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Empirisch Wahr?

KONTEXT

Dieser Text ist Teil des Textes „Neustart der Menschlichkeit (Rebooting humanity)“

(Die Englische Version findet sich HIER)

Autor Nr. 1 (Gerd Doeben-Henisch)

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

Start: 30.Mai 2024

Letzte Änderung: 31.Mai 2024

Empirisch Wahr?

Hypothesen 2 – 4 …

Mit Hypothese 1 ergibt sich ein weiteres Paradox: Wenn die Struktur unseres menschlichen Körpers (mit seinem Gehirn) so ausgelegt ist, dass es keine direkte dauerhafte eins-zu-eins Abbildung der realen Körperwelt außerhalb des Gehirns in den inneren Zuständen des Körpers (mit Gehirn) gibt, wie können Menschen dann ‚empirisch wahre Aussagen‘ über etwas außerhalb des Körpers bzw. außerhalb des Gehirns sinnvoll bilden und nutzen?

Im Alltag können wir alle folgende Erfahrungen machen:

Wenn mindestens zwei Personen beteiligt sind und diese keine besonderen Einschränkungen aufweisen, dann können wir folgende Fälle unterscheiden:

  1. Fall 1: Es gibt ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften, das die beteiligten Personen sinnlich wahrnehmen können. Dann kann eine Person A sagen: „Da gibt es ein Objekt X mit Eigenschaften Y“. Und eine andere Person B kann sagen: „Ja, ich stimme zu“.
  2. Fall 2: Ein bestimmtes Objekt X mit Eigenschaften Y kann von den beteiligten Personen sinnlich nicht wahrnehmen werden. Dann kann eine Person A sagen: „Das Objekt X mit Eigenschaften Y ist nicht da“. Und eine andere Person B kann sagen: „Ja, ich stimme zu“.
  3. Fall 3: Es gibt ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften, das die beteiligten Personen sinnlich wahrnehmen können, das sie vorher noch nie gesehen haben. Dann kann eine Person A sagen: „Da gibt es ein Objekt mit Eigenschaften, das kenne ich noch nicht. Das ist für mich neu“. Und eine andere Person B kann dann sagen: „Ja, ich stimme zu“.
  4. Fall 4: Ein bestimmtes Objekt X mit Eigenschaften Y kann aktuell von den beteiligten Personen sinnlich nicht wahrgenommen werden, es war aber vorher da. Dann kann eine Person A sagen: „Das Objekt X mit Eigenschaften Y ist nicht mehr da“. Und eine andere Person B kann sagen: „Ja, ich stimme zu“.

Fall 1: Einführung von Hypothese 2

Der Fall 1 wird verständlich, wenn man annimmt, dass die sinnlichen Reize, die vom Objekt X mit den Eigenschaften Y in den Sinnesorganen zu Aktivierungen führen, eine sinnliche Wahrnehmung generieren, die für die Dauer der Präsenz von Objekt X bestehen kann.

Um diese temporäre Wahrnehmung als ein ‚Objekt der Art X mit Eigenschaften Y‘ identifizieren und klassifizieren zu können, müssen die beteiligten Personen über eine ‚Erinnerung‘ verfügen, die ein ‚abstraktes Objekt der Art X mit Eigenschaften Y‘ parat hält.

Die ‚realisierte Übereinstimmung‘ zwischen der Wahrnehmung von Objekt X mit der Erinnerung eines passenden abstrakten Objektes X ermöglicht dann die Entscheidung, dass es zum abstrakten Objekt X eine aktuelle Wahrnehmung gibt, deren ‚wahrgenommenen Eigenschaften‘ mit den ‚abstrakten Eigenschaften‘ ‚hinreichend übereinstimmen‘.

Wichtig: aus dieser im Gehirn stattfindenden Übereinstimmung zwischen einem wahrgenommenen Objekt und einem erinnerten Objekt X folgt nichts über die realen konkreten Umstände, die zur Wahrnehmung des Objekts geführt hat.[1]

Dieser Sachverhalt beschreibt das, was mit Hypothese 2 gemeint ist: Personen können ein wahrgenommenes Objekt als ein Objekt der Art X mit Eigenschaften Y erkennen, wenn sie über eine Erinnerung verfügen, die im Moment der aktuellen Wahrnehmung verfügbar ist.

