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USA – DEMOKRATIE IM SCHWEBEZUSTAND?

Vorausgehende Beiträge zum Thema: Der letzte war dieser.

Letzte Änderung: 31.Aug.2013, 18:08h, Song im Anschluss an den Text.

RÜCKBLICK: PRIVATSPHÄRE GEFÄHRDET?

1) In den vorausgehenden Blogeinträgen zum Thema hatte sich herauskristallisiert, dass der vierte Zusatz zur US-Amerikanischen Verfassung als Grundpfeiler des Schutzes der Privatsphäre durch Gesetzgebung und nachfolgenden Praktiken der jeweiligen Regierungen in einem Maß geschwächt erscheint, das dass man tatsächlich besorgt die Frage stellen kann — oder sogar muss! –, ob die Demokratie in den USA überhaupt noch lebensfähig ist.
2) Bislang wurden als größte Bruchstellen des vierten Zusatzes zur US-Amerikanischen Verfassung jene Regelungen identifiziert, die die Einhaltung des Gesetzes auf handelnde Regierungsstellen beschränkt (was zum unkontrollierten Wachstum privater Dienstleister im Auftrag der Regierung geführt hat), sowie die Erlaubnis der Kontrolle auch von US-Amerikanern, sofern diese mit dem Feind kollaborieren. Damit verschiebt sich das Problem zu jenen Institutionen, die definieren, ‚wer‘ oder ‚was‘ ein ‚Feind‘ ist. Wenn nun die Geheimdienste selbst in Kooperation mit dem Präsidenten frei definieren können (was sie auch ausgiebig tun), wer oder was ein ‚Feind‘ ist, OHNE dass sie dies mit demokratisch gewählten Institutionen abstimmen müssen, und Geheimdienste und Präsident ihr Vorgehen als ‚geheime Verschlusssachen‘ beliebigen Grades deklarieren können, dann ist der vierte Zusatz in der gelebten Welt faktisch aufgehoben. Geheimdienste und Präsident können jederzeit JEDEN (auch jeden US-Amerikaner) nach Belieben zum Feind erklären und jenseits aller üblichen Rechtsregeln ‚behandeln‘.
3) Das Ganze wird noch zusätzlich dadurch verschärft, dass Geheimdienste und Militär über EIGENE Prozeduren verfügen, wie sie mit Angeklagten umgehen, die neben und UNABHÄNGIG von den NORMALEN Gerichten operieren (Der Fall Manning war dafür ein eindrucksvolles negatives Beispiel).

NICHT DIE BÜRGER, ABER DIE US-INSTITUTIONEN?
FEIND WIDER WILLEN?

4) Jetzt muss man klar trennen zwischen den US-Amerikanischen Bürgern und seinen staatlichen Einrichtungen. Betrachtet man nur die Regierung, die Geheimdienste und das Militär, dann muss man sagen, dass die bekannten Sachverhalte einen Eindruck generieren, der folgende Deutung nahelegt: wir haben es mit einem System zu tun, das sich jeder demokratischen Kontrolle entzogen hat, das für sein eigenes Handeln keinerlei bekannte Moral mehr berücksichtigt und sich das Recht nimmt, jeden jederzeit zum Feind erklären zu können (auch wenn die US-Amerikanischen Bürger dies vielleicht gar nicht so wollen würden) um die ‚Feinde‘ (die vielleicht gar keine sind, vielleicht gar keine Feinde sein wollen, oder es nicht einmal wissen, dass sie zu Feinden erklärt worden sind) mit allen denkbaren Mitteln zu verfolgen, zu foltern, und zu vernichten. Dass bei der Tötung eines einzigen erklärten Feindes oft Dutzende, manchmal hunderte andere Unschuldiger zu Tode kommen oder schwer verletzt werden, wird billigend in Kauf genommen (Stichwort: Drohnenkrieg). Das Gefühl für den Wert eines Menschen gibt es nicht mehr. Es gibt keine Institution dieser Welt außerhalb von Militär, Geheimdienste und Regierung, die von diesen als Kontrollinstanz anerkannt werden (nicht die UN und nicht der internationale Gerichtshof). Dies geht einher mit einer ungeheuren Menschenverachtung, die selbst vor ihren eigenen Mitgliedern nicht halt macht (z.B. all die Kriegsveteranen, die aus den Unrechtskriegen hervorgegangen sind, Soldaten, die schon im Einsatz mit menschenverachtenden Methoden in den Einsatz geschickt werden, oder auch die ‚Whistleblower‘, die lange Zeit geehrt wurden als besonders verantwortliche und mutige Menschen, aber mittlerweile (seit Obama!) wie Verbrecher behandelt werden).

