Ursprünglich hatte ich gechrieben, dass „Dieser Text … keine direkte Fortsetzung von einem anderen Text [ist]. Allerdings gibt es verschiedene Artikel mit einer ähnlichen Thematik als vorausgehende Posts. So gesehen ist der aktuelle Text eine Art ‚Weiterentwicklung‘ dieser Ideen.“ Aber, nur ein kurzer Blick zurück genügt, um zu sehen, dass es mindestens einen Text gibt, der ’sehr nah‘ beim Thema dieses vorliegdnen Textes ist: NARRATIVE BEHERRSCHEN DIE WELT. Fluch & Segen. Dazu Kommentare von @chatGPT4 ( https://www.cognitiveagent.org/2024/02/02/narrative-beherrschen-die-welt-fluch-segen-dazu-kommentare-von-chatgpt4/)
Im Alltag …
… magische Links
kennt fast jeder jemanden — oder sogar mehrere –, der viele Emails — oder anderweitige Mitteilungen — versendet, die nur noch Links enthalten, Links auf irgendwelche Videos, von denen das Netz ja heute genügend parat hält, oder Bilder mit ein paar Schlagworten.
Da die Zeit meist knapp ist, würde man gerne wissen, ob es sich lohnt, dieses Video anzuklicken. Aber erklärende Informationen fehlen.
Spricht man den Versender darauf an, ob es nicht möglich wäre, ein paar erklärende Worte mit zu versenden, dann bekommt vom Versender fast immer die Antwort, dass er selbst dies nicht so gut formulieren könne wie das Video selbst.
Interessant: Jemand versendet einen Link zu einem Video ohne in der Lage zu sein, seine Meinung dazu in eigene Worte zu fassen …
Rückfragen …
Wenn ich dann schon mal einen Link anklicke und versuche, mir eine Meinung zu bilden, ist natürlich eine der ersten Fragen, wer denn das Video (oder einen Text) veröffentlicht hat. Der gleiche Sachverhalt kann — wie tausendfach belegt und von jedem im Alltag nachprüfbar — je nach Perspektive des Betrachters ganz unterschiedlich, ja sogar im vollen Widerspruch, erzählt werden. Und da das, was wir sinnlich wahrnehmen können, sowieso immer nur sehr fragmentarisch ist, an den Oberflächen, am Augenblick hängt, direkt zunächst nicht unbedingt einen Zusammenhang erkennen lässt, bietet jede Beobachtung aus sich heraus zunächst einmal sehr viel Interpretationsspielraum. Ohne gründliche Betrachtung des Kontextes und der Vorgeschichte ist eigentlich eine Interpretation schlicht nicht möglich … es sei denn, jemand hat schon eine ‚fertige Meinung‘, die sich das ‚(willenlose) Fragment der Beobachtung‘ unverzüglich ‚aneignet‘.
Das Rückfragen und Recherchieren wäre also eigentlich ’normal‘, aber unser ’schnelles Gehirn‘ sucht erst einmal ‚automatische Antworten‘, da braucht man nicht viel nachdenken, ist schneller, weniger Energieaufwand, und diese ‚Automatik des Interpretierens‘ liefert trotz allem ein ‚befriedigendes Gefühl‘: Ja, man ‚weiß genau, was da vorliegt‘. Also wozu Rückfragen?
Immunisieren …
Als Wissenschaftler bin ich darauf trainiert, alle Rahmenbedingungen zu klären, auch meine eigenen Voraussetzungen. Das kostet natürlich Mühe und Zeit und ist alles andere als fehlerfrei. Deswegen mehrere Prüfungen, Rückfragen bei anderen, wie diese das sehen, usw.
Wenn ich aber die ‚wortlosen Versender von Links‘ frage, wenn mir etwas auffällt, vor allem, wenn ich da einen Konflikt mit der mir bekannten Realität anspreche, dann variieren die Reaktionen in der Richtung, dass ich dies falsch verstanden habe, oder dass der Autor das so gar nicht gemeint habe. Wenn ich dann auf andere Quellen verweise, die als ’stark geprüft‘ gelten, dann gehören diese zur ‚Lügenpresse‘ oder die Autoren werden sogleich als ‚Agenten einer finsteren Macht‘ enttarnt (es gibt eine ganze Palette von solchen ‚finsteren Mächten), und wage ich es dann, auch hier nachzufragen, woher denn Informationen stammen, dann bin ich ganz schnell ein naiver, dummer Mensch, dass ich dies alles nicht weiß.
Also, jeder Versuch, die Grundlagen von Aussagen zu klären, sie auf nachvollziehbare Sachverhalte zurück zu führen, endet im Konfliktfall schon weit vor jeder Klärung im Versuch, meine Fragen und Hinweise in jede Richtung zu diskreditieren.
Wahrheit Tschüß …
Nun ist ja das Thema ‚Wahrheit‘ selbst in der bisherigen Philosophie leider nicht mehr als ein Ideenlager für verschiedenste Perspektiven. Und selbst die modernen Wissenschaften, im Kern empirisch, verheddern sich zusehends in der Vielzahl ihrer Disziplinen und Methoden in einer Weise, dass ‚integrierende Sichten‘ selten sind und der ’normale Bürger‘ tendenziell eher ein Verständnisproblem hat. Keine gute Ausgangslage um die Ausbreitung des ‚kognitiven Märchenvirus‘ effektiv zu verhindern.
Booster Demokratie und Internet
Das Bizarre an unserer heutigen Situation ist, dass ausgerechnet die zwei wichtigsten Errungenschaften der Menschheit, die Gesellschaftsform der ‚Demokratie‘ (seit ca. 250 Jahren (in einer Geschichte von ca. 300.000 Jahren)) und das Werkzeug des ‚Internets‘ (Browser basiert seit ca. 1993), die zum ersten Mal ein Maximum an Freiheit und an Vielfalt des Ausdrucks möglich gemacht haben, dass ausgerechnet diese beiden Errungenschaften nun genau jene Bedingungen geschaffen haben , dass sich das kognitive Märchenvirus so ungehemmt ausbreiten kann.
Wichtig: das heutige kognitive Märchenvirus ereignet sich im Kontext von ‚Freiheit‘! In früheren Jahrtausenden gab es das kognitive Märchenvirus auch schon, da war es aber unter Kontrolle der jeweiligen autoritären Herrscher, die damit das Denken und Fühlen ihrer Untertanen zu ihren Gunsten gesteuert haben. Die ‚Vagheiten‘ der Bedeutungen haben immer nahezu alle Deutungen erlaubt; und wenn ein bisheriges Märchen nicht gereicht hat, dann wurde schnell ein neues erfunden. Solange eine Kontrolle durch Realität nicht wirklich möglich ist, kann man alles erzählen.
Mit der Entstehung der Demokratie verschwanden zwar die autoritären Machtstrukturen, aber die Menschen, die wählen durften und sollten, waren letztlich die gleichen wie zuvor in autoritären Herrschaften. Wer hat schon wirklich Zeit und Lust, sich mit den komplizierten Fragen der realen Welt zu beschäftigen, vor allem, wenn es einen nicht direkt selbst betrifft? Das machen doch unsere gewählten Vertreter….
In den (anscheinend) ruhigen Jahren seit dem 2.Weltkrieg schien die Aufgabenteilung doch gut zu funktionieren: hier die Bürger, die alles delegieren, und dort die gewählten Vertreter, die alles richtig machen. Eine ‚Kontrolle‘ der Macht sollte über Verfassung, Justiz und durch eine funktionierende Öffentlichkeit‘ garantiert werden…
Was man aber nicht voraus gesehen hatte waren so Kleinigkeiten wie:
Die Zunahme der Bevölkerung und das Voranschreiten der Technologien induzierte immer komplexere Prozesse mit eben solchen komplexen Wechselwirkungen, die sich mit den üblichen Methoden aus der Vergangenheit nicht mehr angemessen bewältigen ließen. Fehler und Konflikte waren vorprogrammiert.
Die Delegierung an wenige gewählte Vertreter mit ’normalen Fähigkeiten‘ kann nur funktionieren, wenn diese wenigen Vertreter in Kontexten arbeiten, die sie mit all den notwendigen Kompetenzen versorgen, die ihr Amt benötigt. Diese Aufgabe scheint immer schlechter gelöst zu werden.
Die wichtige ‚funktionierende Öffentlichkeit‘ wurde durch die ungeheuren Möglichkeiten des Internet immer mehr fragmentiert: es gibt nicht mehr ‚die‘ Öffentlichkeit, sondern ganz viele Öffentlichkeiten. Dies ist an sich nicht schlecht, aber wen die verfügbaren Kanäle von starken Interessengruppen das ’schnelle und bequeme Gehirn‘ anziehen wie das Licht die Mücken, dann gelangen die Köpfe immer mehr in den Bereich der ‚kognitiven Viren‘, die nach nur kurzen ‚Inkubationszeiten‘ einen Kopf ‚in Besitz‘ nehmen und ihn von da ab ’steuern‘.
Die Wirkungen dieser drei Faktoren kann man seit einigen Jahren ganz klar beobachten: die ungelösten Probleme der Gesellschaft, die vom existierenden demokratisch-politischen System immer schlechter gelöst werden, führen ‚vor Ort‘ bei den einzelnen Menschen dazu, dass sie ihre Unzufriedenheiten und Ängste immer mehr und ausschließlich unter dem Einfluss des kognitiven Märchenvirus interpretieren und danach handeln. Damit wird die Situation schleichend noch schlechter, da die konstruktiven Kapazitäten zur Problemanalyse und die gemeinsame Kraft zur Lösung von Problemen abnimmt.
Keine Heilmittel verfügbar?
Blickt man zurück in die vielen tausend Jahre Geschichte der Menschen dann ist greifbar, dass ‚Meinungen‘, ‚Bilder von der Welt‘, immer nur in begrenzten Bereichen mit der realen Welt harmonierten, dort, wo es zum Überleben wichtig war. Aber selbst in diesen kleinen Bereichen gab es jahrtausendelang viele Anschauungen, die sich zu späteren Zeiten als ‚falsch‘ herausstellten.
Schon sehr früh beherrschten wir Menschen die Kunst, uns Geschichten zu erzählen, wie alles mit allem zusammen hängt. Diese wurden begierig gehört, diese wurden geglaubt, und erst viel später konnte man bisweilen erkennen, was an den früheren Geschichten ganz oder teilweise falsch war. Doch zu Lebzeiten, für diejenigen, die mit diesen Geschichten aufwuchsen, waren diese Geschichten ‚wahr‘, ergaben ‚Sinn‘, man ist für sie sogar in den Tod gegangen.
Erst ganz am Ende der bisherigen Entwicklung des Menschen (die Lebensform des Homo sapiens), also — bei 300.000 Jahre als 24 Stunden — nach ca. 23 Stunden und 59 Minuten entdeckten die Menschen mit den empirischen Wissenschaften eine Methode, wie man ‚wahre Erkenntnisse‘ gewinnen kann, die nicht nur für den Augenblick funktionieren, sondern womit man Millionen, ja Milliarden Jahre ‚zurück in der Zeit‘ schauen kann, und für viele Faktoren auch Milliarden Jahre in die Zukunft. Dazu kann die Wissenschaft in die tiefsten Tiefen der Materie schauen und versteht immer besser das komplexe Wechselspiel all der wunderbaren Faktoren.
Und just in diesem Augenblick der ersten großen Sternstunden der Menschheit auf dem Planet Erde bricht der kognitive Märchenvirus ungehemmt aus und droht sogar die modernen Wissenschaften komplett auszulöschen!
Welche Menschen auf diesem Planeten können diesem kognitiven Märchenvirus widerstehen?
Hier eine kleine Zeitungsnotiz vor wenigen Tagen: Unter dem Titel „Game macht Fake News spielerisch erkennbar“ [1](siehe auch [2-3]) wird von einem Experiment schwedischer Wissenschaftler mit Schülern berichtet, dass es möglich war, das Bewusstsein von Schülern für ‚fake news‘ (hier: das kognitive Märchenvirus) messbar zu schärfen.
Ja, wir wissen, dass junge Menschen durch eine angemessene Bildung ihr Bewusstsein so gestalten können, dass sie gegen das kognitive Märchenvirus besser gewappnet sind. Aber was geschieht, wenn die offiziellen Bildungseinrichtungen eine solche Wissenstherapie kaum oder gar nicht durchführen können, wenn entweder die Lehrer es schon nicht mehr können oder, die Lehrer könnten es schon noch, aber die politischen Institutionen lassen es nicht zu? Letztere Fälle sind bekannt, sogar in sogenannten Demokratien!
Epilogue 1
Folgende Arbeitshypothesen deuten sich an:
Das Märchenvirus, die ungehemmte Neigung zum (unkontrollierten) Geschichten erzählen, ist den Menschen mit in die (genetische) Wiege gelegt.
Weder Intelligenz noch sogenannte ‚akademische Bildung‘ sind ein automatischer Schutz dagegen.
‚Kritisches Denken‘ und ‚empirische Wissenschaft‘ sind spezielle Eigenschaften, die Menschen sich nur mit eigenem großen Engagement aneignen können. Für sie müssen in einer Gesellschaft minimale Voraussetzungen existieren, ohne die es nicht geht.
Aktive Demokratien scheinen das Märchenvirus bis auf ca. 15-20% der gesellschaftlichen Praxis eindämmen zu können (obwohl es in den Menschen immer da ist). Sobald die Prozentzahl der aktiven Märchenerzähler erfahrbar steigt, muss man davon ausgehen, dass das Konzept ‚Demokratie‘ sich in der gesellschaftlichen Praxis — aus vielerlei Gründen — zunehmend abschwächt.
Epilogue 2
Wer aktiv vom Märchen-Virus befallen ist, hat eine Sicht von der Welt, von sich selbst und den anderen, die mit der realen Welt ‚da draußen‘, jenseits seines eigenen Denkens, so wenig zu tun hat, dass die realen Ereignissen das eigene Denken nicht mehr beeinflussen. Man lebt in seiner eigenen ‚Denk-Blase‘. Grundsätzlich gilt dies für jeden Menschen, aber jene, die gelernt haben ‚kritisch und wissenschaftlich‘ zu denken, haben Techniken gelernt und wenden sie an, die das Denken in der eigenen Blase immer wieder einem ‚Reality-Check‘ unterzieht. Dieser Check beschränkt sich nicht auf punktuelle Ereignisse oder punktuelle Aussagen … und da wird es schwierig.
Kollektive Mensch-Maschine Intelligenz im Kontext nachhaltiger Entwicklung – Brauchen wir ein neues Menschenbild?
Prof. Dr. Gerd Doeben-Henisch, Frankfurt University of Applied Sciences
Die Zeichen der Zeit stehen auf ‚Digitalisierung‘. Schon ist es selbstver- ständlich, alles, was ‚digital‘ ist, auch mit den Worten ‚smart‘ bzw.‚ intelligent‘ zu verknüpfen. ‚Künstliche Intelligenz‘, ja, natürlich, wer fragt da noch nach … und wir Menschen, war da nicht was? Gab es nicht solche Worte wie ‚Geist‘, ‚Rationalität‘, ‚Intelligenz‘ im Umfeld des Menschen, ‚Wille‘ und ‚Gefühle‘? Ja, es gab eine Zeit, da sahen die Menschen sich selbst als ‚Krone der Schöpfung‘ … Und jetzt? Eine Sprachlosigkeit greift um sich; der ‚Schöpfer‘ des Digitalen scheint vor seinem Werk zu erstarren …
[1] Home u3l: https://www.uni-frankfurt.de/122411224/U3L_Home?