Wichtig: Diese Hypothese 2 bezieht sich bislang auf das, was mit und in einer einzelnen Person passiert. Eine andere Person kann von diesen Vorgängen im Normalfall nichts wissen. Interne Prozesse in Personen sind — bislang — für andere nicht wahrnehmbar.[2]

[1] Moderne Simulationstechniken können für die meisten Menschen so ‚echt‘ sein, dass sie den ‚Unterschied‘ zur realen Welt allein aufgrund der sinnlichen Wahrnehmung nur noch schwer erkennen lassen, falls überhaupt. Dies wäre der Fall, dass eine sinnliche Wahrnehmung mit einem erinnerten abstrakten Objekt im Gehirn eine weitgehende Übereinstimmung aufweist, obgleich es kein ‚echtes‘ empirisches Objekt ist, das die Wahrnehmung auslöst. … Allerdings, der Computer, der die Simulation so ausführt, dass sie für einen Betrachter ‚täuschend echt‘ aussieht (oder die technische Schnittstelle, über die das Signal des Computers die Sensoren des Menschen erreicht) , ist natürlich weiter ein empirisches Objekt, das als Teil der Wahrnehmung signalisieren kann, dass das Gezeigte nicht real ist …

[2] Wenn mit modernen Messtechniken der Gehirnwissenschaften elektrische und chemische Eigenschaften und Aktivitäten sichtbar gemacht werden können, lässt sich aus diesen Aktivitäten aber — bislang — niemals direkt auf die darin verborgene Funktionalitäten schließen. Im analogen Fall, wenn man die elektrischen Aktivitäten der Chips in einem Computer misst (was geht und was man tut), dann kann man damit niemals auf die Algorithmen schließen, die aktuell ausgeführt werden, selbst wenn man diese Algorithmen kennt!

Fall 1: Einführung von Hypothese 3

Der Fall 1 umfasst ja auch noch den Aspekt, dass eine Person A einer anderen Person B etwas ’sprachlich mitteilt‘. Ohne diese sprachliche Mitteilung wüsste B nichts von dem, was in A vorgeht. Im Alltag nimmt eine Person gewöhnlich mehr als nur ein Objekt wahr, möglicherweise viele Objekte gleichzeitig. Zu wissen, dass eine Person gerade ein bestimmtes Objekt meint und nicht eines der vielen anderen Objekte ist daher nicht selbstverständlich.

In Fall 1 soll also gelten: Eine Person A sagt: „Da gibt es ein Objekt X mit Eigenschaften Y“. Und eine andere Person B sagt: „Ja, ich stimme zu“.

Wenn eine Person etwas ’sagt‘, was alle Beteiligten als ‚Elemente einer Sprache L‘ erkennen, dann sind diese Elemente der Sprache L ‚Laute‘, also Schallwellen, die einerseits von einem Sprechorgan (mit einem Mund) erzeugt und auf der anderen Seite von einem ‚Ohr‘ empfangen werden. Nennen wir das erzeugenden Organ einfach ‚Aktor‘ und das empfangende Organ weiterhin ‚Sensor‘, dann produziert eine Person bei sprachlicher Kommunikation mit einem Aktor also Laute und der Teilnehmer der Kommunikation empfängt über seinen Sensor diese Laute.

Es ist natürlich klar dass die gesprochenen bzw. dann auch gehörten Laute einer Sprache L direkt keinerlei Beziehung aufweisen zu den internen Prozessen der Wahrnehmung, des Erinnerns und des ‚Übereinstimmungsprozesses‘ von Wahrnehmung und Erinnerung. Man kann aber annehmen, dass es im Sprecher und Hörer ‚interne neuronale Prozesse‘ geben muss, die eine ‚Entsprechung‘ zu den generierten Lauten aufweisen müssen, da ansonsten der Aktor nicht in Aktion treten kann.[1] Im Fall des Sensors wurde ja schon zuvor darauf hingewiesen, wie Reize der Außenwelt zu Aktivierungen von Neuronen führen, über die ein neuronaler Signalfluss entsteht.