GIBT ES NOCH ÖFFENTLICH WIRKSAME MEDIEN?

5) Angesichts dieser (vielfach dokumentierten) Fakten fragt man sich, was kommt als Nächstes? Was kann ein demokratischer Bürger angesichts dieser vollständig außer Kontrolle geratenen Maschinerie tun? Noch sind einige öffentlichen Medien in den USA intakt. Noch gibt es ansatzweise öffentliche kritische Stimmen. Allerdings gibt es nicht wenige Fernsehsender, Radiostationen und Zeitungen, die ganz bestimmten Interessengruppen so zugeordnet sind, dass sehr tendenziell berichtet wird. Dazu kommt das Vorrücken von Milliardären als Eigentümer von Traditionsblättern wie nun (siehe FAZ vom 7.Aug.2013) Jeff Bezos (Amazon) bei der Washington Post (bei der zuvor schon Warren Bufett Aktionär war), wie Chris Hughes (vormals facebook) bei der Zeitung ‚The New Republic‘, wie Carlos Slim (mexikanischer Milliardär) bei der New York Times, und wie John Henry beim Boston Globe. Nun muss dies nicht notwendigerweise etwas Schlechtes bedeuten. Jeder Eigentümer verkörpert Interessen, und jene, die finanziell unabhängig sind, könnten theoretisch mehr Unabhängigkeit ermöglichen, als andere. Aber es gibt auch keine Alternative: will man keine staatliche Presse, braucht es Bürger, die unternehmerisch-publizistisch aktiv werden. Das ist und bleibt ein Abenteuer. Demokratie muss immer wieder neu stattfinden, auch in den Medien. Kein Journalist ist ein guter Journalist, nur weil er sich so nennt (oder z.B. bei einem staatlichen deutschen Fernsehsender arbeitet…).

SORGEN REAL BEGRÜNDET

6) Die Sorge um den Zustand der Demokratie in den USA ist absolut real. Der massive Verlust demokratischer Kontrolle (zusammen mit einer kaum noch zu überbietenden Missachtung von moralischen Werten), beunruhigt selbst eingefleischte konservative Republikaner wie den Richter John Bates, der offiziell feststellen musste, dass die Regierung beim Ausspähen von US-amerikanischen Bürgern mehrfach die Gesetze übertreten hat und dies bis zum Schluss mehrfach geleugnet hatte (siehe z.B. den Beitrag von Ruth Marcus (22.Aug.2913), die sich auf ein Dokument des FISA-Gerichtes vom April 2011 stützt (ein Dokument, das erst aufgrund der öffentlichen Diskussion frei gegeben wurde!)). Vor diesem Hintergrund wirken die Äußerungen von Präsident Obama (23.Aug.2013 zu möglichen Maßnahmen einer verbesserten Kontrolle nicht wirklich beruhigend, da er nicht erkennen lässt, dass er die Tragweite des Problems erkannt hat. Auch die anderen Ankündigungen zu einem möglichen No-Spy Abkommen — so revolutionär sie an sich sein mögen und so sehr sie an sich begrüßenswert sind — bleiben an der Peripherie und berühren das Kernproblem in keiner Weise. Wenn man Obahama heute so hört, mag man gar nicht glauben, was er als Präsident 2009 kritisch und visionär zugleich zu den Aktivitäten der Geheimdienste und des Mlitärs gesagt hatte. Er wirkt heute nur noch wie ein Schattenmann der Geheimdienste, der jegliche eigene Werteposition verloren zu haben scheint. Unwillkürlich fragt man sich, ob er sich im Amt ‚geändert‘ hat oder ob er damals etwas vorgegaukelt hatte, was er nicht wirklich war? Wissen kann er das nur selbst.