[3] Flyer der Vorlesungsreihe WS23/24: https://www.uni-frankfurt.de/144405162.pdf
Zusammenfassung
Die Vorlesung greift zunächst den Kontext der Digitalisierung auf und macht die grundlegenden Strukturen deutlich. Das Eindringen von digitalen Technologien und deren Nutzung im Alltag ist schon jetzt sehr tiefgreifend. Gesellschaftlich spielt die sprachliche Kommunikation für alle Menschen und alle Abläufe eine zentrale Rolle. Literarischen und wissenschaftlichen Kommunikationsformaten kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Am Beispiel der neuen Algorithmen für Text-Generierung (wie z.B. chatGPT) wird mit Bezug auf wissenschaftliche Kommunikationformate gezeigt, wie deutlich begrenzt die algorithmische Text-Generierung noch ist. Für alle drängenden Zukunftsaufgaben kann sie den Menschen aufgrund prinzipieller Grenzen nicht ersetzen. Die weitere Ausgestaltung algorithmischer Technologien muss an diesen gesellschaftlichen Herausforderungen gemessen und entsprechend verbessert werden.
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
DIGITALISIERUNG 2.1 DAS INTERNET 2.2 DIE GESELLSCHAFT
DIGITALISIERUNG – SPRACHTECHNOLOGIEN
GESELLSCHAFT – SPRACHE – LITERATUR
SPRACHE UND BEDEUTUNG
ZÄHMUNG DER BEDEUTUNG – WISSENSCHAFT
EMPIRISCHE THEORIE
WAHRHEIT, PROGNOSE & TEXT-GENERATOREN
Epilog
1. EINLEITUNG
Der Titel dieser Vorlesung repräsentiert letztlich das Forschungsparadigma, innerhalb dessen sich der Autor seit ca. 5-6 Jahren bewegt hat. Das Motiv war — und ist –, die üblicherweise isolierten Themen ‚Kollektives menschliches Verhalten‘, ‚Künstliche Intelligenz‘ sowie ‚Nachhaltige Entwicklung‘ zu einer kohärenten Formel zu vereinigen. Dass dies nicht ohne Folgen für das ‚Menschenbild‘ bleiben würde, so wie wir Menschen uns selbst sehen, klang unausgesprochen immer schon zwischen den Zeilen mit.
Die Integration der beiden Themen ‚kollektives menschliches Verhalten‘ sowie ’nachhaltige Entwicklung‘ konnte der Autor schon im Jahr 2022 vollziehen. Dazu musste der Begriff ‚Nachhaltige Entwicklung‘ re-analysiert werden. Was sowohl im Umfeld des Forschungsprojektes Nachhaltige Intelligenz – intelligente Nachhaltigkeit [1] stattfand wie auch in einer sich über 7 Semester erstreckende multidisziplinären Lehrveranstaltung an der Frankfurt University of Applied Sciences mit dem Titel Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung.[2]
Die Integration des Themas Künstliche Intelligenz mit den beiden anderen Themen erwies sich als schwieriger. Dies nicht, weil das Thema künstliche Intelligenz so schwer war, sondern weil sich eine brauchbare Charakterisierung von künstlicher Intelligenz Technologie mit Blick auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft als schwer erwies: bezogen auf welche Anforderungen einer Gesellschaft sollte man den Beitrag einer künstlichen Intelligenz gewichten?
Hier kamen zwei Ereignisse zu Hilfe: Im November 2022 stellte die US-Firma openAI eine neue Generation von Text-Generatoren vor [3], was zu einer bis dahin nie gekannten Publikations-Explosion führte: Gefühlt jeder fühlte sich angesprochen, nutzte das Werkzeug, und es gab vielstimmige Meinungsäußerung. In folge davon konnte der Autor sich bei einer Konferenz an der TU-Darmstadt beteiligen mit dem Titel Diskurse disruptiver digitaler Technologien am Beispiel von KI-Textgeneratoren (KI:Text) [4]. Hier wurde aus Sicht von 18 Perspektiven versucht, die mögliche Einsetzbarkeit von Text-Generatoren am Beispiel konkreter Text-Arten zu untersuchen. Diese Konferenz stimulierte den Plan, das Setting Text – chatGPT zu übernehmen und es durch Spezialisierung der Text-Variablen auf Literatur und insbesondere wissenschaftliche Theorien zu konkretisieren. Erste Überlegungen in diese Richtungen finden sich hier. [5]
Im Nachklang zu diesen Überlegungen bot es sich an, diese Gedanken im Vortrag für die Arbeitsgruppe ENIGMA weiter zu präzisieren. Dies ist geschehen und resultierte in diesem Vortrag.
BILD 1: Überblick zu ‚Digitalisierung einer Gesellschaft‘
Da die ‚Digitalisierung‘ heute gefühlt schon fast alle Bereiche unserer menschlichen Gesellschaft erreicht hat, ist es nicht leicht in dieser Vielfalt einen Standpunkt zu lokalisieren, von dem aus sich sowohl über das Ganze wie auch über einzelne konkrete Themen zu sprechen. [1]
Es bot sich daher an, mit einem vereinfachten Überblick über das Ganze zu starten, so dass eine für alle gleiche Ausgangslage hergestellt werden konnte.
Im Bild 1 kann man den links gelblich-grünen Bereich sehen, der für die Gesellschaft selbst steht, und einen grauen Bereich rechts, der für jene Infrastrukturen steht, die eine Digitalisierung technisch ermöglichen. Beide Bereich sind stark schematisiert.
Die digitale Infrastruktur ist aufgeteilt in ‚Endgeräte‘ und in das eigentliche ‚Internet‘. Letzteres wird unterschieden in den ‚Adressraum‘ und jene Geräte, die über den Adressraum erreicht werden können.
2.1 DAS INTERNET
Kurz wurde auf einige wichtige Eigenschaften des Internets hingewiesen:
Alle beteiligten Geräte setzen sich aus ‚Hardware‘ und ‚Software‘ zusammen. Die Hardware wiederum besteht aus einer Konfiguration von ‚Chips‘, die selbst sehr komplex sind und auch aus Hardware und Software bestehen. Bis zu ca. 80 Firmen können bei der Produktion eines einzelnen Chips beteiligt sein (unter Berücksichtigung der diversen Lieferketten). Die Möglichkeit, dass eine beteiligte Firma ’nicht-intendierte‘ Funktionen in einen Chip einbaut, ohne dass die anderen dies merken, sind prinzipiell gegeben. Die für Chips benötigten speziellen Materialien sind partiell ’selten‘ und nur über einige wenige Staaten beziehbar.
Die ‚Software‘ auf einem Rechner (klein bis groß) zerfällt grob in zwei Typen: (i) jene Software, die die grundlegende Kommunikation mit einer Hardware ermöglicht — das ‚Betriebssystem‘ –, und jene Software, die bestimmte Anwendungen ermöglicht, die mit dem Betriebssystem kommunizieren muss — die Anwendungssoftware, heute auch einfach App genannt –. Betriebssysteme haben heute eine Größe, die vielen Millionen Zeilen Code umfassen. Eine solche Software angemessen auf Dauer zu managen, stellt extreme Anforderungen. Nicht weniger im Fall von Anwendungssoftware.
Sobald Software aktiviert wird, d.h. ein Rechner ändert seine inneren Zustände unter dem Einfluss der Software, wird Energie verbraucht. Der Umfang dieses Energieverbrauchs ist heute noch vielfach extrem hoch.[2]
Ein ‚realer Rechner‘ braucht irgendwo auf diesem Planeten einen ‚realen Ort‘ und gehört eine ‚realen Besitzer‘. Dieser Eigentümer hat prinzipiell den vollen Zugriff auf den Rechner, auf seine Software, auf seine Inhalte. Durch die ‚Gesetze‘ eines Landes, durch ‚Vereinbarungen‘ zwischen Geschäftspartnern kann man den Umgang mit dem Rechner versuchen zu regeln, aber Garantien dafür, dass dann tatsächlich die Prozesse und die Daten ‚geschützt‘ sind, gibt es nicht. Eine von vielen Untersuchungen zur Nutzung von Benutzerdaten konnte am Beispiel von Facebook aufzeigen, dass die Einführung der europäischen Datenschutzverordnung 2021 nahezu keine Wirkung im Bereich der Nutzerdaten von Facebook zeigte. [3,4,5]
[1] Phänomen: Den Wald vor lauter Bäume nicht sehen.
[2] Maximilian Sachse, Das Internet steht unter Strom. KI kann helfen, Emissionen einzusparen — verbraucht aber selbst Unmengen an Energie.FAZ, 31.Okt 2023, S.B3
[3] José González Cabañas, Ángel Cuevas, Aritz Arrate, and Rubén Cuevas. 2020. Does Facebook use sensitive data for advertising purposes? Commun. ACM 64, 1 (January 2021), 62–69. https://doi.org/10.1145/3426361
[4] Eine ausführlichere Analyse der Informationsbeschaffung von Nutzern ohne deren Wissen: Ingo Dachwitz, 08.06.2023, Wie deutsche Firmen am Geschäft mit unseren Daten verdienen. Wenn es um Firmen geht, die pausenlos Daten für Werbezwecke sammeln, denken viele an die USA. Unsere Recherche zeigt, wie tief deutsche Unternehmen inzwischen in das Netzwerk der Datenhändler verwoben sind und dass sie auch heikle Datenkategorien anboten. Beteiligt sind Konzerne wie die Deutsche Telekom und ProSieben Sat1, URL: https://netzpolitik.org/2023/adsquare_theadex_emetriq_werbetracking-wie-deutsche-firmen-am-geschaeft-mit-unseren-daten-verdienen/
[5] Ein aktuelles Beispiel mit Microsoft: Dirk Knop, Ronald Eikenberg, Stefan Wischner, 09.11.2023, Microsoft krallt sich Zugangsdaten: Achtung vor dem neuen Outlook. Das neue kostenlose Outlook ersetzt Mail in Windows, später auch das klassische Outlook. Es schickt geheime Zugangsdaten an Microsoft. c’t Magazin, Heise
2.2 DIE GESELLSCHAFT
Die Charakterisierung der Gesellschaft stellt natürlich auch eine starke Vereinfachung dar. Als wichtige Strukturmerkmale seien hier aber festgehalten:
Es gibt eine Grundverfassung jeder Gesellschaft jenseits von Anarchie die zwischen den beiden Polen ‚Demokratisch‘ und ‚Autokratisch‘ liegt.
Es gibt minimal ‚politische Entscheidungsstrukturen‘, die verantwortlich sind für geltende ‚Gesetze‘ und ‚Normen‘.
Die Schlagader jeder lebendigen Gesellschaft ist aber die ‚Öffentlichkeit durch Kommunikation‘: wenn, dann verbindet Kommunikation die vielen Bürger zu handlungsfähigen Einheiten. Autokratien tendieren dazu, Kommunikation zu ‚instrumentalisieren‘, um die Bürger zu manipulieren. In Demokratien sollte dies nicht der Fall sein. Tatsächlich kann aber die Freiheit einer Demokratie von partikulären Interessen missbraucht werden.[1]
Jeder einzelne Bürger ist als ‚menschlicher Akteur‘ eingewoben in unterschiedliche Kommunikationsbeziehungen, die vielfach durch Einsatz von ‚Medien‘ ermöglicht werden.
[1] Sehr viele interessante Ideen zur Rolle de Öffentlichkeit finden sich in dem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas, veröffentlicht 1962. Siehe dazu ausführlich den Wikipedia-Eintrag: https://de.wikipedia.org/wiki/Strukturwandel_der_%C3%96ffentlichkeit
[2] Florian Grotz, Wolfgang Schroeder, Anker der Demokratie? Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg der deutschen Demokratie geleistet. Derzeit steht er im Kreuzfeuer der Kritik. Wie kann er auch künftig seine Ankerfunktion im demokratischen Mediensystem erfüllen? FAZ 13.Nov 2023, S.6, Siehe auch online (beschränkt): https://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/ard-und-zdf-noch-im-dienst-der-demokratie-19309054.html Anmerkung: Die Autoren beschreiben kenntnisreich die historische Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) in drei Phasen. Verschiedene Schwierigkeiten und Herausforderungen heute werden hervor gehoben. Der generelle Tenor in allem ist, dass von ’notwendigen Veränderungen‘ gesprochen wird. Diese werden über die Themen ‚Finanzierung, Programm und Kontrolle‘ ein wenig ausgeführt. Dies sind alles sehr pragmatische Aspekte. Wenn es dann im Schlusssatz heißt „Es geht darum, dass der ÖRR auch in Zukunft eine wichtige Rolle im Dienst der Demokratie spielen kann.“ dann kann man sich als Leser schon fragen, warum ist der ÖRR denn für die Demokratie so wichtig? Finanzen, Programme und Kontrolle sind mögliche pragmatische Teilaspekte, aber eine eigentliche Argumentation ist nicht zu erkennen. Mit Blick auf die Gegenwart, in welcher die ‚Öffentlichkeit‘ in eine Vielzahl von ‚Medienräumen‘ zerfällt, die von unterschiedlichen ‚Narrativen‘ beherrscht werden, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen und die ein von einer echten Mehrheit getragenes politisches Handeln unmöglich erscheinen lassen, sind Finanzen, Kontrollen, formale Programmvielfalt nicht unbedingt wichtige konstruktive Kriterien. Der zusätzlich verheerende Einfluss neuer bedeutungsfreier Texte-generierende Technologien wird mit den genannten pragmatischen Kriterien nicht einmal ansatzweise erfasst.
3. DIGITALISIERUNG – SPRACHTECHNOLOGIEN
BILD 2 : Das Enstehen von Sprachtechnologien zur Unterstützung im Umgang mit Sprache
Dem ‚Weltereignis‘ Text-Generatoren im November 2022 gingen viele andere Sprachtechnologien voraus. So unterscheidet man grob:
TTS, T2S , Text-to-Speech, Speechsynthesis: Erste Systeme, die geschriebenen Text in gesprochene Sprache umsetzen konnten. Ab 1968 [1]
S2T, STT , Speech-to-Text: Spracherkennungssysteme, die gesprochene Sprache in geschriebenen Text verwandelt konnten. Ab 1952 [2]
TRANSL , Maschineller Übersetzer: Programme, die von einer Ausgangssprache in eine Zielsprache übersetzen können. Ab 1975. [3]
DIAL , Dialogsysteme: Programme, die mit Menschen Dialoge führen können, um bestimmte Aufgaben zu unterstützen. Ab 1960iger Jahre. [4]
C2T , Command-to-Text: Programme, die anhand von Aufforderungen Texte mit bestimmten Eigenschaften generieren können. Prominent ab November 2022. [5]
Mittlerweile gibt es noch eine Vielzahl anderer Werkzeuge, die im Rahmen der Computerlinguistik zur Arbeit mit Texten angeboten werden.[6]
Diese Beispiele zeigen, dass die Digitalisierung unserer Welt sich auch immer mehr unserer sprachlichen Kommunikation bemächtigt. Vielfach werden diese Werkzeuge als Hilfe, als Unterstützung wahrgenommen, um die menschliche Sprachproduktion besser verstehen und im Vollzug besser unterstützen zu können.
Im Fall der neuen befehlsorientierten Text-Generatoren, die aufgrund interner Datenbanken komplexe Texte generieren können, die für einen Leser ‚wie normale Texte von Menschen‘ daher kommen, wird der Raum der sprachlichen Kommunikation erstmalig von ’nicht-menschlichen‘ Akteuren durchdrungen, die eine stillschweigende Voraussetzung außer Kraft setzen, die bislang immer galt: es gibt plötzlich Autoren, die keine Menschen mehr sind. Dies führt zunehmend zu ernsthaften Irritationen im sprachlichen Diskursraum. Menschliche Autoren geraten in eine ernsthafte Krise: sind wir noch wichtig? Werden wir noch gebraucht? Ist ‚Menschsein‘ mit einem Schlag ‚entwertet‘?
[1] Erste Einführung hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Speech_synthesis
[2] Erste Einführung hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Speech_recognition
[3] Erste Einführung hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Machine_translation
[4] Erste Einführung hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Dialogue_system
[5] Erste Einführung hier: https://en.wikipedia.org/wiki/ChatGPT
[6] Für eine erste Einführung siehe hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Computerlinguistik
4. GESELLSCHAFT – SPRACHE – LITERATUR
BILD 3 : Sprachtechnologien und Literatur
Das Auftreten der neuen Werkzeuge zur Text-Generierung stiftet eine anhaltende Unruhe im Lager der Schriftsteller, der Autoren und der Literaturwissenschaftler.
