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Schmerz ersetzt nicht die Wahrheit …

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Email: gerd@doeben-henisch.de

Entstehungszeit: 18.Okt 2023 – 24.Okt 2023

KONTEXT

Der Terrorakt der Hamas auf israelische Bürger am 7.Oktober 2023 erschüttert die Welt. Seit Jahren erschüttern Terrorakte unsere Welt. Unter unseren Augen versucht ein Staat seit 2022 (eigentlich schon ab 2014), das ganze ukrainische Volk auf brutalste Weise auszuradieren. In vielen anderen Regionen dieser Welt findet und fand Ähnliches statt …

… Schmerz ersetzt nicht die Wahrheit [0]…

Wahrheit ist kein Automatismus. Wahrheit verfügbar zu machen erfordert erheblich mehr Anstrengung, als im Zustand partieller Wahrheit zu verweilen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch die Wahrheit kennt bzw. sich um die Wahrheit bemüht ist kleiner als das Verharren in einem Zustand der partiellen Wahrheit oder der direkten Unwahrheit.

Ob in einer Demokratie mehrheitlich die Unwahrheit vorherrscht oder eben die Wahrheit, hängt davon ab, wie eine Demokratie den Prozess der Wahrheitsfindung und der Kommunikation von Wahrheit gestaltet. Einen Automatismus zur Wahrheit gibt es nicht.

In einer Diktatur ist die Wahrscheinlichkeit für eine Verfügbarkeit von Wahrheit extrem abhängig von jenen, die die Macht zentral ausüben. Absolute Macht hat aber schon im Kern mit der Wahrheit gebrochen (was nicht ausschließt, dass diese Macht erhebliche Wirkungen entfalten kann).

Der Gang der bisherigen Geschichte des Menschen auf dem Planet Erde zeigt, dass es offensichtlich keinen einfachen schnellen Weg gibt, der alle Menschen gleichermaßen in einen glücklichen Zustand überführt. Dies muss mit dem Menschen selbst — mit uns — zu tun haben.

Das Interesse an Wahrheitsfindung, an Kultivierung von Wahrheit, an einem gemeinsamen Prozess in Wahrheit, war bislang aber niemals stark genug, um die alltäglichen Abgrenzungen, Unwahrheiten, Verfeindungen, Greueltaten … zu überwinden.

Der eigene Schmerz ist furchtbar, aber er hilft uns nicht weiter …

Wer will überhaupt eine Zukunft für uns alle?????

[0] Es gibt einen Überblicksartikel vom Autor aus dem Jahr 2018, in dem er 15 größere Texte aus dem Blog ‚Philosophie Jetzt‘ vorstellt ( „INFORMELLE KOSMOLOGIE. Teil 3a. Evolution – Wahrheit – Gesellschaft. Synopse der bisherigen Beiträge zur Wahrheit in diesem Blog“ ( https://www.cognitiveagent.org/2018/03/20/informelle-kosmologie-teil-3a-evolution-wahrheit-gesellschaft-synopse-der-bisherigen-beitraege-zur-wahrheit-in-diesem-blog/ )), in denen die Sache mit der Wahrheit aus vielen Gesichtspunkten betrachtet wird. In den 5 Jahren danach hat sich der gesellschaftliche Umgang mit der Wahrheit dramatisch weiter verschlechtert.

Hass hebt Wahrheit auf …

Wahrheit hat mit Wissen zu tun. Wissen ist bei Menschen aber den Emotionen untergeordnet. Was immer wir wissen oder wissen wollen, wenn unsere Emotionen dagegen sind, werden wir das Wissen einklammern.

Eine Form von Emotion ist der Hass. Die zerstörerische Wirkung von Hass begleitet die Geschichte der Menschheit wie ein Schatten und er hinterlässt überall eine Spur der Verwüstung: im Hassenden selbst, und in seiner Umgebung.

Das Ereignis des unmenschlichen Überfalls am 7.Oktober 2023 in Israel, von der Hamas für sich in Anspruch genommen, ist ohne Hass nicht denkbar.

Verfolgt man die Geschichte der Hamas seit ihrer Gründung 1987 [1,2], dann kann man sehen, dass der Hass schon als ein wesentliches Moment in der Gründung grundgelegt ist. Zu diesem Hass gesellt sich das Moment einer religiösen Deutung, die sich islamisch nennt, die aber eine spezielle, sehr radikalisierte und zugleich fundamentalistische Form des Islams repräsentiert.