SCHWEBEZUSTAND ZWISCHEN DEMOKRATIE UND DIKTATUR?

7) Die Frage ist, wie lange die US-Amerikanische Demokratie diesen Schwebezustand zwischen einer ‚institutionellen Diktatur‘ einerseits und noch intakten demokratischen Organen wie Kongress, Senat und Oberstem Gerichtshof andererseits aushalten wird. Die wachsende Diskussion zu einer möglichen Amtsenthebung des Präsidenten durch ‚Impeachement‘ (vgl. Verfassung der USA) passt zwar irgendwie in das Gesamtbild eines Präsidenten, der in seinen Taten den Geist der US-Amerikanischen Verfassung immer weniger erkennen lässt, doch der Kontext dieser Diskussion ist irritierender Weise weniger der weitgehende Kontrollverlust im Privaten, sondern eher andere gesellschaftspolitische Themen.

KEINE VERSCHWÖRUNSTHEORIEN, SONDERN SOZIOLOGIE UND PSYCHOLOGIE

8) Die — auch hier im Blog — geäußerte Kritik an den US-Amerikanischen Sicherheitsdiensten sollte man nicht als ‚Verschwörungstheorie‘ abtun (da kann sicher jeder seine wilden Geschichten erfinden, wie er will), sondern beziehen sich auf offizielle öffentliche Daten und Untersuchungen (siehe vorausgehende Blogeinträge). Und sie haben eher mit organisations-soziologischen und psychologischen Überlegungen zu tun. Sobald die Zahl der beteiligten Akteure in einem Prozess sowie die Komplexität der Kommunikationsakte eine gewisse Schranke (und die ist bei Menschen erwiesenermaßen ziemlich niedrig) überschreitet, ist diese Organisation nicht mehr verstehbar und nicht mehr kontrollierbar (auch nicht von ihren eigenen Mitgliedern). Hinzu kommt, dass die Mitglieder einer Organisation, wenn ihre persönliche Existenz von der Existenz dieser Organisation abhängt, wenig geneigt sind, Schwächen und Grenzen ihrer Organisation zu benennen. Dies alles trifft mehrfach auf das System der US-Amerikanischen Geheimdienste zu (wie u.a. die zwei-jährige Recherche der Washngton Post aufzeigte). Dazu kommt verschärfend die berufsspezifische Mentalität von Geheimdiensten und Militär: sie existieren, weil es die gesellschaftliche Annahme gibt, dass es da draußen ‚Feinde‘ gibt und ‚alles‘ getan werden muss, um diese ‚Feinde‘ zu kontrollieren oder zu ‚paralysieren‘ oder zu ‚vernichten‘. Alle Abläufe sind auf dieses Ziel ausgerichtet! Die gesamte Ausbildung, alle täglichen Abläufe, alle Vorschriften sind einzig darauf orientiert. Wer hier überleben will (oder gar Karriere machen will) muss lernen, optimiert zu denken. Mögliche Kritik oder gar Alternativen im Sinne eines radikal veränderten Feindbildes haben hier wenig Chancen. Dazu kommen die massiven monetären Interessen nicht nur der eigenen Mitglieder oder der eigenen Institution gegenüber dem Staat, sondern auch die massiven monetären Interessen der kooperierenden Firmen. Zweifel an ‚bestehenden Feindbildern‘ widersprechen sowohl der Grundlogik dieses Systems wie auch der grundlegenden finanziellen Bedürfnisse. Außerdem gibt es die üblichen Machtbedürfnisse und Eitelkeiten. [Anmerkung: Im Zusammenhang mit großen öffentlichen Protesten konnte ich mit einem hohen Beamten der Polizei sprechen. Persönlich war er sehr nett, wirkte kompetent und verantwortungsvoll. Angesprochen auf diese Proteste war für ihn aber von vornherein klar, dass diese Proteste ‚gesteuert‘ waren von extremen Gruppen; nicht einmal im Ansatz sah er hier die Protestierende als Bürger, die für demokratische Belange ihres Staates eintraten. Zufällig kannte ich mehrere Jugendliche, die sich bei diesen Protesten erstmalig beteiligt hatten, da sie sich von der allgemeinen Situation der Gesellschaft herausgefordert fühlten. Das wollte dieser persönlich nette hohe Polizeibeamte aber nicht akzeptieren. Psychologisch verständlich: sein Job ist schwer genug. Würde er jetzt auch noch real akzeptieren, dass er da nicht nur üble Protestierer vor sich hat, sondern reale Bürger mit realen Anliegen, es würde für ihn auf jeden Fall viel schwerer, damit umzugehen. Dies hat nichts mit ‚Moral‘ zu tun. Dies sind die primäen Überlebensreaktionen von Beteiligten. Und wir sollten uns eingestehen, dass es so ist.]