So wie allgemein angenommen wurde, dass es zu wahrgenommenen Objekten neuronale Signalflüsse und unterschiedliche abstrakte Strukturen von Objekten gibt, die ‚intern‘ gespeichert und weiter bearbeitet werden können, so kann und muss man Ähnliches für die neuronale Kodierung von gesprochen und gehörten Lauten annehmen. Sofern man im gesprochenen akustischen Lautmaterial einer Sprache Elemente sowie bestimmte Kombinationen von Elementen unterscheiden kann, so liegt es nahe, anzunehmen, dass sich diese äußerlich identifizierbaren Strukturen auch in der inneren neuronalen Realisierung wieder finden.

Der Kerngedanke von Hypothese 3 lässt sich dann so formulieren: Zu der akustisch wahrnehmbaren Struktur einer Sprache L gibt es eine neuronale Entsprechung, die überdies der ‚aktive‘ Teil ist beim Hervorbringen von gesprochener Sprache und beim ‚Übersetzen‘ von gesprochenen Lauten in die entsprechenden neuronalen Repräsentationen.

[1] Gerade das Sprachorgan des Menschen ist ein hoch komplexes System, bei dem viele Systeme zusammen wirken, die alle neuronal angesteuert und koordiniert werden müssen.

Fall 1: Einführung von Hypothese 4

Mit Hypothese 2 (Erinnerung, Vergleich von Wahrnehmung und Erinnerung) und Hypothese 3 (selbständiges Lautsystem einer Sprache) ergibt sich die nächste Hypothese 4, dass es zwischen dem Lautsystem einer Sprache L und den erinnerbaren Objekten samt aktueller Wahrnehmung irgendwie eine ‚Beziehung‘ geben muss (mathematisch: eine Abbildung), durch die ‚Laute‘ mit ‚Objekten (samt Eigenschaften)‘ und umgekehrt verbunden werden können.

Im Fall 1 gibt es von Person A die Wahrnehmung eines Objektes X mit Eigenschaften Y, dazu eine Erinnerung, die ‚hinreichend übereinstimmt‘, und Person A sagt: „Da gibt es ein Objekt X mit Eigenschaften Y“. Und eine andere Person B sagt: „Ja, ich stimme zu“.

Angesichts der Vielfalt der Welt, angesichts von ständigen Veränderungen und der Vielfalt möglicher Lautsysteme [1], sowie angesichts der Tatsache, dass Menschen massive Wachstumsprozesse durchlaufen vom Embryo bis zum sich immer weiter entwickelten Menschen, ist auszuschließen, dass mögliche Beziehungen zwischen Sprachlauten und wahrgenommene und erinnerten Objekten ‚angeboren‘ sind.

Dies impliziert, dass diese Beziehung (Abbildung) zwischen Sprachlauten und wahrgenommenen und erinnerbaren Objekten sich ‚im Laufe der Zeit‘ erst herausbilden muss, was oft als ‚Lernen‘ bezeichnet wird. Ohne bestimmte Vorgaben kann Lernen sehr langsam verlaufen, bei verfügbaren Vorgaben deutlich schneller. Im Fall von Sprachlernen wächst ein Mensch normalerweise in der Gegenwart anderer Menschen auf, die in der Regel schon eine Sprache praktizieren, die für heranwachsende Menschen als Bezugssystem dienen kann.

Sprache lernen ist jedenfalls ein langwieriger Prozess, der neben der individuellen Aneignung immer auch die inter-individuelle Abstimmung zwischen all denen mit einschließt, die eine bestimmte Sprache L gemeinsam praktizieren.