Die Geschichte des Staates Israel ist komplex, nicht minder die Geschichte des Judentums. Und dass das heutige Judentum auch starke Anteile enthält, die eindeutig fundamentalistisch sind und denen Hass nicht fremd ist, dies führt innerhalb vieler anderer Faktoren im Kern auch zu einer Konstellation von fundamentalistischen Gegensätzen auf beiden Seiten, die aus sich heraus keine Lösungsansätze erkennen lassen. Die vielen anderen Menschen in Israel und Palästina ‚drumherum‘ sind Teil dieser ‚fundamentalistischen Kraftfelder‘, die Menschlichkeit und Wahrheit in ihrer Nähe schlicht verdunsten lassen. An der Spur des Blutes kann man diese Wirklichkeit erkennen.

Sowohl das Judentum wie auch der Islam haben wunderbare Dinge hervorgebracht, aber was bedeutet all dies angesichts eines brennenden Hasses, der alles beiseite schiebt, der nur sich selbst sieht.

[1] Jeffrey Herf, Sie machen den Hass zum Weltbild, FAZ 20.Okt. 23, S.11 (Abriss der Geschichte der Hamas und ihr Weltbild, als Teil der größeren Geschichte)

[2] Joachim Krause, Die Quellen des Arabischen Antisemitismus, FAZ, 23.10.2023,S.8 (Dieser Text ergänzt die Darstellung von Jeffrey Herf. Nach Krause wurde der arabische Antisemitismus seit den 1920iger/ 30iger Jahren über die 1928 gegründete Muslimbrüderschaft weit in die arabische Welt hineingetragen.)

Zerbrechende Gesellschaft

Wenn die Wahrheit schwindet, der Hass wächst (und damit indirekt auch das Vertrauen verdunstet), dann befindet sich eine Gesellschaft im freien Fall. Dagegen gibt es kein Mittel; Waffeneinsatz kann es nicht heilen, nur verschlimmern.

Allein die Tatsache, dass wir glauben, man könnte mangelnde Wahrheit, schwindendes Vertrauen, vor allem aber manifesten Hass nur durch Gewalt ausrotten, zeigt, wie ernst wir diese Phänomene nehmen und zugleich, wie hilflos wir uns diesen Haltungen gegenüber erleben.

In einer Welt, deren Fortbestand an die Verfügbarkeit von Wahrheit und Vertrauen geknüpft ist, ist es ein schrilles Alarmzeichen zu sehen, wie schwer wir uns als Menschen im Umgang mit fehlender Wahrheit und Hass tun.

Ist Hass unheilbar?

Wenn man sieht, wie zäh sich Hass in der Menschheit hält, wir unfassbar grausam ein Handeln sein kann, was von Hass angetrieben wird, und wie hilflos wir Menschen im Angesichts von Hass wirken, dann muss man vielleicht die Frage stellen, ob Hass letztlich nicht eine Art Krankheit ist, eine, die den Hassenden selbst und — ganz besonders — den Gehassten mit schweren Schäden, letztlich mit dem Tod bedroht?

Bei normalen Krankheiten haben wir gelernt, nach Heilmitteln zu suchen , die von der Krankheit befreien können. Wie ist es aber bei einer Krankheit Hass? Was hilft hier? Hilft hier irgendetwas? Müssen wir Menschen, die von Hass befallen sind, wie zu früheren Zeit bei Menschen mit tödlichen Krankheiten (die Pest!) , hassende Menschen ausgrenzen, wegsperren, in ein Niemandsland verschicken? … aber jeder weiß, dass dies nicht geht… Was aber geht? Was hilft gegen Hass?

Nach ca. 300.000 Jahren Homo sapiens auf diesem Planeten wirken wir seltsam hilflos im Angesicht der Krankheit Hass.

Das Schlimme ist, dass es andere Menschen gibt, die in jedem hassenden Menschen ein mögliches Werkzeug sehen, diesen Hass mit geeigneter Manipulation auf Ziele umzufunktionieren, die der Manipulator gerne geschädigt oder gar zerstört sehen will. Dadurch verschwindet der Hass nicht; im Gegenteil, er fühlt sich bestätigt und neues Unrecht schürt die Entstehung von neuem Hass … die Krankheit breitet sich weiter aus.