Ein beeindruckendes Beispiel ist die Analyse von Hannes Bajohr (2022).[1] Er spielt die Varianten durch, was passiert, wenn … Was passiert, wenn sich die Produktion von literarischen Texten mit Text-Generatoren durchsetzt? Wenn es zum Standard wird, dass immer mehr Texte, ganze Romane mit Text-Generatoren erzeugt werden? Und dies sind keine bloßen Träume, sondern solche Texte werden schon produziert; Bajohr selbst hat einen Roman unter Zuhilfenahme eines Text-Generators verfasst.[2]
Eine andere junge Autorin und Kulturwissenschaftlerin, die sich intensiv mit dem neuen Wechselverhältnis von Literatur, digitaler Welt und Text-Generatoren auseinander setzt ist Jenifer Becker.[3] Ihr Debüt-Roman ist aber noch ein Roman ohne Einsatz von künstlichen Texterzeugern. In ihrem Roman spricht sie noch ’selbst‘ als ‚menschliche Autorin‘ und wir damit potentiell zu einer Gesprächspartnerin für ihre Leser: der Andere als potentielles Ich, wobei das ‚eigentliche Ich‘ sich Spiegel des Textes in spannungsvoller Differenz erleben kann.
Angesichts einer digitalisierten Welt, die mehr und mehr zu einer ‚Ereigniswelt‘ wird, in der das ‚Verweilen‘, das ‚Verstehen‘ sich immer mehr abschwächt, verstummt, verliert auch das Individuum seine eigene Kraft und beginnt sich ‚hohl‘ anzufühlen, wo es doch gar nicht hohl ist, nicht hohl sein muss.
Hier setzt die Rede zur Nobelpreisverleihung 2018 für Literatur der polnischen Laureatin Olga Tokarczuk ein. Sie beschreibt als das Wunderbare von Literatur gerade diese einzigartige Fähigkeit von uns Menschen, dass wir mittels Sprache von unserem Innern berichten können, von unserer individuellen Art des Erlebens von Welt, von Zusammenhängen, die wir in dem Vielerlei des Alltags entdecken können, von Prozessen, Gefühlen, von Sinn und Unsinn. [4]
In dieser Eigenschaft ist Literatur durch nichts ersetzbar, bildet Literatur den ‚inneren Herzschlag‘ des Menschlichen auf diesem Planeten.
Aber, und dies sollte uns aufhorchen lassen, dieser wunderbarer Schatz von literarischen Texten wird bedroht durch den Virus der vollständigen Nivellierung, ja geradezu eine vollständigen Auslöschung. Text-Generatoren haben zwar keinerlei Wahrheit, keinerlei realen Bindungen an eine reale Welt, an reale Menschen, keinerlei wirkliche Bedeutung, aber in der Produktion von Texten (und gesprochener Rede) ohne Wahrheit sind sie vollständig frei. Durch ihre hohe Geschwindigkeit der Produktion können sie alle ‚menschliche Literatur‘ in der Masse des Bedeutungslosen aufsaugen, unsichtbar machen, nihilieren.
[1] Hannes Bajohr, 2022, Artifizielle und postartifizielle Texte. Über Literatur und Künstliche Intelligenz. Walter-Höllerer-Vorlesung 2022, 8.Dez. 2022, Technische Universität Berlin , URL: https://hannesbajohr.de/wp-content/uploads/2022/12/Hoellerer-Vorlesung-2022.pdf, Den Hinweis auf diesen Artikel erhielt ich von Jennifer Becker.
[2] Siehe dazu Bajohr selbst: https://hannesbajohr.de/
[3] Jenifer Becker, Zeiten der Langeweile, Hanser, Berlin, 2023. Dazu Besprechung in der Frankfurter Rundschau, 30.8.23, Lisa Berins, Die große Offline-Lüge, https://www.fr.de/kultur/literatur/zeiten-der-langeweile-von-jenifer-beckerdie-grosse-offline-luege-92490183.html
[4] Olga Tokarczuk, 2018, The Tender Narrator, in: Nobel Lecture by Olga Tokarczuk, 2018, Svenska Akademien, URL: https://www.nobelprize.org/uploads/2019/12/tokarczuk-lecture-english-2.pdf
5. SPRACHE UND BEDEUTUNG
BILD 4 : Sprache und Bedeutung
Am Beispiel der ‚menschlichen Literatur‘ klang eben schon an, welch fundamentale Rolle die ‚Bedeutung von Sprache‘ spielt und dass wir Menschen über solch eine Fähigkeit verfügen. Im Schaubild 4 wird veranschaulicht, was es bedeutet, dass Menschen im Alltag scheinbar mühelos Aussagen erzeugen können, die als ‚aktuell zutreffend’/ ‚wahr‘ untereinander akzeptiert werden oder als ‚aktuell nicht zutreffend’/ ‚falsch‘ oder als ‚aktuell unbestimmt‘. Wenn ein konkreter empirischer Sachverhalt gegeben ist (der Hund von Ani, das rote Auto vom Nachbarn Müller, die Butter auf dem Frühstückstisch, …), dann ist eine Einigung zwischen Menschen mit der gleichen Sprache immer möglich.
Was man sich dabei selten bewusst macht ist, welch starke Voraussetzung ‚in einem Menschen‘ gegeben sein müssen, damit er über diese Fähigkeit so leicht verfügen kann.
Die ‚Box‘ im rechten Teil des Diagramms repräsentiert auf einem starken Abstraktionsniveau die wichtigsten Komponenten, über die ein Mensch in seinen inneren Verarbeitungsstrukturen verfügen können muss, damit er mit anderen so sprechen kann. Die Grundannahmen sind folgende:
Eine Außenwahrnehmung der umgebenden (empirischen) Welt.
Alles was wahrgenommen werden kann kann auch in ‚Elemente des Wissens‘ verwandelt werden.
Eine Sonderrolle nimmt die Repräsentation von Elementen der Sprachstruktur ein.
Zwischen den Elementen des Wissens und den Ausdruckselementen kann ein Mensch eine dynamische Abbildungsbeziehung(Bedeutungsbeziehung) aufbauen (Lernen), so dass Wissenselemente auf Ausdruckselemente verweisen und Ausdruckselemente auf Wissenselemente.
Aus Sicht der Ausdruckselemente bildet jenes Wissen, das über eine Abbildung verbunden wird, die ‚Bedeutung‘ der Ausdruckselemente.
Innerhalb des Wissens gibt es zahlreiche unterschiedliche Formen von Wissen: aktuelles Wissen, erinnerbares Wissen, Veränderungswissen, Ziele, und prognostisches Wissen.
Und vieles mehr
Neben Aussagen, die ‚aktuell wahr‘ sein können, verfügt der Mensch aber auch über die Möglichkeit, vielfache Wiederholungen als ‚wahr‘ anzusehen, wenn sie sich immer wider als ‚aktuell wahr‘ erweisen. Dies verweist auf mögliche weitere Formen von möglichen abgeleiteten Wahrheiten, die man vielleicht unter dem Oberbegriff ’strukturelle Wahrheit‘ versammeln könnte.
6. ZÄHMUNG DER BEDEUTUNG – WISSENSCHAFT
BILD 5 : Wissenschaft als Ergänzung von Literatur
Die Ur-Funktion von Literatur, das Gespräch zwischen dem Inneren der Menschen über ihre Welt- und Selbsterfahrung sprechen zu können, indem nicht nur die ‚Oberfläche der Dinge‘, sondern auch die ‚Tiefenstruktur der Phänomene‘ ins Wort kommen können, ist unersetzbar, aber sie leidet im Alltag an der strukturellen Schwäche des möglichen ‚Nicht-Verstehens‘ oder ‚Falsch-Verstehens‘. Während sich über die Dinge des alltäglichen Lebens leicht Einigkeit erzielen lässt, was jeweils gemeint ist, ist das ‚Innere‘ des Menschen eine echte ‚Terra Incognita‘, ein ‚unbekanntes Land‘. In dem Maße, wie wir Menschen im Innern ‚ähnlich‘ erleben und empfinden, kann das Verstehen von ‚Bedeutungen‘ noch ansatzweise gelingen, da wir Menschen aufgrund unserer Körperstrukturen in vielen Dingen ähnliche Erleben, Fühlen, Erinnern und Denken. Aber je spezifischer etwas in unserem Inneren ist, je ‚abstrakter‘ eine Bedeutung wird, umso schwieriger wird die Erfassung einer Rede durch andere. Dies führt dann unabwendbar zum Falsch- oder gar Nicht-Verstehen.
In dem Maße wie wir Menschen aber auf eine ‚tragfähige Erklärung von Welt‘ angewiesen sind, um ‚gemeinsam‘ das ‚Richtige‘ zu tun, in dem Maße wird unsere normale sprachliche Kommunikation, wird Literatur überfordert. Sie will vielleicht, aber sie kann aus sich heraus eine solche Eindeutigkeit nicht ohne weiteres herstellen. Ihre Stärke kann und wird in diesen Bereich zu einer Schwäche.
Vor dem Hintergrund des ‚Überlebens auf dem Planeten‘, des ‚Überlebens im Alltag‘ bildet die Notwendigkeit von ‚wahren Texten‘, die zudem ‚belastbare Prognosen‘ erlauben, eine Kernforderung, die möglicherweise nur eine Teilmenge jener Bedeutungsräume erlaubt, über die Literatur verfügen kann. Aber diese ‚wahren und belastbaren Teilräume‘ bilden jenen ‚harten Boden‘, auf denen sich Menschen quer über alle Kontinente und im Bereich aller Sprachen gründen können.
Diese Art von Texten, deren Existenz von gemeinsamen nachprüfbaren ‚wahren Sachverhalten und Prognosen‘ abhängt, entstand in der Geschichte der Menschheit unter dem Namen ‚empirische Wissenschaft‘ sehr spät.[1] Nach anfänglichen Mühen entwickelte sie sich dann rasant weiter und ist heute zum Standard für nachweisbar wahre und prognosefähige Texte geworden.
Die heutige weltweite Verbreitung von ‚Wissenschaft‘ ist ihr selbst aber mittlerweile zum Problem geworden. Der klare Kern dieser Textform erscheint in der öffentlichen Verwendung der Charakterisierung von ‚Wissenschaft‘ seltsam vage. Der Begriff einer ‚empirischen Theorie‘ ist geradezu verschwunden. Die großen Enzyklopädien dieser Welt kennen diesen Begriff nicht mehr.
Dazu kommt die ‚Altlast‘ der modernen Wissenschaft, dass sie sich schnell zu einer Veranstaltung von ‚Spezialisten‘ entwickelt hat, die ihre ‚eigene Fachsprache‘ sprechen, die zudem vielfach teilweise oder ganz mit ‚mathematischer Sprache‘ arbeiten. Diese führt zunehmend zu einer Ausgrenzung aller anderen Bürger; das ‚Verstehen von Wissenschaft‘ wird für die meisten Menschen zu einer ‚Glaubenssache‘, wo doch Wissenschaft gerade angetreten war, um die ‚Autorität des bloßen Glaubens‘ zu überwinden.
Desweiteren haben wir in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr gelernt, was es heißt, den Aspekt ‚Nachhaltiger Entwicklung‘ zu berücksichtigen. Eine Grundbotschaft besteht darin, dass alle Menschen einbezogen werden müssen, um die Entwicklung nicht von einzelnen, kleinen — meist mächtigen — Gruppen dominieren zu lassen. Und von de Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten [3] wissen wir, dass das Leben — von dem wir als Menschen ein kleiner Teil sind — in den zurück liegenden ca. 3.5 Milliarden Jahren nur überleben konnten, weil es nicht nur das ‚Alte, Bekannte‘ einfach wiederholt hat, sondern auch immer ‚aus sich echtes Neues‘ heraus gesetzt hat, Neues, von dem man zum Zeitpunkt des Hervorbringens nicht wusste, ob es für die Zukunft brauchbar sein wird.[3,4]
Dies regt dazu an, den Begriff der ‚empirischen Theorie‘ zu aktualisieren und ihn sogar zum Begriff einer ’nachhaltigen empirischen Theorie‘ zu erweitern.
[1] Wenn man als Orientierungspunkt für den Beginn der neuzeitlichen wahrheitsfähigen und prognosefähigen Texte Galileo Galilei (1564 – 1641) und Johannes Kepler ()1571 – 1630) nimmt , dann beginnt der Auftritt dieser Textform im 17./18. Jahrhundert. Siehe hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Galileo_Galilei und hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Kepler
Zitat aus dem Vorwort: „The fact that we all became wiser, learnt to look across cultural and historical barriers, was essential. There were moments of deep concern and potential crisis, moments of gratitude and achievement, moments of success in building a common analysis and perspective. The result is clearly more global, more realistic, more forward looking than any one of us alone could have created. We joined the Commission with different views and perspectives, different values and beliefs, and very different experiences and insights. After these three years of working together, travelling, listening, and discussing, we present a unanimous report.“ und „Unless we are able to translate our words into a language that can reach the minds and hearts of people young and old, we shall not be able to undertake the extensive social changes needed to correct the course of development.“
[3] Gerd Doeben-Henisch, 2016, Sind Visionen nutzlos?, URL: https://www.cognitiveagent.org/2016/10/22/sind-visionen-nutzlos/
[4] Zum Begriff der Evolution siehe hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Evolution und hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Evolution
7. EMPIRISCHE UND NACHHALTIG EMPIRISCHE THEORIE
BILD 6 : Aktualisierter Begriff von ‚Empirischer Theorie (ET)‘ und ‚Nachhaltiger Empirischer Theorie (NET)‘
Zum ‚aktualisierten Begriff‘ einer empirischen und einer nachhaltig empirischen Theorie gehören die folgenden Elemente:
Die Gruppe der ‚Theorie-Autoren‘ besteht prinzipiell aus allen Menschen, die in ihrer Alltagssprache kommunizieren. Dies ermöglicht von Anfang an maximale Diversität.
Der engere Begriff der ‚Empirischen Theorie‘ umfasst die Elemente ‚IST-Zustand‘, ‚Veränderungs-Wissen‘ sowie einen ‚Folgerungsbegriff‘ in Form eines Wissens, wie man Veränderungswissen auf einen gegebenen Zustand anwendet.
Das ‚Ergebnis einer Folgerung‘ ist ein ’neuer Folge-Zustand‘.
Lässt sich eine Folgerung mehrfach vollziehen dann ensteht eine ‚Folge von Folgezuständen‘, die man heute auch als ‚Simulation‘ bezeichnen kann.
Der IST-Zustand umfasst eine Menge von Ausdrücken einer gewählten Alltagssprache, die so beschaffen sind, dass alle beteiligten Theorie-Autoren sich darüber einigen können, dass diese Ausdrücke unter den angenommenen Bedingungen ‚zutreffen‘, d.h. ‚wahr‘ sind.
Das Veränderungs-Wissen umfasst eine Menge von Ausdrücken, die Veränderungsprozesse beschreiben, die sich ebenfalls unter angegebenen Bedingungen von jedem überprüfen lassen.
Der Folgerungsbegriff ist ein Text, der eine Handlungsbeschreibung umfasst, die beschreibt, wie man eine Veränderungsbeschreibung auf eine gegebene IST-Beschreibung so anwendet, dass daraus ein neuer Text entsteht, der die Veränderung im Text enthält.
Eine empirische Theorie ermöglicht die Erzeugung von Texten, die mögliche Zustände in einer möglichen Zukunft beschreiben. Dies kann mehr als eine Option umfassen.
Im Alltag der Menschen reicht ein bloßes Wissen um ‚Optionen‘ aber nicht aus. Im Alltag müssen wir uns beständig Entscheiden, was wir tun wollen. Für diese Entscheidungen gibt es keine zusätzliche Theorie: für einen menschlichen Entscheidungsprozess ist es bis heute mehr oder weniger ungeklärt, wie er zustande kommt. Es gibt allerdings viele ‚Teil-Theorien‘ und noch mehr ‚Vermutungen‘.