Im Ergebnis führt das Erlernen einer Sprache dazu, dass nicht nur die ‚Struktur des Lautsystems‘ gelernt wird, sondern auch die Zuordnung von Elementen des Lautsystems zu Elementen der Wahrnehmungs-Erinnerungs Struktur.[2]

Im Fall 1 muss also Person A wissen, welche Lautstruktur in der Anwendungsgruppe für Sprache L für ein Objekt X mit Eigenschaften Y benutzt wird, und ebenso Person B. Falls A und B über das gleiche ‚Beziehungswissen‘ von Lauten zu Objekten und umgekehrt verfügen, kann Person B die sprachliche Äußerung von A „Da gibt es ein Objekt X mit Eigenschaften Y“ ‚verstehen‘, weil er zugleich auch eine Wahrnehmung von diesem Objekt hat und er ein Objekt X erinnert, das für ihn mit dem wahrgenommenen Objekt hinreichend übereinstimmt und er B diesen Sachverhalt genauso benennen würde wie A es getan hat. Dann kann Person B sagen: „Ja, ich stimme zu“.

[1] Man beachte nur die vielen tausend Sprachen, die es immer noch auf dem Planeten Erde gibt, wobei unterschiedliche Sprachen in der gleichen Lebenswelt benutzt werden können. Die gleichen ‚Wahrnehmungsobjekte‘ können auf diese Weise — je nach Sprache — anders benannt werden.

[2] Die Erforschung dieser Sachverhalte hat zwar schon eine lange Geschichte mit sehr, sehr vielen Publikationen, aber eine allgemein akzeptierte einheitliche Theorie dazu gibt es noch nicht.

–!! Noch nicht fertig !!–

ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Teil 11 – Sprache und Höheres Bewusstsein

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 4.Dez. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

BISHER

Für die bisherige Diskussion siehe die kumulierte Zusammenfassung HIER.

KURZFASSUNG

In direkter Fortsetzung zum vorausgehenden Kapitel über das ‚primäre Bewusstsein‘ führt Edelman in diesem Kapitel jene Bewusstseinsformen ein, die ‚höher‘ sind, da ‚komplexer‘, und die auf dem primären Bewusstsein aufbauen. Zugleich deutet er an, wie sich die Entstehung dieser komplexen Bewusstseinsformen im Rahmen seiner Gehirntheorie erklären lässt (Rückverweis auf Kap.6).

KAP.12 Sprache und Höheres Bewusstsein

  1. Im vorausgehenden Kapitel wurde das ‚primäre Bewusstsein‘ beschrieben, das in der ‚unmittelbaren (sinnlichen) Wahrnehmung‘ fundiert ist, angereichert mit ‚Kommentaren‘ aus dem ‚Inneren‘ des Systems bestehend aus ‚Bedürfnissen‘ einerseits und ‚Erinnerungen‘ andererseits. (vgl. S.124)

  2. Obgleich wir Menschen über ein solches primäres Bewusstsein verfügen, ist festzustellen, dass wir Menschen gleichzeitig über ‚mehr‘ verfügen: wir sind nicht nur fundiert in einer primären kommentierten Wahrnehmung des ‚Jetzt‘, der ‚Gegenwart‘, wir verfügen zugleich auch über die Möglichkeit, die ‚Gegenwart‘ explizit in Beziehung zu setzen zur ‚Erinnerung vorausgehender Gegenwarten‘. Diese Erinnerungen sind aber nicht nur strukturiert durch ‚perzeptuelle Kategorien (angereichert mit ‚Werten‘)‘, sondern auch durch ‚konzeptuelle Kategorien‘, die das ‚höhere Bewusstsein‘ mit Blick ‚auf das primäre Bewusstsein und seinen Kontext‘ ausbilden kann. Neben den schon erwähnten Vergleichen von aktueller Gegenwart und erinnerter (kommentierter) Gegenwart können die Qualia als solche adressiert werden, ihre Eigenschaften, ihre zeitlichen-räumlichen Beziehungen, wie auch eine Kodierung von Qualia mit sprachlichen Elementen (auch Qualia) in Form eines ’symbolischen Gedächtnisses‘: sprachliche Zeichen werden assoziiert mit ihrer ‚Bedeutung‘ in Gestalt von Strukturen von Qualia. Ferner sind diese ‚höheren‘ mentalen Leistungen neuronal über Schleifen mit den primären Schaltkreisen so verknüpft, dass damit die primären Prozesse durch die höheren Prozesse ‚kommentiert‘ werden können. Das primäre Bewusstsein ist dadurch ‚eingebettet‘ in das höhere Bewusstsein, ist damit genuiner Teil von ihm. (vgl. S.124f)