Eines der größten Ereignisse im gesamten bekannten Universum, die Entstehung des geheimnisvollen Lebens auf diesem Planet Erde, hat einen wunden Punkt, an dem dieses Leben so seltsam schwach und hilflos wirkt. Die Menschen haben im Lauf der bisherigen Geschichte gezeigt, dass sie zu Taten fähig sind, die viele Generationen überdauern, die vielen Menschen mehr Leben ermöglichen, die …. aber angesichts von Hass seltsam hilflos wirken … und der Hassende ist sich selbst genommen, unfähig zu allem anderen … im freien Fall in sein dunkles Inneres …

Statt Hass brauchen wir (minimal, skizzenhaft):

  • Wasser, damit Menschen leben können. Dazu eine Infrastruktur, die Wasser bereit stellt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Infrastruktur kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Nahrung, damit Menschen leben können. Dazu eine Infrastruktur, die diese Nahrung herstellt, lagert, aufbereitet, transportiert, verteilt, und die Nahrung bereit stellt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Infrastruktur kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • einen Wohnbereich, damit Menschen leben können. Dazu eine Infrastruktur, die diesen Wohnbereich herstellt, bereit stellt, erhält, und verteilt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Bereitstellung kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Energie, gegen Kälte, gegen Hitze, für alltägliche Abläufe, um Leben zu können. Dazu eine Infrastruktur, die diese Energie herstellt, bereit stellt, erhält, und verteilt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Bereitstellung kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Die Berechtigung und die Teilhabe, Wasser, Nahrung, Wohnen und Energie bekommen zu können. Dazu eine Infrastruktur an Vereinbarungen, damit dies alles möglich ist. Dazu andere Menschen, die sich um diese Vereinbarungen kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Ausbildung, um in der Lage zu sein, Aufgaben im realen Leben übernehmen und erfolgreich ausführen zu können. Dazu braucht es andere Menschen, die genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Ausbildung anbieten und durchführen zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Medizinische Versorgung, um bei vielen Verletzungen, Unfällen, Krankheiten helfen zu können. Dazu braucht es andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche medizinische Versorgung anbieten und durchführen zu können; dazu auch die notwendigen Einrichtungen und Ausrüstungen. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Kommunikationseinrichtungen, damit jeder jederzeit die hilfreichen Informationen bekommen kann, die er braucht, um sich in seiner Welt sachgemäß orientieren zu können: Wann, wer, wo, wie, was …. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Informationen anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Transporteinrichtungen, damit Menschen und Sachen an die Orte kommen können, zu denen sie hin müssen. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Infrastrukturen anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Entscheidungsstrukturen, die die vielfältigen Bedürfnisse und notwendigen Leistungen so vermitteln, dass möglichst alle all das zur Verfügung haben, was sie für ihr alltägliches Leben benötigen. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Infrastrukturen anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Ordnungskräfte, die dafür Sorge tragen, dass Störungen und Verletzungen jener Infrastrukturen, die für das alltägliche Leben notwendig sind, behoben werden, ohne dass neue Störungen entstehen. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • ausreichend Land, um für all diese Anforderungen genügend Raum zur Verfügung stellen können, dazu geeignete Böden (Wasser, Nahrung, Wohnen, Transport, Lagerung, Produktion, …)
  • ein geeignetes Klima
  • ein funktionierendes Ökosystem
  • eine leistungsfähige Wissenschaft, welche die Welt erkundet, um zu wissen, was geht, was nicht geht, was auf uns zukommt, …. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • eine geeignete Technologie, um alle die Aufgaben erfolgreich durchführen zu können, die im Alltag und für die Wissenschaft benötigt werden. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • ein Wissen in den Köpfen der Menschen, das dazu geeignet ist, das Geschehen im Alltag hinreichend gut verstehen zu können, so dass sie verantwortungsvoll mitdenken, sich selbständig orientieren und entscheiden zu können. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Zielvorstellungen (Präferenzen, Werte, …) in den Köpfen der Menschen, welche dazu geeignet sind, im Geschehen des Alltags hinreichend gut Entscheidungen fällen zu können. Dazu braucht es im alltäglichen Leben eine gegenseitige Hilfestellung von Allen, damit die junge Generation sich mit diesen Zielen vertraut machen und selbständig überprüfen kann, um nach und nach aus eigener Kraft diese Ziele anwenden kann.
  • hinreichend viel Zeit und Frieden, damit die bisher genannten Prozesse stattfinden und ihre Wirkung erbringen können.
  • hinreichend gute und dauerhafte Beziehungen zu anderen Bevölkerungsgruppen, die die gleichen Ziele verfolgen.
  • eine hinreichende Gemeinsamkeit zwischen all den Bevölkerungsgruppen, die auf dem Planet Erde leben und mit der Realität dieses Planeten (Erdbeben, Vulkane, Klima, verfügbares Land, …) den Bedarf für ihr Leben dort gemeinsam lösen müssen, wo sie alle betroffen sind.
  • einen dauerhaften positiv-konstruktiven Wettbewerb um jene Zielvorstellungen, die das Leben von möglichst allen Menschen auf diesem Planeten (in diesem Sonnensystem, in dieser Galaxie, ….) auch für die Zukunft möglich erscheinen lassen.
  • der Freiheit, die im Innern der erfahrbaren Welt anwesend ist, so auch in jedem Lebewesen, besonders auch im Menschen, sollte so viel Raum wie möglich gegeben werden, da es nur diese Freiheit ist, die angesichts einer sich beständig verändernden Welt falsche Vorstellungen von gestern so überwinden kann, damit wir in der Welt der Zukunft vielleicht bestehen können.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