Damit diese ’nicht-rationale Komponente‘ unseres alltäglichen Lebens nicht ‚unsichtbar‘ bleibt, wird hier der Begriff einer nachhaltigen empirischen Theorie vorgeschlagen, in dem zusätzlich zur empirischen Theorie eine Liste von Zielen angenommen wird, die von allen Beteiligten aufgestellt wird. Ob diese Ziele ‚gute‘ Ziele sind, kann man erst wissen, wenn sie sich ‚im weiteren Verlauf‘ ‚bewähren‘ oder eben nicht. Explizite Ziele ermöglichen daher einen ‚gerichteten Lernprozess‘. Explitit formulierte Ziele ermöglichen darüber hinaus eine kontinuierliche Kontrolle, wie sich der aktuelle Handlungsprozess mit Blick auf ein Ziel verhält.
Für die Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung sind nachhaltige empirische Theorien eine unverzichtbare Voraussetzung.
8. WAHRHEIT, PROGNOSE & TEXT-GENERATOREN
BILD 7 : Die potentielle Rolle von Text-Generatoren der Machart 2023 innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses
Für die Bewertung, welche Rolle Textgeneratoren aus dem Jahr 2023 innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses spielen können, kann man ein Gedankenexperiment (und dann natürlich auch real) durchführen, welche der Anforderungen eines wissenschaftlichen Diskurses, die zuvor erläutert worden sind, von einem Text-Generator erfüllt werden können. Das Bild Nr.7 ist eigentlich selbst-erklärend.
Das zentrale Argument besteht darin, dass Text-Generatoren des Jahrgangs 2023 über keinerlei Wissen verfügen, wie es der Mensch besitzt, nahezu keine Wahrnehmung (außer Texteingaben oder Spracheingaben) haben, und dementsprechend auch über keine Bedeutungsfunktion verfügen. Die Unfähigkeit zu ‚wahren Aussagen‘ oder auch der Fähigkeit, entscheiden zu können, ob etwas ‚wahr‘ ist oder nicht, fehlt ebenfalls vollständig.[1]
[1] Ron Brachman, Hector Levesque, Dieser KI können wir nicht trauen, Es gibt ein grundlegendes Problem in der Entwicklung der gegenwärtig angesagten KI-Systeme. Hier kommt ein Vorschlag, wie es besser geht. FAZ, Mo 13.Nov 2023, S.19 . Online (beschränkt) auch hier: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/chatgpt-co-dieser-ki-koennen-wir-nicht-trauen-19308979.html, Anmerkung 1: Die beiden Autoren nehmen den Boom um chatGPT zum Anlass, vor der gesamten Künstlichen Intelligenz (KI) zu warnen. Sie fokussieren ihre Kritik auf einen Punkt: „Der aktuellen KI-Technologie kann man nicht trauen. … Obwohl sie auf der Grundlage riesiger Datenmengen trainiert werden … machen moderne KI-Systeme bizarre, dumme Fehler. Unvorhersehbare, unmenschliche Fehler.“ Und weiter: „Wir wissen nicht, wann diese Systeme das Richtige tun und wann sie versagen.“ Sie führen im weiteren Verlauf noch aus, dass die aktuelle Architektur dieser Systeme es nicht zulässt, heraus zu finden, was genau die Gründe sind, warum sie entweder richtig oder falsch urteilen. Mit Blick auf den Alltag diagnostizieren sie bei uns Menschen einen ‚gesunden Menschenverstand‘, ein Prototyp von ‚Rationalität‘, und diesen sehen sie bei den KI-Systemen nicht. Sie beschreiben viele Eigenschaften, wie Menschen im Alltag lernen (z.B. mit ‚Überzeugungen‘, ‚Zielen‘ arbeiten, mit ‚Konzepten‘ und ‚Regeln‘, mit ‚echten Fakten‘, …), und stellen fest, dass KI-Systeme für uns erst wirklich nützlich werden, wenn sie über diese Fähigkeiten nachvollziehbar verfügen. Anmerkung 2: Die Autoren sprechen es nicht explizit aus, aber implizit ist klar, dass sie die neuen Text-Generatoren wie chatGPT & Co zu jener KI-Technologie rechnen, die sie in ihrem Beitrag charakterisieren und kritisieren. Wichtig ist, dass Sie in ihrer Kritik Kriterien benutzen, die alltäglich vage sind (‚gesunder Menschenverstand‘), allerdings angereichert mit vielen Alltagsbeispielen. Letztlich machen ihre kritischen Überlegungen aber deutlich, dass es angesichts der neuen KI-Technologien an geeigneten und erprobten Meta-Modellen (‚transdisziplinär‘, ‚wissenschaftsphilosophisch‘, …) mangelt. Man ’spürt‘ ein Ungenügen mit dieser neuen KI-Technologie, kann auch viele Alltagsbeispiele aufzählen, aber es fehlt an einem klaren theoretischen Konzept. Ein solches scheint aber momentan niemand zu haben ….
9. Epilog
Diese Kurzfassung meines Vortags vom 10.November 2023 ist gedacht als ‚Basis‘ für die Erstellung eines umfassenderen Textes, in dem alle diese Gedanken weiter ausgeführt werden, dazu auch mit viel mehr Literatur und vielen realen Beispielen.
DER AUTOR
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Im Zeitalter von Fake News (manche sprechen schon vom postfaktischen Zeitalter ) scheint der Begriff der Wahrheit abhanden gekommen zu sein. Dies trifft aber nicht zu. Die folgenden Zeilen kann man als Fortsetzung des vorausgehenden Beitrags lesen.
I. ARBEITSDEFINITION VON WAHRHEIT
1) In dem vorausgehenden Beitrag wurde angenommen, dass Wahrheit zunächst einmal die Gesamtheit des Wissens, der Erfahrungen und der Emotionen ist, die einer einzelnen Person zum aktuellen Zeitpunkt zur Verfügung steht. Was immer geschrieben, gedacht, gesagt usw. wird, jeder einzelne versteht und handelt auf
der Basis dessen, was er zu diesem Zeitpunkt in sich angesammelt hat.
2) Eine zentrale Einsicht ist dabei, dass unser Gehirn die aktuellen sensorischen Daten – externe wie interne– sofort, und automatisch, mit dem abgleicht, was bisher zu diesem Zeitpunkt im Gedächtnis verfügbar ist. Dadurch erleben wir alles, was uns begegnet, im Lichte des bislang Bekannten. Unsere Wahrnehmung ist eine unausweichlich interpretierte Wahrnehmung.
3) Ein Beispiel: Wenn jemand gefragt wird, ’ist dies dein Kugelschreiber?’, und dieser jemand antwortet mit ’Ja’, dann nimmt er einen Gegenstand wahr (als Ereignis seines Bewusstseins) und dieser jemand stellt zugleich fest, dass sein Gedächtnis in ihm eine Konzept aktiviert hat, bezogen auf das er diesen Gegenstand als seinen Kugelschreiber interpretieren kann. Für diesen jemand ist Wahrheit dann die Übereinstimmung zwischen (i) einer Wahrnehmung als einem Ereignis ’Kugelschreiber’ in seinem Bewusstsein, (ii) einem zugleich aktivierten Konstrukt aus dem Gedächtnis ’mein Kugelschreiber’, sowie (iii) der Fähigkeit, erkennen zu können, dass das Wahrnehmungsereignis ’Kugelschreiber’ eine mögliche Instanz des Erinnerungsereignisses ’mein Kugelschreiber’ ist. Das Erinnerungsereignis ’mein Kugelschreiber’ repräsentiert (iv) zudem den Bedeutungsanteil des sprachlichen Ausdrucks ’dein Kugelschreiber’. Letzteres setzt voraus, dass der Frager und der Antwortende (v) beide die gleiche Sprache gelernt haben und der Ausdruck ’dein Kugelschreiber’ aus Sicht des Fragenden und ’mein Kugelschreiber’ aus Sicht des Antwortenden von beiden (vi) in gleicher Weise interpretiert wird.
4) Anzumerken ist hier, dass jene Ereignisse, die ihm Bewusstsein als Wahrnehmungen aufschlagen können, unterschiedlich leicht zwischen zwei Teilnehmern des Gesprächs identifiziert werden können. Einmal können Aussagen über die empirische Welt sehr viele komplizierte Zusammenhänge implizieren, die nicht sofort erkennbar sind (wie funktioniert ein Fernseher, ein Computer, ein Smartphone…), zum anderen kann es
sein, dass die beiden Gesprächsteilnehmer die benutzte Sprache sehr unterschiedlich gelernt haben können (Fachausdrücke, spezielle Redewendungen, Art der Bedeutungszuschreibung, usw). Obwohl der Sachverhalt vielleicht im Prinzip erklärbar wäre, kann es sein, dass beide Gesprächsteilnehmer im Moment des Gesprächs
damit überfordert sind.
5) Ferner kann man sich durch dieses Beispiel nochmals deutlich machen, dass die Bezeichnung der Gesamtheit des Wissens, der Erfahrung und der Emotionen eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt als der subjektiven Wahrheit dieses Menschen ihren Sinn darin besitzt, dass dieser Mensch in dem Moment, wo er gefragt wird, ob es sich SO verhält, nur dann ’Ja’ sagen wird, wenn der gefragte Mensch in seiner subjektiven Wahrheit Elemente findet, die diesem So-sein entsprechen. Das ’So-sein’ aus der Frage muss ein Bestandteil der subjektiven Wahrheit sein und nur dann kann ein Mensch auf eine Anfrage hin sagen, ja, das wahrgenommene So-sein findet in der subjektiven Wahrheit eine Entsprechung. Die Fähigkeit zur Wahrheit erscheint somit primär in der subjektiven Wahrheit eines Menschen begründet zu sein.
II. WAHRHEIT UND LEBENSFORM
1) Ergänzend zu diesem geschilderten grundsätzlichem Zusammenhang wissen wir, dass die subjektive Wahrheit nicht unabhängig ist von dem Lebensprozess des jeweiligen Menschen. Alles, was ein Mensch erlebt, was auf ihn einwirkt, kann in diesem Menschen als Ereignis erlebbar werden, kann ihn beeinflussen, kann ihn
verändern. Dazu gehört natürlich auch das eigene Tun. Wenn jemand durch den Wald läuft und merkt, dass er laufen kann, wie sich das Laufen anfühlt, wie sich dies langfristig auf seinen Körperzustand auswirkt, dann beeinflusst dies auch das individuelle Erkennen von Welt und von sich selbst, als jemand, der laufen und
Fühlen kann. Wenn stattdessen Kinder in Kobaldminen arbeiten müssen statt zu lernen, sich vielfältig neu entdecken zu können, dann wird diesen Kinder mit der Vorenthaltung einer Lebenspraxis zugleich ihr Inneres zerstört; es kann nur ein verzerrter Aufbau von Persönlichkeit stattfinden. Wir schwärmen derweil von den angeblich umweltfreundlichen Elektroautos, die wir fahren sollen. Oder: wenn Kinder im Dauerhagel von Granaten und Bomben aufwachsen müssen, um sich herum Verwundete und Tote erleben müssen, dann werden sie sich selbst entfremdet, weil verschiedene Machthaber ihre Macht in Stellvertreterkriegen meinen, ausagieren zu müssen.
2) Aufgrund der so unendlich verschiedenen Lebensprozesse auf dieser Erde können sich in den Menschen, die von ihrer Natur aus weitgehend strukturgleich sind, ganz unterschiedliche subjektive Wahrheitenansammeln. Derselbe Mensch sieht dann die Welt anders, handelt anders, fühlt anders. Es ist dann nahezu unausweichlich, dass sich bei der Begegnung von zwei Menschen zwei verschiedene Wahrheiten begegnen. Je nachdem, wie ähnlich oder unähnlich die Lebensprozesse dieser Menschen sind, sind auch die subjektiven Wahrheiten eher ähnlich oder unähnlich.
3) Wie man beobachten kann, tendieren Menschen dazu, sich vorzugsweise mit solchen Menschen zu treffen, mit ihnen zu reden, mit ihnen zusammen etwas tun, die mit ihnen bezüglich ihrer subjektiven Wahrheiten möglichst ähnlich sind. Manche meinen, solche selbstbezügliche Gruppen (’Echokammer’, ’Filterblase’) auch
im Internet, in den sozialen Netzwerken entdecken zu können. Obwohl das Internet im Prinzip die ganze Welt zugänglich macht [Anmerkung: Allerdings nicht in Ländern, in denen der Zugang zum Internet kontrolliert wird, wie z.B. massiv in China.], treffen sich Menschen vorzugsweise mit denen, die sie kennen, und mit denen sie eine ähnliche Meinung teilen. Man muss aber dazu gar nicht ins Internet schauen. Auch im Alltag kann man beobachten, dass jeder einzelne Mitglied unterschiedlicher sozialer Gruppen ist, in denen er sich wohl fühlt, weil man dort zu bestimmten Themen eine gleiche Anschauung vorfindet. An meiner Hochschule, an der Studierende aus mehr als 100 Ländern vertreten sind, kann man beobachten, dass die Studierenden
vorzugsweise unter sich bleiben statt die Vielfalt zu nutzen. Und die vielfältigen Beziehungskonflikte, die sich zwischen Nachbarn, Freunden, Lebenspartnern, Mitarbeitern usw. finden, sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie real unterschiedlich subjektive Wahrheiten im Alltag sind. [Anmerkung: Allerdings ist diese Aufsplitterung in viele kleine Gruppen von ‚Gleichgesinnten‘ nicht notwendigerweise nur negativ; die Kultivierung von Vielfalt braucht eine natürliche Umgebung, in der Vielfalt möglich ist und geschätzt wird.]
4) Obwohl also der Mechanismus der subjektiven Wahrheitsbildung grob betrachtet einfach erscheint, hat man den Eindruck, dass wir Menschen uns dieses Sachverhaltes im Alltag nicht wirklich bewusst sind. Wie schnell fühlt sich jemand beleidigt, verletzt, oder gar angegriffen, nur weil jemand sich anders verhält, als man es im Lichte seiner subjektiven Wahrheit erwartet. Wie schnell neigen wir dazu, uns von anderen abzugrenzen, sie abzustempeln als krank, verrückt, oder böse zu erklären, nur weil sie anders sind als wir selbst.
III. GEDANKE UND REALE WELT
1) Bis hierher konnte man den Eindruck gewinnen, als ob die subjektive Wahrheit ein rein gedankliches, theoretisches Etwas ist, das sich allerdings im Handeln bemerkbar machen kann. Doch schon durch die Erwähnung des Lebensprozesses, innerhalb dessen sich die subjektive Wahrheit bildet, konnte man ahnen, dass die konkreten Umstände ein wichtiges Moment an der subjektiven Wahrheit spielen. Dies bedeutet z.B., dass wir die Welt nicht nur in einer bestimmten Weise sehen, sondern wir verhalten uns ganz konkret in dieser Welt aufgrund unserer subjektiven Wahrheit (= Weltsicht), wir leben unseren Alltag mit ganz konkreten Objekten, Besitztümern und Gewohnheiten. Eine andere subjektive Wahrheit (bzw. Weltsicht) ist daher in der
Regel nicht nur ein bloßer abstrakter Gedanke, sondern kann zugleich reale, konkrete Veränderungen des eigenen Alltags implizieren. Da aber schrecken wir alle (verständlicherweise?) sofort zurück, blitzartig, vielleicht sogar unbewusst. Über die Wahrheit reden mag grundsätzlich chic sein, aber wenn die zur Sprache kommenden
Wahrheit anders ist als die eigene Wahrheit, dann zucken wir zurück. Dann wird es unheimlich, ungemütlich; dann können allerlei Ängste aufsteigen: was ist das für eine Welt, die anders wäre als die Welt, die wir kennen? Der verinnerlichten Welt korrespondiert immer auch eine reale Alltagswelt. [Anmerkung: In diesen Kontext passt vielleicht das paradoxe Beispiel, das Jesus von Nazareth in den Mund gelegt wird mit dem Bild, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen würde, als dass ein Reicher in den Himmel gelangen könnte. Eine Deutung wäre, dass jemand der als Reicher
(unterstellt: auf Kosten anderer) in einer Wirklichkeitsblase lebt, die angenehm ist, und er als Reicher wenig Motive hat, dies zu ändern. Allerdings, was man gerne
übersieht, ein solches Verhaftetsein mit der aktuellen Situation, die als angenehm gilt, gilt in vielen Abstufungen für jeden Menschen. In den Apartheitsgefängnissen von Südafrika (heute als Museum zu besichtigen) gab es z.B. unter den Gefangenen eine klare Hierarchie: die Bosse, die Helfer der Bosse, und der Rest. Kein Boss wäre auf die Idee gekommen, seine relativen Vorteile zu Gunsten von allen aufzugeben.]