USA = RUSSLAND = CHINA = … ???

9) Dies sind, wie gesagt, allgemeine soziologische und psychologische Überlegungen. Sie gelten für US-Amerikanische Einrichtungen genauso wie für russische, chinesische, brasilianische oder welche auch immer. Der US-Amerikanische Geheimdienst unterscheidet sich vom Russischen oder Chinesischen nur darin, dass er sich zufällig in den USA befindet, und umgekehrt. Die einzelnen Mitgliedern mögen privat nette Familienmitglieder sein und kinderlieb (von den meisten Nazi-Größen wird dies auch berichtet), als Mitglieder ihrer Institutionen unterliegen sie aber Regeln und Normen, die sie nicht selbst bestimmen. Sie werden darauf gedrillt, jederzeit jeden zu töten, wenn nur der richtige ‚Befehl‘ vorliegt, und den kann im Prinzip jeder geben. Hitler und Stalin kann man im Nachhinein leicht kritisieren, aber zu erkennen, dass ein aktuelles System sich letztlich davon nicht notwendigerweise unterscheidet (und bei einem bestimmten ‚Design‘ sich auch nicht unterscheiden kann!), ist möglicherweise — zumindest für die unmittelbaren Akteure — nicht leicht bis sehr schwer faßbar. Und da die US-Amerikanischen Geheimdienste und das Militär anerkanntermaßen eine Größe, Komplexität und ein waffentechnisches Potential erreicht haben, was alles bis dahin Bekannte, sprengt, ist die Frage einer möglichen und effizienten demokratischen Kontrolle mit möglichst großer Beteiligung der Öffentlichkeit eine zentrale Frage des Fortbestandes einer US-Amerikanischen Demokratie.

OHNE EINHEIT ZERMALMEN SICH DIE GRUPPEN GEGENSEITIG

10) Eine zentrale Voraussetzung wäre eine lebendige Öffentlichkeit, die transparent ist, vital, informiert, in der aktive Politiker und Wähler einen realen Austausch führen. Die Bush-Administration galt in diesem Punkt als ein gewisser Tiefpunkt. Obama, der Rhetor, lässt hier bislang mehr Schwächen erkennen, als gut ist. Ein Öffentlichkeitsdefizit haben jedoch alle aktuellen demokratischen Staaten, mehr oder weniger. Es gehört zum historischen Prozess, dass sich die demokratischen Systeme immer wieder neu ‚beleben‘ und Erosionsprozessen entgegen wirken müssen. Alle Arten von ‚Klassen-‚ und ‚Kastenbildungen‘ sind hier im Ansatz kontraproduktiv und deutliche Anzeichen für ein Versagen einer gemeinsam geteilten Öffentlichkeit. Der ‚Rückzug‘ in seine ‚eigene Gruppe‘ ermöglicht nur zu Beginn Vorteile; im nächsten Schritt wird jede Gruppe gegen die andere kämpfen, und dann gibt es nichts mehr, worauf man sich gemeinsam beziehen kann. Das Ergebnis ist eine mehr und mehr unlebbare Gesellschaft, Chaos, Bürgerkrieg.

Eine Übersicht zu allen bisherigen Blogeinträgen nach Titeln findet sich HIER.

Ein Song zum Thema wurde hinzugefügt Democracy (entstanden auf einem Laptop in Campinas irgendwann nachts).