  3. Edelman merkt fragend an, ob es der Versuch der Befreiung von all diesen ‚Kommentierungen‘ vielleicht   ist, was manche ‚Mystiker‘ gemeint haben, wenn sie – auf unterschiedliche Weise – von einem ‚reinen Bewusstsein‘ sprechen. (vgl. S.124)

  4. Während also das ‚primäre‘ Bewusstsein in seiner Prozesshaftigkeit leicht ‚diktatorisch‘ wirken kann, eine einfach stattfindende Maschinerie des primären Klassifizierens von dem, was ’stattfindet‘, ist es aber gerade die Einbettung in das ‚höhere‘ Bewusstsein mit der Möglichkeit der sprachlichen Kodierung, einem Prozess-Determinismus ansatzweise zu entkommen, indem aus dem Strom der Ereignisse unterschiedliche Aspekte (Qualia und deren Beziehungen) ’selektiert‘ und ’sprachlich kodiert‘ werden können. Damit entstehen sekundäre (semantische) Strukturen, die ansatzweise eine ‚eigene‘ Sicht des Systems ermöglichen. Die Unterscheidung zwischen ’sich‘ (’self‘) und ’nicht-sich‘ (’non-self‘) wird möglich. Im Unterschied zu ‚dem Anderen‘ (dem ‚Nicht-Selbst‘) wird ‚das Eigene‘, ein ‚Selbst‘ möglich, das sich über die vielen unterscheidenden Eigenschaften ‚definiert“. (vgl. S.125)

  5. Edelman merkt an, dass die Schimpansen im Vergleich zum homo sapiens zwar offensichtlich auch über das Phänomen eines ‚Selbstbewusstseins‘ verfügen, nicht aber über die flexible Sprachfähigkeit. Damit bleiben sie ‚mental eingesperrt‘ in die vordefinierte Phänomenwelt ihres primären und leicht sekundären Bewusstseins. Sie sind aber nicht in der Lage, die stattfindenden Erlebnisstrukturen zu überwinden. (vgl. S.125)

GESPROCHENE SPRACHE: EPIGENETISCH

  1. Im Folgenden konzentriert sich Edelman auf zwei Aspekte: (i) die Entwicklung jener physiologischen Strukturen, die ein ‚Sprechen‘ wie beim homo sapiens erlauben samt den dazu gehörigen Gehirnstrukturen, (ii) die davon unabhängige Entwicklung von ‚konzeptuellen Strukturen (Kategorien)‘, in denen sich Aspekte des Wahrnehmens, Erinnerns und Bewertens zu Strukturen verdichten können, die dann als ‚Bausteine einer mentalen Welt‘ genutzt werden können. (vgl. S.125f)

  2. Mit Blick auf die  Diskussionen im Umfeld von Chomskys Überlegungen zum Spracherwerb deutet Edelman an, dass es nicht ein einzelner Mechanismus gewesen sein kann, der aus sich heraus die ganze Sprachfähigkeit ermöglicht hat, sondern das ‚Ausdrucksmittel‘ Sprache musste mit seinem ganzen symbolischen Apparat im Körper und im Gehirn ‚eingebettet‘ werden, um in direkter ‚Nachbarschaft‘ zu den informationellen Prozessen des primären und des sekundären Bewusstseins an jene ‚Bedeutungsstrukturen‘ andocken zu können, die dann im symbolischen Gedächtnis so kodiert werden, dass ein Gehirn mit seinen sprachlichen Ausdrücken auf solche Bedeutungsstrukturen Bezug nehmen kann. Im Englischen wird diese ‚Einbettung der Sprache in den Körper‘ ‚embodiment‘ genannt. Im Deutschen gibt es kein direktes begriffliches Äquivalent. ‚Einkörperung‘ der Sprache klingt etwas schräg. (vgl. S.126)