2) In der Struktur der gesellschaftliche Wirklichkeit kann man den Mechanismus der parzellierten Wahrheiten wiederfinden. Eine Gesellschaft ist mit unzähligen Rollen durchsetzt, mit Ämtern, Amtsbezeichnungen, Institutionen usw.. Dazu kommen in vielen Ländern Abgrenzungen von unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Weiter gibt es Nationalstaaten, die ihre eigenen Wahrheiten pflegen. Die Tendenz, das Andere, die Anderen negativ zu belegen, um seinen eigenen Status dadurch indirekt zu sichern, findet sich zwischenstaatlich auch wieder. [Anmerkung: Gut zu erkennen in dem Erstarken von nationalistisch-populistischen Doktrinen in leider immer mehr Ländern der Erde.] Eine unkritische Ausübung gewachsener partieller Wahrheiten kann Unterschiede dann nur zementieren oder gar vergrößern, anstatt sie zu überbrücken und zu allgemeineren Wahrheitsbegriffen zu kommen.
IV. EINE KULTUR DER WAHRHEIT?
1) Wenn man sieht wie unglaublich stark die Tendenz unter uns Menschen ist, aktuelle, partielle Wahrheiten (die aus Sicht des einzelnen nicht partiell, sondern universell sind) mit einer bestimmten Alltagspraxis zu verknüpfen und diese fest zu schreiben, dann könnte man auf die Idee kommen, zu fragen, was wir als Menschen tun können, um dieser starken Tendenz ein natürliches Gegengewicht gegenüber zu stellen, das
dem Trieb zu partiellen Wahrheit entgegenwirken könnte.
2) Innerhalb der Rechtsgeschichte kann man beobachten, wie im Laufe von Jahrtausenden das Recht des Angeklagten häppchenweise soweit gestärkt wurde, dass es in modernen Staaten mit einem funktionieren Rechtssystem üblich geworden ist, jemanden erst dann tatsächlich zu verurteilen, nachdem in nachvollziehbaren, transparenten Verfahren die Schuld bzw. Unschuld objektiv festgestellt worden ist. Dennoch kann man sehen, dass gerade in der Gegenwart in vielen Staaten wieder eine umgekehrte Entwicklung um sich greift: der methodische Respekt vor der Gefahr partieller Wahrheiten wird einfachüber Bord geworfen und Menschen werden allein aufgrund ihrer Andersheit und eines blinden Verdachts vorverurteilt, gefoltert, und
aus ihren gesellschaftlichen Stellungen verjagt.
3) Innerhalb der Welt der Ideen gab es eine ähnliche Entwicklung wie im Rechtssystem: mit dem Aufkommen der empirischen experimentellen Wissenschaften in Kooperation mit Mathematischen Strukturen konnte das Reden über Sachverhalte, über mögliche Entstehungsprozesse und über mögliche Entwicklungen auf ganz neue Weise transparent gemacht werden, nachvollziehbar, überprüfbar, wiederholbar, unabhängig von dem Fühlen und Meinen eines einzelnen [Anmerkung: Allerdings nicht ganz!]. Diese Art von Wissenschaft kann großartige Erfolge aufweisen, ohne die das heutige
Leben gar nicht vorstellbar wäre. Doch auch hier können wir heute beobachten, wie selbst in den Ländern mit einem entwickelten Wissenschaftssystem die wissenschaftlichen Prinzipien zunehmen kurzfristigen politischen
und ökonomischen Interessen geopfert werden, die jeweils auf den partiellen Wahrheiten der Akteure beruhen.
4) Es drängt sich dann die Frage auf, ob der Zustand der vielen (partiellen) Wahrheiten generell vermeidbar wäre bzw. wie man ihn konstruktiv nutzen könnte, um auf der Basis der partiellen Wahrheiten zu einer umfassenderen weniger partiellen Wahrheit zu kommen.
5) Eine beliebte Lösungsstrategie ist ein autoritär-diktatorisches Gesellschaftssystem, das überhaupt nur noch eine partielle Wahrheit zulässt. Dies kennen wir aus der Geschichte und leider auch aus der Gegenwart: Gleichschaltung von Presse, Medien; Zensur; nur noch eine Meinung zählt.
6) Die Alternative ist die berühmte offene Gesellschaft, in der eine Vielfalt von partiellen Wahrheiten möglich ist, verbunden mit dem Vertrauen, dass die Vielfalt zu entsprechend vielen neuen erweiterten partiellen Wahrheiten führen kann (nicht muss!). Hier gibt es – im Idealfall – eine Fülle unterschiedlicher Medien und keine Zensur. Entsprechend wären auch alle Lern- und Erziehungsprozesse nicht an einem Drill, einer
autoritären Abrichtung der Kinder und Jugendlichen orientiert, sondern an offenen, kreativen Lernprozessen, mit viel Austausch, mit vielen Experimenten.
7) Allerdings kann man beobachten kann, dass viele Menschen nicht von vornherein solche offenen, kreativen Lernprozesse gut finden oder unterstützen, weil sie viel anstrengender sind als einfach einer autoritären Vorgabe zu folgen. Und es ist ein historisches Faktum, dass partielle Wahrheitsmodelle bei geeigneter Propaganda und gesellschaftlichen Druck eine große Anhängerschaft finden können. Dies war und ist eine große Versuchung für alle narzisstischen und machtorientierte Menschen. Das scheinbar Einfachere und Bequemere wird damit sprichwörtlich zum ’highway to hell’.
8) Für eine offene Gesellschaft als natürlicher Entwicklungsumgebung für das Entstehen immer allgemeinerer Wahrheiten sowohl in den Beteiligten wie auch im Alltag scheinen von daher geeignete Bildungsprozesse sowie freie, unzensierte Medien (dazu gehört heute auch das Internet) eine grundlegende Voraussetzung zu
sein. Die Verfügbarkeit solcher Prozesse und Medien kann zwar keine bessere gedachte und gelebte Wahrheit garantieren, sie sind allerdings notwendige Voraussetzungen, für eine umfassendere Kultur der Wahrheit. [Anmerkung: Natürlich braucht es noch mehr Elemente, um einen einigermaßen freien Raum für möglicheübergreifende Wahrheiten zu ermöglichen.]
9) Vor diesem Hintergrund ist die weltweit zu beobachtende Erosion von freien Medien und einer offenen, kreativen Bildung ein deutliches Alarmsignal, das wir Menschen offensichtlich dabei sind, den Weg in ein wahrheitsfähige Zukunft immer mehr zu blockieren. Letztlich blockieren wir uns als Menschen damit nur selbst. Allerdings,
aus der kritischen Beobachtung alleine folgen keine wirkenden konkreten Verbesserungen. Ohne eine bessere Vision von Wahrheit ist auch kein alternatives Handeln möglich. Deswegen versuchen ja autoritäre Regierungen immer, zu zensieren und mit Propaganda und Fake-News die Öffentlichkeit zu verwirren.
V. KONTEXTE
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Eine leise Musik ruft mich in den Tag zurück. Der Weckcomputer kennt meine Vorlieben für Musik; er hat meinen Schlaf beobachtet, er misst regelmäßig meine aktuellen Körperdaten, und er schätzt meine mögliche Stimmung ab. Zur rechten Zeit erklingt die Weckmusik. Wenn sie zu leise ist, rufe ich ‚lauter‘; und wenn sie mir nicht passt vielleicht ‚lass das‘. Im Bad starre ich verschlafen in einen Spiegel, der sich um gute Laune bemüht, dumme Sprüche drauf hat, Bilder einblenden kann, andere Musik, oder der auch nur redet. Anhand meines Gesichtsausdrucks und meiner Stimmlage erfasst er ziemlich gut, wie ich drauf bin; besser als viele Menschen. Ich fühle mich verstanden … Unterdessen wird die Küche für ein Frühstück präpariert und das Ankleidungsprogramm erstellt anhand der Termine aus dem Kalender und meiner aktuellen Stimmungslage einen Ankleidungsvorschlag … Während dem ernährungsbewussten Frühstück aus zertifizierten Lebensmitteln höre und schaue ich mir ein paar vorsortierte Nachrichten an (es gibt stündlich mehrere hunderttausend neue Meldungen, aus denen das System die ‚wichtigen‘ herausfiltert). Nach dem Frühstück erscheint auf dem Bildschirm eine Liste der Dinge, die für die Küche nachbestellt werden müssten. Ich bestätige, verneine, oder erweitere die Liste und schicke den Auftrag ab. Sobald ich Anstalten treffe, das Haus zu verlassen, wird der Aufzug schon in die entsprechende Etage gesteuert und ein Transport-eMobil aktiviert. Wenn ich einsteige weiß dieses Transport-eMobil anhand meines Kalenders schon, welches Ziel anzufahren ist. Ich entspanne mich, lasse mir wichtige Dokumente anzeigen oder stelle eine Kommunikationsverbindung zu einem Geschäftspartner her…
Diese Vision mag den einen erschrecken, die andere begeistern; sie ist auf jeden Fall nicht mehr weit weg vom technisch Möglichen. Es sind weniger technische Gründe, die solch ein Szenario bislang noch verhindern, sondern eher Fragen der Abstimmung der technischen Systeme untereinander, Fragen der Investitions- und Betriebskosten, der Wartung, der Sicherheit, der Privatheit, und der Denk- und Lebensgewohnheiten.
Auch ist interessant, was ‚hinter den Kulissen‘ alles passiert bzw. passieren kann.
Hinter allem das Netz
Alle Daten laufen durch Netzwerke, über Server und werden von Programmen verwaltet. Technisch könnte man von jedem Punkt im Netzwerk aus alle Daten beobachten, sammeln, auswerten und darauf Entscheidungen aufbauen. Damit dies nicht ungehindert geschieht, werden die Daten partiell ‚kodiert‘ und/ oder ‚verpackt‘, so dass ein anderer als der intendierte Empfänger, die Daten nicht so ohne weiteres ‚lesen‘ kann. Aber letztlich ist es nur eine Frage des Rechenaufwandes, um alle Varianten abzuprüfen, um die ‚versteckte‘ Botschaft zu identifizieren, sie zu ‚dekodieren‘. (Oder, einfacher, man verschafft sich Zugang zu den Verschlüssungsprogrammen, oder über die Mikroprogramme in der Hardware selbst). Während die einen ein solches unautorisiertes Mitlesen direkt gegen Geld als ‚Cyberkriminelle‘ tun, gibt es die staatlich subventionierten ‚Geheimdienste‘, die ‚für sich legal‘ sind, für alle anderen aber sind sie auch nichts anderes als ‚Cyberkriminelle‘, ‚Staatsterroristen‘. In der Regel müssen sie nichts befürchten, wenn sie die Rechte anderer verletzen. Schließlich gibt es noch die Grauzone der privaten Wirtschaft, die sich auf vielen Wegen formal die Zustimmung der Benutzer erhandeln, ohne dass diese in der Regel überschauen, was alles mit ihren Daten geschieht oder geschehen kann. Dass jede Klickaktion im Web dazu führt, dass man kurz darauf tage- und wochenlang nervige Anzeigen eingeblendet bekommt, ist ärgerlich und störend, jedoch nicht notwendigerweise gefährlich. Dass die eigenen Daten über Wochen, Monate und Jahre systematisch gesammelt werden, für viel Geld an verschiedene Firmen (auch Geheimdienste) verkauft werden, und mittels dieser Daten neue Dienstleistungen, Produkte und Firmen generiert werden, das kann sehr gefährlich sein, kann den einzelnen massiv schädigen und kann ganze Märkte und Volkswirtschaften zerstören.
Datenschmarotzer
Banken und Versicherungen könnten sich auf diese Weise Kunden vorsortieren und entsprechend behandeln. Krankenversicherungen könnten z.B. vorschreiben, was man isst und wie man sich bewegen muss. Personalabteilungen von Firmen könnten (und manche tun dies schon real) die Bewerber nach ihrer Vorgeschichte im verborgenen Netz sortieren. Selbst kleinste Vergehen aus der Vergangenheit, Krankheiten, Ereignisse aus der Freizeit, Unwahre Behauptungen im Netz, sie alle können dazu führen, dass man keinen Job mehr bekommt – oder, ja, man bekommt zwar ein Angebot, aber man wird durch die Blume erpresst: man weiß ja, dass; man könnte vielleicht darüber hinwegsehen, wenn …
Diejenigen, die hinter den Oberflächen Informationen sammeln können, die gewinnen Einblicke in Marktsituationen, in potentielle Märkte und in private Aktivitäten. Sie können Dienstleistungen und Firmen anbieten, bevor jeder andere ahnt, dass dies möglich ist; die Datenmonopolisten können auf diese Weise zu Marktmonopolisten werden, und andere Firmen schleichend ‚erdrücken’… Globale Firmen im Katz und Maus Spiel mit nationalen Regierungen, oder Regierungen mit ihrer Bevölkerung.
(Anmerkung: Das Beispiel der andauernden Geheimverhandlungen zu TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) wird von vielen als Beleg genau für diesen Trend gesehen. Bis heute werden diese Verhandlungen an den nationalen Parlamenten der USA und Europas vorbei geführt, selbst nach eindeutigen Interventionen verschiedener Parlamente. Wenige EU-Bürokraten verhandeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit Vertretern globaler Kapitalvertreter über die Zukunft von ca. 320 Mio US-Amerikanern und ca. 500 Mio Europäern. Die Vermutung, dass hier eine ausgewählte Schar von Firmen versucht, die Einflussmöglichkeiten der nationalen gewählten Parlamente zu ’neutralisieren‘, wurde bisher nicht widerlegt. Im Gegenteil, alle Informationen, die bekannt werden, stützen diese Vermutung und alle wichtigen deutschen Politiker geben bislang nur allgemeine Floskeln zum Besten, warum dies gut sein soll. Was unterscheidet diese Situation noch von einem Staatsstreich, in diesem Fall ein Staatsstreich von oben?)
Vom Verschwinden der Welt
Das Voranschreiten der Digitalisierung bringt es mit sich, dass der einzelne menschliche Akteur immer weniger mit realen Umweltausschnitten zu tun hat, dafür immer mehr mit digitalen Repräsentationen. Realität verwandelt sich in digitale Dateien unterschiedlichster Formate. Das Wetter erscheint als Landkarte mit Piktogrammen. Reale Unternehmen verwandeln sich in Zahlen und Kurven in einem Diagramm. Ressourcen aller Art sind nur noch einfache Zahlen. Reale Produktionsprozesse werden zu mathematischen Funktionen in Rechenblättern oder anderen Computerprogrammen. Die anderen Menschen verschwinden hinter SMS-Texten, standardisierten Bildern, werden als Videoplots formatiert; sie werden zur Stimme aus dem Kopfhörer; man kann sie hinter einem Avatar in einem Computerspiel vermuten; sie sind numerische IDs mit einer Liste von Attributen im ASCII-Format. Nahrungsmittel sind losgelöst von ihren Herstellungsprozessen; sie treten uns vor Augen in bunten Verpackungen, wo wir das sehen, was aufgedruckt ist, nicht das, was wirklich drin ist. So kann ein bestimmtes Siegel der Händlerkette riesige Gewinne bringen, obgleich das reale Produkt dahinter dem Siegel gar nicht entspricht… Die Fabrik wird zu einem Schaltplan; die Produktion erscheint als Zahlenkolonne, als Säulendiagramm. Mit Robotern wird die Produktion zuverlässiger und billiger, und die potentiellen Käufer, die durch Arbeit ihr Geld verdienen, werden abgeschafft, weil sie zu anfällig und zu teuer sind. Wer denkt darüber nach, dass die Arbeitenden mit den potentiellen Käufern korrespondieren? Wer soll noch konsumieren, wenn keiner mehr verdient? Die Umverteilung des verfügbaren Reichtums auf immer weniger Menschen ist aktenkundig. Schaffen sich die Gesellschaften selber ab?
