nicht (wie auch in allen anderen Fällen) sehr bewusst ‚kritisch‘ Randbedingungen überprüft und berücksichtigt. Während das Lesen eines Romans ‚als Lesen‘ deutlich macht, dass alle durch das Lesen induzierten Erlebnisse ‚künstlich‘ sind, kann das sehen/ hören/ fühlen… eines künstlichen Mediums die Einsichtsschwelle in die ‚Künstlichkeit‘ immer ‚höher‘ legen. Ein Film über ‚Erfundenes‘ neben einem Film über ‚empirisch-Reales‘ ist nicht mehr ohne weiteres identifizierbar.
(7) Sofern man nicht explizit die Frage nach der ‚Wahrheit‘ stellt (ich definiere ‚Wahrheit‘ hier jetzt nicht; siehe dazu die vorausgehenden Reflexionen) sind alle diese möglichen Erlebniswelten (real-empirisch bezogen oder beliebig generiert) aus Sicht des Erlebens ‚gleichwertig‘. Wer hier nicht ausdrücklich immer darauf achtet, was wann wie von wem mit welcher Absicht usw. ‚erzeugt‘ wurde, für den verschwimmen alle diese erlebnisfundierten Bilder zu einem großen Gesamtbild, wo jedes jedes ‚interpretiert‘ und wo die Frage nach der Wahrheit aus den Händen gleitet. Dennoch bieten alle diese Bilder – so verzerrt und willkürlich sie auch sein mögen – für den, der sie ‚hat‘ eine ‚Interpretation‘ und damit einen ‚möglichen Sinn‘. Ohne die ‚Gewichtung‘ durch den Aspekt der Wahrheit sind alle diese ‚möglichen Sinne‘ ‚gleichwertig‘. Es gibt im Bereich des möglichen Sinns keine ausgezeichnete Instanz, die einen besonderen Vorzug verdienen würde. Entsprechend ‚bunt‘ ist das Bild, das sich bietet, wenn man schaut, was Menschen alles für ’sinnvoll‘ halten. Es kann für jemand anderen noch so ‚grotesk‘ erscheinen, für den ‚Besitzer‘ dieses Sinns ist es ‚der allein Seligmachende‘.
(8) Wie gesagt, solange man die Frage nach der ‚Wahrheit‘ ausklammert, geht alles. Die Frage nach der Wahrheit wiederum setzt eine ‚kritische Reflexion‘ auf Randbedingungen voraus. Wie der Alltag zeigt, ist aber den meisten Menschen gar nicht klar, was ‚kritische Reflexion‘ praktisch bedeutet. Selbst wenn sie ‚kritisch reflektieren‘ wollten, sie könnten es nicht. Millionen von Menschen sind zwar bereit, viel Geld, viel persönliche Zeit, ja sogar ihr ganzes persönliche Leben, in ‚Gefolgschaften‘ von Kursen und Organisationen zu investieren, ohne ein Minimum an kritischem Denken dafür zurück zu bekommen. Das ‚Verwirrspiel‘ um den ‚Sinn‘, um den ‚Lebenssinn‘, um den ‚wahren Sinn‘ wird damit nur schlimmer und furchtbarer. Meist werden ein paar Leute dadurch sehr viel reicher, und viele andere sehr viel ärmer. So etwas sollte immer als ein mögliches Alarmzeichen dienen, um darauf aufmerksam zu machen, dass es bei solchen Veranstaltungen (das müssen nicht nur sogenannte ‚Sekten‘ sein, das kann — wie wir täglich leidvoll dazu lernen — jede Art von sogenannten ‚Beratern‘ sein) nicht um ‚wahren Sinn‘ geht, sondern um simple materielle Vorteile einzelner auf Kosten anderer.
(9) Das Thema ist damit nicht erschöpft (was ja auch die vorausgehenden Eindrücke zusätzlich belegen können), …es ist nur eine ‚Notiz‘ zwischendurch….
LITERATURNACHWEISE
Wittgenstein, L.: Logisch-philosophische Abhandlung, W. Ostwald (Hrsg.), Annalen der Naturphilosophie, Band 14, 1921, S. 185–262
nachlesbar in:
Wittgenstein, L.: Logisch-philosophische Abhandlung, Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998
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