RUSSLAND, EU, USA – WIEVIEL DOGMATISMUS DÜRFEN WIR UNS ERLAUBEN? (2)

1. In einem vorhergehenden Beitrag hatte ich versucht, darauf aufmerksam zu machen, dass bei aller Aufregung um die aktuelle Annektierung der vormals ukrainischen Krim durch Russland nicht übersehen werden sollte, dass es übergreifende Ziele gibt (bzw. geben kann, je nach Standpunkt des Betrachters), die uns bei aller Erregung dazu auffordern, im Tagesgeschehen die größeren Linien nicht aus den Augen zu verlieren. Dieser Hinweis ist nicht gleichzusetzen mit einer Billigung von unrechtmäßigem Verhalten, sofern es passiert ist.

2. Natürlich ist mir bewusst, dass ein Denken ‚von der Zukunft her‘ in Widerspruch steht zu einem Denken, das sich über die Vergangenheit definiert und dann möglicherweise noch so, dass vermeintliche Schuld auf jeden Fall in der Zukunft mit ähnlichen Methoden in der Zukunft ‚vergolten‘ werden muss (‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘, ‚Blutrache‘, …). Ein ‚Denken, das sich über die Vergangenheit definiert‘ ist aber in der Wurzel gefährlich; als Quelle der Erkenntnis für die Prozesse, wie es zum ‚Heute‘ gekommen ist, ist es unverzichtbar, aber als Leitlinie für die Frage, was wir für die Zukunft tun sollen, ist es nur bedingt tauglich. Gefährlich ist es auf jeden Fall, wenn man versucht, Strukturen, Vorgänge der Vergangenheit festzuschreiben und diese als ‚Maßstab‘, als ‚Norm‘ für die Zukunft benutzen will. Nach heutigem Wissensstand sind wir Teil eines gigantischen, hochdynamischen Prozesses, der sich real strukturell weiterentwickelt und von uns allen eine beständige Weiterentwicklung auf allen Ebenen einfordert. Stillstand bedeutet hier auf Dauer Untergang. Dass alle Beteiligten dieses Prozesses permanent Fehler machen, ist prozessimmanent und daher Teil des Lernprozesses; nur durch Fehler können wir überhaupt lernen. Um die Zukunft zu gewinnen zählt daher in erster Linie, zu erkennen, wo wir eigentlich ‚hin sollen‘ und dann, was wir tun müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Fehler in der Zukunft zu vermeiden ist wichtiger, als Fehler durch neue Fehler zu perpetuieren und durch wechselseitige Blockaden eine gemeinsame Zukunft zu verhindern.

3. Personen wie Buddha, Jesus, Ghandi, Martin Luther King, Mandela (um nur einige zu nennen), hatten für sich (auch ohne Wissenschaft) erkannt, dass das Klammern an den Augenblick, das Fixieren des Vergänglichen, der Hass auf das Andere usw. nicht geeignet sind, den einzelnen in seinem Potential frei zu setzen noch eine Gemeinschaft von Menschen in ihrem Potential voll zur Entfaltung zu bringen. Nur wer die Zukunft nicht sieht, kann sich an die Vergangenheit ‚verkaufen‘. Nur wer nicht begreift, dass wir alle extrem begrenzt, anfällig und fehlerbehaftet sind, kann Fehlerbestrafung zum Lebensprinzip erheben. Es geht nicht um Bestrafung, es geht um ‚Umkehr‘, ‚Verbesserung‘, ‚Weiterentwicklung‘ ….