Digitale Sklaverei
Hatte man früher ein Produkt gekauft, ging man in ein Geschäft, zahlte bar, nahm das Produkt in Empfang und ging nach Hause. Zum Händler musste man bestenfalls zurück, wenn es sich um einen Garantiefall handelte, das Produkt Mängel aufwies, die es in der Garantiezeit nicht aufweisen sollte.
Will man heute ein Produkt kaufen, bekommt man dieses vielfach gar nicht mehr direkt und ausschließlich, sondern man erwirbt im Falle von softwarebasierten Produkten eine Art Nutzungsrecht auf Zeit, das an vielerlei Bedingungen geknüpft wird. Man muss seine Adresse preisgeben, seine Kontodaten, man muss seine Nutzung über einen fremden Server registrieren und permanent kontrollieren lassen; man muss zusätzlich oft fremden Programmen erlauben, das Gerät ‚bewohnen‘ und ‚benutzen‘ zu dürfen, ohne dass man dies kontrollieren oder ändern könnte. Über Kameras und sonstige eingebaute Sensoren kann das fremde Programm jederzeit Daten aus der nächsten Umgebung messen und weiter leiten. Während ich an meinem Computer sitze und schreibe können die Bilder meines Gesichts (klar, wen interessiert dies schon; und doch, warum überhaupt?) in Bruchteilen von Sekunden über das Netz irgendwohin in die Welt reisen.
Die Frage ist, ob man noch ein Alternative hat? Könnte ich auf diese Programme verzichten? Im Berufsleben gibt es immer weniger Alternativen; allein, um die normale Arbeit machen zu können, benötige ich heute ein ganzes Bündel von Programmen, und jedes Mal muss ich mich an ein fremdes Programm auf einem fremden Server ‚verkaufen‘. Ich habe keine Alternative (Anmerkung: Ja, es gibt auch freie Programme, ich benutze solche Programme von Anbeginn an. Doch können diese Programme — von glücklichen Ausnahmen abgesehen — mit der Industrie sehr oft nicht Schritt halten, speziell nicht dort, wo Programme spezielle Hardware steuern. Hersteller von Hardware können den Entwicklern von freien Programmen die notwendigen Daten vorenthalten, z.B. weil sie sonst von den Anbietern industrieller Betriebssysteme nicht berücksichtigt würden … )
In Artikel 1 dieses Zusatzabkommens wird als ein der Sklaverei zugeordnetes Phänomen die ‚Schuldknechtschaft‘ erwähnt. Eine Schuldknechtschaft entsteht, wenn “… ein Schuldner als Sicherheit für eine Schuld seine persönlichen Dienstleistungen oder diejenigen einer von ihm abhängigen Person verpfändet, wenn der in angemessener Weise festgesetzte Wert dieser Dienstleistungen nicht zur Tilgung der Schuld dient oder wenn diese Dienstleistungen nicht sowohl nach ihrer Dauer wie auch nach ihrer Art begrenzt und bestimmt sind … “.
Im Falle der Softwarenutzung würde ich es bevorzugen, einen Betrag X zu zahlen um diese Programme nutzen zu können, ohne weitere Abhängigkeiten. Einen Betrag X muss ich in der Regel tatsächlich zahlen, dieser Betrag X reicht jedoch nicht aus; ich werde zusätzlich gezwungen, sehr viele Daten von mir ‚abzugeben‘, über die ich auf unbeschränkte Zeit jegliche Kontrolle verliere. Und nicht nur das, meine tatsächliche Nutzung wird fortwährend kontrolliert, protokolliert und könnte jederzeit vom Hersteller beendet werden, mit entsprechend schlimmen Folgen für die Arbeitsprozesse, die mit dem Programm verknüpft sind.
Rein formal versichern Hersteller auf dem Papier, dass sie die Daten ausschließlich zum Zwecke des störungsfreien Betriebes der Programme benutzen, faktisch hat jedoch der Kunde keine Kontrolle über die tatsächliche Verwendung der Daten. Außerdem berührt dies nicht die faktische ‚Schuldknechtschaft‘ der andauernden Abhängigkeit vom Hersteller.
Für diese heute gängige Form der Schuldknechtschaft könnte man den Begriff der digitalen Schuldknechtschaft einführen.
Man kann sich auch fragen, ob die ‚Leibeigenschaft‘ nicht auch noch zutrifft. Im Text heißt es unter Art.1.b “Leibeigenschaft, d. h. die Stellung einer Person, die durch Gesetz, Gewohnheitsrecht oder Vereinbarung verpflichtet ist, auf einem einer anderen Person gehörenden Grundstück zu leben und zu arbeiten und dieser Person bestimmte entgeltliche oder unentgeltliche Dienste zu leisten, ohne seine Stellung selbständig ändern zu können“. Im Fall der Programmebeziehung gibt es zwar keine Grundstücke, aber der Programmebenutzer geht mit dem Kauf eine Beziehung zum Hersteller ein, die ihn in vielfacher Weise über die Nutzung im engeren Sinne bindet: so ist die Übergabe von vielen persönlichen Daten samt der damit einhergehenden anhaltenden kontinuierlichen Kontrolle der Aktivitäten ein ‚Dienst‘ an dem Hersteller, der ‚unentgeltlich‘ geleistet wird, ohne dass man diese Beziehung (‚Stellung‘) verändern kann; würde man dies einseitig tun, bekäme man die Daten, Momente des eigenen Selbst, nicht zurück.
Auch hier bietet es sich an, den Begriff der digitalen Leibeigenschaft einzuführen.
In Art. 7.b heißt es, dass “eine Person in sklavereiähnlicher Stellung“ eine solche Person ist, die sich “in einer Rechtsstellung oder Lage [befindet], die auf einer der in Artikel 1 erwähnten Einrichtungen oder Praktiken beruht;“. Die “in Artikel 1 erwähnten Einrichtungen oder Praktiken“ sind z.B. die Schuldknechtschaft und die Leibeigenschaft.
Da mit diesem Text sowohl die ‚Schuldknechtschaft‘ wie auch ‚Leibeigenschaften‘ als Formen der Sklaverei gewertet werden, könnte man analog von der Existenz einer digitalen Schuldknechtschaft und einer digitalen Leibeigenschaft auf die Existenz digitaler Sklaverei schließen.
Nach Art 6.1 1. soll gelten, dass die „Versklavung einer Person oder die Anstiftung einer Person, sich oder eine von ihr abhängige Person durch Aufgabe der Freiheit in Sklaverei zu geben, oder der Versuch dazu oder die Teilnahme daran oder die Beteiligung an einer Verabredung zur Durchführung solcher Handlungen … eine strafbare Handlung nach den Gesetzen der Vertragsstaaten dieses Übereinkommens sein [soll]; …“.
Zu den vielen Unterzeichnerstaaten gehört auch Deutschland (1959). Bislang haben die neuen digitalen Versionen von Sklaverei die Wahrnehmungsschwelle der deutschen Justiz (auch nicht die Justiz anderer Länder) noch nicht überwunden.
Sind wir mittlerweile so an Unrecht gewöhnt, dass wir die alltägliche Praxis der digitale Versklavung einfach so hinnehmen, oder sind diese Überlegungen ‚überzogen‘?
Mensch als Restproblem
Lässt man die Faszination der Oberfläche der neuen digitalen Welt für einen Moment mal weg, und lässt die verdeckten Aushorch- und Gewaltstrukturen auf sich wirken, die neue Unübersichtlichkeit, die neue schier grenzenlosen Manipulierbarkeit, die ungeheure Ausdehnung von Kontrolle und digitaler Sklaverei, dann kann schon einmal ein Gefühl von Hilfslosigkeit entstehen, von Verratensein, von schwacher Endlichkeit. Während die Geräte immer schneller werden, immer mehr Daten mit höchster Geschwindigkeit hin und her bewegen, immer kompliziertere Rechnungen in Sekundenbruchteilen vollziehen, immer ‚gescheiter‘ daherkommen in Spielen, im Quiz, in der Diagnose, in der Beratung …. hat man das Gefühl, man ist lahm wie eine Ente; vergisst so oft so viel; ist streckenweise von Stimmungen, Gefühlen und Emotionen getrieben, fast paralysiert. Hat einen endlichen langsamen Körper; so unförmig, so wenig glanzvoll … Wie soll das enden? Werden die Maschinen in Zukunft alles machen und wir nichts mehr? Wo und wie soll ich morgen noch arbeiten, wenn Kollege Computer schrittweise alles zu übernehmen scheint?
Für Unternehmer scheint es sich allemal zu rechnen: Roboter können preisgünstiger, zuverlässiger und qualitativ besser produzieren. Sie sind viel schneller, sie meckern nicht, sie streiken nicht, sie brauchen keine krankheitsbedingten Auszeiten ….
Künftig werden sich alle Autos, Busse, Straßenbahnen, Züge, Flugzeuge ohne menschliche Fahrer und Piloten bewegen. Riesige Schiffe werden keine menschliche Besatzung haben.
Kriege werden nicht mehr von Soldaten geführt, sondern von Automaten, von Robotern, von Drohnen. Maschinen kämpfen gegen Maschinen. Computerprogramme gegen Computerprogramme. Mit einem Knopfdruck kann ein General eine ganze Armee gegen seine eigene Regierung in Bewegung setzen. Wird irgendwann dann ein durch ein Programm selbständig ausgelöster Befehl ausreichen, dass sich eine automatisierte Roboterarmee gegen ihren eigenen General wendet?
Wozu brauchen wir weiter Menschen in der digitalisierten Welt? Für die Arbeit? Nein. Für den Konsum? Menschen als Konsumenten sterben mangels Einkommen aus, da sie keine Arbeit mehr haben werden. Als Soldaten, Beamte, Verwalter, Manager wurden sie schrittweise ersetzt. Die Künstler leben schon jetzt nur noch als dreidimensionale Kunstfiguren in animierten Filmen und Computerspielen. Kompositionen und Malerei beherrschen die Software-Programme besser als die Menschen. Architektur findet nur noch im Computer statt. Neue Produkte und Pflanzen konzipiert der Computer. Menschen sind zu langsam, zu unzuverlässig, verbrauchen große Ressourcen, erzeugen Abfall, sie sind aggressiv, emotional labil, … sie kosten und sie stören.
Wird der Mensch in der digitalen Welt aussterben? Haben wir uns schon ergeben? Sind wir nicht schon längst eine willenlose meinungslose Masse, die von Regierungen und globalen Konzernen nach Belieben vor sich hergetrieben wird?
1) Am 12.Januar2014 erschien im Feuilleton der FAZ auf S.37 ein Beitrag von Sascha Lobo mit der Überschrift ‚Die digitale Kränkung des Menschen‘. Im Kern läuft sein Beitrag auf die Aussage hinaus — hierin Freud folgend –, dass nach den drei großen Kränkungen der Menschheit durch Kopernikus (1473-1543) (Erde nicht im Zentrum), Darwin (1809-1882)(Mensch ist Teil der allgemeinen biologischen Entwicklung), und Freud (1856-1939)(Abhängigkeit des Menschen vom Nicht-Bewussten) nun eine vierte große Kränkung stattgefunden hat, nämlich die ‚digitale Kränkung‘ durch die Entdeckung, dass das Internet, der vermeintlich freie Inkubationsraum einer neuen, globalen freien Gesellschaft, von den Wurzeln her und in all seinen Verästlungen einer vollständigen Überwachung (und auch möglicher Manipulation) durch die NSA — und anderer Geheimdienste — unterliegt.
2) Das Ganze bekommt eine sehr persönliche Note, da er sich damit ‚outet‘, dass er dies nicht nur persönlich als Kränkung empfindet, sondern dass er in diesen Erkenntnissen zugleich auch bei sich selbst eine totale Fehleinschätzung der Situation einräumen muss. Er, der Netzerklärer, fühlt sich vorgeführt, getäuscht, missbraucht. Er unterlässt es nicht, sich als Netzerklärer der Avantgarde zuzurechnen, die es liebt, sich vom ‚durchschnittlichen Bildungsbürger‘ abzugrenzen; zugleich räumt er in der Öffentlichkeit einen Irrtum ein (ein Dritter könnte bei ihm möglicherweise auch eine besondere Spielart von ‚Bildungsbürgertum‘ erkennen, das gerne über Voraussetzungen und Hintergründe hinwegsieht):
3) Denn, dies ist auffällig, bei allem Aufschrei über eine Kränkung, vermisst man eine wirkliche Analyse. Wieso konnte es denn zu solch einem Irrtum kommen? Warum ist das Internet nicht die schöne, heile Welt der Freigeister sondern der Kampfplatz der Geheimdienste?
4) Anstatt Freud einfach nur zu zitieren mit den drei Kränkungen könnte Lobo ja auch diese vorausgegangenen sogenannten ‚Kränkungen‘ hinterfragen. Lobo hätte ja fragen können, ob denn die neuen Erkenntnisse von Kopernikus (und der anderen Wissenschaftler in seinem Gefolge) wirklich eine ‚Kränkung‘ waren oder nicht eher doch eine ‚Befreiung aus der Dunkelheit eines Nichtwissens‘, das sich der Naivität eines Alltagsbewusstseins verdankt, das alles nimmt, wie es ist, anstatt nachzufragen, warum das so ist (und darin ein beliebiger Spielball der aktuell Mächtigen).
5) Ferner hätte Lobo fragen können, ob die Einsichten von Darwin (und vieler anderer) nicht ebenfalls eine Befreiung aus einer tiefen Finsternis von Unkenntnis waren, indem er (mit vielen anderen) aufdecken konnte, dass es zwischen den Lebensformen zu unterschiedlichen Zeitpunkten kausale Verbindungen gibt, die bis in die frühesten Zeiten des Lebens auf dem Planeten Erde zurückweisen. Wiederum waren es Unwissenheit, durch Religionen motivierte Vorurteile und Machtinteressen, die diese Einsichten ‚unpassend‘ fanden, ’störend‘, ‚gefährlich‘, ein Abwehrverhalten, das bis heute anhält (in den USA halten im Jahr 2014 28% der Männer und 38% der Frauen die Evolutionstheorie für falsch).
6) Die Einsichten von Freud in die Abhängigkeit des Bewussten vom Nichtbewussten, heute mehr und mehr vertieft durch das Zusammenwirken von Neurowissenschaften und Psychologie, sind auch nur solange eine Kränkung, als man einem falschen Bild vom Körper, dem Gehirn, dem Psychischen, dem Erkennen anhing. Für Wissenschaftler, Aufklärer und alle ’normalen‘ Menschen kann es wiederum nur eine Befreiung von falschen Bildern über die Welt, insbesondere über den Menschen, sein. Auch das hätte Sascha Lobo hinterfragen können.
7) Würde Lobo den Spuren der Evolutionstheorie folgen, dann würde er u.a. feststellen können, dass die biologische Evolution nur die Fortsetzung einer kosmologischen und chemischen Evolution ist, die sich zu einer kulturellen und technologischen Evolution erweitert haben, innerhalb deren das Internet nur ein kleiner Ausschnitt der Entwicklung darstellt.