  3. Edelman geht davon aus, dass die grundlegende Fähigkeit zu konzeptueller Kategorienbildung der Ausbildung der Sprachfähigkeit voraus ging, da die Sprachfähigkeit selbst genau diese neuronalen Mechanismen benutzt, um Phoneme (Qualia!) bilden zu können, deren Assoziierung zu komplexen Ausdrücken, und dann deren weitere In-Beziehung-Setzung (oder ‚Assoziierung‘) zu nicht-sprachlichen Einheiten.(vgl. S.126)

  4. [Anmerkung: aufgrund dieses Sachverhalts läge es nahe, die Begriffe ‚primäres‚ und ‚höheres‚ Bewusstsein um einen dritten Begriff zu ergänzen: ‚sekundäres‚ Bewusstsein. Das ‚sekundäre‚ Bewusstsein geht über das primäre Bewusstsein durch seine Fähigkeit zur Bildung von komplexen konzeptuellen Kategorien hinaus. Insofern sich auf der Basis des sekundären Bewusstseins dann z.B. die Fähigkeit zur freien symbolischen Kodierung (vergleichbar der Bildung von DNA-Strukturen in Zellen) im Gehirn herausgebildet hat, erweitert sich das sekundäre Bewusstsein zum ‚höheren (= sprachlichen)‘ Bewusstsein.]

  5. ‚Sprache‘ war und ist primär ‚gesprochene Sprache‘ (’speech‘). Damit dies möglich wurde, mussten erhebliche anatomische Änderungen am Körperbau stattfinden, die zudem im Vollzug im Millisekundenbereich (!) aufeinander abgestimmt sein müssen: die Lungen zur Erzeugung eines hinreichenden Luftstroms in Abstimmung mit der Speiseröhre, die Stimmbänder, der Mund- und Rachenraum als Resonatoren und Filter, dazu die Zunge, die Zähne und die Lippen als Modifikatoren des Klangs; dies alles muss zusammenwirken, um das hervor bringen zu können, was wir die Ausdrucksseite der (gesprochenen) Sprache nennen. Entsprechend muss es Zentren im Gehirn geben, die das ‚Hören von Sprache, das ‚Artikulieren‘ von Sprache sowie ihre ’semantische Kodierung‘ ermöglichen, wobei die semantische Kodierung in den Kontext eines umfassenden komplexen kognitiven Prozesses eingebettet sein muss. (vgl. S.126f)

  6. Bei der Ausbildung der ‚Synchronisierung‘ von sprachlichen Ausdrücken mit den diversen Bedeutungsanteilen vermutet Edelman, dass am Anfang die Parallelisierung von ‚Objekten‘ und ‚Gegenstandswörtern‘ (’nouns‘) stand. Danach die Parallelisierung von ‚Veränderungen, Handlungen‘ mit ‚Verben‘. Dann folgten weitere Verfeinerungen der ‚Syntax‘ parallel zu entsprechenden Situationen. (vgl. S.127)

  7. Generell nimmt Edelman also an, dass die primären Mechanismen der Konzeptualisierungen und der zugehörigen anatomischen Ausprägungen ‚genetisch‘ induziert sind, dass aber die Ausbildung von bestimmten symbolischen Strukturen und deren Zuordnung zu möglichen Bedeutungsmustern ‚epigenetisch“ zustande kommt.(vgl. SS.127-131)