4. Zurück zur Krim. Ja, nach allgemeiner Auffassung ist es nicht OK, dass ein fremder Staat, so, wie Russland es getan hat, Teile eines anderen Staates, hier die Krim als Teil der Ukraine, gegen den Willen dieses Staats infiltriert und schließlich besetzt (was in der Vergangenheit nicht nur von Russland, sondern auch von China, von den USA und vielen anderen immer wieder getan wurde). Andererseits gibt es das ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker‘; nach diesem wird einer Mehrheit sehr wohl zugestanden, für sich selbst zu bestimmen, was sie wollen. Im Fall Krim gab es diese Mehrheit; ob sie tatsächlich das wollten, was jetzt passiert ist, ist nicht ganz eindeutig, da die Art und Weise der Abstimmung nicht so transparent und ‚geheim‘ war, wie es idealerweise sein sollte. Aber Russland hat sich damit möglicherweise einen ‚Bärendienst‘ erwiesen, da es sich in seiner imperialistischen Vergangenheit viele Völker ‚einverleibt‘ hat, die als solche ‚von sich aus‘ vielleicht auch etwas anderes wollen, als Teil von Russland zu sein. Ähnliche Probleme hat China, ähnliche Probleme haben verschiedene Staaten der EU, usw. Wir können uns darüber aufregen, dass Russland diese ‚Selbstabstimmung‘ quasi erzwungen hat. Auf der anderen Seite müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit die Verhinderung der Selbstabstimmung von Basken, Norditalienern, Iren, Schotten, ‚Tirolern‘, Palästinensern, verschiedenen Ureinwohner in Brasilien, Ureinwohner Australiens, usw. nicht auch gegen das Völkerrecht verstößt. Wenn wir hier anfangen zu suchen, werden wir sehr viele Unrechtssituationen finden, über die wir großzügig hinwegsehen, weil das darüber Hinwegsehen eher ins Tagesgeschäft passt.

In globaler Perspektive sind Nationalstaaten 'Spielbälle' globaler Kräfte, ideal für 'Starke', die 'Schjwachen' per Vertrag zu 'kolonisieren' ...
In globaler Perspektive sind Nationalstaaten ‚Spielbälle‘ globaler Kräfte, ideal für ‚Starke‘, die ‚Schwachen‘ per Vertrag zu ‚kolonisieren‘ …

5. Während die EU und die USA sich offiziell über das Vorgehen Russlands erregen und die deutsche Kanzlerin da eine sehr aktive Rolle zu spielen scheint, findet aber ein anderer Vorgang statt, der nicht nur die Selbstbestimmung eines Teiles eines Landes bedroht, sondern die Selbstbestimmung aller Staaten der EU, der USA , und als Folge der geplanten Verträge würden an die zweihundert bestehende bilateriale Verträge zwischen der EU und wirtschaftlich schwächeren Staaten praktisch eliminiert, mit z.T. katastrophalen Folgen in diesen Ländern. Ich meine die Verhandlungen zum ‘Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP)‘, über die ich in einem vorausgehenden Blogeintrag schon ausführlich berichtet hatte. Glücklicherweise wird dieses Thema immer mehr in der Öffentlichkeit diskutiert; u.a. gab es eine sehr schöne Dokumentation dazu in 3Sat am 20.März 2014  mit einer aufschlussreichen Diskussion im Anschluss.

6. Wie schon im vorausgehenden Blogeintrag dargestellt, bestätigen die nach und nach ‚durchsickernden‘ Informationen der Geheimverhandlungen zum transatlantischen freihandelsabkommen  alle Befürchtungen, ja, sie übertreffen sie sogar noch. An den Geheimverhandlungen nehmen fast ausschließlich Lobbyisten der großen US-Firmen teilnehmen (der Vertreter des europäischen Parlaments, der zur ‚parlamentarischen Kontrolle‘ da sein soll, ist von diesen Verhandlungen weitgehend ausgeschlossen, und insofern er doch Informationen bekommt, sind diese sowohl zu großen Teilen ausgeschwärzt bzw. unterliegen sie der ‚Geheimhaltung‘ (mittlerweile eher kein Mittel zum Schutz der Demokratie sondern zu ihrer Verhinderung!).