8) Ein anderer Ausschnitt wird gebildet von den Systemen der Machtregulierung, die mit den Systemen der neuzeitlichen Demokratien eine sehr innovative und hochkomplexe Form gefunden haben, die sich in einem permanenten ‚Gleichgewichtskampf‘ befinden. Am Beispiel der US-amerikanischen Demokratie kann man beobachten, wie diese seit dem 2.Weltkrieg dabei ist, von ‚innen‘ heraus, von der Exekutive aus, ‚ausgehöhlt‘ bzw. fast ganz ’neutralisiert‘ zu werden. Unter dem alles erschlagenden Motto ‚Nationale Sicherheit‘ wurden und werden nahezu alle Gesetze und Kontrollinstanzen ausgehebelt und parallel wurde ein weltumspannendes imperiales System aufgebaut, das systemisch keinen Spielraum mehr kennt. Dass die USA noch nicht in eine völlige Diktatur abgeglitten sind ist systembedingt nicht zu erklären; irgendwie müssen es viele wunderbare Menschen sein, die das letzte Umkippen aktuell noch verhindern. Die Exekutive selbst lässt nur eine Richtung erkennen: noch mehr Kontrolle ‚von innen‘ und noch weniger Kontrolle ‚von außerhalb‘ des Systems.
9) Diese Vorgänge in den USA sind öffentlich zugänglich und erklären, warum das Internet vor diesem Hintergrund nicht das Internet sein kann, was sich Sascha Lobo wünscht. Warum denkt Lobo darüber nicht nach? Warum interessiert ihn das demokratische System als solches nicht? Das bundesrepublikanische demokratische System hat in den letzten Monaten dramatische Schwachstellen offenbart. Alle zuständigen Stellen — einschließlich der Kanzlerin — haben sich nicht nur einer echten Aufklärung verweigert, sie haben sich selbst auch als radikal anti-demokratisch verhalten. In Sonntagsreden wird vor rechten, linken und muslimischen Fundamentalisten gewarnt, im konkreten Alltag wird aber die demokratische Öffentlichkeit von den gleichen Politikern und politischen Beamten (einschließlich Bundesstaatsanwalt) massiv für Dumm verkauft und geradezu zynisch belogen. So zerstört man eine demokratische Öffentlichkeit und damit auf Dauer nachhaltig eine Demokratie. In Sonntagsreden werden Menschen wie Gandhi, Martin Luther King oder Mandela wegen ihrem Widerstand gegen einen unmenschlichen Staat gefeiert; mit einem Edward Snowden will man aber niemand reden (Lob für Ströbele, der es dennoch tat). So zerstört man Demokratie.
10) Sascha Lobo trauert um den Verlust seiner Unschuld. Immerhin scheint er zu merken, dass seine Spielwiese Internet etwas mit dem Funktionieren oder nicht Funktionieren der Demokratie zu tun hat. Vielleicht führt diese Krise ihn ja dazu, dass er für uns alle künftig für unsere gemeinsame Demokratie mitkämpft. Dann hätte diese Krise ein Gutes. Einer mehr für eine gemeinsame demokratische Zukunft, und damit für ein freies Internet.
1) Die Diskussionen im Umfeld der US-amerikanischen Abhöraktionen und die damit zusammenhängenden Whistleblower-Aktivitäten gewinnen eine Breite, Tiefe, auch Schärfe, die nicht ohne weiteres absehbar war. Obwohl mir selbst viele Jahre vorher bekannt war, dass täglich ungeheuerliche Abhöraktionen weltweit von allen möglichen Gruppierungen stattfinden, war mir das reale Ausmaß der Aktivitäten US-amerikanischer Geheimdienste in dieser Konkretheit nicht bewusst. Allerdings hätte man auch ohne die Auskünfte der Whistleblower (im Amerikanischen oft auch ‚information leakers‘, etwa ‚die, die Informationslöcher geschaffen haben‘) Manning und Snowdon gewarnt sein können, da die Washington Post im Jahr 2010 eine umfangreiche Recherche veröffentlicht hatte, in der nach zwei Jahren intensivster Recherche alles zusammengetragen worden war, was man öffentlich in Erfahrung bringen konnte (dazu gehörten auch Gespräche mit Mitarbeitern der verschiedenen geheimen Dienste wie auch solchen Personen, die diese Dienste überwachen sollen). Das Projekt trug den Titel „Top Secret America“ und versuchte den Aufbau der nationalen Sicherheitsstruktur seit den Anschlägen vom 11.Sept. 2011 zu beschreiben. Wer diesen Bericht mit den weiterführenden Webseiten liest, der konnte schon 2010 merken, dass es hier um eine sehr ungewöhnliche Aktivität geht, die man eigentlich nur mit dem Adjektiv ‚monsterhaft‘ beschreiben kann; nicht nur, dass dieses ‚Monsterwesen‘ aus unendlich vielen, vielfältigst miteinander vernetzten Diensten besteht, es wächst beständig unkontrolliert weiter, gefüttert vom Wohlwollen und dem Geld der Regierung.
2) Was an diesem Bericht erschreckend ist, ist die Tatsache, dass eigentlich alle Quellen, die mit der Qualität und der Kontrolle dieser Dienste beauftragt sind, erhebliche Kritiken äußern: die tatsächliche ‚Wirkung‘ dieser Dienste ist nicht evaluierbar (die nach außen behaupteten Fälle von Entdeckungen möglicher Attentate kann niemand unabhängig und objektiv nachprüfen (sie erfüllen aber den Zweck, Angst zu verbreiten, um noch mehr Gelder locker zu machen)); in vielen Fällen fand eine gigantische Geldverschwendung statt; vielfache Überschneidungen zwischen den Diensten (wer schreibt eigentlich von wem ab?); Abschottung der Dienste untereinander (Kampf um Gelder und Machtverteilung); verworrene Gesetzeslage (wer darf wen informieren oder kontrollieren); Taktik der ‚Unsichtbarmachung‘ von Aktionen durch ‚Geheimerklärungen‘, damit niemand Einsicht nehmen kann; die schiere Menge der Geheimberichte jeden Tag (im Jahr 2010 mehrere hundert Dokumente, gedruckt, viele hundert Seiten), die zur Kenntnis zu nehmen und auszuwerten faktisch unmöglich ist; durch die zunehmende Automatisierung Tendenz zu abstrakter schematischer Wahrnehmung, die mit realen konkreten Vorgängen oft gar nichts mehr zu tun haben (viele dokumentierte Fälle von Attentaten, die von der Maschinerie nicht erkannt wurden); schließlich eine Gesamtsituation, die von keiner einzigen Stelle mehr vollständig überschaut wird: die geheimen Dienste mit ihren Aktivitäten sind faktisch außer Kontrolle; von einer demokratischen Kontrolle kann in keiner Weise mehr gesprochen werden!
GANG DER ENTWICKLUNG: ZUSAMMENWACHSEN
3) Treffen die in diesem Blog entwickelten philosophisch-wissenschaftlichen Gedanken zu, dann geht der Trend der Strukturbildung im bekannten Universum unaufhaltsam in Richtung wachsender ‚Differenzierung‘ und zugleich wachsender ‚Integration‘. Nach der erst kürzlich (ab ca. -9000 Jahren) erfolgten Herausbildung von städtischen Lebensformen hat das Aufkommen von immer mehr Technik bis zur Erfindung von Computern und Computernetzwerken Ende des 20.Jahrhunderts die Komplexitätsbildung im Bereich Kommunikation von ‚Wissen‘, von ‚mentalen Modellen‘ erheblich beschleunigt und quantitativ explodieren lassen. Es liegt in der ‚Natur‘ dieses Prozesses, dass alle an diesem Prozess beteiligten Systeme zu einem einzigen großen ‚Superorganismus‘ zusammenwachsen. Die aus der Geschichte bekannten regionalen und nationalen Organisationsformen haben hier auf lange Sicht keine eigenständige Bedeutung mehr. Zwar wird die menschliche Gesellschaft, so ähnlich wie der menschliche Körper, die ungeheure Zahl ihrer Mitglieder durch allerlei ‚Substrukturen‘ teilorganisieren, aber die wahre ‚Einheit‘ wird über alle Teilstrukturen hinausgreifen.
4) Hier stellen sich sehr viele Fragen, auf die vermutlich aktuell noch niemand eine klare Antwort hat, weil diese Dinge für alle radikal neu sind. Klar ist aber, dass diese Entwicklung diverse ‚Übergangsprozesse‘ impliziert, ‚Transformationsprozesse‘, von denen alle betroffen sind.
FALLSTUDIE INTERNET: POSTGOLDGRÄBERZEIT
5) Ein Beispiel bietet das Internet: wie schon in einem vorausgehenden Blogeintrag angemerkt, stand am Anfang die ‚große Freiheit‘, die vornehmlich von den USA ausging. So ist es nicht verwunderlich, dass es US-amerikanische Firmen waren, die diesen neuen Aktionsraum als erste ausloteten und entdeckten, dass man im Tauschgeschäft von kostenlosen Dienstleistungen gegen personenbezogene (und auch andere) Informationen sehr schnell ein globales Geschäft aufbauen konnte (dass sich dann viele Geheimdienste hier einfach ‚draufsetzen‘ konnten, war nicht notwendigerweise Teil des Prozesses, aber nun mal zu verführerisch; wenn die Daten nun schon mal da waren, warum dann nicht einfach nutzen). Wie in den berühmten Wildwest-Goldgräberzeiten, wo der Kapitalismus sich rücksichtslos austoben konnte, haben auch jetzt einig wenige Firmen den Weltmarkt unter sich aufgeteilt, ohne Rücksicht auf ‚Werte‘ und grundlegende ‚Rechte‘. In dem Maße, wie den ‚Kunden‘ diese Vorgänge bewusst werden (es fängt erst gerade an), kann es sein, dass diese ursprünglichen Geschäftsmodelle in sich zusammen fallen. Allerdings haben die aktuellen Platzhirsche schon so viel Kapital angesammelt, dass sie es vielleicht überleben, oder auch nicht. Alternativen gibt es und irgendwer wird sie sicher nutzen. Klar ist nur eines: das gemeinschaftliche Interesse an der Nutzung dieser neuen Technologien ist elementar und überleben werden nur Strukturen, die mit diesem elementaren gemeinschaftlichen Interessen übereinstimmen. Die Anzeichen dafür sind überall da und selbst globale Unternehmen können sich dem auf Dauer (was sind schon 10-20 Jahre) nicht entziehen.
FALLSTUDIE NATIONALSTAAT: USA
6) Eine andere Dimension der Transformationsprozesse sind die gesellschaftlichen Gebilde, die Nationalstaaten. Neben vielen Aspekten ist es die Verteilung, Ausübung und Kontrolle von ‚Macht‘ in diesen Systemen, die entscheidend ist. Wer darf wie darüber entscheiden, welche Gesetze gelten sollen, welche Steuern erhoben werden, wie Gelder eingesetzt werden, usw. Einige Länder dieser Erde hatten es in den letzten ca. 200 – 300 Jahren geschafft, mit viel Blutvergießen, Kriegen und Kämpfen, das zu organisieren, was man ‚demokratische Gesellschaften‘ nennt; einige wenige Länder! Eines davon waren die Vereinigten Staaten von Amerika, die USA. Die Freiheit der Bürger und die Kontrolle der Macht durch die Bürger war eines der zentralen Güter dieser US-amerikanischen Gesellschaft. So wie jedes Land hatte auch die US-amerikanische Gesellschaft ihre ‚biographischen‘ Besonderheiten, z.B. besaß das Militär (wie in vielen anderen Länder dieser Erde auch) eine besonders geachtete Stellung, weil natürlich die Wirkkraft des Militärs auch ein Garant dafür war, die Freiheitsrechte zu verteidigen. Ein gewisser ‚Patriotismus‘ in Form einer grundlegenden Wertschätzung des Militärs als Einrichtung des Staates gehört immer dazu.
7) Was aber dann in den USA passiert zu sein scheint (und dies geschah und geschieht in fast allen anderen Ländern dieser Erde auch), ist, dass die konkreten Menschen, die solch eine Institution mit Leben füllen, nun mal nur ausnahmsweise ‚Heilige‘ sind; normalerweise unterliegen sie wie alle anderen Menschen auch, menschlichen Regungen wie ‚Eitelkeit‘, ‚Machtstreben‘, ‚Gewinnstreben‘ usw. Aus Sicht des Militärs sieht die Welt natürlicherweise anders aus als aus Sicht der Industrie oder des ’normalen‘ Bürgers. Jedes Militär der Welt will seinen Einfluss erweitern, die finanziellen Mitteln aufstocken, mehr Rechte haben, möglichst keine Kritik einheimsen, die Disziplin hochhalten, usw. Im Nachgang zum zweiten Weltkrieg hat sich der sogenannte ‚industriell-militärische Komplex‘ entwickelt, von dem viele behaupten, dass er die Hauptmotor war für fast alle nachfolgenden Kriege, die die USA geführt haben. Ein Krieg ist immer das beste Argument für mehr Geld, mehr Einfluss, weniger Kritik. Und wenn es gerade keinen Krieg gibt, dann ist es hilfreich, allerlei ‚Ängste‘ in der Öffentlichkeit hoch zu halten, um dem Militär alles zu geben, was es verlangt (und tatsächlich, so scheint es, viel viel mehr, als es eigentlich braucht). Und es ist genau der letzte Punkt, den viele Kritiker in den USA besonders thematisieren: es besteht der Eindruck, dass der monsterhafte, nicht mehr kontrollierbare Ausbau der geheimen Dienste in den USA vorwiegend dem einen Zwecke dient: beständig eine Kultur der Angst hoch zu halten, eine dauerhafte Bedrohung anklingen zu lassen, um als Gegenleistung nahezu beliebig viele Gelder bewilligt zu bekommen und gleichzeitig alle öffentliche Kritik an diesem Wahnsinnsgeschehen mit Verweis auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Ansatz zu unterbinden.
8) In diesem Zusammenhang besitzt der aktuelle Prozess gegen Manning eine fundamentale Bedeutung. In dem Moment, wo diese Verurteilung durchgeht, hat der ‚Moloch‘ gewonnen; ab dann werden nicht nur die, die Missbrauch und Gesetzesbrüche der Regierung zur Kenntnis bringen (die ‚Whistleblower‘), generell schwer bestraft werden, sondern auch alle diejenigen (meistens Journalisten), die darüber berichten. Ab dann wird die USA von einem allseitigen ‚Schweigen‘ befallen werden, wie wir es bislang nur aus faschistisch Diktaturen kennen. Ab dann werden wir alle wissen, dass der in sich gesunde ‚Patriotismus‘ sich – wie schon so oft in der Geschichte – in einen krankhaften ‚Faschismus‘ verwandelt hat, der nur noch Machtmonopole kennt, Propaganda, Lügen, und Machtmissbrauch ohne Ende. Es wäre ein sehr trauriges Kapitel in der Geschichte der amerikanischen Demokratie, wen ausgerechnet der Präsident, der als ‚Retter‘ gegen phasenweise ‚reaktionär‘ wirkende Republikaner derjenige ist, der diesem Monstersystem aus Militär, Industrie und Geheimdienstmoloch samt kontinuierlicher Missachtung internationaler Rechte letztlich Tür und Tor geöffnet hat. Scheinbar ist sein Selbstbewusstsein so schwach, dass er das Falsche an einem fehlgeleiteten Patriotismus nicht erkennt. Vielleicht (Für die Interpretation der ‚Schwachheit‘ Obamas spricht auch die Tatsache, dass Obama, als er 2005 noch selbst Senator war, kritische Anmerkungen zur Umsetzung der Überwachungsaktivitäten hatte, die er dann, al Präsident, verwarf). Im Endeffekt ist entscheidend, ob diese Machtzentren Militär und Geheimdienste in Interaktion mit Teilen der Industrie sich völlig der demokratischen Kontrolle entziehen können oder nicht. Momentan gibt es in den USA nur vereinzelte Stimmen in einigen wenigen Zeitungen oder speziellen Webseiten, die diese gefahr thematisieren; die Justiz schaut bislang zu (bzw. hat Partei gegen die Bürger und für den Regierungsapparat ergriffen). Einige Abgeordneten haben einen Widerstand am 24.Juli 2013 versucht, sind aber erst mal, wenngleich knapp, gescheitert. Die beteiligten Gruppen sowohl bei den Republikanern wie auch den Demokraten versuchen es aber weiter.
KÖNNEN WIR ES NOCH LERNEN?