  8. Aufgrund der durchgängig rekursiven Struktur der neuronalen Strukturen können alle phonologischen und semantischen Konzepte und deren mögliche Assoziationen wiederum zum Gegenstand von Kategorisierungen einer höheren Ebene werden, so dass es eben Phoneme, Phonemsequenzen, Wörter, Satzstrukturen und beliebig weitere komplexe Ausdrucksstrukturen geben kann, denen entsprechend semantische Strukturen unterschiedlicher Komplexität zugeordnet werden können. Aufgrund einer sich beständig ändernden Welt würde es keinen Sinn machen, diese Kodierungen genetisch zu fixieren. Ihr praktischer Nutzen liegt gerade in ihrer Anpassungsfähigkeit an beliebige Ereignisräume. Ferner ist zu beobachten, dass solche Sequenzen und Kodierungen, die sich mal herausgebildet haben und die häufiger Verwendung finden, ‚automatisiert‘ werden können. (vgl. S.130)

  9. Nochmals weist Edelman auf die Schimpansen hin, die zwar ein primäres und sekundäres Bewusstsein zu haben scheinen (inklusive einem ‚Selbst‘-Konzept), aber eben kein Sprachsystem, das flexible komplexe Kategorisierungen mit einer entsprechenden Syntax erlaubt.(vgl. S.130)

  10. Auch ist es offensichtlich, dass das Erlernen von Sprache bei Kindern aufgrund der parallelen Gehirnentwicklung anders, einfacher, nachhaltiger verläuft als bei Erwachsenen, deren Gehirne weitgehend ‚gefestigt‘ sind. (vgl. S.130f)

  11. Während die gesprochene Sprache evolutionär (und heute noch ontogenetisch) die primäre Form der Sprachlichkeit war, können bei Vorliegen einer grundlegenden Sprachfähigkeit die auch andere Ausdrucksmittel (Gesten, Schrift, Bilder, …) benutzt werden. (vgl. S.130)

HÖHERES BEWUSSTSEIN

  1. Nach all diesen Vorüberlegungen soll die Frage beantwortet werden, wie es möglich ist, dass uns  ‚bewusst‘ ist, dass wir ‚Bewusstsein haben‘?(vgl. S.131)

  2. Generell sieht Edelman die Antwort gegeben in dem Fakt, dass wir die erlebbare ‚Gegenwart‘ (the ‚immediate present‘) in Beziehung setzen können zu ‚Erinnerungen (von vorausgehenden Gegenwarten)‘, eingebettet in eine Vielzahl von komplexen Wahrnehmungen als Konzeptualisierungen auf unterschiedlichen ‚Reflexionsstufen‘, vielfach assoziiert mit sprachlichen Ausdrücken. Das ‚Selbst‘ erscheint in diesem Kontext als ein identifizierbares Konstrukt in Relation zu Anderem, dadurch ein ’soziales Selbst‘. (vgl. S.131)

  3. Ein Teil dieser Konzeptualisierungen hat auch zu tun mit der Assoziierung mit sowohl ‚innersystemischen‘ ‚Kommentaren‘ in Form von Emotionen, Stimmungen, Bedürfnisbefriedigungen usw. generalisiert unter dem Begriff ‚innere Werte‚, ein Teil hat zu tun mit der Assoziierung von Interaktionen mit seiner Umgebung, speziell Personen, von denen auch ‚externe Werte‚ resultieren können.(vgl. S.131f)

  4. Alle diese Konzeptualisierungen inklusive deren ‚Konnotation mit Werten‘ benötigen eine ‚Langzeit-Speicherung‘ (‚long-term storage‘), um ihre nachhaltige Wirkung entfalten zu können. (vgl. S.132)

  5. Ein zentrales Element in diesem höheren Bewusstsein ist die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen der aktuell stattfindenden perzeptuellen Wahrnehmung (‚Gegenwart‘) und der konzeptuell vermittelten ‚Erinnerung‘, die es erlaubt, über die ‚Gegenwart‘, die ‚Vergangenheit‘ und eine ‚mögliche Zukunft‘ ’nachzudenken‘. (vgl. S.133)

  6. Die Konkretheit der aktuellen perzeptuellen Wahrnehmung wird durch die konzeptuell aufbereitete erinnerbare Vergangenheit quasi ‚kommentiert‚, in mögliche Beziehungen eingebettet, die als solche dadurch weitgehend ‚bewertet‚ sind.(vgl. S.133)