7. Sieht man mal von allen Details ab (die jeder bitte für sich auf den angegeben Seiten selbst nachlesen sollte (die 3Sat Filme kann man auch über die Videothek anschauen)), zeigt sich hier eine historisch neue, einmalige Situation: zwar konnten sich mit viel Mühen, vielen Opfern, vielen Kriegen einige demokratische Gesellschaften auf dieser Erde entwickeln, aber die global operierenden Firmen haben im zwischenstaatlichen Bereich einen Raum gefunden, wo sie unter dem Motto von ‚Freihandel‘ Verträge schließen können, durch die sich nationale Regierungen ‚binden‘. Der Inhalt dieser Verträge ist so (was die letzten Jahre gezeigt haben), dass die ’starken‘ globalen Player nahezu alle Rechte bekommen und die oft sehr schwachen nationalen Wirtschaftsstrukturen durch die globalen Player ‚platt‘ gemacht werden. Dies erhöht den Profit auf Seiten der globalen Player und vermindert deutlich die Wirtschaftskraft und die Einnahmen der schwächeren Nationalstaaten. Sie geraten in noch stärkere Abhängigkeiten und müssen mehr und mehr zu Spottpreisen Teile ihrer Wirtschaft, Teile ihrer Ressourcen, Teile ihres Landes an die globalen Player verschleudern. Dazu kommt, dass die globalen Player praktisch nie regulär Steuern in jenen Ländern zahlen, in denen sie ihre Profite machen. Mehr noch. Wie in vielen Fällen dokumentiert werden konnte, werden Menschenrechte, Arbeitsschutz, Umweltschutz massiv verletzt. Beschweren sich dann Bürger oder sogar die Regierung, dann können die globalen Firmen die nationalen Regierungen aufgrund der internationalen Verträge sogar auf Geschäftsschädigung verklagen. Das erscheint jedem normal denkenden Menschen grotesk, geschieht aber hundertfach pro Jahr! Dieser Wahnsinn steht hinter der Formulierung des ‚Investitionsschutzes‘. Zudem sind es keine ‚ordentliche‘ Gerichte, die hier die Prozesse führen, sondern private Schiedsgerichte mit oft genau den Anwälten jener Firmen, die sich über alle werte hinwegsetzen.

8. Dazu kommen viele andere Rück-Revolutionen: in Deutschland und Europa wurden in den letzten Jahrzehnten die Rechte der Verbraucher massiv gestärkt. Im Prinzip muss hier der Anbieter nachweisen, dass seine Produkte die Gesundheit nicht gefährden. In den USA kann ein Anbieter anbieten was er will; der Kunde muss nachweisen, dass ein bestimmter chemischer Zusatz in der Nahrung seine Gesundheit gefährdet. Was in der Regel heutzutage unmöglich ist. Das Ganze wäre noch irgendwo erträglich, wenn der Staat für seine Bürger hinreichend eigene Forschung und Kontrollen betreiben würde, um seine Bürger zu schützen. Am Beispiel der sogenannten ‚Chlorhähnchen‘ aus den USA hat die 3Sat-Dokumentation gezeigt, dass es nicht nur keine eigene staatliche Forschung zu den Auswirkungen des Chemikalieneinsatzes bei der Produktion dieser Hähnchen gibt, sondern dass die bestehenden Kontrollen in den Firmen zudem noch massiv abgebaut werden. Gleichzeitig wurde der Chemikalieneinsatz mittlerweile massiv erhöht, so schlimm, dass die Mitarbeiter in diesen Betrieben schwerstens erkrankt sind. Mit dem neuen Freihandelsabkommen würden alle deutsch-europäischen Vorschriften außer Kraft gesetzt und die US-amerikanischen Nicht-Standards zum neuen Maßstab genommen. Würden wir uns als Bürger beschweren, könnten die US-Firmen den deutschen Staat wegen Störung ihres Geschäfts verklagen. Einspruch wäre nicht möglich. Schöne neue Welt. Diese Art von Menschenverachtung ist kaum noch zu überbieten.