9) In jeder Situation, in der ‚Neues‘ auftritt, das herausfordert, ist es eine spannende Frage, ob und wie ‚man‘,’wir‘, ‚Du‘ und ‚Ich‘ zusammen ‚es lernen‘, wie wir mit der neuen Situation umgehen. Hier könnte man im Detail vieles sagen, was auf jeden Fall eine Rolle spielen wird. Es gibt aber auch so etwas wie ‚Grundhaltungen‘: die einen, die grundsätzlich Lösungen von Problemen in Frage stellen und die anderen, die grundsätzlich immer annehmen, dass es eine Lösung geben wird.
10) Wenn man sieht, wie die ungeheuerliche Komplexität von Universum, darin Erde, darauf biologisches Leben, sich entfaltet hat ohne das geringste Zutun von unserer Seite, und wie dieser ganze Prozess weiter abläuft, mit einer Richtung, ohne dass wir wichtige Teile des Prozesses kontrollieren (höchstens stören), dann tendiere ich dazu, zu sagen, die Wahrscheinlichkeit einer Lösung ist größer als ihr Nichteintreffen.
WAHRHEIT IST MEHR ALS IDEOLOGIE
11) Wir Menschen haben im Laufe der letzten ca. 10.000 – 15.000 Jahren eine Vielzahl von ‚Weltinterpretationen‘ hervorgebracht. Viele sind in weiten Teilen nicht verifizierbar, was nicht heißt, dass sie trotzdem eine gewisse kognitive und emotionale Wirkung auf Menschen ausüben können. Klar ist aber, dass nur diejenigen Systeme in der Zukunft sich ‚behaupten‘ können, die im vollen Sinne ‚wahr‘ sind. Der Begriff ‚Wahr(heit)‘ ist hier orientiert am Verhältnis zwischen biologischen Lebensformen und umgebender Erde: bis jetzt konnten sich immer nur solche Lebensformen ‚behaupten‘, die unter den jeweils aktuellen Bedingungen der Erde hinreichend viel Energie sammeln und verarbeiten konnten und die sich im Rahmen einer Population hinreichend viel ‚fortpflanzen‘ konnten. Daraus folgt nicht, dass das Leben sich in der Selbstorganisation von Energie und Nachkommen erschöpft, dass aber Populationen, die dieses Minimum nicht schaffen, ‚verschwinden‘. Interpretationen darüber, was und wie die Welt ist, werden sich also im Kern auch daran bewähren müssen, dass sie mindestens erklären können, warum das, was ist, so ist, wie es ist, wie es anders sein könnte und welche Rolle wir in diesem Prozess spielen können. Die meisten bisherigen Weltinterpretationen (einschließlich der bekannten Religionen), haben hierin weitgehend versagt und aktuell gibt es wenig Grund, anzunehmen, dass sie sich hinreichend ändern. Damit soll nichts gegen einen Gottesglauben gesagt sein, höchstens, dass das Reden über Gott in den bekannten Religionen möglicherweise unzureichend ist; sie sagen evtl. zu wenig oder zu viel Falsches.
Letzte Änderung: 9.April 2015, 12:10h – Minimale Korrekturen; Lesbarkeit verbessert durch Abstände; Zwischenüberschriften
1) Die ganzen Überlegungen zum ‚Emerging Mind‘ sind noch sehr anfangshaft, spekulativ. Andererseits, angesichts der vielen ungelösten Fragen, ohne diese Arbeitshypothese und die interessanten Zusammenhänge mit dieser Arbeitshypothese ist es eigentlich unmöglich, diese Arbeitshypothese nicht weiter zu denken. Fehler zeigten sich ja im allgemeinen am ehesten dann, wenn man versucht, eine Hypothese konsequent anzuwenden und sie auf diese Weise immer mehr ‚Überprüfungen‘ unterzieht.
EMPIRISCHES UNIVERSUM ALS FOLGE VON STRUKTUREN
2) Bisheriger Ausgangspunkt ist ja die Annahme einer Prozesskette S*(t+n) = f(S(t)) mit ‚t‘ als einem Zeitpunkt, ‚S‘ als einer identifizierbaren Struktur zu diesem Zeitpunkt und ‚f‘ als eines funktionalen Zusammenhanges, der die Struktur ‚S‘ in die Struktur ‚S*‘ überführt.
3) In vorausgehenden Einträgen hatte ich exemplarisch mögliche Strukturen identifiziert beginnend mit dem Energieausbruch E des BigBang, der dann in der nachfolgenden Abkühlung immer mehr Strukturen ‚hervorgebracht‘ (=f?) hat: Quanten [Q], Atome [At], Moleküle [Mol], usw. Man bekommt dann eine Prozesskette der Art EMPIRISCHER-KOSMOS = S_Q(t+n1) = f(S_E(0)), S_At(t+n1+n2) = f(S_Q(t+n1) ), usw. wobei die Energie eine Art ‚Nullstruktur‘ ist verglichen mit den folgenden Strukturausprägungen.
4) Bedenkt man ferner, dass jede Funktion ‚f‘ in der ‚Realität‘ eine ‚reale Abbildung‘ sein muss, d.h. eine ‚Operation‘, die ‚real etwas bewirkt‘, dann bedeutet dies, dass man parallel zu den Strukturen S_i(), die man zu verschiedenen Zeitpunkten unterscheiden kann, für die Veränderungsoperation ‚f‘ (von der noch unklar ist, ob es immer die ‚gleiche‘ ist), einen ‚Träger‘ annehmen muss, ein ‚Medium‘, das diese Ausführung ermöglicht. In der klassischen Makrophysik gibt es neben den unterscheidbaren Makrostrukturen ’nichts Konkretes‘, was als Träger in Frage kommt ausser den ‚beobachtbaren Kräften‘, die wir durch ihre spezifischen ‚Manifestationen‘ ‚indirekt‘ erkennen und die wir hypothetisch in Form von ‚Gesetzen‘ benennen und damit ‚dingfest‘ machen. Im Licht der Quantenphysik (was sich bislang vielleicht eher noch als ein ‚Halbdunkel‘ darstellt, das wir noch kaum verstehen…) muss man annehmen, dass die Wahrscheinlichkeitsfelder ihre Kohärenz immer wieder durch ‚Kräfte‘ verlieren, die dann zu den tatsächlich beobachtbaren Makroereignissen führen. Diese in der Quantenfeld lokalisierten hypothetischen Kräfte bieten sich als Kandidaten für den Operator ‚f‘ an, der die unterschiedlichen Strukturbildungen E → S_Q → S_At → … ermöglicht.
ENERGIE: EINMAL UND IMMER WIEDER
5) Neben vielen interessanten Aspekten ist bemerkenswert, dass diese Prozesskette EMPIRISCHER-KOSMOS bis zur Strukturform der Moleküle durch eine einmalige Energiezufuhr (’statisch‘) diese Strukturen erhält; jenseits der Moleküle S_Mol, ab der Strukturform ‚Zelle‘ S_Cell, benötigen diese komplexe Strukturen kontinuierlich eine beständige Zufuhr von Energie (‚dynamisch‘) in Form von chemisch gebundener Energie, die dann mittels Metabolismus ‚freigesetzt‘ und für verschiedene energieintensive Prozesse genutzt wird. Mit fortschreitender Komplexität der Strukturformen (Pflanzen, Tiere, Hominiden, …) wird der Aufwand immer grösser und die Formen von Energiegewinnung, -transport, -speicherung, -verwertung immer komplexer.
ENTSTEHUNG VON ZEICHEN INNERHALB DER MATERIE
6) Ferner ist bemerkenswert, dass bei fortschreitender Komplexität der Strukturformen sich solche molekular basierte Strukturen bilden können, die dann Repräsentationen auf einer höheren Ebene realisieren können, chemische Ereignisse, die als Zeichen funktionieren, die Bedeutungsbeziehungen realisieren können (= semiotischer Raum, Semiose, Zeichenprozesse). Damit ist es möglich, sich von der Konkretheit molekularer Strukturen in gewisser Weise zu befreien und im semiotischen Raum abstrakte Strukturen aufzubauen, die für beliebige Strukturen stehen können. Nicht nur lassen sich damit die vorfindlichen molekularen Strukturen ‚abbilden‘, ‚modellieren‘, sondern man kann mit ihnen ‚herumspielen‘, sie beliebig ‚variieren‘, ‚kombinieren‘, und damit den realen Augenblick ‚transzendieren‘. Im semiotischen Raum kann die reale Gegenwart durch eine erinnerbare Vergangenheit und eine potentielle Zukunft erweitert werden. Dieser Prozess ist schleichend und gewinnt in den höheren Säugetieren, bei den Hominiden und speziell beim homo sapiens sapiens einen vorläufigen Höhepunkt.
BESCHLEUNIGUNG DER KOMMUNIKATION
7) Seit der Verfügbarkeit des semiotischen Raumes innerhalb eines Systems kann man eine dramatische Beschleunigung in der Kommunikation und Koordinierung zwischen den Teilnehmern beobachten, Explosion an Werkzeug, Verfahren, Regeln, Organisation usw.
FLEXIBILISIERUNG DER ENERGIEZUFUHR
8) Die nächste grosse Revolution findet statt, als es gelingt, die molekül-basierten semiotischen Räume mit Hilfe von atomar-basierten Technologien in den wesentlichen Signal- und Zeicheneigenschaften zu kopieren (= Computer), so dass nun die Bildung von ‚künstlichen (technischen) semiotischen Räumen‘ möglich wurde, in Kombination mit einer globalen Vernetzung (= Computernetzwerke, Internet, WWW). Während molekül-basierte semiotische Räume chemisch gebundene Energie zu ihrem ‚Betrieb‘ benötigen, benötigen die atomar-basierten semiotischen Räume Energie in Form von technisch manipulierbaren Potentialunterschieden (= Elektrizität). Diese Form ist universeller und flexibler.
STEIGERUNG DER KOMPLEXITÄT
9) Seit der Verfügbarkeit von künstlichen — auf elektrischer Energie basierenden — semiotischen Räumen konnte die Komplexitätsentwicklung sowohl in ihrer inhärenten Komplexität wie auch in der Geschwindigkeit ihrer Entwicklungen weiter gesteigert werden.
MODIFIKATIONEN DES VERÄNDERUNGSOPERATORS
10) Interessant ist, dass der Veränderungsoperator ‚f‘ nun deutlich unterschieden werden kann. Während der Übergang von der Struktur ‚vor dem HS (‚homo sapiens‘)‘ – also etwa S_PreHs(t) – zur Struktur S_Hs(t+n) noch mit dem Operator ‚f‘ geschrieben werden kann S_Hs(t+n) = f(S_PreHs(t)) ist der Übergang von der Struktur S_Hs zu der neuen Struktur S_NetComp(t) von S_Hs vorgenommen worden, also S_NetComp(t+n) = f_hs(S_Hs(t+n)). Dies ist möglich, weil die impliziten semiotischen Räume von Hs die Definition von Operatoren ermöglichen, die dann ‚umgesetzt‘ werden können. Allerdings wird man wohl annehmen müssen, dass in diese Umsetzung f_hs wohl auch das allgemeine ‚f‘ mit eingeht, also genauer S_NetComp(t+n) = f_hs u f(S_Hs(t+n)).
11) Aktuell sind die künstlichen technischen Strukturen S_NetComp noch nicht in der Lage, sich selber zu vervielfältigen. Grundsätzlich ist nicht zu sehen, warum dies nicht eines Tages möglich sein sollte.
12) Klar ist allerdings, dass der Veränderungsoperator ‚f‘ nun als zusätzliche Teilkomponente f_NetComp enthält, also S_Future(t+n) = f u f_NetComp(S_Past(t)).
PROJEKTION IN DIE ZUKUNFT
13) So mächtig die Kombination ‚f u f_NetComp‘ wirkt, so fragil ist das Ganze. Würde aus irgendwelchen Gründen mal kein Strom verfügbar sein, dann würde S_NetComp vollständig ausfallen und damit würden schon heute weite Bereiche der ‚Zivilisation‘ weitgehend zusammenbrechen.
14) Ein weiterer Aspekt deutet sich an: aufgrund der heute verfügbaren Daten wissen wir, dass der aktuelle Körper des Menschen nur ein ‚Durchgangsstadium‘ markiert. Viele Millionen Jahre vorher sah dieser Körper anders aus und gehen wir weiter zurück, dann verlieren sich die heute bekannten Strukturen in immer fremdartigeren Formen, die kaum noch etwas mit der heutigen Gestalt zu tun haben. Umgekehrt müssen wir also davon ausgehen, dass sich – auch ohne unser Zutun – die aktuelle Körperform weiter verändern wird.
15) Dazu kommt der Aspekt, dass wir mittels des impliziten semiotischen Raumes wie auch durch die heute extern verfügbaren künstlichen semiotischen Räume samt hochentwickelter Werkzeuge den Umbau der aktuellen Körperformen aktiv betreiben könnten (und möglicherweise auch sollten?).
16a) Andererseits stellt sich aber die Grundsatzfrage, ob die Linie der molekülbasierten Körper überhaupt weiterverfolgt werden sollte. Die künstlichen semiotischen Räume mit der Energieversorgung durch flexiblen Strom bieten u.U. auf Dauer bessere Chancen, sich im Universum zu behaupten. Dies rührt dann aber an der Grundsatzfrage, ob die materielle Hülle einer Struktur (im Falle des HS sein molekülbasierter Körper) tatsächlich wichtig ist.
VERORTUNG DES GEISTES
16b) Wenn die Arbeitshypothese stimmt, dass die entscheidenden Operatoren ‚f‘ letztlich von den realisierten Strukturen unabhängig sind, sondern sich nur unter Verfügbarkeit solcher materieller Strukturen ‚zeigen‘, dann würde es für diese(n) Operator ‚f‘ egal sein, ob das ‚Medium‘ chemische Moleküle sind oder atombasierte Strukturen. Nicht das Medium repräsentiert den Geist, sondern der Geist wird anlässlich verfügbarer Strukturen ’sichtbar‘. Die Annahme wäre also etwa die, dass ‚Geist‘ subset E und ‚f‘ in ‚Geist‘ als dem vorab gegebenem ‚Medium‘ gründet; innerhalb von diesem Geist können Veränderungsoperatoren angewendet werden.
17) Der ‚Geist‘ wäre in diesem Sinne das (für uns) vorweg schon immer Gegebene, das quasi ‚Untötbare‘, und nur in dem Maße, wie es hinreichend geeignete Strukturen (welcher Art auch immer) gibt, kann sich dieser Geist durch seine ‚Wirkungen‘ (= Manifestationen, Ereignisse, Wirkungen, Phänomene) zeigen (für uns, die wir aktuell eine spezifische Struktur haben und mit dieser spezifischen Struktur nur ganz bestimmte Dinge erkennen können!!!).
18) Damit wäre jede bekannte Lebensform eine Form von ‚Geistesmanifestation‘, nur unterschiedlich differenziert. Niemand hätte einem anderen irgendetwas voraus.
19) Bizarre Ethiken, die aus dem darwinischen Evolutionsbegriff irgendwelche ‚Vorteile‘ herauszurechnen versuchten, würden sich – falls diese neue Arbeitshypothese stimmen würde – als sehr kurzsichtig erweisen. In der Evolution geht es nicht um das ‚Recht des Stärkeren‘, sondern um den Aufbau solcher komplexer Strukturen, die immer mehr von dem ‚Geist‘ sichtbar machen, der schon immer da ist und von dem jede partielle individuelle Struktur immer nur ein kleines Zipfelchen sichtbar machen kann. Klar ist in diesem Szenario auch, dass der einzelne als solcher keine grundlegende Bedeutung besitzt, höchstens in dem Sinne, dass er dazu beiträgt, das gemeinsame Ganze voran zu bringen. Der Kult um persönlichen Besitz, persönliche Macht, individuelle Schönheit und ‚Ruhm‘ hat hier keinen Platz. Er wirkt seltsam bizarr, fremdartig, lächerlich. Die Zukunft wird den symbiotischen Gemeinschaften gehören, wo die Fähigkeiten von jedem maximal entwickelt und in ein gemeinsames Ziel eingebunden werden können. Insofern bleibt Individualität wichtig, aber nur als Teil eines gemeinsamen Ganzen.