  7. Aufgrund der stattfindenden komplexen Prozesse, die dem Gehirn ‚bewusst‘ sind, gibt es so etwas wie ein ‚inneres Leben‚, das aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungskontexte, der unterschiedlichen Lerngeschichten hochgradig ‚individuell‚ ist.(vgl. S.133)

  8. Paläontologische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass die Entwicklung zu solch einem höheren Bewusstsein, wie es sich beim homo sapiens findet, in extrem kurzer Zeit stattgefunden haben müssen. Man geht davon aus, dass die Entstehung eines höheren Bewusstseins zusammenfällt mit der Entstehung des homo sapiens. (vgl. S.133)

  9. Edelman verweist auf sein Kap.6 um zu sagen, dass die bislang verstandenen Mechanismen des Gehirnwachstums es plausibel erscheinen lassen, dass sich diese Strukturen ausbilden konnten. (vgl. S.133)

  10. Edelman stellt dann wieder die Frage nach dem evolutionären ‚Nutzen/ Vorteil‘ der Ausbildung von solchen Bewusstseinsphänomenen.(vgl. S.133)

  11. Für den Fall des primären Bewusstseins sieht er den Vorteil darin, dass schon auf dieser Stufe die Möglichkeit besteht, aus der Vielfalt der Phänomene (realisiert als Qualia) durch die parallel stattfindende ‚Kommentierung‘ der Erlebnisse durch das ‚innere System‘ (sowohl durch die automatisch stattfindende ‚Speicherung‘ wie auch die automatisch stattfindende ‚Erinnerung‘) es möglich ist, jene Aspekte zu ’selektieren/ präferieren‘, die für das System ‚günstiger erscheinen‘. Dies verschafft eine mögliche Verbesserung im Überleben. (vgl. S.133)

  12. Für den Fall des höheren Bewusstseins erweitern sich die Möglichkeiten der ‚In-Beziehung-Setzung‘ zu einer sehr großen Anzahl von unterschiedlichen Aspekten, einschließlich komplexer Modellbildungen, Prognosen, Tests, und die Einbeziehung sozialer Beziehungen und deren ‚Wertsetzungen‘ in die Bewertung und Entscheidung. Ein kurzer Blick in den Gang der Evolution, insbesondere in die Geschichte der Menschheit, zeigt, wie die Komplexität dieser Geschichte in den letzten Jahrzehntausenden gleichsam explodiert ist, [Anmerkung: mit einer exponentiellen Beschleunigung!]. (vgl. S.133-135)

  13. Speziell weist Edelman auch nochmals hin auf das Zusammenspiel von Qualia und Sprache. Während Qualia als solche schon Abstraktionen von perzeptuellen Konkretheiten darstellen sollen, kann ein System im Wechselspiel von Qualia und Sprache ‚Verfeinerungen‘ sowohl in der Wahrnehmung‘ als auch in er ‚Verwendung‘ von Qualia ermöglichen. Gewissermaßen zeigt sich hier die Sprache als eine Art ‚Echoprinzip‘, das Qualia ‚fixiert‘, sie dadurch speziell erinnerbar macht, und einer Verfeinerung ermöglicht, die ohne die sprachliche Kodierung entweder gar nicht erst stattfindet oder aber als ‚flüchtiges Phänomen‘ wieder untergeht. (vgl. S.136)

  14. In den inneren Prozessen des höheren Bewusstseins zeigt sich eine Fähigkeit zum Vorstellen, zum Denken, die durch die impliziten Kategorisierungen und Verallgemeinerungen weit über das ‚Konkrete‘ des primären Bewusstseins hinaus reichen kann. Hierin liegt eine verändernde, kreative Kraft, Fantasie und Mystik. Ob diese zur ‚Verbesserung‘ des Lebens führt oder ‚in die Irre‘, dies lässt sich nicht ‚im Moment‘ erkennen, nur im Nacheinander und in der praktischen ‚Bewährung‘. (vgl. S.136)

DISKUSSION

Zusammenfassend für Kap. 11+12 im nachfolgenden Blogeintrag.

QUELLEN

  • Keine Besonderen

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