9. Wenn man im Falle von wirtschaftlich schwachen Staaten mit labilen politischen Strukturen noch ansatzweise nachempfinden kann, dass globale Player sich dieser schwachen Strukturen bemächtigen und diese Staaten buchstäblich ausbeuten, ist es schwer bis gar nicht nachvollziehbar warum ein Land wie Deutschland, das bislang mit zu den wirtschaftlich erfolgreichsten und politisch stabilsten Ländern dieser Erde gehört, sich auf dieses Spiel überhaupt einlässt (abgesehen davon, dass hier offensichtlich schwerste Verletzungen des Grundgesetzes ins Haus stehen). Alle nicht lobby-gebundenen Wirtschaftsexperten, die sich bislang dazu geäußert haben, haben klar gesagt, dass die Prognosen zu den positiven wirtschaftlichen Effekten wissenschaftlich nicht nachvollziehbar sind. Sie kommen eher zum Ergebnis, dass höchstens minimale Effekte in EU und speziell Deutschland wahrscheinlich sind, dafür erheblich starke negative Effekte in Ländern außerhalb dieser Zone; diese würden aber von den USA mit einem anderen Vertrag aufgegriffen, so dass die USA sich überall Vorteile sichern würde, die einzelnen Ländern sich aber einseitig stärker von den USA abhängig machen würden). Dass die Bundeskanzlerin angesichts all dieser stark negativen Auswirkungen des geplanten Vertrages sich öffentlich bislang eindeutig dafür ausspricht wirkt mindestens befremdlich. Da Sie ja anerkanntermaßen sehr intelligent und politisch sehr erfahren ist, muss man sich fragen, was ihre Motive/ Interessen sind, ein solches demokratiefeindliches Projekt zu befürworten. Denkt Sie an eine goldene Zeit nach ihrer Kanzlerschaft, quasi als Präsidentin einer dieser globalen Player? Bei dem Verhalten der europäischen Kommission kann man sich kaum der Vorstellung erwehren, dass diese nicht mehr gemeinsame Sache mit den wirtschaftlichen Lobbyisten macht als mit den europäischen Bürgern, für die sie Verantwortung tragen.

10. Aus all dem stellt sich die Frage, ob und wie Demokratie im globalen Kontext möglich ist, der anscheinend überwiegend von entfesselten multinationalen Konzernen und kooperierenden Regierungen gegen die Interessen der Bevölkerung bestimmt erscheint. Welche Bedeutung hat das Gerede von Menschenrechten, wenn diese Konzerne täglich demonstrieren, dass ihnen das Wohlergehen von Menschen nichts wert sind? Was soll man von demokratischen Regierungen halten, die grundlegende Informationspflichten mit Füssen treten und sich über geltende Standards ohne ein Minimum an öffentlicher Diskussion hinwegsetzen? Haben wir nicht schon längst einen ‚Staatsstreich von Innen‘, indem gewählte Regierungsvertreter ihr Amt dahingehend missbrauchen, dass sie demokratische Rechte und Institutionen massiv schwächen wenn nicht gar ganz außer Kraft setzen? Müssen wir auch in Deutschland um die Grundlagen unserer Demokratie neu kämpfen, weil sogar die Kanzlerin den Eindruck erweckt, sie hat sich schon längst von der Demokratie verabschiedet. Irgendwie zögert man noch, diesen Gedanken ganz zu glauben. Wenn man zu lange zögert, kann es zu spät sein…

11…. und, angesichts dieses scheinbaren Misbrauchs von politischer Macht in den Superstrukturen ist es möglicherweise verständlich, dass sich ‚Teilbereiche‘ auskoppeln wollen mit der Vorstellung, dann hätte man die Dinge besser unter Kontrolle. Doch, wie wir sehen, ist das Problem nicht unbedingt die Trägerstruktur (z.B. der Nationalstaat als solcher), sondern die Interaktionen zwischen den Trägerstrukturen; da gelten ja zunächst mal keine Gesetze bzw. ob und in welchem Umfang gesetze gelten sollen, muss neu ausgehandelt werden.  Erleben wir mit diesen Krisen der nationalen Demokratien die ersten Wehen des nächsten Evolutionsschubs von Superdemokratien, die zunächst durch die ‚Vorhölle‘ des globalen Kapitalismus gehen müssen? Da es letztlich immer wir selbst, wir Menschen, sind, die entscheiden, müssen wir als Menschen Klarheit finden, was wir wollen. Menschenverachtung ist kein Naturgesetz.

CONSTRUCTED RADICALLY UNPLUGGED MUSIC

Die Fortsetzung eines Experimentes: Musik vom 24.3.2014 (man sollte gute Lautsprecher haben, oder gute Kopfhörer …)

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.